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Es ist für einen Menschen, der nicht mit allen Teufelssalben geschmiert ist, schwer, aus einer unteren Volksschicht in eine höhere zu steigen. Würden alle, die emporgekommen sind, erzählen, wie teuer sie ihre Leiter bezahlt haben, wir wären um manche Tragödie reicher. Die unselige Geschichte Professor Wendelins sei hier aufgezeichnet, bevor sie dem Gedächtnis ganz entschwindet.
Im Unterland, in Brachenwyl, stand sein Vaterhaus. Er hat in seinen alten Tagen etwa davon erzählt, weniger im Heimweh nach der Jugendzeit, als im Sehnen nach der Unschuld und dem guten Gewissen.
Er kehrte ein in dem langgestreckten, bescheidenen Dörfchen, in dem Stallgeruch und Duft von Nelken, Levkojen und Rosen miteinander um die Herrschaft stritten. Er sah das magere, rotangestrichene Türmchen, das aus dem armseligen Kirchlein gebrechlich herauswuchs. Er hörte den Klang der Glocken, die wie irdene Töpfe klirrten und für die Freude keinen Mund zu haben schienen, und deren Ton ihm doch lieb war. Er schritt am ›Wilden Mann‹ vorüber, bog zur Linken ab und stieß auf ein Häuschen mit niedrigem, dürftig geflicktem Dach, auf dem das Moos schimmerte, dunkelbraun in der Hitze, grün im Regen.
Oben am Haus schoß die Pappel in die Luft wie eine gewaltige Rakete. Ihm war, er höre wieder wie einst den Windhauch gleich lispelnden Kinderstimmen durch das bewegliche Laubwerk streichen, oder den Herbststurm musizieren auf den himmelanstrebenden Geigensaiten, den nackten schwingenden Ästen …
Auf der andern Seite des Hauses warf einer einen breiten Schatten: es war der hochstämmige Kirschbaum, der zur Zeit der Heuernte aussah, als hätte sich das Abendrot darauf gesetzt und das Fortfliegen vergessen. Wie oft hatte der Knabe sehnsüchtig zu ihm emporgeschaut und die Stare beneidet, die es sich schmecken ließen und sich um die Vogelscheuche keinen Pfifferling kümmerten. Ach, die roten, süßen Früchte waren eben nicht für ihn! Die pflückte der Vater und legte sie sorglich in einen Korb, den das Mütterchen auf dem Kopfe in die Stadt trug; für Heinz aber fiel nichts ab, als die Almosen, die ihm der freundliche Baum etwa ins Gras warf, und die halbentfleischten Fetzen, welche die Vergeuder, die Stare, verächtlich fortspien …
Jetzt trat er durch das niedere Hintertürchen ins Haus, in die Tenne. Rechter Hand war das Reich des Vaters: der Heuboden und darunter der Stall. Da wurde ein strenges Regiment geführt, mit Geißel und Besenstiel, und das war so unnötig! Denn wie freundlich und mild glänzten einem ›Hirsis‹ dunkle Augenkugeln entgegen, wenn man durch das Stalltürchen trat und keinen Besen und keine Peitsche in der Hand führte! Und wie zutraulich streckte sie dem Besucher den Kopf entgegen, um ihm mit ihrer rauhen Zunge die Hand oder gar die Backen sauber zu feilen! Und neben ihr stand ›Bruni‹, das Kuhkalb, der alten in allen Stücken ähnlich und sie in allem nachahmend wie ein Kind seine Mutter: die dunkle Schnauze, die kurzen Hörnchen, das braune Fell mit dem hellen Streifen längs des Rückens, das ruhige Auge, die rauhfreundliche Zunge, alles gleich, hier wie dort. Hinter diesen beiden, in der dunklen Ecke, stand ›Gitzi‹, der Hanswurst der Gesellschaft, lebhaft wie eine Bachstelze, bald unten auf dem Boden, bald oben auf der Krippe. Trat man ihr nahe, so senkte sie den Kopf und streckte einem kampfbereit ihre spitzen Hörner entgegen. Aber es war alles nur gemachte Bosheit, denn gab man ihr einen Klaps auf den mageren Hals, so sah sie munter auf und meckerte, daß es wie ein lustiges Gelächter schallte, und zupfte man sie gar an dem langen Spitzbarte, so hüpfte sie vor Lust …
So sah des Vaters Reich aus; aber nur, wenn der König auf Reisen war; hörte man in der Tenne seinen schweren langsamen Tritt, so war es im Stall wie auf der Straße, wenn der Schulmeister an einem Rudel Buben vorbeigeht. Hirsi trat etwas zurück, um der Türe nicht allzunah zu sein – denn man konnte nie wissen – und blickte fromm vor sich hin in die Krippe, und hätte sich auch eine boshafte Mücke auf ihren Rücken gesetzt, es wäre ihr nicht eingefallen, mit dem buschigen Schwanz danach auszuholen. Bruni tat wie die Mutter und sah drein wie eine Konfirmandin, in deren Köpfchen der Ernst noch kein Sesselchen oder Schemelchen gefunden hat. Gitzi aber sprang von der Krippe herunter, musterte rasch den Boden, und lagen zwischen ihren Füßen ein paar Hälmchen Heu, die die unordentliche Fresserin vergeudet hatte, so warf sie sich darauf, ihre Sünde mit dem Leib verbergend. Trat nun der König mit dem breiten, in die Stirne gedrückten Hut und mit dem schwarzen, das ganze Gesicht überwuchernden Barte durch das Türchen und warf einen Blick auf sein Volk, so sah alles manierlich aus wie in einer Schulstube. Aber die Gemütlichkeit hatte sich derweil durch die Futterluken davon gemacht, hinaus in die Tenne und von da in die Küche, in Mütterchens Kreis!
Da wird nicht regiert, und doch geht alles fein und säuberlich zu. Selbst das Feuer auf dem steinernen Herde, dem sonst Wildheit und Ungestüm angeboren sind, leckt genügsam mit dem roten Zünglein an den Scheitern, denn es weiß wohl: da heißt es sparen und abermals sparen! Jetzt knarrt die Türe, und aus der Stube trippelt ein kleines, kleines Weibchen in grauem Rocke. Trüge es nicht das rote Mieder der Landestracht, bei Gott, man würde es für ein Wildfräulein halten. Es geht in der Küche hin und her und spricht gar selten, und doch wird einem so wohl bei dem Wildfräulein, so weich im Herzen. Wo mag das herrühren? Und erst wenn der Herrscher weit weg ist, im Feld oder im Walde, und es ein Liedchen zu summen anfängt, kaum hörbar.
Kommen sie nicht schon dahergesummt, wie friedsame Hummeln, diese alten Reime? Und dringen ins Ohr und zittern durch die Brust und mit ihnen all die Märchenbilder der Kindheit … Und wie einfach ist die Weise und wie bald gewogen das Wort:
Soli-soli will i der singe,
Öpfel und Birli will der bringe.
Öpfeli, Birli, Näspeli taigg,
As mis Buebeli z'esse haig!
Wie schlicht, wie leicht und doch dem Herzen wie süß! Es ist, als stecke eine ganze Welt in diesem Stammeln! Ja, freilich ist's eine Welt! Merkst du's denn nicht, daß das Mütterchen drin ist, des Mütterchens ganzes Gemüt, des Mütterchens ganze, vollgenossene und nie ausgeschöpfte Liebe! Drum schläft es sich auch so süß ein dabei; denn wo ist sicherer und lieblicher ruhn, als in der Hut der Liebe? Selbst das Feuer auf dem Herd verspürt es und wird schläfrig, ehe es an der Zeit ist. Hurtig werden ihm ein paar dürre Äste zugeworfen! Die wimmern wie eingesperrte Schuljungen und knallen wie Kanoniere und werfen Funken um sich, wie die Buben beim Fastnachtfeuer: sie sind in der Freiheit aufgewachsen und tun, wie es ihnen ums Herz ist! Sie lagen einst oben im Buchenwalde, den man durchs Küchenfenster sieht, über der sonnigen, im Schmuck der Reben stehenden Halde! Heinz hat sie gesammelt, mit einem Strick zusammengebunden und hinab ins Dorf geschleppt. Das Sammeln war mühsam und der Heimweg ein Pfad des Schweißes; aber oben die Freiheit, die Sorglosigkeit, die träumerische Einsamkeit! Wieviel konnte man dort oben in einem Stündchen erleben, wenn man mäuschenstill auf dem dürren rostroten Laube lag, von niemand gesehen als von ein paar neugierigen Sonnenstrahlen, die wie Silbernadeln durch den grünen Schirm der Laubkronen stachen. Da krabbeln die rastlosen Waldameisen; sie haben eine Entdeckungsreise unternommen und kehren nun wieder nach dem Tannenwalde zurück, tastend wie Blinde, die den Weg suchen …
Da arbeitet sich aus dem Teppich mühsam ein Käfer heraus, in Frack und schwarzen Hosen, und schlarft bedächtig davon. Jeden Augenblick steht er still wie einer, der von der Zeit nicht viel erwartet und auch nicht viel zu verlieren hat. Über dem Kopfe aber schwirrt und summt und geigt es in allen Singweisen und Taktarten! Da hüpfen und springen die Mücken und Fliegen, die großen mit den kleinen, und wenn zwei oder drei aneinander vorbeischweben, stoßen sie zum Gruß rasch mit den Flügeln an und rufen sich zu: »Kurz ist unser Tag! Drum laßt uns tanzen und singen und jubeln und lustig, ja lustig sein!« …
Eine Heuschrecke, die auf Abenteuer auszog und sich in diese Laubwüste verirrte, hört diesem Musizieren zu und die Lust packt auch sie, in so fröhlicher Gesellschaft ihren Lebenstag zu vertanzen. Sie schiebt die pergamentenen Flügel auseinander, horcht auf den Takt der Musik und als sie endlich herausgefunden, daß oben eine Polka gespielt wird: drrr! schwingt sie sich auf! Aber, o weh! Sie schlägt mit dem Kopf gegen ein Buchenstämmchen und liegt schon wieder im Laub, ganz verwundert ob solcher Ungeschicklichkeit. Sie versucht es nochmals. Umsonst! Und nun macht sie sich aus dem Laube, Hupf für Hupf, dem Waldrande und der sonnigen Grashalde zu. Da raschelt der Wald, und braun auf dem roten Boden trippelt es daher: auf hohen Beinen ein zierlicher Leib mit niedlichem Kopfe, und in dem Kopfe zwei neugierige, vor Furcht nie recht zur Ruhe kommende Augen: ein Reh ist's. Ihm folgt, noch stelzbeiniger, ein junges. Das ergötzt sich an allerhand Seitensprüngen, und wenn ihm die Fliegen auf dem Rücken zu lästig werden, lehnt es sich an ein Buchenstämmchen und reibt sich die unbequemen Gäste vom Leibe. So trottet es sorglos hinterdrein, und warum auch nicht: das Mutterauge wacht und fürchtet und zittert ja für beide. Schusch, schusch, schusch! tänzeln die beiden vorüber, dem Waldbache zu, der in einer Schlucht auf einem mit Laub gepolsterten Pfade lautlos dahinschlendert. Jetzt müssen sie unten sein, denn die Drossel, der eben noch die Waldeslust unbändig aus der Kehle drang, verstummt, und das Häslein, das dort unter den Ästen eines Tännchens sein Nest hat, hoppt vorsichtig davon, in Ungewißheit, ob Feind oder Freund ins Land gebrochen sei …
Und hat man lang genug regungslos im Laube gelegen, im geschwätzigen Laub, das jede Bewegung ausplauscht, so geht man hinauf in den Tannenwald, dessen verschwiegenes Moos jeden Schritt dämpft, so daß dir ist, es sei kein lebendes Wesen weit und breit, nicht einmal du selbst …
Und ist man hungrig, so schlendert man der ›Reute‹ zu, wo neben dem wuchernden tyrannischen Brombeerdorn die bescheidene Erdbeerstaude haust und im Brachmonat ihre Früchte sonnt, bis sie rot wie Korallen aus dem Gras herausgucken: »Liebt ihr mich, so beißt ihr mich!« Ja, auf der Reute, da ist's wonnig im Frühsommer, da summt es noch mutwilliger als unter den Buchen, da kraxeln die Marienkäferchen an den Grashalmen empor, und setzt man eines auf den Zeigefinger und redet es an:
Liebs Herrgottschäferli,
Flüg mer über de Rhi
Und säg der heilig Sant Katheri,
Es sött morn schön Wetter si!
gleich lüpft es die roten, schwarzpunktierten Flügeldecken und hervor schwellen zwei weiße Segelchen, und nun fährt das Schiffchen ab und steuert durch die Luft dem Rhein und der heiligen Sant Katheri zu, die drüben auf einer Wolke sitzt und ins Land hineinschaut … Und die Aussicht auf lange sonnige Tage verbreitet Lust und Behagen über die ganze Reute: die Heimchen zirpen in ihren Verstecken und meinen immer, es sei noch nicht hoch genug; die Blindschleichen winden sich gemächlich durch das Gras und vergessen fast die ewige Sorge um das Heil ihres gebrechlichen Schwänzchens; die Eidechsen sonnen sich auf einem Maulwurfshügel und horchen andächtig, wenn man ihnen ein Liedchen pfeift.
Und der Duft erst, der da aufsteigt! Duft des sprossenden Krautes und der jungen Holundertriebe, Duft der Brombeerblüten und der Weidenröschen, und vor allem die feine flüchtige Seele der welken Fichtennadeln, die in dicken Schichten herumlagern und der Sonne das einzige, was ihnen noch blieb, das Restchen balsamischen Öls als Tribut für Licht und Heizung hergeben. Wer kann an die sonnige, summende Reute denken, ohne jenen süßen Duft einzuatmen, der die Brust mit Jugendgedenken füllt? …
All das waren freilich verbotene Früchte für Heinz; hätte der Vater gewußt, warum er manchmal so spät mit seiner Bürde ins Dorf schlich und warum sie oft so leicht war, er hätte ihm das Umherlungern abgewöhnt! Und hätte er erst gewußt, was sein Früchtlein dort oben zu treiben anfing! Hätte er ihn doch genau betrachtet, wenn er von Hause fortging, den Strick um den Leib gebunden: er müßte gewahrt haben, wie er immer den einen Arm steif an die Rippen drückte, wie wenn er etwas darunter hätte fest halten müssen. Das mußte er freilich, da steckte zwischen dem Leib und dem Hemde ein Buch, der Robinson, oder das Goldmacherdorf, oder der Jugendfreund. Und war er einmal oben im Schatten, öffnete er vorne das Hemd und zog seinen heimlichen Schatz ans Tageslicht. Ja, es war für ihn ein Schatz, das Ding mit den abgegriffenen Deckeln und den schmutziggelben zerfetzten Blättern, und er las es und verschlang es wie ein Heißhungriger sein Stück Brot. Und war er hinten, so fing er wieder von vorne an, bis es ihm ganz in den Kopf hineingegangen war, der letzte wie der erste Buchstabe. Trug er dann die in Eile zusammengerafften Äste talwärts, so summten sie ihm bunt durch den Kopf, die Geschichte im Buch, und die andere, die er ersann, um sein langes Säumen zu bemänteln …
Ach, daß diese Zeit nicht ewig dauerte! Aber sie verging, wie jeder Traum: Heinz wurde älter und größer, in den Wald aber schickt man nur Buben, denen man eine ordentliche Arbeit noch nicht zumuten kann. Nun hieß es mit dem Vater ins Feld rücken, nicht etwa um den Störchen nachzugaffen, die über dem Ried klappernd ihre Versammlungen abhielten, oder den Krähen, wenn sie rauflustig einen Weih umschwärmten, der ruhig seines Weges segelte. Nein, da hieß es: »Heinz, du mußt das Heugras wenden! Heinz, nimm den Rechen zur Hand und spute dich! Heinz, mache dich hinter den Schnittern drein! Heinz, was für ein unanstelliger Schlingel du bist! Kaum hundert Ähren hast du beisammen!« – Ähren lesen auf dem stachlichen Stoppelfelde und keine Schuhe an den Füßen! Aber das war das Unangenehmste nicht: waren ›Hirsi‹ und ›Bruni‹ an Pflug oder Egge gespannt, wurde kommandiert: »Nimm die Peitsche!« Und gingen die beiden nicht rasch genug oder sahen sie nach den Raben, die von Erdscholle zu Erdscholle wackelten, so donnerte es hinterdrein: »Zu was hast du die Geißel, du Schlafmütze?« – Es schmerzte den Buben, auf seine Freunde einzuhauen, wie wenn er selber in ihrer Haut gesteckt hätte … Dann mußten Gras ausgejätet und Kartoffeln und Rüben aufgelesen werden, wobei es gar schmutzige Finger absetzte und die waren dem Heinz bis in die Seele zuwider. Niemand begriff das, am allerwenigsten der Vater, und wie oft, wenn der ungeratene Bub dastand und die erdigen Finger von sich streckte, als ob sie ihm um eine Handvoll Wasser feil gewesen wären, klopfte er ihm darauf oder zauste er ihm die Ohren und das Haar, und wie oft donnerte er ihn an: »Aus dir wird dein Lebtag nichts als ein Lump und ein Tagedieb! Du bist der dümmste ›Löhle‹ im ganzen Dorfe!«
Oh, welch Glück, daß der Sommer zu Ende ging! Nun kam die Schulzeit! An einem Herbstmorgen, als der Reif bis auf die Dächer gestiegen war und das Laub sich sonnenmüde von den Bäumen zur Erde fallen ließ, schritt der Wächter durchs Dorf, stand alle hundert Schritte still und schwang die Glocke, die er in der Hand trug, so unsanft, daß sie durch die Gasse heulte wie ein Hündchen, das die Peitsche eines Fuhrmanns getroffen hat. Dann rief er mit kreischender Stimme: »Es ist zu wissen, daß morgen die Schule beginnt! die Schule beginnt!« Das war den meisten Kindern eine schreckhafte Botschaft: bedeutete sie doch den Verlust der Freiheit! Manchem drückte schon bei dem bloßen Rufe die dumpfe, staubige, bald flüsternde, bald gellende Schulluft auf die Brust. Nicht so Heinz. Sobald er den Wächter hörte, eilte er ihm entgegen und schritt zwanzig Schritt hinter ihm drein das Dorf hinab, und süß wie oben im Walde das Drossellied, schien ihm die schrille Stimme der Schelle und das heisere »die Schule beginnt!«
Am folgenden Tage schlichen die Dorfkinder griesgrämig, die einen mit gewaschenen, die andern mit ungewaschenen Backen die Straße entlang, die Tafel und das Buch unter dem einen Arme, ein Scheit unter dem andern. Mitten im Dorfe stand ein Bauernhaus, wie alle andern; dort verschwanden sie. Hinter der Haustüre hielt eine große, stark gebeugte Frau Wache. Sie grüßte die Kleinen, nahm ihnen die Scheiter ab und wog sie in der Hand. In der Stube stand eine Schnitzbank, an der ein stämmiger Mann hobelte und klopfte und sägte; er hatte zwei große runde Fenster vor den Augen, trug ein schwarzes Käppchen und eine dunkelblaue Schürze, die von der Brust bis auf die Knie reichte. Das war der Schulmeister, der zugleich der Küfer des Dorfes war und allgemein nur der Küferjörg hieß. Er schnitzte ruhig an seinen Dauben, bis sich die Stube gefüllt hatte; dann griff er nach dem schweren Holzhammer und schlug dreimal auf die Schnitzbank: »Laßt uns beten, Kinder!« Nachher ging es an das ›Namenbuch‹, den ›Lehrmeister‹ und den ›Katechismus‹. Der Küferjörg ging hin und her, sich bald mit dem einen, bald mit dem andern Schüler abgebend, und war so freundlich mit jedem, daß man bald nicht mehr an die verlorene Ungebundenheit und den lärmenden Dorfplatz dachte. Die Schulmeisterin saß gebeugt im Winkel beim Ofen, und ihr Spinnrädchen surrte geschäftig und heimelig zu dem Kratzen der Griffel und Federn und zu den Kinderstimmen, die in singendem Tone ihre Sprüche hersagten. Hörte der Schulmeister das schnurrende Rädchen nicht mehr, so war ihm das ein Zeichen, daß die junge Gesellschaft zu laut sei; bedächtig wie immer ging er dann zu der Schnitzbank, ergriff den Hammer und donnerte dreimal: Ruhe, Ruhe, Ruhe! So vergingen die Tage und sie glichen einander wie die Blätter des nämlichen Baumes. Nur von Zeit zu Zeit fiel dem einen oder dem andern ein, ein solches Leben sei denn doch zu einförmig, und mit dem heldenmütigen Entschluß, sich für die Gesamtheit zu opfern, setzte er irgendeine Teufelei in Szene. Dann packte ihn der Jörg am Arme, hob ihn mühelos, als wäre er ein Hobelspan gewesen, aus der Bank und trug ihn hinaus in die Küche. Dort war eine Falltüre, durch die man in den Keller stieg, die aber meistens geschlossen war. Dem Sünder fuhr nun die Angst in die Glieder und er erhob ein mörderisches Geschrei: »Ich will es gewiß nimmer tun!« Nun fing des Alten Zorn schon an zu schmelzen, denn er war ein herzensguter Mann und mußte er einem ein Haar krümmen, so tat es ihm in der Seele weh.
