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Nun, Konrad!« klang es durch die halbgeöffnete Küchentüre in die Scheune hinaus.
»Was soll ich, Mutter?«
»Wie lange willst du noch auf dem Heuboden herumstöbern? Du solltest schon lang an der Gant sein. Im Unterhaus stehen die Leute schon so dicht wie Kresse!«
»Ich mag nicht hinuntergehen.«
»So, so, du magst nicht! So ist heutzutage das junge Volk! Ihr meint wohl, das Glück müsse selber die Stiefel anziehen und euch nachlaufen, ihr …«
»Du sprichst, als ob man an der Gant für jeden Fünfer einen Franken kriegte!«
»Ist's kein großer Schick, so ist's vielleicht ein kleiner, und dazu soll man die Schuhsohlen nicht sparen!«
»Was soll ich kramen? Ich wüßte wahrhaftig nichts!«
»Geh' erst, du wirst dann schon sehen, was wir etwa brauchen können. Heugabeln, Rechen, Kärste, Hauen, Sensenbäume, Wetzsteine, das wird gewöhnlich halb geschenkt losgeschlagen. Und dann die neue Weintanse, die ihnen der Küfer letzten Herbst gemacht hat … Hä? sind das nicht Sachen, die man immer brauchen kann? Stehn sie auch ein Jahr oder zwei müßig herum, was schadet's? Einmal ist man doch froh darüber? Geh' jetzt! Aber kaufe nichts zu teuer und lass dich nicht hetzen!«
Die Küchentür schloß sich wieder. Konrad stieg auf einer kurzen Leiter vom Heuboden in die Tenne hinunter, griff nach einer Gabel und machte aus dem Heuhaufen, den er hinuntergeworfen hatte, längs der Wand einen duftenden Wall. Dann stand er eine Weile ratlos da, um schließlich in den Stall zu treten, als hätte er nachsehen müssen, ob das Vieh seine Ordnung habe.
Hinten im Stall war ein Kalb noch nicht zur Ruhe gekommen, weil sein selbstsüchtiger Nachbar sich der Krippe entlang ausgestreckt hatte und so den Platz verlegte, der für zwei ausreichen sollte. Das in seinen Rechten Verkürzte stand traurig da, muhte mit klagender Stimme, als Konrad ihm näher trat, und streckte ihm den Kopf entgegen. Der junge Bauer verstand des armen Viehes Sprache, trat zu ihm hin und kratzte ihm begütigend das Fell unter der Schnauze, was dem andern unsäglich wohlzutun schien. Es hätte gerne die freundliche Hand beleckt, aber Konrad, ohne auf die Liebkosungen zu warten, setzte sich auf eine Strohwelle, die dalag, und schien mit seinem Entschlusse nicht ins reine zu kommen. Endlich sagte er halblaut: »Ich mag den Jammer da unten nicht mit ansehen.«
In diesem Augenblicke hörte er die Küchentüre knarren und gleich darauf erklang die Stimme seiner Mutter wieder: »Konrad!«
Er gab keine Antwort. – »Konrad! Konrad! wo steckst du schon wieder?«
»Was gibt's?« rief er unwillig.
»So tu' doch endlich, was ich dir sagte! Du glaubst wohl gar, man warte mit dem Ganten, bis es dir gefällt zu kommen. Was wird der Ätti sagen, wenn er heimkehrt und du hast nicht einmal die neue Weintanse erstanden! Du hast immer etwas Eigenes und willst nicht sein, wie andere Leute.«
Konrad erhob sich noch nicht von seiner Strohwelle und begnügte sich, unwirsch den braunen Kopf zu schütteln. Als er wieder ein Weilchen gesessen hatte, hörte er seine Mutter die kleine Treppe herabsteigen, die von der Küche in die Tenne führte, und bald darauf trat sie in den Stall. Da sie ihren eigensinnigen Sohn in dem Halbdunkel nicht gleich erblickte, rief sie: »Wo bist du? Ich bringe dir da deinen Barchentrock; zieh' ihn weidlich an und nun lüpfe die Füße!«
Konrad sah, daß kein Entrinnen mehr war, denn seine Mutter machte nicht Miene, unverrichteter Sache in die Küche zurückzukehren, und so schlüpfte er bedächtig in den Kittel.
