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Im Nebel

Ein Epilog

Sie tauchten aus dem düsteren Tal auf und stiegen auf den schlanken Hölzern über den steilen Schnee empor. Er war braun, sie blond. Es trieb sie der Sonne und der Himmelsbläue zu.

Schon hatten sie die Tannen und Lärchen unter sich. Dann und wann stießen sie auf eine Arve, die zerzaust im Winde fror und um deren Äste Nebelfetzen flatterten.

Auf einmal standen sie im Dunkel. Der Nebel wehte ihnen dicht und eisig ums Gesicht und umflorte ihnen die Augen. Der Kampf begann.

Sie stand still und fragte ihn, der vor ihr schritt: »Kennst du Weg und Pfad?«

»Ich meinte den Aufstieg zu kennen; aber hier ist jedes Auge blind und jeder Fuß ein Irrender. Wir müssen uns auf die Ahnung verlassen.«

»Hast du keinen Kompaß?«

»Nur den einen, der mir sagt, daß ich steigen muß. Und dann: ist unsere Aufgabe nicht das Suchen? Ist unsere Lösung nicht der ungebahnte Weg? Entsinne dich des großen Entdeckers! Seine Fahrt war eine Irrfahrt, aber am Ende tauchte eine neue Welt auf. Er glaubte an sich.«

»Mir ist bange vor Abgründen.«

»Mir ist bang, die Nebel reichten so hoch, daß wir das Licht nicht finden.«

»Laß uns umkehren!«

»Kannst du dir eine Umkehr denken? Sie ist uns nicht möglich. Sei tapfer.«

Sie stiegen. Kaum erkannten sie sich durch den Nebel, kaum die Bretter, von denen sie getragen wurden, den Stock, der sie stützte.

Sie sprach wieder: »Man hat mich einst gelehrt, es gebe Molche, die in finsteren Höhlen leben und deshalb blind sind. Was nützten ihnen die Augen! Sind wir solche Molche?«

»Nicht ganz. Denn sie begehren nicht aus ihrer Höhle, wir aber streben aus der unseren empor.«

»Ist das nicht töricht, wenn wir doch blind sind?«

»Wie können wir anders? Sag selber!«

»Ich zittere leis in der Brust. Ich sehe den Abgrund, in den ich stürzen muß. Jeder Schritt bringt mich ihm näher. Mein Geist schaut schon seinen dunkeln Rand. Ich denke mir den Absturz schauerlich. Ich bin zerschmettert, im Schnee begraben. Die Raben werden mich finden und krächzend auf mich hacken, die Füchse werden mich wittern und lautlos zerreißen.«

»Fasse Mut! Denke an den sonnigen Gipfel!«

Sie stiegen. Er stieß mit den Spitzen der Schneeschuhe an. Es war eine Felswand, die jäh vor ihnen in den Nebel wuchs.

»Das Hindernis ist unüberwindlich,« klagte sie.

»Wir müssen es umgehen,« redete er ihr zu. »Komm, hier zur Rechten.«

»Mir scheint ein Ausbiegen zur Linken leichter,« meinte sie.

»Geh du links, ich wende mich rechts. Wir rufen uns dann und wann zu, auf daß wir uns nicht verlieren. Halte den Stock fest!«

So gingen ihre Spuren auseinander. Sie stießen sich von Zeit zu Zeit ihre Namen zu. Wie aus dem Verlornen, der Unendlichkeit schallten ihre Stimmen. Dann blieben die Rufe aus: ein Grat, ein Felsgewirr, eine Schneewelle hielt den Laut auf. Die beiden waren sich entschwunden.

Es war eine lange Irrfahrt, erst der Felswand entlang, dann schluchtab und schluchtauf, über Runsen und Lawinenzüge, ins Ungewisse und Gewagte, ins Freche und Verzweifelte, durch Zagen und Glauben.

Jedes irrte auf seine Weise. Beide schwer.

Jedes kämpfte auf seine Art um den Weg und die Höhe. Sie standen an Abgründen und wußten es manchmal nicht; sie kreuzten die rechte Richtung, ohne es zu ahnen; sie waren dem Lichte nahe und wurden von einem dämonischen Drang wieder davon weggelenkt. Ihr Blut wallte manchmal in Leidenschaft und Unwillen auf und erlahmte wieder in Schwäche.

Sie waren durstig und sehnten sich nach Erquickung, sie waren wandermüde und sehnten sich nach Rast. Aber sie kämpften. Sie mußten es ja. Sie hatten keine Wahl, sie waren Menschen.

Einmal hörte er einen Notschrei, ihm schien nicht ferne. Er ging ihm nach und fand sie in einer Schlucht, fast ganz im Schnee begraben. Er reichte ihr seinen Arm und half ihr zu neuem Anstieg. Doch auch sie lieh ihm Kraft durch ihre Nähe, denn sie fanden sich neu verbunden.

Endlich sahen sie über sich den Nebel bläulich werden. Sie überwanden die Müdigkeit und stiegen wie Ausgeruhte die starre Halde hinan. Eine blasse Scheibe, ein umflortes Auge schaute auf sie herab. Das Auge wurde heller, freudig, und sprühte ihnen Büschel von Heiterkeit und Glanz und Jubel ins Antlitz. Sie standen oben im Licht. Wie Taucher aus der Flut waren sie aufgestiegen. Sie hatten Mühe, daran zu glauben, so unerwartet groß war es gekommen. Ganz nah glänzte der letzte Gipfel. Sie klommen zu ihm empor. Überall strahlende Reinheit und makellose Größe.

Alle Berghäupter neigten sich grüßend den ans Ziel gelangten zu über das endlose, brodelnde Nebelmeer weg.

Die Wanderer kamen sich wie Sieger vor und waren doch demütig in der Erinnerung an die Irrfahrt und die Blindheit im Nebel, in der Erinnerung an manche Kleinmütigkeit.

Er wollte jauchzen, aber er war zu ergriffen dazu. Für einen wilden Freudenschrei war die Luft zu rein und zu leicht. Sie wollte singen, aber jedes irdische Lied schien ihr zu arm. Sie schauten sich an. Wie verändert sie waren! In dem eisigen Nebel hatte sich der Rauhreif silbern an ihre Haare gesetzt. Sie, die braun und blond zur Bergfahrt aufgebrochen, waren zu Greisen geworden. Sie lächelten sich zu aus ihrem weißen Haar.

Er begann zu sprechen: »Wie manchmal habe ich gemeint, im Nebel und Schnee elend zu verkommen. Es war eine tückische Fahrt.«

Sie stimmte ihm zu: »Könnte man solchen Aufstieg vollbringen, wenn man oben nicht das Licht wüßte … und sich hülfe?«

Lange schwiegen sie. Sie brach die Stille noch einmal: »Ich glaube, ich bin einmal abgestürzt, in völlige Finsternis und Ohnmacht.«

»Auch mir ist wie einem Auferstandenen zumute. Alles Vergangene, die ganze Fahrt, ist mir wie ein Traum, verblaßt, zeitlos, ungeschehen.«

»Mich quält die Frage: Geschah unsere Nebelfahrt in Freiheit oder Zwang?«

»Unter den Wolken geht man am Stabe der Freiheit, der ein Glaube ist. Über den Wolken herrscht Bindung und unendlicher Zusammenklang.«

»So klommen wir an den Krücken eines Glaubens oder Gedankens empor?«

»Der Flügel ist des Adlers, die Krücke des Lahmen Kraft,« schloß er.

Beide versenkten sich schweigend in den Schauer der unendlichen Aussicht und Größe.


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