»Willst du nimmer so bös sein?«
»Nein!«
»Versprich es mir!«
»Ja–a!«
»So geh hinein!«
Und der vor einigen Augenblicken noch so opferfreudige Held trat schluchzend durch die Türe. Die andern sahen schelmisch nach ihm und lachten. Die Schulmeisterin aber rief ihm zu, tadelnd und tröstend zugleich: »Könntest ja recht tun, und selb könntest!«
Der Winter zog sich allmählich zurück, wie sich eine Schnecke in ihr Haus verkriecht, wenn ihr die Sonne zu hell auf die Hörner scheint; auf den Dächern verschwand der Schnee und die armlangen Eiszapfen stürzten einer nach dem andern herab und zerschellten. Das mahnte den Schulmeister an die Examenzeit. Von nun an ließ er jeden Abend die älteren Schüler zusammentreten und singen: »Myni Läbenszyt verstrycht …,« denn das war das Lied, das der Jörg, der nicht gerade eine Amsel war, im kleinen Finger hatte und deshalb an jedem Examen zur allgemeinen Erbauung singen ließ. Und das Examen kam. Alle Schüler steckten in den besten Kleidern, die sie hatten, und saßen mäuschenstill in ihren Bänken. Der Küferjörg im schwarzen Rocke, diesmal ohne Schürze und Käppchen, stand am Fenster und blickte das Dorf hinauf. Jetzt drehte er sich um: »Bst!« Bald darauf bewegte sich gravitätisch ein schwarzer, hoher Hut am Fenster vorbei, und nun ging die Türe auf: »Guten Tag, Herr Junker Pfarrer!« – so mußte man ihn nennen. »Guten Tag, Herr Schulmeister! Guten Tag, Kinder!« Darauf ging es ans Beten, Lesen, Rechnen und Schreiben. Nach und nach kamen die Väter herein und stellten sich an eine Wand, horchten oder horchten auch nicht, und wer Gemeinderat oder Friedensrichter war, wagte sich dreist zwischen die Bänke, um nachzusehen, ob sein Bub auch schöne Buchstaben male. Zum Schluß sang man: »Myni Läbenszyt verstrycht,« und die Alten brummten den Baß dazu. Die Jungen hatten ihre Pflicht getan; nun stellte sich der Junker Pfarrer vor die Tische und sprach etwas, und wenn er zu Ende war, sagte auch der Küferjörg einen Spruch und hieß die Kinder nach Hause gehen. Draußen vor der Türe stand der Schulverwalter und neben ihm die Schulmeisterin mit einem Korb voll brauner Wecken. Hatte die gute Alte über den Winter die Scheiter aus den Händen der Schüler empfangen, so kriegten diese nun aus den ihrigen die noch warmen, duftenden Laibe. Wie ein Bienenschwarm summten die Schüler auseinander: »Adee, Schulluft! Adee, Einmaleins und Namenbuch! Die Freiheit ist wieder mit uns! Juhe!«
Heinz aber dachte an die erdigen Finger und hatte keine Freude an seinem Wecken.
Der Sommer kam an einem Ende des Landes herein und ging am andern hinaus, und kam wieder und wieder; aber er, der früher Heinz ein so lieber, süßer Kamerad gewesen war, wurde immer unfreundlicher und rauher und ließ keinen Tag durchs Tal gehen, ohne ein Hagelwetter über den armen Jungen auszuschütten, und jeder Donnerschlag kannte menschliche Sprache und rief ihm zu: »Du Taugenichts! Du Tagedieb! Du Lump! Du bist der unanstelligste Laffe landauf, landab!«
Einmal war es den ganzen Tag über schwül und drückend und schwer. Man gewahrte die Wetterwolke noch nicht, aber man fühlte es: sie wird kommen, sie ist schon auf dem Wege und eilt und eilt und kann jeden Augenblick ihren Schatten über den Wald weg ins Tal hinunter werfen. Was wird sie bringen? Oh, die Angst, die schier den Atem erdrückt! ›Hirsis‹ Liebkosungen merkt man nicht und ›Gitzis‹ Gelächter versteht man nicht; die lärmenden Stare könnten das ganze Abendrot vom Kirschbaum stehlen: man sähe es nicht! Endlich poltert es daher: »Heinz, morgen schnürst du dein Bündel! Ich habe heut mit dem Riedbauer geredet, du sollst einmal sehen, wie fremder Leute Brot schmeckt!«
Wohl ließ sich des Mütterchens schwache Stimme vernehmen wie ein Gebet, das man einem unheildrohenden Wetter entgegenmurmelt, aber sie drang nicht durch, und am folgenden Tage schritt Heinz weinend von dannen, ein Säcklein auf dem Rücken, in das ihm eine liebe Hand seine ganze Habe und obendrein ein großes Stück Brot, Brot aus dem Elternhaus, gesteckt hatte.
Sein Meister, der Riedbauer, war im Grunde eine gute Haut, aber jähzornig wie ein Truthahn. Er machte nicht viel Umstände: wenn beim Pflügen ein Ochse auf die ›Art‹ trat, griff er mit seinen schweren, rissigen Pranken nach einer Erdscholle und warf sie dem unaufmerksamen Treiber an den Rücken oder an die Beine oder an den Kopf, wie es sich gerade traf. Heinz ließ das einige Wochen über sich ergehen, aber einmal steckte in einer Scholle ein Stein, der ihm ein großes Loch in den Kopf schlug, so daß ihm das Blut in den Nacken rieselte. Da warf er die Peitsche den Ochsen unter die Füße und sprang davon. Der Riedbauer folgte fluchend hinterdrein, da er aber dicken Leibes und kurzen Atems war, holte er das dünnbeinige Knechtlein nicht ein; er kehrte schimpfend zu seinen Ochsen zurück und war froh, seine Wut an ihnen auslassen zu können, denn sie hatten die Gelegenheit wahrgenommen und waren auf die weiche, kühlende ›Art‹ hinausgetreten.
Heinz lief erleichtert talwärts, dem Dörfchen zu. Als er aber des Kirchtürmchens ansichtig wurde, beschlich ihn die Angst: ihm war, das Zifferblatt sei ein großes Auge und sehe ihn strafend an: »Was willst du hier unten, du Tunichtgut?« Die Füße träg am Boden schleppend, bog er nach seines Vaters Haus ein. Als er die Tenntüre behutsam aufschob, tönte es fröhlich aus dem Stall: »Hä, hä, hä!« Das war ›Gitzi‹, sie hatte ihn durch die Futterluke bemerkt und ließ der Freude die Zügel fahren, obschon der König im Reiche war. Nun spitzten auch die beiden andern Untertanen die Ohren, schüttelten ihre Ketten und wie Trompetenschall klang ihr Gruß durch das Haus. Der König merkte, daß etwas Außergewöhnliches vorging und trat heraus in die Tenne: »Was? du hier? Natürlich, wer kann so einen Tölpel brauchen! Was? So ist's? Drausgelaufen bist du? Wart, du Landstreicher, dich will ich's lehren!«
Eilig schritt er in den Stall zurück. Heinz wußte, was das bedeutete. Drinnen hing an einem hölzernen Nagel ›Hirsis‹ Halsriemen, ein schweres Lederband, das am Ende eine wuchtige Schnalle trug. Hu, wie die ins Fleisch schlug! Heinzens Füße lüpften sich, ohne daß er es ihnen kommandiert hatte, und trugen ihn davon aus dem Haus, auf die Straße, über den Steg ins Feld hinaus und den Rebberg empor, hinauf in den Wald. Erst als er oben keuchend zusammenbrach, starrte er hinter sich, ob ihm der Halsriemen nicht folge.
Die Sonne duckte sich schon hinter den Hügel, als Heinz auf einem großen Umwege ins Dörfchen schlich. Er machte sich so klein wie eine Katze, die nach Vögeln streicht, als er auf den schmalen, zwischen grünen Hecken eingeklemmten Pfaden sich durch die Obstgärten stahl. Er folgte dem Ruf starker Hammerschläge, die sich, wie es schien, an einem Faß ausließen.
»Guten Abend, Schulmeister!«
»Guten Abend, Heinz! Was führt dich her? Aber was ist dir? Du hast ja Augen so rot wie Ziegelsteine!«
Da beichtete ihm Heinz alles und klagte ihm sein Elend und wie ihm die Landarbeit zuwider sei. Der Küfer kratzte sich hinter den Ohren und sann. Dann sprach er endlich: »Willst du Küfer werden?« – »Nein.«
»Aber Schlosser?« –
»Nein, ich möchte am liebsten Schulmeister werden.«
Da lachten des Alten Augen; er gab Heinz einen Klaps auf die Achseln: »Das ist's, Junge! Das sollst du werden! Für Handarbeit taugst du freilich nicht, das geht dir nicht von statten! Höre! wir gehen morgen nach Kreuzbach zum neuen Seminardirektor.«
»Aber da braucht man einen Haufen Geld, nicht?«
»Lass' nur den Küferjörg sorgen, Junge! und geh' jetzt nach Hause, schlaf' dich tüchtig aus und komm morgen früh zu mir.«
»Komme ich nach Hause, so kriege ich Schläge, und sag' ich, was ich vorhabe, so läßt mich der Vater nicht ziehen!«
»So bleibst du diese Nacht bei mir,« erwiderte der Küferjörg nach einigem Besinnen. »Aber die Sonntagskleider solltest du freilich haben, in diesen …«
»Ich habe keine andern.«
Der Schulmeister kratzte sich wieder hinter den Ohren und musterte dabei den vielgeflickten, fransigen Zwilchanzug des Jungen: »Das ist freilich schlimm … doch halt! so geht es wohl!« fügte er nach einer Weile hinzu und knallte dabei mit seinen schwieligen Fingern. »Komm jetzt ins Haus, wir müssen meiner Frau sagen, daß du heute bei uns schläfst, damit sie sich einrichten kann.«
Heinz schlief in jener Nacht nicht. Als sich die kleinen runden Fensterscheiben von der dunkeln Bleieinfassung abzuheben begannen, und die Nacht wie ein Dieb lautlos davonschlich, hörte er die Kammertüre knarren, und an sein Bett trat die Schulmeisterin mit einem Lichte in der Hand und sagte: »Steh' jetzt auf, Heinz, und ziehe dies Gewand an. Bevor du herunterkommst, fülle dir aus dem Trog dort die Taschen mit Äpfelschnitzen, und selb tu, sie sind auf dem Wege gut für Hunger und Durst, und selb sind sie.«
Der Junge schlüpfte in die Kleider und hob dann den schweren Deckel des Troges in die Höhe. Ein starker, sauersüßer Geruch kam ihm entgegen, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er tat ein paar kräftige Griffe in die weiche tiefe Schicht und füllte sich die Taschen. Als er in die Stube trat, kam ihm der Schulmeister entgegen und drückte ihm die Hand, daß die Finger knackten; dann führte er ihn ans Fenster, um seinen Anzug zu mustern: eine schmetternde Lache schüttelte die breite Brust des Alten: »Ha, ha, ha! Da sag' mir einer noch, Kleider machen keine Leute! In einer Nacht ist der David zum Goliath geworden!«
Nun erst warf Heinz einen Blick auf seine Gewandung: seine spindeldürren Beine und Arme staken in weiten Röhren, wie Stecken in einem Mehlsack; an seine schmalen Schultern hängte sich ein riesenhafter Rock und wußte nicht, wie er sich benehmen und es sich bequem machen sollte; die Schöße fielen plump auf die Knie herab und schienen von ihrer Erniedrigung wenig erbaut zu sein, und der Kragen hängte sich ängstlich an die schmalen Schultern, in beständiger Furcht, von seinem schmächtigen Sitz abzurutschen. Das war das redliche Werk der Schulmeisterin. Sie hatte bis Mitternacht bei der Ampel gesessen und an einer alten Kleidung ihres Mannes von den Ärmeln des Rockes und den Röhren der Hosen breite Ringe abgeschnitten und die Wunden, so gut es ihre alten krummen Finger vermochten, wieder frisch gesäumt.
Heinz sah den lachenden Jörg fragend an; der gab ihm, wie es seine Gewohnheit war, einen Klaps: »'s geht schon, mein Junge!«
Sie traten in die frische Morgenluft hinaus. Als Heinz an des Schulmeisters Seite durch das Dorf schritt und das Vaterhaus zwischen den Bäumen hervorgucken sah und ihm das erhellte Küchenfenster ein zitterndes ›Lebewohl‹ zuwarf, wurde ihm weh ums Herz. Er hatte die ganze Nacht ans Mütterchen gedacht und konnte nicht widerstehen: »Ich komme Euch nach, Schulmeister!« rief er und bog laufend in den Seitenweg ein, und die Schöße seines Rockes flogen wie die unsichern Schwingen junger Krähen. Am Tenntürchen angelangt, legte er das Auge an eine klaffende Fuge; der Vater mußte im Stall sein. Lautlos schlich er durch die Tenne, öffnete behutsam die Küchentüre und schob den Kopf hinein. Da stand das Mütterchen am Herd, sah ins Feuer und weinte.
»Mutter!«
»Heinzi!« Und sie schluchzte laut auf, als sie sich erschreckt nach ihm drehte. »Heinzi, Heinzi, was machst du uns für Kummer! Um's Himmels willen, werde doch kein schlechter Mensch! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan und dein Vater auch nicht. Er hat dich all die Zeit mit der Laterne gesucht und einmal geweint wie damals, als wir das Lischen auf den Kirchhof trugen; er hat dich auch lieb, Heinz, und du machst ihm so gar keine Freude!«
»Ich fürchte mich vor ihm!«
»Folg' ihm brav, und dann brauchst du keine Angst zu haben.«
»Nein, Mütterchen, ich will nicht mehr hier bleiben, es wird kein rechter Bauer aus mir, ich gehe heute mit dem Küferjörg nach Kreuzbach und will Schulmeister werden.«
Sie sah ihn groß an; darauf faßte sie ihn in ihre schwachen Arme und tat, was sie noch nie getan hatte, seit er ein großer Bub geworden war: sie drückte ihre Lippen auf seinen Mund. Dann preßte sie hervor: »Geh' in Gottes Namen, Heinz, so wird es gut werden! Geh' und bleibe brav, mir zuliebe!«
Ihm liefen die Tränen wie Bächlein über die Backen, als er davon stürzte, und es war ihm, als halte jemand sein Herz zurück und lasse es nicht los, und er müsse es sich, um fortzukommen, selber aus der Brust reißen.
Das Seminar war ein großes, düsteres Haus, ein altes Kloster. Heinzen wollte der Atem nicht in die Brust hinabsteigen, als er durch die langen unheimlich hallenden Gänge schritt. Vor einer Türe blieb der Schulmeister stehen, nahm den Hut in die Hände und gab dem Jungen ein Zeichen, das Gleiche zu tun. Dann räusperte er sich und pochte so sanft an die Türe, als es seine rauhen Finger fertig brachten. Sie traten in ein weites, aber niedriges Zimmer. Rings an den Wänden standen braune Gestelle mit ernsten Bücherreihen. Heinz wurde fast beklommen bei ihrem Anblick. Mitten aus dieser Gelehrtheit tauchten zwei Augen auf wie zwei freundliche, liebe Sterne in der Dämmerung, und ihr Schein tat wohl und verscheuchte das Bild der trostlos hallenden Gänge.
»Ich führe Euch da einen meiner Schulknaben zu,« begann der Schulmeister, indem er den Hut zwischen den Fingern drehte; »er wollte sich zu bäurischer Arbeit nicht recht schicken und hat auch nach einem anderen Handwerk kein sonderlich Verlangen; dagegen hat er viel Lust und Eifer zum Bücherlesen, kann auch nicht übel mit Zahlen umgehen und hat eine helle Stimm' zum Singen. Er ist von guter Art, und könnt' schon was Rechtes aus ihm werden, wenn Ihr ihn wolltet unter Eure Obhut nehmen. Sein Kostgeld freilich könnt' er nicht bezahlen, einen Teil aber will ich zuschießen und den anderen müßt' er halt nach der Lehrzeit abverdienen, wie man auch schon Exempel gehabt hat. Er heißet Heinrich Wendelin und ist Kaspar Wendelins Bub zu Brachenwyl.«
Der Direktor hieß den Alten und den Jungen Platz nehmen und fing an mit ihnen zu plaudern, sich im Verlauf des Gespräches immer mehr an Heinz wendend. Was der nicht alles zu fragen hatte! Und immer ruhten seine großen freundlichen Augen auf dem Knaben und schienen fast noch dringlicher zu fragen als die Lippen. Und die Fragen wurden immer schwieriger und die Antworten lösten sich immer bedächtiger von der Zunge und auf einmal wurde es Heinz klar: der Direktor hatte ihn ins Examen genommen! Er fuhr leise zusammen und blickte nach dem Schulmeister. Der lächelte; das gab ihm neuen Mut, und er nahm sich zusammen. So ging es weiter mit Fragen und Antworten, wie wenn zwei auf dem Acker Garben laden: der oben ist, streckt die Hände, der unten ist, reicht ihm das Bund mühsam und keuchend hinauf, und kaum ist ihm die Last abgenommen, so sieht er schon wieder die begierigen Hände ihm entgegenstreben. Wie Heinz so recht im Zuge war und ordentlich warm wurde, hörte er neben sich, da, wo der Schulmeister saß, ein lustiges Knallen und wieder eins, und so bei jeder Antwort: so drückten des Schulmeisters schwielige Finger ihr Behagen aus. Als Heinz einmal, da ihn der Direktor etwas schnaufen ließ, den Kopf nach der Seite drehte, sah er, daß Jörgs Augen glänzten. Das war ihm ein Zeichen, daß alles seinen guten Gang gehe. Aber man ließ ihm nicht lange Zeit zu Betrachtungen, wieder mußte er die Garben reichen und sie wurden immer schwerer, und es gab solche, bei denen er zweimal ansetzen mußte, so daß ihm der Schweiß auf die Stirne trat; und schließlich kam eine, die ging über seine Kraft, wie sehr er sich auch abmühte, und dann noch eine und noch eine. Da fuhr ihm die Angst in die Brust! Man wird dich nicht aufnehmen! Und die Augen liefen ihm über, obschon er sich dagegen wehrte. Der Direktor aber erhob sich, strich dem Jungen begütigend mit der Hand über die Stirne und sagte: »Es ist schon gut, Heinrich!«
»Schickt Ihr mich nicht wieder fort?«
»Nein, du kannst hier bleiben, wir wollen's mit dir versuchen!«
Des Küferjörgs runzliges Gesicht jubelte. Was der Alte für schöne Worte fand, um dem Direktor zu danken! Sie waren gefügt und paßten zusammen wie die Dauben seiner Fässer.