Er ging vor der Mutter her aus dem Stall und verließ das Haus. Draußen schwirrten die Schwalben durch die frühlingsblaue Luft, und wenn sie an ihrem Nest vorbeiflogen, das an einem Dachsparren angeklebt war, kreischten sie wie Kinder beim übermütigen Spiel. Konrad tat diese jubelnde, schreiende Lust in den Ohren weh, und weh in den Augen tat ihm das Sonnenlicht, das in warmen Fluten das Land überschwemmte. Denn so ist einmal der Mensch: kann er selber nicht lustig und vergnügt sein, so meint er, die ganze Welt sollte eine Leichenbittermiene aufsetzen.
Konrad hatte keinen langen Weg zu machen, denn auf dem Wieshof liegen die Dinge nicht weit auseinander. Das Gehöft besteht nur aus ein paar Häusern, um die sich ein dichter Obstbaumwald schließt und ängstlich darüber wacht, daß keines sich zu weit vom andern entfernt. Solcher Höfe gibt es in jener Gegend etwa zwanzig; sie liegen, wie von einem Sturm hingefegt, zerstreut auf den Hügeln und in den Tälchen, so daß eine starke Stimme von einem zum andern dringt. Alle zusammen bilden ein Gemeinwesen, das man die Hofgemeinde nennt; das Dorf mit der Kirche ist drunten im Tal, etwa eine Stunde entfernt, und nur wenn der Wind gut gelaunt ist, trägt er das Glockengeläute hinauf zu der zersprengten Häuserherde der Höfe.
Als Konrad etwa fünfzig Schritte getan hatte, kam er bei dem sogenannten Unterhause an, in dem die Steigerung stattfand. Weil er den Leuten nicht in die Augen fallen und beim Eintreten möglichst wenig beachtet werden wollte, umging er das Haus, um von hinten in die Tenne zu treten, in der die Gant stattfand. Als er um die Hausecke bog, gewahrte er jemand, der das Gesicht an das Scheunentor lehnte, und er blieb stehen. Es war der Kellerjokel, der Nachbar, dessen Habe eben aus seinen Händen in hundert andere wanderte. Er hatte Konrads Schritte offenbar nicht gehört und guckte durch ein Loch, das durch das Herausbröckeln eines Astes entstanden war, unverwandt in die Tenne hinein. Konrad sah, wie es ihn jedesmal durchzuckte, wenn drinnen ein Gegenstand losgeschlagen wurde: wieviel Schweiß hatte er es sich kosten lassen, um seine Habe Stück um Stück zusammenzubringen, und jetzt riß man sie ihm gefühllos aus den Händen und warf sie zu Schleuderpreisen den Leuten vor die Füße! Arme Sense, arme Säge, arme Schaufel, wirst du dem Eichjörli und dem Tobelfelix auch sein, was du dem Kellerjakob warst: ein Fetzen seines Leibes und ein Stück seines Lebens, weil erworben mit seiner Arme Rührsamkeit und seines ganzen Lebens Mühen? Denn er hatte gearbeitet und sich geschunden, der gute Jakob; aber was half's? Er hatte das Heimwesen vor fünfundzwanzig Jahren gekauft, zu einer Zeit, da die Güter sehr hoch im Preise standen, und wenn er auch etwas Erspartes in den Hof stecken konnte, so war er doch in der Klemme und es wollte ihm nie recht wohl werden. Vor einigen Jahren brach dann noch das Unglück in seinen Stall ein. In einem Jahre standen ihm drei Kühe um, und er wußte nicht, wie die Lücke wieder zu füllen war. Da trat einmal ein Männlein mit gutmütigen, klugen Augen, lächelnden Backen und einer krummen Nase zu ihm in den Stall, als er eben schweren Herzens den stark gelichteten Viehstand fütterte, und ließ sich sein Unglück erzählen. Es war der Viehhändler Guggenheim, der pfiffigste Kumpan im ganzen Aargau. Der gute Jakob schüttete sein Herz aus; und die freundliche Teilnahme des Männleins im blauen Überhemd tat ihm wohl wie Balsam. Als er sein Leid geklagt hatte, drückte ihm Guggenheim mitleidig die Hand und entfernte sich. Aber draußen auf dem Platze stand er still und schien etwas zu überlegen, und als der Entschluß gefaßt war, kehrte er mit hastigen Schritten zu Jakob zurück, der unter der Stalltüre stehengeblieben war. Er könne ihn nicht in der mißlichen Lage lassen, sagte er zu ihm, er wolle ihn aus der Enge ziehen, wenn es ihm so recht sei; für einen andern täte er es nicht, aber er sehe, daß ihm das Unglück auch gar zu schlimm mitgespielt habe, und schließlich habe er auch ein menschliches Gewissen. Jakob wollte sich freilich helfen lassen und sah erst nachher, daß er sich dem Teufel verschrieben hatte. Denn nun wanderte in ein paar Jahren sein ganzes Gut in den Sack des Männchens mit den gutmütigen Augen. Jakob ließ keinen seiner Nachbarn in seine Not gucken, weil er sich schämte; die Nachbarn aber sagten auch nichts und halfen dem Bedrängten weder mit Rat noch mit Tat, obschon sie mit ihren gleichgültig scheinenden Augen gar wohl sahen, daß es mit ihm rasch bergab ging.