Heinz gab ihm noch eine Strecke weit das Geleit. »Nun, Heinz,« sagte der Alte mit leise bebender Stimme, »kannst du zeigen, daß rechtes Holz an dir ist. Stecke dir dein Ziel hoch, so hoch, daß es dir unmöglich scheint, es zu erreichen; aber richte dich so ein, als ob du überzeugt wärest, es sei das erst der eine Gipfel und du hättest die Kraft, noch einen höheren zu erklettern. Handle immer so, daß du dir sagen kannst: Sähen mich die, die mich liebhaben, sie sprächen: ›Es ist recht so, Heinz!‹ Und fassest du einen Entschluß, so frag' das Herz vor dem Kopf. Kehr' jetzt um, und drückt dich einmal etwas, so denke an den Küferjörg, er ändert sich in seinen alten Tagen nicht mehr.«
Dies sagend, zog er einen ledernen Beutel aus der Tasche, griff daraus ein paar Brabantertaler, die damals, in den dreißiger Jahren, im Lande noch galten, und drückte sie dem Knaben in die Hand: »Leb' wohl, Heinz!«
»Oh, Schulmeister!«
Nun kamen drei Jahre, düster und hell: düster das Haus, die Zimmer, die Gänge, düster die Wolke, durch die Heinz das Vaterhaus sah, dem er entlaufen war; aber hell, heiter wie die Frühlingssonne, das Auge des Direktors, und was waren jene Schatten gegen dieses Leuchten.
Heinz war kaum achtzehn Jahre alt, als er ins Leben hineingeworfen wurde, wie ein Scheit in einen reißenden Fluß: es schwimmt, wie die Wellen es treiben, bald hastig, bald friedlich, es wird von Zeit zu Zeit ans Ufer getrieben und ruht dort zwischen Wurzeln aus, bis eine höhere Woge es wieder fortführt; endlich bettet es sich unten in der Ebene in den Sand und vergißt das Hasten und Wandern für ewig.
Das Scheit Heinrich Wendelin fand zuerst eine Raststätte im Hinterland, im Bergdörfchen Steinhausen, einem der ärmsten im Lande. Es war in den Jahren, da die alte Schule von der neuen verdrängt wurde. Weh' dem jungen Lehrer, der der Anfechtung und Verfolgung nicht eine Stirne entgegenhalten konnte, auf der Begeisterung und Überzeugung geschrieben standen. Da waren die alten, abgesetzten Schulmeister, die den Verlust ihrer Winterbeschäftigung nicht verschmerzen konnten und nun nichts Besseres zu tun wußten, als ihren Nachfolgern Stöcke zwischen die Füße zu werfen. Keiner hätte davon mehr erzählen können, als Heinrich Wendelin in Steinhausen. Dort war das Schulmeisteramt seit Menschengedenken wie ein Großvaterstuhl vom Vater auf den Sohn übergegangen; man nannte diese Leute schlechtweg ›des Schulmeisters‹. Das ganze Dorf empfand es als einen Akt der Gewalt, daß die Regierung den alten Abc-Verwalter ersuchte, seine Fuchtel anderen Händen zu überlassen. Wenn der ›Neue‹ einer aus ihrem Dorfe gewesen wäre, sie hätten's nicht so empfunden, aber so einer aus einem Neste des Unterlandes, und der zudem, wie die Bauern sagten, noch nicht einmal hinter den Ohren trocken war! Gnade ihm Gott!
An dem Sonntage, da man den neuen Schulmeister erwartete, tönte das Wirtshaus ›Zum Hirschen‹ wie eine Trommel; da wurde auf den Tisch geschlagen, daß die Gläser ihres Lebens nicht mehr sicher waren und entsetzt aufsprangen. Die Bauern bliesen ihre Backen auf, wie der Schlächtermeister die Schweinsblasen: »Zum Teufel mit der neuen Lehr'! War die alte gut genug für uns, so ist sie auch für unsere Buben recht!«
»Und die Kinder wollen sie uns auch im Sommer in das verdammte Schulloch sperren! Wo sollen wir die Ackerbuben in aller Welt auftreiben?« rief der Wirt mit seiner im Fette fast erstickenden Stimme.
»Das ist das Ärgste noch nicht!« donnerte der Säckelmeister des Dorfes, der einst in fremden Diensten gewesen war. »Habt ihr's nicht gemerkt, daß sie uns auch zwingen wollen, ein neues Schulhaus zu bauen, wie sie's drinnen in der Stadt haben, größer und nobler als der König von Neapel einen Palast hat? Wollt ihr das zahlen? Und mit was? Wo 's Geld hernehmen und nicht stehlen? Hä?«
Wie die Fäuste so recht im Zuge waren und dröhnten wie Flegel in der Tenne, stieg der alte Schulmeister auf den eichenen Tisch, stampfte mit seinen genagelten Schuhen so ausgiebig auf die Platte, daß die Hände den Wettstreit nicht mehr aushalten konnten und sich zur Ruhe bequemten. Als alle nach ihm blickten, schrie er: »Das Schlimmste merkt ihr noch gar nicht! Glaubt es mir oder glaubt es mir nicht, aber ihr werdet euch noch einmal daran erinnern, daß ich es euch hier auf dem Tische gesagt, ich der Schulmeister Felix: all das gilt unserer Religion! Der soll es an den Kragen gehen! Nennt mich einen Spitzbuben, wenn der ›Neue‹ nicht den Katechismus und das Testament auf den Mist wirft! Denn ein Heide ist jetzt Meister in Kreuzbach, oder der Belzebub selber! Und heidnisch ist all der junge Schulmeisterfasel, und Heiden sollen eure Kinder werden!«
Da brach der Sturm los, wilder, als wenn man den heiligen Krieg gegen den Großtürken gepredigt hätte, und bald verstand man in der Schenke sein eigenes Wort nicht mehr.
Die jungen Burschen, denen jede Gelegenheit willkommen war, um ihre Nachtbubenstreiche in ein deckendes Mäntelchen zu hüllen, verließen das Wirtshaus und hielten draußen auf dem Hof Rat. Als sie einig waren, zogen sie singend und grölend die Dorfgasse hinunter. Kaum war die Nacht hereingebrochen, da rotteten sie sich vor dem Haus, in welchem der neue Schulmeister wohnen sollte, wieder zusammen, griffen nach Steinen und Stöcken, und klirrend flogen die Fensterscheiben in Scherben. Bald darauf nahte sich ein Schatten dem Hause: es war der ›Neue‹, aber neben ihm entdeckte man die hohe, schlanke Gestalt des Pfarrers. Unmöglich, dem Neuling all die Grüße darzubringen, die man ihm zugedacht hatte! Die Burschen wichen zurück und lauerten im Dunkeln hinter den Baumstämmen und Hecken. Da hörten sie, wie der Pfarrer beim Anblick der Verwüstung den Schulmeister zu sich in sein Haus einlud. Verflucht! Der Schwarzfrack hatte ihnen den ganzen Spaß versalzen! Sie rächten sich, indem sie in jener Nacht das Tor des Pfarrgartens aushoben und auf einen hohen Birnbaum hängten.
So wurde Heinrich Wendelin in seinem Wirkungskreise empfangen und so trat man ihm entgegen, wo sich immer Gelegenheit bot. Er aber ließ das Banner nicht sinken, und so blieb auch der Lohn nicht aus. Freilich, von den Alten war einstweilen nichts als Schimpf und Haß zu ernten, dafür aber gewann er die Jugend im Fluge, trotz seiner linkischen Art, die den Spott herausforderte. Denn wo ein Lehrer begeistert unter Kinder tritt und sie es ihm anmerken: unser ist er ganz und gar, da mag er bucklig und wüst und unanstellig sein, daß Gott erbarm, die jungen Geister fliegen ihm doch entgegen, wie die Tauben der Hand, die ihnen Futter streut. Und neben den hundert kleinen Freunden gewann Heinz auch einen großen; es war der Pfarrer, ein sechsundzwanzigjähriger Mann, der, wie er, in Steinhausen sein erstes Arbeitsfeld gefunden hatte. Unter Anleitung des Freundes fing Wendelin an, seine lückenhafte Bildung auszubessern, Flicken um Flicken, sich vor allem Latein und Griechisch in den Kopf zu stopfen, soviel hineingehen mochte. Was war das für ein Leben! In der Schule der Glanz von hundert kleinen Sonnen und zu Haus noch mehr Wärme und Erleuchtung aus zweien!
Zu Wendelins unsäglichem Schmerze wurde der Pfarrer von einer Brustkrankheit ergriffen, die ihm die Ausübung seines Berufes unmöglich machte und ihn zwang, nach dem Süden zu ziehen. Wie öd war nun das Dorf auf einmal geworden, und wie ungastlich und sonnenarm. Wären nicht die Kleinen gewesen, es hätte Heinz auch im Sommer gefroren! Und wie die Pfeile wieder um den Schulmeister schwirrten, als die ehrwürdige Gestalt des Pfarrers sich nicht mehr wie ein Schild vor ihn stellte! Und wie ungeschickt der Verfolgte war, sie abzuwenden!
Ein Jahr später verließ auch Heinz die Steinhäuser, die Alten mit leichtem Sinn, die Jungen mit schwerem Herzen und nicht, ohne sich Vorwürfe zu machen. Aber es trieb ihn in die Hauptstadt, wo er an der neugegründeten Universität Geschichte studieren wollte. Denn Küferjörgs Abschiedsworte klangen ihm in den Ohren nach und folgten ihm auf Schritt und Tritt, wie manchmal eine Melodie nicht von uns lassen will: »Nun kannst du zeigen, daß rechtes Holz an dir ist! Stecke dir dein Ziel hoch!« In der Tasche trug er hundertundfünfzig Taler, und wenn er die blanken Scheiben auf der Hand wog, meinte er, nun sei die ganze Welt für ihn feil.
Der Geschichtsstudent Heinrich Wendelin bewohnte ein Dachstübchen in der Marktgasse. Er saß über seinen Büchern mit der Zähigkeit eines Bauern. Mehr als zwei Jahre hatte er an seinen hundertundfünfzig Talern gezehrt und an dem spärlichen Erträgnis einiger Privatstunden, die er den Kindern eines Kaufmanns erteilte und die ihm sein pfarrherrlicher Freund aus der Ferne verschafft hatte. Wie hatte er gespart und jeden Batzen zehnmal umgewendet, bevor er ihn aus der Hand ließ! Immer stand der eine seiner Füße auf Grund und Boden des Hungers und der andere nicht weit davon. Da gab es keine roten, vollen Backen; aber es ging leidlich, bis eine böse Wendung eintrat: der Kaufmann zog aus der Stadt weg und ließ Wendelin brotlos zurück.
Mit kleinmütiger Seele zählte Wendelin an jenem Tage seine Barschaft. Es blieben ihm noch elf Taler. Jetzt hatte er keine Lust mehr zu fragen, was etwa die Welt kosten möchte, wie damals, als er von Steinhausen wegzog. Er wußte nun, wieviel sich mit elf Talern anfangen ließ. Jetzt galt es, den Magen nach dem Geldbeutel einzurichten! Wer dabei gut fuhr, waren die Zähne, denen immer weniger Arbeit zugemutet wurde. Denn Wendelin hoffte durch Sparen und Fasten seine Barschaft so lange strecken zu können, bis neuer Verdienst sich einstellen würde. Er machte sich daran, Beschäftigung zu suchen, stolperte aber beständig über seine Linkischheit. Der Bücherwurm war zu nichts tauglich, als etwa zum Erteilen von Unterricht, fand jedoch den Weg nicht in die Häuser, wo Privatlehrer ihr Brot finden, und verfiel auf niemand, der ihn richtig hätte weisen können. Wohl kannte er einige Leute in der Stadt, aber es waren arme Schlucker wie er selber, Leute, vor denen sich die Türen der Reichen nicht gerne öffneten und deren Empfehlung wenig frommte. Von ihnen konnte er nichts erwarten. Und wenn er sich auch ein Herz faßte und eine fremde Türe aufstieß, so schnarrte sie ihn so unwirsch an, daß er alles Selbstvertrauen verlor. Wurde er dann vor den Hausherrn oder die Hausfrau geführt, so benahm er sich ungeschickt wie ein schüchternes Kind: sein Bückling belustigte, seine schäbige Kleidung tötete das Zutrauen und seine unsichere, stotternde Stimme vermochte es nicht wieder zu erobern. Jedesmal wenn er einen solchen Besuch gemacht hatte, sagte er sich beim Fortgehen: »Oh, was bist du für ein Tölpel, für ein Tölpel!« Er schämte sich, und dabei fiel von seinem sonst schon geringen Selbstvertrauen wieder ein Fetzen ab, dergestalt, daß er schließlich gar nicht mehr den Mut fand, sich vorzustellen und oft, wenn er den Griff einer Haustüre erfaßt hatte, die Hand wieder sinken ließ, um unverrichteter Sache nach Hause zu kehren.
Das beste wäre gewesen, er hätte sich an seine Professoren gewendet. Aber die Kluft zwischen ihnen und ihm dünkte ihn so tief, daß er den Sprung zu ihnen nicht wagte. Dazu kam seine ererbte bäuerische Verschlossenheit, die falsche Scham und der falsche Stolz: einen fremden Menschen in seine Not blicken lassen? Ihm sagen: »Sieh, ich muß hungern!« Sich der Gefahr aussetzen, von einem andern mitleidig, vielleicht schadenfroh belächelt zu werden? Nein, nein, lieber daran zugrunde gehen.
Hätten der Küferjörg und der Pfarrer noch gelebt, er hätte sich ohne Scheu an sie gewendet, die beiden hätten seine Not mitgefühlt, aber sie waren ja längst nicht mehr, der eine lag im Friedhof zu Brachenwyl und der andere fern von der Heimat im Tessin, und keiner konnte dem ungeschickten Heinz mehr raten. Auch der freundliche Seminardirektor war unerreichbar; sie hatten ihn aus dem Lande gewiesen, wie man den Teufel austreibt.
Da war freilich noch sein Vater; aber der grollte ihm noch wie am Tage der Flucht und hatte die dargebotene Hand stets zurückgewiesen. Zudem steckte er ja selber beständig in der Patsche bis ans Kinn. Und wenn er auch seinem ›verlornen Sohn‹ hätte helfen wollen und können, Heinz hätte ihm die hohle Hand nicht hinhalten mögen. Nein, lieber verhungern, als von der Gnade leben!
Aber so weit war es ja noch nicht. Noch besaß er ein halbes Dutzend Taler, noch konnte er ein Stückchen warten und trotzen und hoffen. Den Zimmerzins freilich hatte er am Ende des Monats nicht bezahlen können; aber der schreckliche Augenblick war ja schon vorbei: Frau Rellstab hatte sich vertrösten lassen, viel leichter, als er es erwartet hatte, und ihm sogar recht freundlich zugelächelt mit ihrem jungen, blühenden Gesicht, fast so freundlich wie einst das Mütterchen.
So ging es denn weiter; aber es waren düstere Tage und auf jeden trüben Abend folgte ein noch trüberer Morgen. Das Studium stockte in Heinzens Dachstübchen, denn immer körperhafter schob sich zwischen die Augen und das Buch das Gespenst des Hungers, ein grauer Schleier, hinter dem die Buchstaben verblaßten und verschwammen und zu tanzen anfingen. Dazu kam die Qual in dem mißhandelten Magen. Wie oft drückte Heinz die Faust unter den Rippen in den Leib, als hätte es gegolten, dort einen zu Tode zu drücken. Oh, dieses entsetzliche Hungergefühl, das er nie ganz zu stillen wagte, weil es ihm zu viel auf einmal verschlungen hätte! Wie oft ließ er es sich selber auffressen, um dann in einen stumpfen Halbschlummer zu verfallen. Und öffnete er die Augen wieder, so schwirrten davor gelbliche Figuren mit scharfen Rändern umher, die wie Mücken ihre Bahnen kreuzten und den Geist ängstigten.
Einmal stürzte er wie toll aus seinem Stübchen, nicht um die blanken Schwellen der Reichen aufzusuchen, er fand den Mut nicht mehr dazu, sondern um das Gespenst, das schreckliche graue Gespenst zu fliehen, das ihm das liebste, was er hatte, seine Studien verdunkelte. Und er eilte durch die Stadt, die Augen am Boden, damit sie nicht in die Schaufenster flögen, nach den braunen Schinken und den in Reih' und Glied hängenden Würsten, oder nach den buttergelben, löcherigen Käskeilen und den flachen Scheiben der Apfel- und Rahmkuchen, die verlockend zwischen den Broten und Wecken sich breit machten. Denn, wischten die Augen aus, so hätte der Magen es ihnen gleichtun wollen und hätte getobt und gerissen wie ein Hund an seiner Kette. Ein Glück, daß sich nun das Feld ausbreitete, das kahle Winterfeld, das schlaftrunken seine Tracht Schnee erwartete. Aber auch da kamen die Augen nicht zur Ruhe, sie suchten und spähten, und jetzt befahlen sie: »Links abgeschwenkt, mitten in den Acker hinein!« Wie eifrig sie sind! Jetzt haben sie, was sie suchen; etwas schimmert gelb zwischen den leicht gefrorenen Erdschollen hervor: eine Rübe ist's! Die Finger fahren wie Stoßvögel danach und graben das Kleinod heraus, die gleichen Finger, denen einst die Erde so verhaßt war, wie Gift der Zunge. Der Fund wird mit dem Messer notdürftig geschabt, und schon hauen sich die Zähne hinein, daß es knackt, und kalt gleitet es den Schlund hinab.
Aber der Leckerbissen bekam Heinz übel. Der Magen bäumte sich gegen die gefrorene süßliche Frucht. Wendelin, von großer Übelkeit halb gelähmt, wankte der Stadt zu. Tritte kamen ihm entgegen, es waren eine Mutter und ihr Kind. Das Mädchen blieb stehen: »Mutter, sieh doch den Mann an, wie er spaßig läuft!« Die Mutter faßte die Kleine bei der Hand: »Komm, Lisa, komm, es ist ein betrunkener Lotter!«
Das Wort schnitt dem Hungerstudenten wie ein Messer ins Herz. So weit also hatte er es gebracht! Für einen Landstreicher, für einen Lumpen hielt man ihn! Oh, daß er Steinhausen verließ! Da hatte er wohl Haß, aber keine Verachtung zu ertragen, da hatte er nach der Arbeit doch genug, um sich den Hunger und den Durst aus dem Leibe zu treiben! Er ließ einen Blick über sich gleiten. Kein Wunder, daß man ihn mit Mißtrauen betrachtete: er hatte nie viel auf sein Äußeres gegeben; seit er aber an nichts mehr als an seinen Lebensunterhalt und an seine Zukunft denken konnte, hatte er sich ganz vernachlässigt. Er sah es nun ein und empfand Widerwillen gegen sich selber.
Und nun faßte er den Entschluß, gegen den er sich so lange gesträubt und gewehrt hatte, an dem er zugrunde zu gehen meinte: er wollte wieder Schulmeister werden. Seinen Studien entsagen, zwei, drei Jahre, vielleicht auf immer! Er hing daran wie am Leben. Aber es half nichts! Der Bauernsohn Heinz war zu schwach und zu ungeschickt, um sich aus seinem Stande herauszuarbeiten, in einen andern einzudringen, wo das Leben gemächlicher und sonniger dahinfließt. Noch selbigen Tages begab er sich in das Amtshaus, um anzufragen, ob nicht irgendwo im Lande eine Schulmeisterstelle frei sei.
Stecke dein Ziel hoch! Das Wort klang ihm wie ätzender Hohn in den Ohren, als das Portal des Amtshauses dröhnend und die weiten Gänge füllend hinter ihm zufiel. Stecke dein Ziel hoch! Er fühlte, wie ihm die Wimpern feucht wurden und wußte nicht, sollte er sich freuen oder nicht, als ihm der Bescheid ward, es seien statt einer drei Stellen frei, er könne nur wählen. Es waren drei kleine Nester, eines unbekannter als das andere; Wendelin wählte aufs Geratewohl. Dann kehrte er in sein Dachstübchen zurück und fing an, seine Habseligkeiten zusammen zu raffen. Das war bald getan: hätten nicht die Bücher der grünen Kiste einiges Gewicht gegeben, der Wind hätte sie fortblasen können.
Während des Packens quälte ihn ein anderer Gedanke: er hatte seit zwei Monaten die Zimmermiete nicht bezahlt und fürchtete, man werde ihn so nicht ziehen lassen. Als er den Deckel zugeworfen und den Schlüssel zweimal umgedreht hatte, setzte er sich auf die Kiste, nahm den Kopf zwischen die Hände und sann auf eine schickliche Art, seine Freiheit zu erlangen. Da knarrte die Türe und herein streckte sich ein noch jugendlicher Frauenkopf mit üppigem schwarzem Haare, roten, vollen Backen und gutmütigen freundlichen Augen: »Guten Abend, Herr Wendelin.«
Der Angeredete fuhr aus seinem Sinnen empor: »Ah, seid Ihr's? Guten Abend, Frau Rellstab!«
»Ich bring Euch da ein Häfelein mit Kaffee und Milch; ich hab' gleich beides zusammengeschütt't, 's wird Euch nichts machen, und hab' auch etwas Brot hineingebrockt. Es ist mir übrig geblieben, und wollt Ihr es Euch schmecken lassen, so soll's mich nicht reuen, es ginge mir doch zugrunde. Ihr könnt mir das Häfelein wieder in den Laden bringen.«
Wendelin stand da und starrte sie an mit seinen eingesunkenen großen Augen. In seiner Brust fing der Unwillen an zu kochen, er hätte sie anfahren mögen: »Ich brauche Euer Almosen nicht!« Aber seine Zunge war wie gelähmt und seine Erregtheit fand nur Ausdruck durch die Hände, die bebten.
Frau Rellstab wurde ungemütlich bei diesem Anblick, und ihre freundlichen Äuglein hörten auf zu lächeln. Mit schüchterner Gebärde stellte sie den Topf auf den Tisch, legte einen Löffel dazu und verschwand durch die Türe. Wendelin hörte, daß sie draußen noch ein Weilchen stille stand und horchte und hierauf langsam die Treppe hinunterstieg, etwas vor sich hinmurmelnd.
Da war er nun allein mit seinem Topfe, aus dem ein feiner Dampf aufstieg und das Stübchen mit verlockendem Kaffeeduft füllte. Nun brach sein Mißmut aus: »Oh, die Schande, die Schande! Sie hat gemerkt, daß ich hungre, und ich? Wie ein Bettler lass ich mich behandeln! Aller Stolz ist dahin! Pfui!«
Aber der Topf kümmerte sich nicht um diesen Zornesausbruch und dampfte weiter in seiner bescheidenen Art, und die Brotbrocken, die drin schwammen, dehnten sich wie Ratsherrn und schwollen an und guckten verführerisch aus ihrem gelbbraunen Tümpel: »Sei doch kein Narr!«
Wendelins Magen, der als echter Materialist seines Meisters Feingefühl nicht verstand und sich überhaupt, da man ihn nun seit Tagen und Wochen so schlecht behandelt hatte, nicht mehr mit Phrasen und luftigen Prinzipien wollte abspeisen lassen, fing an, seine Rechte geltend zu machen und zu toben wie noch nie. Heinz sah, daß er den verführerischen Topf fortschaffen müsse, um Sieger zu bleiben; er nahm ihn in die eine Hand und den Löffel in die andere und schickte sich an, das kränkende Almosen vor die Türe zu setzen. Aber der gute Bursche hatte sich überschätzt: als er den Topf in den Händen hielt und sich die Finger daran wärmte, wie die Bauern zur Winterszeit am Kachelofen, und ihm der Geruch ohne Umschweife in die Nase stieg, sank er stöhnend auf seine Kiste hin und verschlang unter Tränen das erste Almosen, das er empfing.
Der Kaffee tat ihm wohl, und nun kam ihm auch der Mut, vor seine Hausmeisterin zu treten und sie zu ersuchen, ihn trotz seiner Schulden ziehen zu lassen, er würde sie zufriedenstellen, sobald er etwas verdient haben würde. Sie war immer so gut zu ihm gewesen, die Frau Rellstab, und hatte sie ihn auch jetzt gedemütigt und gekränkt mit ihrem Töpfchen und Löffel, sie hatte es sicherlich nicht böse gemeint.
Wendelin nahm Löffel und Topf, stieg die fünf Treppen hinunter und öffnete die Türe linker Hand. Es kam ihm ein satter Geruch von Schnupftabak, Seife, Käse, Muskatnuß entgegen. Rings an den Wänden des Raumes, auf Gestellen und in Glasschränken lagen oder standen die aufgespeicherten Waren, lauter gangbare Artikel, ein großer Segen: Zuckerhüte in violettem Papier, Säcke mit Kaffeebohnen, hier grünliche und gelbliche, dort geröstete braune, Seifen, gelb und weiß und gesprenkelt, Soda in großen weißen Töpfen, Käse von mancherlei Art unter Glasglocken, fein gemahlener Zimt in Büchsen, im Fenster zwischen Töpfen und Gläsern die appetitlichen Kugeln der Orangen und Zitronen, und noch viele andere nützliche und angenehme Dinge. Frau Rellstab stand in einer Ecke, Wendelin den Rücken zukehrend, und häufte Seifenwürfel zu einer mächtigen Pyramide auf. Sie hatte offenbar den Studenten nicht eintreten hören und unterbrach deshalb ihr halblautes Selbstgespräch nicht.
»Daß ich nicht früher drauf verfallen bin! Wie dumm ich war und meinte … Aber jetzt soll er's anders haben, wenn er will – wie der Herrgott in Frankreich soll er's haben. Und warum sollt' er nicht? …«
Dann fing sie an, ein damals beliebtes Volkslied zu summen:
»Wie mir das Leben mait,
Bin ich erst zwanzig Jahr!
Schön ist die Jugendzeit
Oh, immer, immerdar!«
Wendelin, der es für unschicklich hielt, ihre Unterhaltung zu belauschen, obschon er aus den abgerissenen Brocken nicht klug wurde, stellte das Krüglein geräuschvoll auf den Ladentisch:
»Frau Rellstab, ich …«
Die Spezereihändlerin fuhr zusammen und stieß mit den Händen so ungeschickt in die Seifenpyramide, daß diese umstürzte und die schlüpferigen Würfel auf dem Boden dahinglitten, hierhin, dorthin, als wollten sie auf die Gasse.
»Ei, wie dumm! Ihr habt mich fast erschreckt, Herr Wendelin!«
»Es tut mir aufrichtig leid, Frau Rellstab,« sagte Wendelin, der fürchtete, seine Gläubigerin in üble Laune versetzt zu haben, »ich meinte nicht, ein Unglück anzustellen. Darf ich helfen …«
»Nein, nein, Wendelin, beileibe nicht, Ihr sollt mir nichts im Laden anrühren müssen, das ist recht für unsereins. Das hab' ich mir schon gesagt, mit dem Laden sollt Ihr …«
Wendelin, ohne auf ihre Einrede zu horchen, griff nach den Seifenstücken.
»Aber, Herr Wendelin, Ihr seid gar zu gut!«
Nun richteten die beiden die Pyramide zusammen auf; die junge Frau wurde dabei gesprächig und wußte viel von ihrem Laden und ihrer Kundschaft zu erzählen: »Es ist eine kleine Goldgrube, Herr Wendelin, Ihr könnt mir's aufs Wort glauben; aber wir bedienten die Leute auch immer wie niemand in der Stadt. Mein Vater selig hat alleweil gesagt: ›Jedem Kunden tue unten ins Säcklein Billigkeit und oben ins Säcklein Freundlichkeit!‹ Und so hat er's gehalten und ist gut gefahren dabei und konnte jedes Jahr ein schweres Sümmchen auf die Seite legen. Ja, es ist ein Goldgrübchen, Herr Wendelin.«
Dem Studenten wuchs der Mut, als er sie so reden hörte: »Hat sie's so dick im Sack, so wird sie mit dem Zimmerzins schon ein wenig Geduld haben,« dachte er. Als die Pyramide sich hoch an der Wand aufrichtete, faßte er sich ein Herz und sagte: »Frau Rellstab, ich kam herab, um Euch zu sagen, daß ich Euer Haus verlassen muß.«
Sie sah ihn erschreckt an: »Was? Ihr wollt fort? Um Gottes willen! Gelt, Ihr seid krank? … ich hab's wohl gesehen!«
»Nein, aber ich habe eine Schulmeisterstelle auf dem Lande angenommen …«
»Ich hab' es doch immer gesagt: der Herr Wendelin sitzt zu harzig hinter seinen Büchern, dann verleiden sie ihm und er geht!«
»Es ist nicht deswegen.«
»So bin ich schuld daran! Nicht wahr, ich hätte Euch früher etwas beispringen sollen, aber ich bin eben erst heut auf den Einfall gekommen, daß es so schlimm steht in Euern Taschen.«
Heinz schoß das Blut in den Kopf.
»Ja,« sagte er und meinte an den Worten zu erwürgen, »ja, zum Studieren gehört Geld, und ich habe keines mehr, nicht einmal soviel, um Euch den Zimmerzins zu bezahlen. In einem Vierteljahr bekomme ich aber mein erstes Gehalt und dann werde ich mich schon an meine Schulden erinnern, Frau Rellstab!«
»Es ist mir nicht angst drum.«
»Ich danke Euch, daß Ihr mich wollt ziehen lassen, Ihr seid gut!«
»Aber um's Himmels willen, warum wollt Ihr denn ziehen?«
»Ich hab's ja gesagt: ich habe keinen Batzen mehr!«
»Aber andere Leute haben Batzen!«
»Die behalten sie für sich.«
»Und wenn ich Euch das Geld gäbe?«
»Spaßt nicht, Frau Rellstab! Ich könnt' es nicht ertragen!«
»Ich spaße doch nicht!«
In diesem Augenblick trat ein Kunde in den Laden; Frau Rellstab trippelte ihm entgegen und bediente ihn mit Freundlichkeit und wohl auch mit Billigkeit. Wendelin aber benutzte die Gelegenheit, um unvermerkt zu entwischen. Ihr Anerbieten kam ihm so unverhofft, daß er im ersten Augenblick meinte, sie scherze, und als er seinen Irrtum einsah, verstand er sie erst recht nicht: »Was führt sie im Schilde?« Wer unter Bauern in den armseligsten Verhältnissen aufgewachsen ist und drei Jahre in Steinhausen Schulmeister war, erwirbt den Begriff Edelmut erst spät und nur dann, wenn ihm der Himmel günstig ist; es kostet ihn Mühe, an die völlige Uneigennützigkeit einer Handlung zu glauben, wenn sie ihm in einer ganz fremden Person entgegentritt. Beim Küferjörg hatte Heinz so etwas begriffen, der war ja seit dem ersten Schultage so gut zu ihm gewesen, wie der leibliche Vater nie; aber diese Spezereihändlerin, zu der er fast noch kein anderes Wort gesagt hatte als: »Hier, Frau Rellstab, ist der Mietzins!« und aus deren Mund er noch wenig anderes vernommen hatte als: »Danke, Herr Wendelin!«, wie kam die dazu, ihm das Geld zum Studieren vorzustrecken? Sie hatte ihm freilich immer ein freundliches Gesicht gezeigt; aber tat sie denn nicht jedem etwas Freundlichkeit oben ins Säckchen?
Er begriff sie nicht. Sollte es wirklich Leute geben, die Fremden gegenüber nicht nur süße Worte auf den Lippen, sondern auch klingende Münzen auf der Hand haben?
Als Wendelin sich so den Kopf zerbrach und in seinem finstern Stübchen auf der gepackten Kiste saß, klopfte es an seine Türe und herein trat Frau Rellstab mit einem Licht in der Hand.
»Ihr seid mir davongelaufen, Herr Wendelin, und habt gemeint, ich spaße. Aber es war mein Ernst, und so Ihr es wollt, sorg' ich für Euch, bis Ihr mit dem Studieren fertig seid.«
Wendelin richtete sich auf und sah ihr hart in die Augen: »Warum wollt Ihr das tun?«
»Ist es etwas Böses, daß Ihr mich so anfahret?« sagte die junge Frau kleinlaut; »ich tu's, weil ich's vermag und weil ich meine, es sei an Euch nicht schlecht angewandt?«
»Ich will mir's bis morgen überlegen.«
Sie ging, sie wurde aus ihm ebenso wenig klug wie er aus ihr und murmelte, als sie die Treppe hinunterstieg: »So hab' ich ihn mir nicht gedacht! Nein, so nicht!« Wendelin aber stellte sich in seiner Finsternis immer wieder die Frage: »Warum will sie das?« Und mühsam kam er zu dem Schluß: »Es gibt, scheint's, solche Leute.«
Wie sich diese Erkenntnis Bahn brach, flackerte in ihm auf einmal wieder ein Funken Freude auf, der erste seit langen, langen Tagen: beinahe zwei Monate war er Student gewesen, ohne zu studieren, jetzt sollte es wieder werden wie zuvor, lustig und feurig in die Welt der Ideen hinein! Dem Ziele zu, das er sich gesteckt hatte, hoch, hoch!
»Tut sie es nicht aus Eigennutz, so werde ich es wohl annehmen dürfen, hab' ich mich doch beim Küferjörg auch nie geziert, und zurückerstatten werde ich es auch einmal können!« Mit dieser Überlegung warf er sich auf sein Bett und schlief reichen Töpfen, vollen Wangen und einer neuen schaffensfreudigen Zeit zu.
Die Spezereihändlerin sorgte für ihn wie eine Mutter: in seinen Schrank steckte sie neue Wäsche und einen stattlichen Anzug; auf den Tisch stellte sie große wohlschmeckende Schüsseln, und rasch füllten sich Wendelins hohle Backen wieder und färbten sich rot. Und die gute Frau freute sich wie eine junge närrische Mutter, als sie ihn so gedeihen sah. Ja, das schien ihr noch nicht genug. Eines Tages, als Wendelin aus dem Kolleg zurückkehrte, erwartete sie ihn auf der Treppe: »Kommt nur hier herein, Herr Wendelin!« Und sie führte ihn in ein freundliches, wohnliches Zimmer mit einem großen Kachelofen. »Macht es Euch von jetzt an hier bequem!« Wirklich, da standen schon seine Bücher auf dem Gestell, und auf dem Tische lagen seine Hefte und im Schrank seine Hemden.
Heinz ließ es sich gefallen, denn er sah es ihr an den Augen an, daß sie es gerne tat, er schämte sich jetzt heimlich, ihren Vorschlag anfänglich so mißtrauisch aufgenommen zu haben. »Ich will es ihr einmal redlich vergelten, so wahr ich Heinz heiße.« Seine Brust füllte sich immer mehr mit einem wonnigen Gefühl: mit herzlicher Dankbarkeit, wie er meinte, und er ging nie am Laden vorbei, ohne den Kopf durch die Türe zu strecken und der muntern, immer wohlgemuten Frau ›guten Tag‹ oder sonst ein freundliches Wort zu sagen.
So verstrichen der Christmonat, der Jänner und die erste Hälfte des Hornungs. An einem stürmischen Sonntagabend, als der Wind draußen um die Straßenecken pfiff und die Fensterscheiben mit Schnee und Regen bewarf, saß Wendelin nach dem Nachtessen noch eine Weile im Wohnzimmer seiner Wohltäterin und plauderte und unterhielt sich mit ihr, so gut es ging. Es war ihm so wohl in ihrer Nähe, wie einem Kinde bei seiner Mutter, obschon sich mit ihr über nichts als die alltäglichsten Dinge reden ließ. Ihre Beschränktheit fiel ihm gar nicht mehr auf, denn ihre weite Herzensgüte verdeckte alle ihre Mängel.
Sie erzählte ihm an jenem Abende von ihrem Mann selig. Er war ihr vor drei Jahren gestorben, kaum zehn Monate nach der Hochzeit. War das nicht schrecklich? Und sie hatten einander so gut leiden mögen; war er doch ein herzensguter Mann! Wer hätt' ihn nicht auf den Händen getragen! Noch immer mußte sie an ihn denken! Es ist gar zu schön, Mann und Frau zu sein, wenn eins das andere versteht.
Wendelin hatte diese Dinge schon mehr als einmal von ihr gehört, aber er ließ sie plaudern, er hörte ihr gerne zu, und wenn sie gar zu weitschweifig wurde, schweiften auch seine Gedanken etwas in die Ferne, in die Zukunft: er fühlte es: er würde sein Ziel erreichen; noch ein Jahr oder zwei zähen Schaffens und das Schlimmste war überstanden, das Glück mußte sich an seine Fersen heften, es mußte! Er verglich sich mit seinen Studiengenossen: er würde über sie emporsteigen, schon weil er gewöhnt war, den schwersten Weg zu gehen. Wenn nur das gute Mütterchen drunten in Brachenwyl den Augenblick noch erlebte! Dann sollte ihm nichts mehr mangeln in seinen alten Tagen! Wäre doch der Küferjörg noch! Was würde er für eine Freude haben, wenn er sähe, daß alles besser wurde, als sie es sich zusammen in ihren waghalsigsten Träumen ausgemalt hatten!
Es war schon ziemlich spät, als Wendelin sich in seine Stube zurückziehen wollte. Wie er unter der Türe stand und der Hauswirtin ›gute Nacht‹ wünschte, rief sie ihn zurück:
»Herr Wendelin, ich hätte schon lange gern eine Bitte an Euch gestellt.«
»Sprecht, Frau Rellstab, Ihr wißt, Ihr könnt von mir verlangen, was Ihr wollt, es ist mir nichts zu viel!«
»Als mein Vater selig noch lebte, hat er das Rechnen und Schreiben immer selber besorgt und zu mir gesagt, das sei nichts für Weibsleute, und nachher hat es mein Mann ganz gleich gehalten. So lernte ich vom Geschäft nur, was man im Laden braucht, und habe nun bald drei Jahre drauflos gehandelt, eingenommen und ausgegeben, bestellt und empfangen, wie's ging und kam und es mir gut schien, aber wie ich eigentlich stehe, weiß ich nicht. Wollt Ihr mir beim Rechnen und Aufschreiben ein Stündchen helfen?«
»Aber dünkt Euch nicht, Ihr tätet besser, einen andern …«
»Seid Ihr nicht ein geschulter und gescheiter Mann? Und treu seid Ihr auch und verschwiegen, das trau' ich Euch zu!«
Wendelin wurde es plötzlich ungemütlich in ihrer Nähe, er witterte Unheil, und hätte fast sagen können, welcher Gattung es sein würde.