So ist der Bauer auf jenen Höfen: es ist eine stolze, unabhängige Rasse. Jeder lebt für sich, sorgt für sich und behilft sich selber. Er scheut es wie Gift, von seinem Nachbar Hilfe zu verlangen, und erwartet, daß die andern es ebenso halten.
Lieber den Acker ungepflügt lassen, wenn das Zugvieh nicht ausreicht, als den Nachbar bitten: »Sei so gut und leih' mir einen Ochsen!« Lieber einen Tag lang kein Brot essen, als zur Nachbarin sagen: »Wir sind mit dem Brot zu Ende und der Müller hat uns im Stich gelassen, leih' mir einen Laib bis morgen, da werde ich backen!« So kommt es, daß auf diesen entlegenen Höfen, wo man erwarten würde, daß die Leute notgedrungen zu einander hielten, der Verkehr zwischen den verschiedenen Haushaltungen nicht viel über »Guten Tag«, »Grüß Gott« und »Gute Nacht« hinausgeht. Ja, im Vertrauen auf die eigene Kraft und die erprobte Selbständigkeit, besinnt man sich nicht lange, dem Nachbar einen Fluch ins Gesicht zu schleudern oder ihm den Friedensrichter auf den Nacken zu laden, wenn man findet, er habe das Wasser von seiner Wiese dahin geleitet, wohin er nicht durfte, oder von einem Markstein zum andern, zu seinen Gunsten natürlich, mit dem Pflug eine krumme Furche gezogen, oder im Wald einen Baum gefällt, der auf der Marklinie stand.
Zu diesem unabhängigen und streitbaren Schlage paßte der Jakob nicht. Er war im Dorf aufgewachsen und auf den Höfen in zwanzig Jahren nie heimisch geworden. Er mochte fühlen, daß er sich unter seinen Nachbarn ausnahm, wie die Meise unter den Spatzen. Und nun mußte er sehen, wie sie seine sauer erworbene Habe unter sich teilten und dabei lachten und schlechte Witze machten. Das drückte ihm schier das Herz ab. Er hatte der Gant fern bleiben wollen, aber er hielt es nicht aus, er mußte seinen Äxten und Kärsten, seinem Pflug und seinen Eggen noch einen letzten Blick geben, und so hatte er sich, wie gebannt, an das hintere Scheunentor gestellt, wo er durch das Loch alles sehen konnte, ohne selber beobachtet zu werden, wie er wähnte.
Konrad sah ihm eine Weile zu und erriet, was in ihm vorging. Da er bemerkte, wie er sich manchmal mit dem Daumen über die Augen und die Backen strich, um deutlicher zu sehen, packte ihn das Mitleid, und er wäre gern zu ihm hingegangen, um ihm ein Wort des Trostes zu sagen, hatte er doch den guten Mann immer wohl gemocht. Gleich aber wurde der Bauer wieder Herr in ihm, der Hofbauer, der in Tränen eine lächerliche Schwäche sieht. Um den Jakob nicht zu demütigen, schlich er sich still und ungesehen davon, indem er leise zu sich sagte: »Er ist halt kein Mann, der Kellerjakob, er ist halt kein Mann.«
Konrad trat nun von der vordern Seite in die Tenne. Der Raum war fast ganz mit Leuten gefüllt, alle Bauern der Hofgemeinde waren da, oder hatten doch ihre ältesten Söhne geschickt. Mitten in der Tenne, auf einem klotzigen Tische, stand der Weibel, kenntlich an dem schweren, kupfernen Gemeindeschild, das er auf der Brust trug, und an der aus blauem Militärtuch verfertigten Kappe. Zu seinen Füßen standen ein Glas und eine große Flasche, die mit kristallklarem Birnenmost noch bis zur Hälfte gefüllt war. An dem gleichen Tische saßen der Gemeindeammann und ein Mitglied des Gemeinderates. Die beiden hatten eine Flasche Rotwein vor sich und tranken aus dem gleichen Glase. Sie überwachten die Gant und trugen die Käufe in ein Buch ein.