»Muß es heute nacht noch sein?«
»Es ist erst halb zehn Uhr oder doch wenig darüber; in einem Stündchen ist alles getan. Ihr seid ja gewohnt, lange zu wachen.«
Wendelin folgte ihr in das anstoßende Zimmer, wo an der einen Wand das Bett der Witfrau, an der andern ein hoher, altertümlicher, fast schwarzer Geldschrank standen. Es war warm und behaglich in dem Raume, dem Studenten aber schien, er trete in eine Backstube. Was hatte er nur? Und warum tauchte in ihm wieder jene Frage auf: »Was führt sie im Schilde?« Nun meinte er, die Antwort gefunden zu haben, und es ward ihm zum erstenmal zur Gewißheit, daß sein Herz sich an das unbedeutende Wesen angeklammert hatte; sein innerstes Gefühl aber rief ihm zu: »Nimm dich in acht! Nimm dich in acht!« Er wäre gern entronnen, aber er wußte nicht, wie es schicklich zu machen war.
Frau Rellstab zog ihr Geldtäschchen hervor, entnahm ihm ein Schlüsselchen, drehte es im Schloß des Schrankes zweimal um und öffnete das Möbel, indem sie eine Klappe herunterließ, die nun als Tisch diente. Hierauf zog sie eine große Schublade heraus: »Das sind Quittungen und Rechnungen, die sollten auseinandergelesen werden.« Sie schüttete den ganzen Inhalt, einen kleinen Berg, auf den Tisch. Wie sie den Haufen überschaute, mußte sie lachen: »Ich hab' nicht geglaubt, daß ihrer so viele seien! Da brauchen wir ja einen ganzen Tag dazu!« Und sie warf die Papiere wieder in die Schublade, kunterbunt. »Aber etwas anderes können wir heut abend noch besorgen,« sprach sie, eine andere Schublade ziehend. »Hier sind die Kaufbriefe, auf die mein Vater selig Geld geliehen hat und hier ist das Verzeichnis dazu; nun sehet nach, Herr Rechenmeister, ob alles noch hübsch beisammen ist, und zählet mir das Sümmchen zusammen, damit ich weiß, was ich alles habe.« Dies sagend, schob sie den Studenten freundlich zum Tische. Wendelin gelobte sich, auf der Hut zu sein und fing seine Arbeit an, entfaltete die Papiere, las die Zahlen und notierte sie sachlich auf ein Blatt Papier. Die Witwe beugte sich über ihn, ganz nah, und er fühlte ihren Atem, der ihm warm über die Wangen strich. Er hob die Achsel in die Höhe wie zum Schutz.
Als die Kaufbriefe durchmustert waren, zog die Witwe zwei neue Schubladen heraus; sie waren mit Schweinsblasen gefüllt, in denen hier gelbe Dublonen, dort weiße Taler blinkten und funkelten, man hätte ein Königreich dafür kaufen können. So wenigstens meinte der Bauernsohn, der von dem Glanze geblendet wurde. Einen solchen Reichtum hatte er noch nie gesehen, nicht einmal in seinen Träumen. Die Zahlen in den Kaufbriefen hatte er notiert, ohne sich dabei viel zu denken, obwohl ihm ihre Größe auffiel; hier aber hatte er greifbar vor sich, was dort nur Tinte war, und mit respektvollem Zögern fing er an, die klingenden Scheiben zu weißen und gelben Säulchen oder Türmchen zu häufen. Und wie die Münzen, wenn sie zusammenstießen, sich freundlich klingend begrüßten und im Ampellicht zwinkerten und lachten, meinte Wendelin, er sei König im Feenland.
Das Zählen des Geldes war ein Geschäft, dem auch Frau Rellstab gewachsen war. Um es sich bequem zu machen, strich sie die Ärmel ihrer Jacke zurück und ließ ihre schönen, runden Arme herausquellen. Dann setzte sie sich neben ihren Sekretarius und machte sich mit dem Gelde zu schaffen. Aber sie schien zerstreut zu sein, und mehr als einmal stieß sie mit ihren Armen oder Händen so ungeschickt an die seinen, daß das Türmchen, das er eben gebaut hatte, der ganzen Länge nach hinstürzte. Das schien sie zu belustigen, denn jedesmal lachte sie hell auf, und was sie erst, wie es schien, nur aus Unachtsamkeit tat, das fing sie nun an absichtlich zu verüben und weidete sich an dem verlegenen Gesichte des Studenten und trieb es immer übermütiger. Ihre lustige Laune steckte allmählich auch Wendelin an; er vergaß das »Sei auf der Hut!« und fing an, ihr auf die Finger zu klopfen, wenn sie seine goldenen Werke über den Haufen werfen wollte; bald waren die beiden in ihrem Übermut so weit, daß sie es auf einen kleinen Faustkampf ankommen lassen wollten, wer Herr am Tischchen sein sollte. Dabei muteten sie aber dem alten Holzwerk mehr zu, als es auszuhalten imstande war: die Witwe, um das Feld zu behaupten, stützte sich so stark auf die Klappe, daß die morschen Scharniere mit einem Krach brachen und die Münzen alle sich klingend im Zimmer verstreuten. Die Frau saß auf dem Boden und schüttelte sich vor Lachen, als der erste Schreck vorüber war.
»Ihr habt das Unglück angerichtet, Herr Wendelin, nun macht es wieder gut und richtet mich auf!«
Da er ihr gehorsamst willfahren wollte, machte sie sich schwer wie Blei, und Wendelin hätte sein Beginnen bald aufgeben müssen, wenn sie nicht mit ihm Erbarmen gehabt hätte: sie schlang ihre weichen Arme um seinen Nacken, als er sich über sie beugte, und half ihm bei seinem Werke. Und sonderbar, während sie sich so aneinander geklammert aufrichteten, näherte sich ihr Gesicht immer mehr dem seinigen, und als sie aufrecht nebeneinander standen, fuhr Wendelin ein glühender Hauch entgegen: »Ich hab' dich gern!« und er merkte, wie ihre Lippen auf seinem Gesichte tasteten und seinen Mund suchten und fanden und sich daran festklammerten. Und er fühlte, wie ihre Brust wogte und wie es darin kochte und wallte und die ganze starke Gestalt erschütterte. Er wußte wohl, daß er sich loswinden sollte, und er wollte es auch, denn ihm ward angst. Aber es kam über den Enthaltsamen wie ein Rausch; seine Arme, ohne auf Befehl zu warten, schlangen sich um den starken Nacken des Weibes, seine Lippen erwiderten den Druck und seine Brust fing an der ihrigen entgegenzubrausen.
In jener Nacht versprach Heinrich Wendelin der Elisabetha Rellstab, geborenen Winkler, eheliche Treue. Es war am 16. Februar 184*. –
Der trübe Wintertag war schon lange angebrochen und der Student erhob sich immer noch nicht. Nicht daß er geschlafen hätte: seine Augen hatten sich die ganze Nacht nicht geschlossen, und wild jagte ihm das Blut durch den Kopf. Erst wirkte der Rausch noch in ihm nach, und der unerfahrene Bücherwurm, geblendet von dem Lichtstrahl, der in der stürmischen Winternacht in sein Dasein gezuckt hatte, versenkte sich mit süßem Schauer in das Geheimnis, zu dessen Erkenntnis man ihn gerissen hatte. Bald aber kam ein Umschlag; die Vernunft ward Meister über das Gefühl und schwang ihre Peitsche.
O du Tor, was kann sie dir werden, diese beschränkte Spezereihändlerin! Dieses Weib, blühend am Leib, aber verkümmert am Geist! Nun tummle dich durchs Leben, du Narr, mit Ketten an die Dummheit geschmiedet! Liebe sie, so lang du kannst! Hebe sie empor zu dir, wenn du die Kraft hast! Und vermagst du's nicht, nun, so werde dumm wie sie, wenn du glücklich sein willst!
Während ihn so die Vorwürfe geißelten und peinigten, stiegen vor ihm Rousseaus und Sokrates' Bilder auf und verließen ihn nicht mehr. Hündisches Leben! Ihm graute davor! »Oh, könnt' ich diese eine Nacht aus meinem Leben auskratzen! …« Er war unsäglich elend und weinte und schluchzte in seine Kissen wie ein Kind.
Als er ruhiger ward, fing er an auf Mittel zu sinnen, das Geschehene unschädlich zu machen; aber sein Geist wollte auf nichts verfallen. Der Gedanke, das Übel da anzuhalten, wo es war, die Kette, die ihn an die Dummheit band, mit einem Ruck zu zerreißen, kam der ehrlichen Bauernseele nicht. Einmal erwachte in ihm die Hoffnung: er wollte Lisbeth bitten, ihm seine Freiheit wieder zu geben, das Band freiwillig zu lösen, und schon sann er auf Worte, die sie rühren sollten. Aber da fühlte er wieder den heißen, ungestümen Hauch ihrer keuchenden Brust: »Ich hab' dich gern!« und es wurde ihm klar, daß eines von beiden unendlich elend bleiben müsse, er oder seine Wohltäterin, und er selbst mußte wählen, ein Wählen ohne Wahl! Der Tag graute durch die Fenster herein, unheimlich wie ein Gespenst; Wendelin wäre die Nacht, die alles verhüllende, lieber gewesen und er verkroch sich unter die Decke, um im Dunkeln zu hausen.
Es mochte etwa zehn Uhr morgens sein, als er schüchtern an seine Türe klopfen hörte. Er fuhr zusammen: »Da ist sie!« Nochmals flog ihm die Frage durch den Kopf: »Soll ich sie bitten, mich ledig zu lassen?« Da hörte er wieder klopfen, vernehmlicher, und als er wieder schwieg, knarrte die Türe leise und eine ängstliche Stimme, in der die Seele zitterte, fragte: »Heinrich, lieber Heinrich, was ist dir? Bist du krank?«
Der Ton der Stimme rührte ihn; nein, er konnte ihr nicht wehe tun, ihr, der er vor ein paar Stunden Treue fürs Leben versprochen hatte. Er streckte den Kopf hervor und Lisbeth drückte ihre heißen Lippen auf seine Wangen, über die ihm Tränen liefen. Jetzt war es für immer entschieden. Und es kam, wie er geahnt hatte.
Familienglück, den süßen Verkehr mit einem Wesen, das uns begreifen will und kann, das sich so innig mit uns verbindet, daß wir glauben, es sei in unserem Geiste eine neue, bis da verborgene Kraft erwacht, das uns nicht nur den Lebenspfad ebnet, sondern ihn aus der Ebene hinauf zur Höhe lenkt; all das konnte Wendelin nur ahnen, erfahren sollte er es nicht: er hatte ja keine Frau, er hatte eine Helotin, die ihn freilich liebte, wie eine Katze ihr Junges, die aber seinem Geistesleben so fern blieb wie eine Katze dem unsrigen, und für die er wenige Monate nach der Verheiratung bei bestem Willen nichts mehr empfinden konnte als Erbarmen. Aber er trug seinen Kummer mannhaft, und nie stieg in seiner Frau die Ahnung auf von dem Schmerz, von der nimmer ruhenden Sehnsucht, die er in seiner Brust beherbergte. Der äußere Erfolg kam wie von selbst, wie etwas, das man gekauft hat und das einem ins Haus gebracht wird. Er bestand seine Examen glänzend und wurde bald Professor an der Universität. Der Ruhm umgab ihn und eine Schar begeisterter Schüler. Aber in seiner Brust hauste die Qual, und diese Qual, anstatt sich im Lauf der Jahre abzustumpfen, wurde immer schärfer und schnitt ihm immer grausamer in die Seele.
Wendelins Befürchtungen wurden von der Wirklichkeit übertroffen, die Torheit einer einzigen Nacht sollte nicht nur sein Leben vergiften und zerfressen, sondern auch das Mark aller derjenigen, die aus seinem Fleisch nach ihm kamen. Er erfuhr, daß die Dummheit sich unfehlbar vererbt, sicherer selbst als jene heimtückischen Verwüstungen der Lunge und des Gehirns, die unsere Spitäler und Narrenhäuser füllen. Wehe dem Haus, in dem sie einzieht!
Wendelin hatte zwei Kinder. Das jüngere, ein Mädchen, starb nach kurzen siechen Lebenswochen; der Erstgeborene dagegen war kräftig gebaut wie seine Mutter, der er in allen Stücken nachschlug: er hatte ihre kleine Stirne, ihre runden Backen, ihre roten Lippen, aber auch ihre gutmütigen Äuglein: er war ein herzensguter Mensch, schade nur, daß er zu nichts Rechtem taugen wollte, denn leider hatte er auch vom Vater ein Erbteil: die Unbeholfenheit. Er wurde zu einem Kaufmann in die Lehre geschickt, aber schon nach einigen Monaten kehrte er ins elterliche Haus zurück und meldete lächelnd, man habe ihm erklärt, es sei mit ihm nichts anzufangen.
Nun versuchte man es bei einem Tischler, dann bei einem Gärtner und endlich bei einem Schlosser, aber er brachte es nirgends auf einen Ast: entweder fehlte ihm die Lust oder die Geschicklichkeit und meistens beides zugleich. Indessen vermochte ihm kein Mißerfolg das zufrieden lächelnde Gesicht zu rauben: Karl war fürs Glück geboren.
So wurde er einundzwanzig Jahre alt und noch war er nichts. Da, als er eines Tages mit seinem Vater über Land ging, sah er auf einem Acker zwei Bauern, die auf dem Pfluge saßen und ihr Vesperbrot aßen. Der Anblick gefiel ihm: die Bauern, der junge neben dem alten, friedsam kauend, ohne Kappe, sogar ohne Weste, das mußte bequem sein! Vorn in den Strängen die vier Ochsen, je zwei nebeneinander, den Unterkiefer am Oberkiefer reibend und aus den Nüstern rasch verschwindende Dampfwölkchen in die herbstliche Luft blasend, sonst ruhig und gelassen wie Bilder aus Stein. »Vater, ich möchte auch so ein Bauer sein!« Er äußerte diesen Wunsch noch mehrmals: Der Bauernstand war der einzige, zu dem er mehr als einmal Lust zeigte. Dem Professor mißfiel der Gedanke nicht, daß der Sohn zu der Scholle zurückkehren wollte, der der Vater entlaufen war, und er brachte Karl aufs Land zu einem erfahrenen Landwirt, dem Schwabenstoffel, wie man ihn nannte.
Der Bursche war wirklich zur Landarbeit leidlich zu gebrauchen, und wenn immer einer neben oder hinter ihm stand und sagte: »Karl, tu' das!« oder: »Karl, tu' dies!« so ging es. Er scheute sich nicht wie einst sein Vater, mit den Händen in der Erde zu wühlen. Im Mist zu stampfen oder mit dem langstieligen Schöpfer Jauche in rauschendem Bogen auf die junge Saat zu werfen, war ihm eine Lust.
Der Professorssohn mochte etwa anderthalb Jahre auf dem Bauernhofe zugebracht haben, als er an einem Sonntagmorgen unerwartet im Elternhaus einkehrte, sich vor den Vater hinstellte und lächelnd zu ihm sagte: »Ich will die Käther heiraten!«
»Was? Wen?«
»Die Käther!«
»Ja, wer ist denn die Käther?«
»Unsere Küchenmagd!«
»Unsere?«
»Ich meine Schwabenstoffels, des Meisters.«
»Was kommt dir in den Sinn, Junge! Du kannst noch nicht heiraten, da muß man erst etwas sein, etwas gelernt haben und imstand sein, das Brot zu verdienen für sich und seine Frau!«
»Die Käther kann auch schaffen!«
»Nein, nein, Karl, das geht nicht, du mußt noch ein paar Jahre warten, du bist noch zu jung, du bist ja noch ein Bub!«
»Nein, ich bin kein Bub mehr! Ich habe einen Schnauz und will die Käther heiraten, ich hab's mit ihr ausgemacht.«
Professor Wendelin ging am folgenden Tage nach dem Bauernhofe, um sich die Käther anzusehen. »Ist es ein rechtes Mädchen, wohlan!« dachte er bei sich.
Um in Schwabenstoffels Wohnstube zu gelangen, konnte man entweder durch den Hausgang oder durch die Tenne und Küche gehen. Wendelin ging durch die Küche. Die Türe war offen. Als er die kleine hölzerne Treppe hinanstieg, sah er in dem Raume eine Gestalt bei einer Gelte knien und mit den Händen einen dampfenden Brei umrühren. Sie kehrte ihm den Rücken und zeigte ihm einen langen Nacken und darüber ein Köpfchen mit strohgelbem Haar. Auf ihrer linken Schulter saß ein junges Kätzchen, hielt sich im Gleichgewicht und guckte neugierig in den Brei hinab. Je mehr es den Kopf senkte, desto mehr reckte es das lange Schwänzchen in die Höhe. Als das Mädchen die Schritte des Fremdlings hörte, drehte es den Kopf herum; gleichzeitig kehrte sich auch das Kätzlein und strich ihr das weiche Schwänzchen um die Nase. Da fing das Mädchen zu lachen an, so unbändig und hell, daß die Teller und Becken auf den Gestellen, die Pfannen und ihre Deckel an den Wänden, die Trichter und Siebe, kurz, die ganze Küchenherrlichkeit mit allem, was drin stand oder hing und einen Mund, eine Zunge oder Backen hatte, schallend mitlachte. Ja sogar der ernste Professor fühlte einen Lachkitzel in den Wangen. Während das Mädchen lachte, schloß es die hellen, fast farblosen Augen; unter der Oberlippe hervor streckten sich dabei die breiten, nach vorn stehenden Schneidezähne. Das war die Käther, Karls Liebe.
Der Professor ging an ihr vorüber, ohne ein anderes Wort als den üblichen Gruß mit ihr zu wechseln: er wußte schon, was er wissen wollte.
Mit dem Schwabenstoffel war er bald einer Meinung: der Bauer ließ sich leicht bestimmen, eine Magd, an der er kein besonderes Gefallen zu haben schien, auf das nächste Ziel zu entlassen. Seinen Sohn wollte der Professor bis dann im elterlichen Hause behalten und meinte in seiner Einfalt, Karl und Käther würden sich bald wieder vergessen haben. Aber das Alter richtet Zäune auf, und die Jugend sucht die Lücken darin. Schwabenstoffels Küche soll oft ganze Tage gesonnen und kein einziges Mal gelacht haben, und der sonst so gutmütige Karl vergaß im Elternhaus auf einmal das ererbte freundliche Wesen, besonders in Gegenwart des Vaters; denn er wußte, daß der Widerstand nur bei ihm war, während das gute Herz der Mutter mit allem sympathisierte, was Liebe heißt, und dies nicht verbergen konnte. Die Lücke im Zaun war nicht schwer zu finden.
Die Liebe hat wahrlich größere Taten auf dem Gewissen, als einen Spaziergang von zwei oder drei Stunden beim herrlichsten Frühlingswetter, durch grünende Saatfelder, die mit dem Wind spielen und dabei dann und wann die Farbe wechseln, wie es bei Verliebten kommlich ist.
Als Käther eines Abends am Herde stand und Hafermehl in kochende Milch streute, um für die hungrige Dienerschaft das gewohnte Mus zu bereiten, hörte sie ans Küchenfenster pochen. Sie sah hin, freudig überrascht, denn es erinnerte sie an frühere Zeiten. Sie bemerkte eine Nase, die sich an die Scheibe drückte und aussah wie ein Batzen. Nun lachte die Käther wieder wie einst. Die Pfannendeckel und Tassen und Becken und Teller und Kessel erschraken erst ob der halbvergessenen Musik, fast wie ein träumender Schüler, wenn ihn der Schulmeister anfährt. Als sie aber die gellende Stimme erkannten und merkten, daß ihre Freundin wieder guter Dinge war wie ehedem, da jubelten sie ihr zu und erklangen wie Glocken und Zimbeln.
Die Köchin huschte zur Türe hinaus ins Freie. Das Habermus wollte es ihr nachmachen, hüpfte auf und sprang aus der Pfanne. Ein Teil glitt rasch am Herde hinunter, brach sich aber die Füße und kroch nun mühsam und träge auf dem Boden dahin, der Türe zu, ohne sie zu erreichen. Der andere Teil fiel ins Feuer und auf die roten Kohlen und erhob ein entsetzliches Schreien und Zischen. Im Nu war die lachende Küche zu einer wimmernden geworden. Die Bäuerin hörte es in der Stube und kam und sah, was geschehen war. Sie rief der Käther, und die Pfannendeckel wiederholten den barschen Ruf: »Kathrie!« Umsonst! Entweder hörte die Käther es nicht, oder sie wollte taub sein.
Als sie nach einer halben Stunde sich wieder blicken ließ und die Bäuerin wenig freundlich zu ihr sprach, lachte sie hell auf und hatte gleich das ganze Küchengeschirr wieder auf ihrer Seite, und je schärfer die Stimme der Bäuerin wurde, desto heller musizierte das Blech an den Wänden und auf den Gestellen, so daß die Meisterin es endlich vorzog, das Feld zu räumen.
Der Ausweg, auf den Karl und Käther damals verfallen waren, sollte bald offenbar werden. Als die Magd Schwabenstoffels Hof verlassen mußte, ging sie schnurstracks in die Stadt, fragte nach Professor Wendelins Wohnung und zog die Glocke so derb, daß das ganze Haus zusammenfuhr. Karl schien ihre Art zu kennen, oder sie erwartet zu haben: wie eine Hummel fuhr er auf und davon, der Haustüre zu. Seiner Mutter fiel das Gebaren auf; sie eilte ihm nach und fand das Paar Brust an Brust und Lippe an Lippe im Hausflur. »Das ist die Käther, Mutter!«
Sie musterte ihre zukünftige Tochter und dachte bei sich: »Etwas Apartes ist sie freilich nicht; aber es ist nicht so schlimm, wie der Mann sagte, und wenn sie sich lieben …«
»Darf ich sie haben, Mutter?«
»Ich hoffe es, aber wir müssen den Vater fragen, gehe mit ihr zu ihm, er ist im Studierzimmer.«
Der Gelehrte saß hinter seinen Büchern. Als er aufsah und den Besuch erkannte, verfinsterte sich sein sonst so mildes Antlitz:
»Lass' uns allein, Karl!«
Sobald er mit dem Mädchen allein war, fuhr er es an: »Was sucht Ihr hier, Käther?«
»Ich will den Karl haben!«
»Daraus wird nichts, schlagt Euch das nur aus dem Kopf!«
»Ich muß ihn haben!«
»Ich sage Euch, Ihr kriegt ihn nicht!«
»Und ich krieg' ihn doch!«
Dies sagend, ließ sie ihren Blick langsam an sich heruntergleiten, wendete sich wie verschämt etwas ab und guckte dann mit schlaudummen Augen zum Professor hinüber. Dabei schlug sie, sei es aus Gewohnheit oder aus Verlegenheit, ihr seelenloses Gelächter an; aber es tönte nicht wie in Schwabenstoffels Küche: die Bücher und Scharteken waren weniger dumm und äffisch als die Pfannendeckel und Blechtrichter, und als die Magd sah, daß sie das gewohnte Echo nicht fand, verstummte sie und ließ wieder ihren Blick sprechen, in der Befürchtung, das erstemal nicht begriffen worden zu sein.
Die Wiederholung wäre nicht notwendig gewesen. Der Professor hatte sie gleich verstanden. Der Ingrimm fing an in ihm zu kochen, seine Finger ballten sich zur Faust und in seinen sonst so friedsamen Füßen zuckte es kampflustig: er hätte auf das Weib losstürzen mögen. Aber was war zu tun? Die Heirat ließ sich nicht mehr vereiteln, im Gegenteil, man mußte sie emsig betreiben, um nicht Hochzeit und Taufe miteinander feiern zu müssen.
Das war ein schwerer Schlag für Wendelin. Er kaufte den beiden Leutchen einen kleinen Bauernhof – viel zu teuer, wie es von ihm zu erwarten war – und ließ sie trauen.
Käther schenkte ihrem Mann ein halbes Dutzend Kinder, jedes Jahr eines: das ging so regelmäßig wie auf dem Acker Saat und Ernte. Alle starben bei der Geburt oder bald nachher, mit Ausnahme des zweiten, eines Bübchens, das Gottfried getauft wurde.
Gottfried war etwa sechs Jahre alt, als sein Vater sich eines Tages in seinen besten Sonntagsrock steckte, nach Stock und Hut griff und den Weg nach der Hauptstadt einschlug. Fragten ihn die Bauern, die längs der Straße in den Wiesen standen und die zischenden Sensen ins Gras schlugen: »Wohin so eilig, Nachbar Wendelin?« so stand er still: »Ich muß heut das Mähen einstellen, sie weihen drin in der Stadt die Pferdebahn ein – Ihr habt ja wohl auch davon gelesen – und da hat mir einer geschrieben, ich möchte doch auch kommen! Ihr versteht: ein hochstehender Herr!«
»So habt Ihr wohl was Wichtiges dabei zu tun?« – »Wer weiß!« sagte Karl Wendelin geheimnisvoll und schritt fürbaß. Fragte dann etwa ein Junge seinen Vater: »Was hat er bei der Einweihung zu schaffen?«, so ließ der Alte seine Sense einen Augenblick in der Mahd stecken und lachte: »Nun, du siehst es ja! er will einen Narren feilhalten!«
In der Stadt angekommen, stellte sich Karl Wendelin auf den Gehsteig und wartete und drehte den Kopf nach jedem ungewohnten Lärm. Endlich rollte der erste Wagen daher, er war mit Blumen und Kränzen geschmückt und das Volk begrüßte ihn mit kindlichem Freudengeschrei. Im Wagen saßen Männer mit Frack, Zylinder und weißen Handschuhen und schauten auf das Volk mit liebevoller Teilnahme wie Könige oder gar Götter. Das waren die weisen Stadträte, die Förderer des schönen Werkes. Karl Wendelin, der Bauer, verschlang all das mit den Augen; was hätte er darum gegeben, sich nur für fünf Minuten in die schwarze Götterversammlung eindrängen zu können!
Am Nachmittage wurden die Wagen allem Volk zur Verfügung gestellt. Wendelin stand wieder auf seinem Posten und sah den Leuten zu, wie sie auf den fahrenden Wagen sprangen oder abstiegen, die einen gewandt wie Seiltänzer, die andern plump wie Mehlsäcke. Wie lachte er, wenn einer beim Aufspringen seine Beine nicht recht zu regieren verstand und, an den eisernen Pfosten angeklammert, sich nachschleppen ließ, oder beim Absteigen das Gleichgewicht verlor, Kopf und Hände in der Luft herumwarf und allerhand komisches Zeug machte. »Wie kann man sich bei einer so einfachen Sache so dumm benehmen!« Karl war schon oft von seinem Leiterwagen auf- und abgesprungen, war es denn Hexenwerk, was hier von einem verlangt wurde? Als wieder ein Wagen vorbeifuhr, trippelte er eilig auf ihn zu; aber seine Hände waren zu langsam und anstatt die eiserne Stange zu fassen, griffen sie in die Luft, und Wendelin, ohne recht zu wissen, wie es zugegangen war, stand auf Händen und Füßen zugleich und das Volk machte schlechte Witze und lachte: »Seht, der Bauer will vor Freude auf dem Kopfe stehen!«
Dieser Mißerfolg tat Wendelins Stolz Eintrag, aber er ließ sich nicht abschrecken; bald tauchte die freundliche lächelnde Gestalt an einem andern Orte auf, und nun gelang der Versuch. Wendelin fuhr eine Strecke weit im Wagen mit und guckte durchs Fenster und meinte, aller Augen seien auf ihn gerichtet: sein Selbstvertrauen schwoll wieder mächtig an. Als er sich einem Platz näherte, auf dem viel neugieriges Volk angesammelt war, stellte er sich hinten auf die Treppe. Er wollte die Leute in Erstaunen setzen. Aber als er den Absprung vom fahrenden Wagen, den er so lange überlegt und im Geist schon so manchmal ausgeführt hatte, nun wirklich wagen sollte, verließ ihn die Besinnung und er machte einen plumpen Sprung nach rückwärts. Schallendes Gelächter erhob sich, aber bald verstummte es, denn der Gefallene erhob sich nicht wieder. Man trug ihn bewußtlos vom Platze und einige Tage später verschied er im Krankenhaus.
Nach der Beerdigung nahm der Professor das Söhnlein Gottfried zu sich in die Stadt, um es zu erziehen. Käther tröstete sich bald über den Tod ihres Mannes und heiratete ihren Knecht.
Auch an seinem Enkel Gottfried erlebte der Professor keine Freude: er war ein ungelenker, schläfriger Bursche, im Kopf so schlaff wie in den Händen und Füßen. Nachdem man ihn mit Mühe durch die obligatorischen Klassen der Volksschule geschleppt hatte, nahm ihn ein Kaufmann, der mit dem Professor befreundet war, aus Gutmütigkeit in sein Geschäft auf, und von da an sah man Gottfried regelmäßig viermal täglich durch die Bahnhofstraße schlendern, im Sommer ein Stöcklein nachschleppend, im Winter die Hände in den Taschen verbergend. Wenn er sich am Morgen zum Gehen schickte, musterte die Großmutter seinen Rock, seine Halsbinde und seinen Hut, und war alles in Ordnung, so sagte sie zu ihm: »So geh jetzt, Gottfriedlein, und sei recht freundlich mit den Leuten, Freundlichkeit kostet nichts und hält die Kunden warm!« Und er sagte regelmäßig darauf: »Ja, ja, Großmutter!« und ging. Er wußte aber wohl, daß er zur Freundlichkeit gar keine Gelegenheit hatte. Trat man von der Straße her in Spangenbergs Tuchladen, so stieß man auf einen langen Tisch, hinter dem zwei Angestellte in schwarzen Anzügen standen, freundlich grüßten und lächelnd Auskunft erteilten. Im Hintergrunde stand ein hochaufgeschossener Bursche mit unverhältnismäßig langen Armen und Beinen, mit einem kleinen, blonden Kopfe, aus dem zwei winzige Äuglein blinzelten, die immer halb geschlossen waren, das linke mehr als das rechte, so daß man nie genau wußte, ob sie wachten oder schliefen, noch wohin sie zielten. Das war Gottfried Wendelin.
Wenn nun die Kunden ihre Wünsche angebracht hatten, tönte es vom Ladentische her: »Herr Wendelin, Cheviot, blau, Numero 3! Cheviot, braun, Numero 6! Kammgarn Numero 4! Barchent Numero 5! Bringen Sie Futterstoffe!« Und der Angerufene schlug seine Äuglein etwas auf, griff nach der Leiter und lehnte sie an die hohen Gestelle, schleppte die Tuchrollen her und warf sie wenig freundlich auf den Tisch. Und waren die Kunden bedient, so hieß es: »Herr Wendelin, räumen Sie den Tisch ab! Aber was machen Sie denn! Sie … Gehört das denn dorthin? Sehen Sie nicht, daß das Barchent ist? Jetzt fällt der Mensch noch hin! Es ist nicht zum aushalten!« …
So wurde Gottfried vierundzwanzig Jahre alt. An einem Sonntagmorgen, als der Professor beim Frühstück saß, kam sein Enkel auf ihn zu, hielt eine Zeitung in der Hand und sagte, mit dem Finger auf eine Annonce deutend: »Lies das, Großvater.«
Wendelin sah hin und las: »Eine junge, kinderlose Witwe, mit einigem Vermögen und heiterem Charakter wünscht …«
»Ja, was soll das, mein Junge?«
Da hub Gottfried in weinerlichem Tone an: »Jetzt hat sich unser Buchhalter verheiratet, alle im Geschäft sind verheiratet, nur ich nicht, und nun necken mich die andern und sagen in einem fort, ich bekäme keine Frau, so einen nähme keine. Drum könntest du einmal anfragen, ob die da vielleicht mich nehmen wollte.«
»Fährt das Heiratsfieber auch in ihn!« seufzte der Professor. Es ward ihm bang. Da er schwieg, hub der Enkel wieder an: »Willst du sie fragen, Großvater, oder soll ich es selber tun?«
»Nein, nein, laß nur mich sorgen, Gottfried! Du kannst ja nicht ohne Fehler schreiben und würdest mit deiner hakigen Schrift alles verderben!«
»Und wenn sie nichts von mir wissen will?«
»Dann ist nichts dran zu ändern!«
»Aber dann gibt's wohl noch andere, nicht wahr?«
»O ja, es gibt noch viele. Geh jetzt nur, Gottfried, und laß deinen Großvater für dich denken.«
»Hast du sie gefragt?« war Gottfrieds erste Frage am Montag.
»Nein, noch nicht, du mußt dich gedulden!«
Aber er geduldete sich nicht sondern wurde immer dringlicher in seinen Fragen, bis ihm endlich der Alte sagte: »Sie hat schon einen gefunden, du mußt es in den Wind schlagen!«
Das war ein großer Schmerz für Gottfried. Von da an machte er Jagd auf alle Zeitungen und fand er eine Heiratsannonce, zeigte er sie seinem Großvater und bat ihn, ja diese gute Gelegenheit nicht zu verpassen. Spangenbergs Angestellte hatten die Schwäche ihres Kollegen bald herausgefunden und steigerten seine Heiratslust durch allerhand Schelmereien, durch anonyme Briefe, ja sogar durch Zeitungsinserate. Es dauerte nicht lange, so war Gottfried in alle Frauenröcke vernarrt, und schielte ein Mädchenköpfchen auf der Straße nach ihm, weil ihm der lächerliche Bursche aufgefallen war, so stand er still und spähte ihm nach, und drehte es sich neugierig noch einmal nach ihm um, so war er fest überzeugt, das Jüngferchen sei in ihn zum Sterben verschossen, und er hatte den ganzen Tag den Himmel im Herzen. Sah ihn aber eine nicht an, so stellte er sich die Frage: »Wagt sie etwa nicht, dich anzusehen, weil du ihr so ausnehmend gefällst?«
Die Aufgabe des Großvaters wurde immer schwieriger. Er hoffte lange, den Enkel mit Worten abspeisen zu können, denn er hatte noch nie viel Energie an ihm entdeckt; aber er gewahrte bald, daß seine Liebesgrillen ihren harmlosen Charakter allmählich verloren. Gottfried ließ die Zeitungen Zeitungen sein und schlich nun häufig in die Küche, um mit der Köchin zu plaudern und von ihr gehänselt zu werden.
»Sorg' ich ihm nicht für eine Frau, so macht er es wie sein Vater und hängt sich an die erste beste,« sagte sich der Gewitzigte, »es ist besser, ich tu' ihm seinen Willen.« Und wie er sich die Sache so überlegte, erwachte in ihm die seltsame Hoffnung, durch eine glückliche Wahl, die Dummheit, die in sein Haus eingezogen war, zu unterdrücken, wie man einen Holzapfelschößling veredelt, indem man ihm ein gutes Reis aufsetzt. Dieser Einfall war für ihn eine Erlösung aus schmerzlicher Qual; denn wie oft hatte ihn der Gedanke an den unaufhaltsamen Zerfall seines Hauses und die Schuld, die er daran hatte, schlaflos gemacht! Hatte er nicht, um der Wissenschaft leben zu können, seinen Verstand mit der Dummheit vermählt? Hatte er nicht seine Nachkommen des Geistes beraubt, um den seinigen leuchten zu lassen? Sah er seinen Enkel mit dem blöden Gesichte, so hatte er das Gefühl eines Diebes, der sich reich, aber dafür einen andern zum Bettler gemacht hat. Wäre es möglich, seine Familie wieder aufzufrischen und so die Schuld, zum Teil wenigstens, zu tilgen? Aber wo eine Frau finden, die dazu taugte? Gottfried mit einem gescheiten, gebildeten Mädchen zu verbinden, war unmöglich. Hätte sich auch eines dazu bewegen lassen, es wäre zum Tod unglücklich geworden, und des Alten Gewissen hätte eine neue Last zu tragen gehabt.
Nein, Gottfrieds Frau mußte unter denjenigen gesucht werden, an deren Wiege die Armut gesessen und sie gelehrt hatte: »Geld vor allem!« die einen Geldsack nicht verschmähten, auch wenn er der Dummheit an den Rock genäht war.
Der Professor suchte nach Mädchennamen und Mädchengesichtern; aber der wie eine Eule einsam lebende Gelehrte fand in seinem Gedächtnis nichts, was seinen Plänen entsprochen hätte. Da kam ihm ein erlösender Gedanke. Er ließ in der Zeitung verkünden, daß er ein Zimmermädchen von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren suche.
Die Frau Professor war nicht wenig erstaunt, als im Verlauf eines Nachmittages etwa zehn Mädchen die Hausglocke zogen. Sie wollte ihren Mann zur Rede stellen, er aber gab ihr zu verstehen, sie möchte ihn in dieser Angelegenheit gewähren lassen. Da ging sie kopfschüttelnd hinweg und dachte bei sich: »Wie der Heinz in seinen alten Tagen wunderlich wird! Was versteht der von einem Mädchen, das dümmste kennt sich ja besser aus als er. Aber er soll nur!« Sie war in den letzten Jahren schwerfällig und gleichgültig geworden. Nur keine Aufregung! Sie saß meistens mit einem Strumpfe in der Hand herum und ließ die Welt rollen. Ihr Gesellschafter war ein altes, ebenfalls träges Hündchen, Minggi genannt.
Der Professor nahm die Mädchen ins Examen, prüfte sie aber begreiflicherweise nicht auf die Geschicklichkeit ihrer Hände, sondern auf die Tüchtigkeit ihres Kopfes. Dann nahm er dasjenige in seinen Dienst, das ihm den besten Verstand und einen gesunden Leib zu haben schien. Die Ausgewählte beobachtete er nun zwei, drei Wochen, sah nach, ob sie die Dinge mit Verstand anpacke, ließ sich oft mit ihr in ein Gespräch ein und plauderte mit ihr über hundert Sachen. Schickte er sie in die Stadt, um Einkäufe zu machen, mußte sie schnell ausrechnen, wieviel er ihr mitzugeben habe, und kam sie zurück, so ging das Schulmeistern von neuem an. Bald bemerkte er, daß er der Liese die Zukunft seines Hauses nicht anvertrauen durfte, und wieder verkündete er durch die Zeitung, er brauche ein Dienstmädchen. Das zweite, das er wählte, war noch ungeeigneter als das erste und auch zu dem dritten konnte er kein rechtes Zutrauen fassen. Da er es mit Fragen und Examinieren stets schlecht getroffen hatte, nahm er das viertemal das erste beste und die Wahl war glücklich.