Die größern Gegenstände, wie Wagen, Pflug und Eggen, waren schon versteigert, übrig blieben nur noch der Hausrat und die leichteren Geräte. Diese lagen zum größten Teil auf dem sonst ganz leeren Heuboden, und der Wächter bot eines nach dem andern dem Weibel herunter. Eben reichte er ihm ein Viehgeschirr. Der Weibel nahm es in die rechte Hand, hob es in die Höhe und rief mit seiner schon etwas heiseren Stimme:
»Da ist ein Viehg'schirr! was ist das wert?« wobei er den Hauptton auf »das« fallen ließ.
Einige Bauern traten näher, musterten das Joch, die Stricke, die Schnallen und die ledernen Riemen und traten dann wieder in den Haufen zurück. Da niemand sich vernehmen ließ, rief der Weibel wieder: »Ist das nichts wert?«
Da tönte eine dünne Stimme aus der Menge: »Einen Franken!«
Der Weibel wiederholte: »Einen Franken zum ersten; einen Franken!«
Wieder klang es aus dem Knäuel der Bauern: »Zwei Franken!«
Der Weibel: »Zwei Franken zum andern, zwei Franken!«
Einer aus der Menge: »Drei Franken!«
Der Weibel: »Drei Franken zum ersten, drei Franken.«
So stiegen die Angebote ziemlich rasch bis zu fünf Franken, denn daß das Viehgeschirr unter Brüdern seine sieben oder auch acht Franken wert war, sah jeder. Von fünf Franken an aber wurden die Bauern behutsam, sie überboten sich nur um zehn, höchstens zwanzig Rappen, denn um einen Schick zu machen, muß man tun wie die Katze beim Mausen: gut lauern, wenig gehen und mit der Tatze zur rechten Zeit drauf!
Das Viehgeschirr hatte besonders zwei Liebhaber, die sich gegenseitig den Preis in die Höhe trieben. Als der Weibel von seinem Tisch herunterrief:
»Sechs Franken fünfzig zum andernmal,« raunte Klaus, der eben geboten hatte, dem andern zu:
»'s kommt ja noch eins auf die Gant!«
Der Angeredete zwinkerte mit den Augen, zum Zeichen, daß er ihn verstanden habe, und bot nicht, mehr. Ein dritter hatte die Abmachung der beiden beobachtet und bot, um Klaus zu ärgern, sechs Franken sechzig. Klaus suchte den neuen Nebenbuhler mit den Augen und rief dann dem Weibel zu: »Ich halte sechs Franken sechzig!« Den Störenfried aber schrie er an: »Und du, Hans, magst dein Maul halten!« Die Umstehenden fanden das lustig und lachten so laut, daß der Weibel Mühe hatte, mit seiner Stimme durchzudringen: »Sechs Franken sechzig ist gehalten!«
Der boshafte Spielverderber, durch das Gelächter gereizt, wollte sich rächen, und die Rachsucht war so stark in ihm, daß sie seinen Bauerngeiz überwand: er bot sieben Franken fünfzig für das Geschirr, eine kühne Tat in den Augen der Bauern, die nun neugierig und verschmitzt nach Klaus guckten. Der machte ein verlegenes Gesicht und warf einen raschen Blick auf den umstrittenen Gegenstand. Man sah es ihm an, der Spaß war ihm gründlich versalzen. Als man aber um ihn zu kichern begann, faßte auch er einen großen Entschluß und rief: »Sieben Franken siebzig!«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: »Sieben Franken neunzig!«
»Und ich halte!«
»Acht Franken!«
»Und ich halte!«
So trieben sie es bis neun Franken fünfzig. Bei jedem neuen Angebot rief ein alter dürrer Schlottermann den beiden zu: »So ist's recht! Haut einander!« und kicherte dabei ganz glückselig, und schüttelte sein Zwerchfell, bis er einen Hustenanfall kriegte und auch ihm der Spaß verdorben war. Endlich kam Klaus zur Besinnung, sein »Ich halte!« blieb aus, und unter allgemeiner Stille rief der Weibel: »Neun Franken fünfzig zum erstenmal! Neun Franken fünfzig zum … zum … zum andern und zum … zum … dritten.«