Das Mädchen war keine Schönheit, aber es hatte eine starke breite Stirne, kluge, offene Augen und war kräftig gebaut. Er beobachtete es nicht nur zwei, drei Wochen wie die andern, sondern zwei, drei Monate und es gefiel ihm immer mehr. Es hatte nicht nur einen gesunden Verstand, sondern auch Gemüt und einen aufrichtigen geraden Sinn. Das war die Rechte, die sollte sein Haus vor dem Zerfall retten; konnte es eine, so war sie's! Sein ehrliches Gewissen sagte ihm zwar jeden Tag und immer eindringlicher: »Beim Himmel, es ist schade um das Mädchen!« aber er suchte es zu beschwichtigen: »Berta ist eine Waise, arm wie eine Kirchenmaus und steht mutterseelenallein in der Welt: wer weiß, was das tückische Leben ohne mich aus ihr machen würde? Ich gebe ihr Wohlstand, einen warmen Herd und einen Tisch, unter den sie die Füße strecken, ein Haus, in dem sie schalten und walten kann. Ist denn der Handel so ungerade? Aber wenn er mit seinen Gründen zu Ende war, hörte er immer den alten Kehrreim: »Ist es nicht jammerschade um so ein Geschöpf?« So kam es, daß er keine ungetrübte Freude empfand, als eines Abends sein Enkel verlegen vor ihn trat und, ihm die Achsel zukehrend, sagte: »Du könntest mir die Berta zur Frau geben.« Als er dem Mädchen Gottfrieds Begehren mitteilte, stotterte er bei jedem Wörtchen und die Schamröte stieg ihm bis unter seine weißen Locken.
Berta glaubte erst, er scherze, und nur das ernste ungewöhnliche Aussehen des Greises hielt ihrem klingenden Lachen den Schlagbaum vor. Den Gottfried heiraten? Nein, so ein Gedanke war ihr noch nie gekommen! War denn der zum Heiraten da? Sie hatte den alten Herrn herzlich gern; hätte sie ihm sonst eine Bitte abschlagen müssen, es hätte sie ganz unglücklich gemacht; aber in diesem Falle brauchte es für sie keine Besinnung: den Gottfried heiraten! Wer trinkt denn aus einem Tümpel, wenn er aus einer Quelle schöpfen kann? Wer legt sich in die Dornen, wenn daneben Gras wächst? Sie sprach ein bestimmtes ›Nein‹.
Der Professor wagte nicht sie anzusehen und erwiderte kein Wort. Zu sich aber sagte er: »Ich sah es voraus, ich kann ihr nicht böse sein. Schäme dich vor ihr, alter Kuppler!«
Und er nahm sich vor, seine eigennützigen Absichten aufzugeben. Aber Gottfried, der wohl gemerkt hatte, daß sein Großvater diesmal seinem Plane geneigt war, wurde nun ein unermüdlicher Quälgeist und lag dem Alten in den Ohren, wo immer er ihn erwischte: »Wann gibst du mir die Berta? Du mußt sie mir geben, sonst nehme ich sie selber; das könne ich, hat unser Buchhalter gesagt. Ich bin volljährig! Und tust du es nicht, so mach' ich am Ende ein Loch ins Wasser, wie die Pauline im Schlossergäßchen, und dann kannst du auch greinen wie der Spengler und seine Frau!«
Diese Drohung, die fast täglich wiederkehrte, machte wenig Eindruck auf den Alten, der wohl bemerkt hatte, daß seinem Enkel das Leben trotz der Liebe werter war als eine Schürze. Aber der Gedanke, sein Haus aufzufrischen, zu retten, tauchte in seinem Geiste immer wieder an die Oberfläche und folterte ihn Tag und Nacht. Er schlief nicht mehr und seine Frau fragte ihn manchmal ängstlich: »Was stöhnst du so, Heinz? Du weckst mich ja! Man möchte doch schlafen! Auch Minggi wird unruhig. Bist du krank, daß du dich so wälzest im Bett?«
So trieb er es etwa drei Wochen. Da überwand er sein Gewissen, wiederholte Berta seine Vorschläge und hob diesmal in wohlbereiteter Rede die praktischen Seiten hervor.
Berta sagte wieder nein, so bestimmt wie das erstemal; aber die Vorspiegelungen des Alten verfehlten doch ihren Zweck nicht ganz: das drittemal schnellte sie ihr ›Nein!‹ weniger vertrauensselig heraus als früher und fühlte eine heimliche Angst in der Brust, als sie inne ward, daß ihr das Wörtchen nicht mehr von der Zunge fliegen wollte wie zuvor. Das zwanzigjährige Mädchen kannte die Welt und das Leben und den wahren Wert des Geldes noch nicht. Was wußte es von dem, was einen wahrhaft glücklich zu machen imstande ist? Das viertemal ging es den krummen Handel ein.
Der Professor rief seinen Enkel herbei und sagte zu ihm mit leicht bebender Stimme: »Dank' ihr, Friedli, dank' ihr, sie will dich nehmen!« Gottfried sah sie wortlos an mit seinen kleinen, halbgeschlossenen Augen und lächelte und wiegte sich dabei vor Berta auf seinen langen Beinen hin und her. Berta barg ihr Gesicht in der Schürze und schluchzte. Der Alte aber schlich hinweg, wie einer, der einem andern Gift ins Glas gegossen hat.
Von dieser Stunde an hatte er keinen ruhigen Augenblick mehr. Er hatte einen Menschen seinen selbstsüchtigen Plänen geopfert, er fühlte es wohl, und das Schuldgefühl zerrte an ihm, beugte seinen einst so geraden Rücken und verwirrte seinen sonst so klaren Blick.
Wenige Tage nach Gottfrieds Hochzeit ging die alte Frau Professor aus dem Zeitlichen, ganz unerwartet. Sie hatte einen Tag wie den andern gelebt, an einen Wandel hatte man so wenig gedacht wie beim Lebenslauf der Sonne und der Sterne. Im Sommersemester erwachte sie um sechs Uhr, im Wintersemester eine Stunde später. Dann regte sich etwas in dem Bett mit den rosaroten Blümchen auf dem Überzug und heraus schälte sich ein weißes Nachthäubchen, einstweilen nur dieses, denn im Schlaf verkroch sich die Frau Professor wie ein Dachs tief im Bau. Wenn sich das Häubchen unter der Decke hervorschob, begann die Stockuhr auf dem nußbaumenen Sekretär, dem gleichen, an dem einst Wendelin das Geld zu Säulen geschichtet hatte, ihre gedämpften sechs oder sieben Streiche zu hämmern, als hätte sie auf ihrem hohen Sitz wie ein Turmwächter auf das Zeichen gewartet. Sobald die Uhr nach dieser Kraftanstrengung wieder fortfuhr, kaum hörbar und bedächtig den altgewohnten Takt zu schlagen, ließ sich eine in den Federn halb erstickte Stimme hören: »Minggi, Minggi!« Auf diesen Ruf sprang das fette kurzhaarige Hündchen, das neben dem Bette in einem liebreich ausgepolsterten Korbe seinen friedsamen Schlaf geschlafen hatte, empor, hüpfte mühsam auf den Stuhl neben dem Bette und stieß ein heiseres: »Wä, wä!« aus, wie um zu sagen: »Hier bin ich!« Dabei schlug es zur Bekräftigung mit seinem Stumpfschwänzchen gegen die Stuhllehne, und sein kurzes, ergrautes Schnäuzchen schien zu lächeln. Es stellte sich in Positur und sah aufmerksam nach einer Stelle des Bettes, denn es wußte, daß sich dort ein Ereignis abspielen werde. Und wirklich, das Bettzeug wurde lebendig und heraus wickelte sich eine überrundliche Hand. Das Hündchen machte sich sogleich, vor Freude leicht bebend, darüber her und beleckte sie untertänigst. Darauf tönte wieder die fette Stimme unter der Decke: »Heinz, es hat sieben geschlagen. Es ist Zeit zum Aufstehen.«
Eines Tages aber schlug die Uhr sieben, ohne daß ihr das Häubchen das Zeichen gab, und das Hündchen Minggi wartete umsonst auf das Erscheinen der Hand und begriff nicht. Es wurde immer unruhiger und begann schließlich aufs allertraurigste zu kläffen und dann zu heulen, bis es außer Atem geriet und mit einem fast menschlichen Schluchzen verstummte. Professor Wendelin, der bis tief in die Nacht gearbeitet hatte, erwachte an dem Klagen des Tierchens statt, wie sonst, an der Ermahnung seiner Frau, und ahnte gleich etwas Schlimmes.
Die Frau war in der Nacht an einem Herzschlag schmerz- und lautlos verschieden. Als man sie in den Sarg bettete, beneidete Wendelin sie um ihr friedsames Gesicht und die Ruhe ihrer Brust. Die Leute, die dem Sarge folgten, sagten untereinander: »Der alte Herr treibt es auch nicht mehr lange.«
Nun waltete Berta im Haus. Sie faßte ihre Aufgabe an mit dem Mute eines tapferen Weibes; sie verstand es meisterlich, ihren Gottfried zu regieren und es war zuweilen, als ob sich seine blinzelnden Äuglein etwas öffneten, als ob seine langen Beine mehr Halt und Sicherheit bekämen und sein Rücken, der sonst einem Schilfrohr glich, steifer würde. War sie glücklich? Nein, so durfte man nicht fragen; aber war sie zufrieden mit ihrem Lose? Wie oft stellte sich der Alte diese Frage, aber nie entdeckte sein ängstlich forschender Blick in dem ihrigen eine stumme Anklage. Was sie auf sich genommen hatte, trug sie.
Gottfried und Berta waren etwa zwei Jahre Mann und Frau, als sie mit einem Kinde beschenkt wurden. Es war ein Knäblein.
Als am Morgen nach der Geburt Gottfried in die Wohnstube trat, fand er seinen Großvater neben der Wiege des Kleinen sitzen und so sehr in den Anblick vertieft, daß er den Vater gar nicht zu beachten schien und ihn erst beglückwünschte, als er knurrte: »Das ist mein Bub, Großvater!« wie wenn er gefürchtet hätte, der Alte wolle ihm das Knäblein streitig machen. Und wieder setzte sich der Professor an die Wiege und sein Auge ruhte forschend und fragend auf dem kaum zum Leben erwachten Säugling. Was regierte da in des Alten Brust? Das Hoffen oder das Bangen?
Jetzt war das Knäblein, was alle Menschen am ersten Lebenstage sind: ein Klümpchen rötlichen, sich kaum rührenden Fleisches; was aber sollte daraus werden? Eine Rechtfertigung? oder die Bestätigung einer Schuld und zugleich deren Strafe? Oh, gerate, gerate, du teures Stücklein Fleisch und Seele! Der Alte betupfte mit dem Finger sorgfältig den Schädel des Kindes und vergewisserte sich, daß die Nähte noch weit offen und weich waren und freute sich der Tatsache. Gottfried, der eifersüchtige Vater, sah all das mit mißtrauischen Augen an und, um den Großvater zu vertreiben, setzte auch er sich an die Wiege. Aber der Lästige wich nicht.
Lange saßen die beiden sich so schweigsam gegenüber; der eine blinzelte unwillig über die Wiege weg, der andere schaute in sie hinein, nachdenklich, wie einer der eines Rätsels Meister werden will. So starrte der Professor nun oft stundenlang auf seinen Enkel.
Einmal kam ihm der Einfall, man müsse das Knäblein mit einem andern desselben Alters vergleichen, um seine Entwickelung richtig beurteilen zu können. Er ließ deshalb nach einem Säugling suchen, der in der gleichen Woche zur Welt gekommen wäre, wie sein Urenkel. Statt des einen fanden sich zwei in seinem Quartiere. Es währte nicht gar lange, da hatte der sonst ungesellige Mann mit den beiden Familien Beziehungen angeknüpft, und eines Tages gelang es ihm, eines der Kleinen in seine Behausung zu bringen. Das war ein Examinieren und Begucken, ein Trippeln von einem der Kinder zum andern! Alle, die es sahen, schüttelten den Kopf und wurden nicht klug. Der Alte war zufrieden mit dem Ergebnis der Vergleichung: die Kinder, die nun etwa fünf Monate alt waren, schienen alle fast ganz gleich entwickelt zu sein, ihre Köpfe hatten die gleiche Größe, der Ausdruck der Augen war bei allen der nämliche.
Nun kam die wichtige Zeit, da allmählich der Geist in die unbeholfenen Leibchen einziehen, sich ein Seelchen in die Augen einnisten sollte. Wann kam das erste Lächeln auf die Lippen? wann die erste Träne ins Auge? Wendelin hatte für nichts mehr Sinn als für seinen Urenkel, für seinen Heinzi. Denn man hatte das Knäblein nach ihm getauft. Am Morgen wollte er bei seinem Erwachen, am Abend bei seinem Einschlafen sein, und fehlte dem Kleinen etwas, so war sicherlich der Alte der erste, der es bemerkte. Er hatte stets sein Notizheft bei der Hand, um alles, was ihm auffiel, niederschreiben zu können. Und saß er an der Wiege und fühlte um sich das geschäftige, stille Wesen der jungen Mutter, so sah er wohl etwa von dem kleinen Gesichtchen auf nach dem ihrigen und stellte sich die Frage: »Gleicht er ihr oder ihm? Von wem hat er die Augen? von wem den Mund?«
Jede Woche ging er einmal zu einem der beiden andern Knäblein oder wußte ihre Hüterinnen in sein eigenes Haus zu locken und musterte und verglich. Die Leute aber sagten: »Der alte Wendelin wird ganz kindisch.« Ebenso trieb er es auf den öffentlichen Spaziergängen, wo die weißgeschürzten Kindermädchen die zierlichen Wägelein schoben oder die molligen Kissen wiegend auf den Armen trugen. Der komische Alte war bald allen bekannt und sie fingen an allerlei Schabernack mit ihm zu treiben. Er achtete nicht darauf, denn er hatte an seinen Heinzi und an sich zu denken und zudem ein böses Kind zu geschweigen: sein unerbittliches Gewissen, das ihn keinen Augenblick zur Ruhe kommen ließ.
Heinzi war ein Jahr alt geworden und fing schon an im Zimmer herum zu rutschen und zu watscheln und zu lächeln, wenn man mit ihm spielte und gerade trieb, was nach seinem Geschmacke war. Unterschied er sich von den beiden andern Kindern? Auch sie rutschten, auch sie watschelten und lächelten und im Schreien hatten sie's wie er zur Meisterschaft gebracht. »Alter Kerl, wenn es gelungen wäre, das Experiment! Oh, gerate, du teures zappelndes Klümpchen! Du Seelchen gerate!« In Wendelin ward die Hoffnung Meister und richtete ihm den Kopf wieder auf.
Nun sollte das Knäblein beginnen, Sprachversuche zu machen, und wirklich, der Anfang war ja da, schon ließ es sein »mäm« hören! War das ein Wort oder war's keines? Mutter und Urgroßvater waren nicht einer Meinung. »Nun, warten wir ab, bis ein unzweifelhaftes folgt!« Aber die Wochen vergingen, und das ersehnte Wort kam nicht. Es war ein Trost, daß die beiden andern Knäblein auch nicht sprachen.
Einst als der Professor einem der Altersgenossen seines Heinzi einen Besuch machte, hörte er, als er durch die Türe trat, aus einer Ecke des Zimmers den unbeholfenen Ruf: »pap! pap!« und die Mutter des Kleinen kam dem Professor freudig entgegen: »Unser Bubi plaudert!«
Dann zu dem humpelnden Kleinen gewendet: »Bubi sag': Mama! Bubi sag': Pap!« Und mit einem leichten Stoß brachte der ob seiner Leistung selber fast erstaunte Kindermund sein »Mam!« und »Pap!« hervor.
Der Professor kürzte seinen Besuch ab; der Boden brannte ihm unter den Füßen. So schnell als ihn seine wackelig gewordenen Füße tragen konnten, kehrte er nach Hause zurück. Mitten in der Stube saß Heinz, neben ihm kniete Berta und spielte mit ihm. Der Alte hob das Büblein auf, drückte es an seine Brust und dabei fielen ihm Tränen aus seinen Augen und benetzten das Gesicht des Kindes, so daß es zu heulen begann.
»Was ist Euch, Großvater?« fragte Berta besorgt, erhielt aber keine Antwort.
Am folgenden Tage nahm der Professor Heinzi auf die Knie und sprach ihm »Mama« und »Papa« vor, so deutlich, als es seine welken Lippen vermochten. Umsonst! Man sah, es ward dem Kleinen unheimlich bei dem eintönigen Gesang, und bald brach er in Geschrei aus. Neue Versuche hatten den gleichen Mißerfolg: »Mäm« war alles, was in seinem Munde Wortform annahm. Berta, die Befürchtungen des alten Mannes erratend, folgte seinem Beispiele und fing auch an zu sprachmeistern, wenn er nicht zugegen war, in der Hoffnung, dem gequälten Greise eine Überraschung zu bereiten.
Fast zwei Monate hatte der Alte seine sonst so regelmäßigen Kinderbesuche unterlassen, wohl aus dem gleichen Gefühle, das manchmal Kranke abhält, zum Arzte zu gehen: aus Furcht, die Wahrheit zu erfahren. Endlich aber trieb ihn die Neugier. In beiden Stuben traf er ein stolperndes, aber doch munteres und unermüdliches Geplauder, zum Teil verständlich, zum größeren Teil unverständlich. Aber gleichviel, es war Geplauder, menschliche Sprache, Regung der werdenden Vernunft. Und sein Heinzi, mit seinem einförmigen »mäm! mäm!« Oh, es tat ihm in der Seele weh! Und dann die Augen der beiden Plauderer! wie hatten sie sich verändert in der Zeit! Sie sagten noch viel mehr als die ungelenken Mäulchen: ja, da hatte sich etwas hineingenistet.
Heinzi ward zwei Jahre alt und noch war »mäm« fast sein ganzer Wortschatz. Zu der Zeit befiel ihn die erste Kinderkrankheit, eine heftige Halsbräune, von der er nur sehr langsam genas. Als des Kleinen Leben außer Gefahr war, beschlich den Urgroßvater eine Art heimlicher Freude bei dem Anblicke des fast ganz zerfallenen Körperchens, eines jener Gefühle, deren man sich schämt, die man keinem Menschen, auch sich selber nicht, in ihrer garstigen Nacktheit zeigen möchte: jetzt konnte er das geistige Siechtum des Knäbleins zum Teil wenigstens der Krankheit aufs Kerbholz schreiben, einem Umstande also, an dem er selber keine Schuld trug. Und er tröstete Berta, wenn ihre Blicke mit Besorgnis an ihrem Lieblinge hingen: »Ängstige dich nicht, Kind, ist er einmal wieder erstarkt, so wird er auch zu sprechen anfangen, das kommt dann auf einmal, gib nur acht! man hat schon viele solche Beispiele erlebt.«
Heinzi erholte sich nach und nach, aber mit dem Sprechenlernen hatte er es immer noch nicht eilig, und sonderbar, während der Krankheit hatte sein Gesicht eine auffallende Ähnlichkeit mit dem seines Vaters angenommen: der gleiche schlaffe Mund, die gleichen trägen, halbgeschlossenen Augen. Der Professor konnte sich nicht mehr belügen, er hatte sein Spiel verloren! Nun war seine ganze Energie gebrochen, er schlich wie ein mürrischer Schatten im Hause herum, nirgends erhaschte er Ruhe, an nichts mehr empfand er Freude, er war nun fast so wortkarg wie sein Urenkel. Einmal noch zuckte die Hoffnung in ihm auf, als Berta mit strahlendem Gesichte in sein Studierzimmer drang und rief: »Jetzt hat er ganz deutlich ›Mama‹ gesagt!« Der Alte trippelte ihr nach in die Wohnstube, um das Wunder auch zu hören; aber der Kleine war eigensinnig, und ließ sich durch nichts bewegen, sein Wissen auszukramen. Der Professor sah in seine zum Sehen zu trägen Augen und verließ dann die Stube mit einem tiefen Seufzer. Wohl lernte das Büblein nun nach und nach etwas plaudern; aber den Alten vermochte nichts mehr zu täuschen: die Dummheit hatte abermals durchgeschlagen.
Der geprüfte Greis sollte des Unglücks noch mehr erfahren. Gottfried war seit einiger Zeit ein ganz anderer geworden; er hatte angefangen seine Frau, die sich vielleicht aus Widerwillen von ihm zurückzog, schlecht zu behandeln, sie zu schmähen, ihr sogar mit den Fäusten zu drohen, wenn sie nicht seiner Meinung oder besser seiner Laune war. Wer hätte geglaubt, daß der schlaffe Schlauch so viel Galle fassen könnte!
Es dauerte lange, bis der alte Wendelin die Veränderung gewahrte, denn er hatte keine Augen mehr für die Dinge um ihn. Von Berta erfuhr er nichts; sie wehrte sich tapfer und brav, und was sie nicht abwehren konnte, ertrug sie mit Geduld. Einst aber polterte Gottfried so laut, daß sein Großvater, der in seinem Studierzimmer saß, hätte taub sein müssen, um ihn nicht zu hören. Er erhob sich, um nachzusehen, und als er vor die Stubentüre kam, hörte er, wie es drin kreischte: »Du mußt mir das Haus räumen, das verspreche ich dir … du bist ja nur eine Magd, ein Küchenwisch! … Ich hätte keine Magd nehmen sollen, ich! … Wenn du noch schön wärest … aber so eine … Ich könnte jetzt noch zehn haben, zehn auf einmal, hörst du's? an jeden Finger eine, und keine Küchenwische … Aber ich will dich loswerden, dich … dich … dich! …«
Hätte man die Nachbarsleute gefragt, sie hätten den Grund dieses Betragens schon lange angeben können.
Jeden Morgen, wenn Gottfried an die Arbeit ging, stand er unten in der Froschgasse vor einem Bäckerladen still, pochte an den Schalter und ließ sich eine Semmel reichen, die er dann um zehn Uhr in einem müßigen Augenblicke verzehrte. Nun war vor einiger Zeit ein neuer Bäcker in das Haus gezogen. Der hatte eine üppige Puppe von Tochter, die er vom Morgen bis zum Abend als Lockvogel am Schalter sitzen und der Straße ihre rosigen Backen, ihre glänzenden Zähne und runden Arme zeigen ließ. Es währte nicht lange, so kaufte eine ganze Schar junger Leute ihren Zehnuhrimbiß bei der schönen Bäckerin, und wenn zwei von ihnen vor dem Laden zusammenstießen, so waren sie immer einer Meinung: nirgends kriege man bessere Semmeln und Brezeln und Kuchen als in der Froschgasse. Die Schwäne und Enten aber im nahen Teiche meinten, die Stadt sei närrisch geworden, denn sie schwammen seit einiger Zeit in einem unheimlichen Segen von aufschwellenden Semmelbrocken.
Gottfried Wendelins halbgeschlossene Augen waren nicht so blind, um die runden Arme und roten Backen der Bäckerin zu übersehen, besonders die runden Arme. Und merkwürdig! früher hatte er sich nur für den Morgen eine Semmel erstanden, jetzt fiel es ihm ein, der Nachmittag sei nicht weniger lang als der Vormittag. Von da an klopfte er täglich zweimal ans Fensterchen.
Das Bäckermädchen hatte eine freundliche Art und liebte zu schwatzen. Es fing an mit: »Guten Morgen, mein Herr, was beliebt?« Bald nachher klang es wie ein Glöcklein durch das halbkreisförmige Fensterchen des Schalters: »Nicht wahr, Sie wünschen ein Semmelchen, mein Herr?« Tags darauf: »Da ist Ihr Semmelchen schon, mein Herr! Dürfte ich fragen, wie ich zu Ihnen sagen darf? Ich nenne die regelmäßigen Kunden gerne beim Namen! … Leben Sie recht wohl, Herr Wendelin!« … »Ei, Sie kommen ja heute früher als sonst, Herr Wendelin! Da hab' ich für Sie ein ganz warmes Semmelchen, das haben wir extra für Sie gebacken …« Und so ging es weiter, immer vertraulicher. Was das Mädchen aus Geschäftsinstinkt tat, erschien dem einfältigen Burschen als besondere Gunst. Er war dumm oder eitel genug, im Geschäfte von seiner Bäckerin zu plaudern, und nun wußte jeder Angestellte etwas von dem Mädchen zu erzählen: wie es sich nach Gottfried erkundigt habe, wie es seine Liebe zu ihm nicht bemeistern könne, wie es gefragt habe, in welche Kirche er Sonntags gehe, wie es bleich geworden sei, als man ihm sagte, er habe schon Frau und Kind.
Gottfried hatte Berta nie eigentlich geliebt: er mußte siebenundzwanzig Jahre alt werden, um zu erfahren, was Leidenschaft ist. Nun aber war sie mit Gewalt in ihn gefahren und verzehrte sein bißchen Verstand. Er fing an, seine Frau mit der Bäckerin zu vergleichen, und zu Hause begann das Knurren und Kläffen und Drohen.
Die viel umschwärmte Bäckerin merkte bald, daß die zwei blinzelnden Äuglein in sie sterblich verliebt waren, und da sie den Burschen für harmloser hielt als ihre übrigen Semmelkunden, ließ sie sich gehen und fing an, ihn zu necken, mit ihm zu scherzen und zu spielen. Zu andern Zeiten behandelte sie ihn mit Kälte, wie einen Unbekannten, so daß in Wendelins Adern das Blut nie mehr zur Ruhe kam. Zu Hause knurrte er, im Geschäfte stolperte er, in der Froschgasse aber lächelte er und im Gehen spielten seine Finger in der Luft: er hielt Monologe. Saß einmal das Mädchen nicht am Schalter, wenn er vorüberging, so war er den ganzen Tag unglücklich; lächelte es ihn aber an, wenn es ihm die Semmel reichte, so überkam ihn die Lust, gleich die Scheiben einzurennen und den Schatz in den Armen zu entführen. Er blieb dann stehen und guckte in den Laden, bis ihn ein anderer Kunde verdrängte.
Eines Tages, als das Bäckermädchen allein war, klopfte Gottfried nicht ans Fensterchen, sondern riß die Türe auf und trat ungestüm in den Laden. Was wollte er? Man sah es ihm an, er hatte etwas zu sagen, aber er brachte keinen Laut heraus und stand da und sperrte den Mund auf und verzerrte das Gesicht. Es mußte drollig ausgesehen haben, denn das Mädchen brach in ein helles Gelächter aus: »Um's Himmels willen, was ist Ihnen denn? So reden Sie doch! Soll ich Ihnen die Semmel gleich in den Mund stecken?«
Er rang immer noch nach Worten und tat fast wie einer, der dem Ersticken nahe ist. Der Bäckerin wurde unheimlich, sie hörte auf zu lachen: »Was ist Ihnen? Was wünschen Sie?«
Endlich stotterte er es heraus: »Eine … Semmel.«
Nun ward des Mädchens Gelächter wieder flügge. Es griff mit beiden Händen in den Semmelkorb und füllte Gottfrieds Pranken. Er wußte nicht, wie ihm geschah, er gab zu verstehen, daß er einen solchen Segen nicht brauche, auch das Geldtäschchen nicht ziehen könne, wenn er beide Hände voll habe. Die Bäckerin aber lachte ihn an: »Ich schenk' sie Ihnen!« und schob ihn zur Türe hinaus. Er ging mit seinen gefüllten Händen ins Geschäft, und wer ihn sah, stand still und freute sich des Anblicks.
Ein paar Tage lang ging Gottfried nicht aus und brütete dumpf vor sich hin. Es war unheimlich im ganzen Hause. Hatte er mit seinem gespenstigen Wesen alle erschreckt, so schloß er sich in eine Dachkammer ein, durch deren Fenster er den Bäckerladen sehen konnte. Am vierten Tage verließ er das Haus wieder, ging an der Bäckerei vorüber und, da er drinnen neben der Gestalt des Mädchens diejenige des Vaters sah, ging er weiter, kehrte aber nach einiger Zeit zurück, schielte wieder in den Laden und trat dann ein. Das Mädchen, das jetzt allein war, erschrak: »Was wollen Sie schon wieder hier?«
»Du mußt meine Frau werden!«
»Was fällt Ihnen ein!«
»Ja, du mußt meine Frau werden!«
»Sie haben ja schon eine! Sie tragen ja einen Ring!«
»Ich mag sie aber nicht mehr und will sie fortjagen und will jetzt dich!«
»Ich danke schön für die gute Meinung, aber es geht wirklich nicht, Herr Wendelin!«
»Was geht nicht? In fünf Minuten habe ich sie davongejagt.«
»Nein, das meine ich nicht! Ich mag Sie doch nicht, das wollte ich sagen.«
»Das sagst du jetzt so, aber ich weiß es anders, man hat es mir gesagt: du hast mich lieb. Ja, ja, mach nur keine Flausen.«
»Was fällt Ihnen ein! Was Sie schwatzen! Schämen Sie sich vor Ihrer Frau!«
»Die jag' ich fort, oder …«
Dies sagend, rückte er ihr näher zu Leibe. Sie wich zurück:
»Lassen Sie mich, oder ich rufe meinen Vater!«
Er hörte nicht darauf und wollte sie anfassen; da gab sie ihm einen derben Stoß und wischte an ihm vorbei und zur Türe hinaus.
Auf den Lärm kam der Bäcker herzu; ehe er sich's aber versah, erhielt er einen so wuchtigen Schlag auf den Kopf, daß er am Türpfosten Halt suchen mußte. Gottfried hatte sich mit einem langen Brotlaib bewehrt und hieb rasend auf den Bäcker ein, der keine Waffe hatte, als seine Hände, und das Brot so sehr in Ehren hielt, daß er den Kampf gegen den Laib nur schüchtern führte. Endlich trieb es ihm sein Kunde doch zu bunt; er griff nach einem Schemel und warf ihn dem Rasenden so unglücklich an den Kopf, daß er lautlos zusammenbrach.
Gottfried kam erst am folgenden Morgen wieder zu Sinnen; es war ihm so schwindlig im Kopfe, daß er einige Tage lang sich nicht aufrecht zu halten vermochte und bei jedem Schritte taumelte. Dennoch rief er jedesmal, wenn Berta in seine Kammer trat: »Lass mich zu ihr hinunter, du … du … oder ich ersteche dich! du … du …« Sobald er wieder fest auf den Füßen war, wollte er das Haus verlassen, fand aber die Haustüre verriegelt und den Schlüssel verborgen. Nun fing er an zu lärmen und zu toben und mit einem Scheit Jagd auf Frau und Kind zu machen und es so toll zu treiben, daß er mit fremder Hilfe überwältigt werden mußte. Von da an wiederholten sich diese Wutausbrüche fast Tag für Tag, niemand im Hause war seines Lebens sicher, bis man sich endlich entschloß, den Unglücklichen in einer Anstalt unterzubringen. Dort verschlimmerte sich sein Zustand zusehends und einige Monate nach der Schlacht im Bäckerladen wurde dem Professor Wendelin mitgeteilt, man müsse den Patienten in eine Anstalt für Unheilbare überführen.
An dem Tage, an dem Gottfried transportiert werden sollte, empfahl Berta ihr Söhnlein der Obhut des Urgroßvaters: sie wollte ihren Mann auf dieser Fahrt, die einer Fahrt ins Grab glich, begleiten.
Schon lange hatte der Alte einen Plan gefaßt; dieser Tag schien ihm zur Ausführung günstig. Als Berta das Haus verlassen hatte, nahm er Hut und Stock und trippelte mit seinen zitternden, achtzigjährigen Füßen die Froschgasse hinunter, einer Apotheke zu.
»Herr Klein, ich möchte das Hündchen meiner Frau selig abtun, es hat keine Zähne mehr, ist alt und halb lahm, geben Sie mir ein Mittelchen, aber ein schmerzloses.«
Der Apotheker zögerte: »Wollen Sie das Tierchen nicht lieber der Tierarzneischule übergeben, dort …«
»Nein, nein, ich will es selber abtun, ich habe es meiner Frau versprechen müssen.«
Da tat ihm der Apotheker den Willen, denn er kannte den alten Herrn. »Aber seien Sie vorsichtig, Herr Professor!«
»Keine Sorge, Herr Klein! Ist es aber auch genug? Ich möchte nicht, daß das arme Tierchen wieder zum Leben käme und litte. Geben Sie mir lieber noch eine Dosis!«
»Eine genügt, aber schließlich, wenn Sie es wünschen …«
»Ja, geben Sie mir zwei … tun Sie mir den Gefallen!«
»So, das wird sicherlich genügen.«
»Nun müssen Sie mir aber noch sagen, wie ich es am besten anstelle.«
»Sie tränken ein Schwämmchen in der Flüssigkeit und halten es dem Tier an die Nase; aber wenden Sie Ihr Gesicht ab, in Ihrem Alter verträgt man keine großen Dosen mehr!«
»Seien Sie unbesorgt! Können Sie mir auch gleich das Schwämmchen geben?«
»Gewiß, Herr Professor, da ist es schon.«
»Danke, adieu!«
Vom Apotheker Klein ging er zum Apotheker Scheible, der in einer andern Straße wohnte, und erhielt auch von ihm seine zwei Dosen und ein Schwämmchen.
»Nun mag's genügen,« dachte er, als er wieder auf der Straße war. Während er sich seiner Behausung näherte, stiegen aber Zweifel in ihm auf: »Wenn's doch zu wenig wäre? Man kann nie vorsichtig genug sein.« Und er wendete sich um, schritt wieder ins Innere der Stadt und wiederholte sein Anliegen in einer dritten Apotheke mit dem gleichen Erfolge.
Zu Hause angekommen, schickte er die Magd aufs Land zu ihren Eltern und schloß das Haus hinter ihr zu. Dann nahm er das elende ergraute Hündchen, das sich kaum mehr zu schleppen vermochte, auf die Arme, trug es in sein Studierzimmer und hielt ihm das getränkte Schwämmchen an die Nase. Das Tierchen hatte ein zäheres Leben, als er erwartet hatte, und wollte lange nicht einschlafen; endlich aber hörte es auf, sich zu regen. »Gottlob, das Mittel wirkt,« murmelte der Alte, dem der Schweiß auf der Stirne glänzte. Hierauf ging er in die Wohnstube, wo Heinzi war. Er setzte sich zu ihm auf den Boden und herzte das Bübchen und spielte mit ihm und ließ es auf seinem gebrechlichen Rücken reiten und machte ihm viel Kurzweil. Nach einer Stunde ging er wieder in das Studierzimmer und sah nach dem Hündchen. Es lag da, kalt, es hatte genug für immer.
Wieder kehrte er zu Heinzi zurück, nahm ihn auf die Arme und trug ihn mühsam ins Schlafzimmer, wo er ihn ins Bett seiner verstorbenen Frau legte. Da hörte er die Hausglocke gellen: »Wer mag das sein? Sollte Berta schon zurückkommen?« Es läutete wieder. Er schlich hinaus auf den Gang und in die Stube, durch deren Fenster man hinunter sehen konnte. Es war eine fremde Person. Sie läutete nochmals und entfernte sich dann zögernd. Der Alte atmete auf und kehrte wieder ins Schlafzimmer zurück. Heinzi hatte sich ganz unter der Decke verborgen. Wie einst die Großmutter. Der Alte zog ihn hervor, herzte und küßte ihn, legte ihn wieder ins Bett und bat ihn, schön still zu liegen. Hierauf tränkte er ein Schwämmchen und hielt es an das kleine Näschen. Heinzi meinte, der Urgroßvater wolle ihn kitzeln, lächelte ihn an und schlief so ein. Der Greis vergoß bei dem Anblicke seine letzten Tränen.
Er saß eine Stunde lang bei dem Knäblein, kehrte hierauf nochmals ins Studierzimmer zurück, um an dem Hündchen Wiederbelebungsversuche anzustellen. Sie blieben erfolglos, und er war zufrieden.
Er setzte sich an den Schreibtisch und kritzelte einige Zeilen aufs Papier; dann zog er einen gelben versiegelten Briefumschlag aus einer Schublade und legte ihn unter das beschriebene Blatt.
In die Kammer zurückgekehrt, verriegelte er die Türe, küßte Heinzi nochmals auf die Stirne und deckte ihm das Gesicht mit einem Tüchlein zu. Nun nahm er das dritte noch trockene Schwämmchen und band es sich sorgfältig um, so daß alle Luft, die er einatmete, es durchströmen mußte. Dann streckte er sich auf dem Teppiche aus und goß mit seiner zitternden Hand die Flüssigkeit, die ihm noch blieb, etwa drei Dosen, in den Schwamm. Er tat einen kräftigen Atemzug und dann noch einen und noch einen; die Sinne verblaßten ihm. In diesem Augenblicke hörte er die Hausglocke wieder klingen, er atmete rasch, … »Wenn man mich zu früh …« Mit einer entsetzlichen Angst in der traumhaft verworrenen Brust schlief er ein.
Als Berta am Abend durch die gesprengte Türe in das Zimmer stürzte, waren der Alte und das Knäblein längst tot.
Auf dem Blatte, das der Professor vor seinem Sterben beschrieben hatte, standen folgende Worte:
»Liebe Tochter Berta!
Du bist gut, mein Kind, Du wirst nicht richten, sondern verzeihen. Ich habe hienieden zwei Handlungen begangen, die ich bereuen muß, die mir mein Leben vergiftet haben: eine Torheit und eine Schlechtigkeit. Von der Torheit lass' mich schweigen.
Die Schlechtigkeit beging ich an Dir, als ich Dich mit meinem Enkel verband. Ich tat es aus Selbstsucht; ich hoffte, Dein Verstand werde auf meine Nachkommen übergehen. Ich habe mich getäuscht: Du vermochtest mein Geschlecht nicht zu retten. Es ist nicht Deine Schuld: niemand hätte es vermocht. Ich sehe es jetzt ein: wenn die Dummheit in ein Haus eingezogen ist, verläßt sie es nicht mehr, das Haus aber geht an ihr auf irgendeine Weise zugrunde, sie ist wie der Hausschwamm, der sich ins Gebälk frißt. Und so wird es wohl sein müssen, wenn die Menschheit hoch und immer höher steigen soll.
Verzeihe mir, Berta, was ich Dir getan; verzeihe auch, was ich jetzt tun werde. Ich hätte den natürlichen Tod abwarten können, er hätte meinen Seelenqualen bald ein Ende gemacht; aber ich wollte das elende Geschlecht zugleich mit dessen Urheber aus der Welt schaffen. Ich verdoppele meine Schuld, aber ich lösche die Folgen meiner Torheit für immer aus und komme so der Natur entgegen. Ich fahre fluchbeladen in die Grube; ich richte mich selbst und wähle den Tod des Sünders, den ich verdiene.
Dich, Berta, hoffe ich dem Leben wieder zurückzugeben. Du bist noch jung, der Schmerz, den ich Dir bereite, wird, wie alles Menschliche, vergehen, und dann wird das Glück, das Dich bis jetzt mied, irgendwo auf Dich warten.
Wie ich für Dich gesorgt habe, wird mein Testament sagen, das ich unter diesen Zettel lege.
Bewahre Dein Herz vor Schuld, sei glücklich, und hast Du ausgeweint, so verzeih' dem unglücklichen