Wer nun ein dummes Gesicht machte, war Hans, der das Geschirr eigentlich gar nicht begehrte und einsah, daß er nichts weniger als einen Schick gemacht hatte. Die Einsicht seiner Dummheit lähmte seinen Witz dermaßen, daß er nicht einmal gute Miene zum bösen Spiel machen konnte. Als der Weibel ihm den Kram entgegen streckte, brummte er: »Ich mag den Fluch nicht!« Da langte Klaus danach und legte das Joch dem Käufer unsanft auf die Schultern, wobei er laut in die Menge rief: »Ich will ihm das Viehgeschirr gleich anlegen, es steht ihm besser als sein Kittel!«
Die Bauern schüttelten sich vor Lachen, Hans aber wurde rot wie ein Hahnenkamm, warf das Geschirr über die Köpfe hinweg an die Wand und drang mit der Faust auf Klaus ein. Der Gemeindeammann erhob sich und fuchtelte mit einer Schelle so gebieterisch in der Luft herum, daß die beiden voneinanderließen. Darauf nahm die Gant wieder ihren gewöhnlichen Gang. Konrad stand wie ein Träumer unter seinen Nachbarn, er sann an alles, nur nicht an einen Schick. Von Zeit zu Zeit hefteten sich seine Blicke an das hintere Scheunentor. Es berührte den Boden nicht ganz, und er sah deutlich den Schatten von zwei unbeweglichen Füßen, und weiter oben glänzte etwas durch das Loch im Tor: ein lauerndes, feuchtes Auge, das die Bilder der entfliehenden Habseligkeiten aufnehmen wollte als ewiges Andenken, der Linse eines Photographenapparates vergleichbar.
Konrad mußte ganz vergessen haben, wozu er gekommen war. Der Weibel rief nacheinander Heugabeln, Rechen, Schaufeln, Kübel zum Verkauf aus, er schien nichts zu hören, er hörte es auch nicht, als es vom Tisch herunterkreischte: »Da ist eine Weintanse, was ist die wert?« Erst als der Weibel mit den Worten: »Und zum dritten« das Gefäß senkte, um es dem Meistbietenden zu übergeben, fielen Konrads Blicke darauf und er besann sich rasch seines Auftrages, spürte in seinen Ohren noch die unbewußt aufgefangenen Zahlen auf und rief, als schon der neue Eigentümer die Tanse faßte: »Sieben Franken siebzig!«
Man drehte sich nach ihm und lachte. Er verkroch sich in den Haufen. Zufällig stieß er auf den Mann mit der Tanse und, um seinen Fehler wieder gut zu machen, oder doch wenigstens den Vorwürfen der Mutter zu entgehen, ließ er sich mit ihm in ein Feilschen ein und erstand schließlich die Tanse, indem er zum Verkaufspreis noch zwei Fränklein legte. Das war kein Schick.
Allmählich wurde die Heudiele leer; Kellerjokels Geräte waren Stück um Stück in die Hände des Weibels und aus diesen in hundert andere geglitten. Der Gemeindeammann verkündete, daß nach einer kurzen Pause der Hausrat an die Reihe komme. Die Tische, Stühle, Schränke und Betten, die Pfannen und Töpfe, Schüsseln und Teller waren alle in der neben der Tenne gelegenen Küche aufgespeichert, bunt durcheinander wie sich's traf, und wurden vom Wächter herausgeboten. Nun erschienen auch Frauen auf dem Platze, unter ihnen eine mit roten Augen, die den Nacken bog und nicht aufzublicken wagte: Kellerjokels Frau, die Züsi. Sie hatte, ehe sie heiratete, als Magd gedient und, was sie mühsam ersparte, auf die Sparkasse getragen. Mit dem Sümmchen, das in den fünfundzwanzig Jahren stillbescheiden gewachsen war, sollten nun aus dem Schiffbruch einige Trümmer gerettet werden. Wurde ein Gegenstand ausgerufen, der ihr unentbehrlich schien, so tat Züsi gleich das erste Gebot, mit schüchterner, kaum vernehmlicher Stimme. Die andern Käufer wollten ihr nicht weh tun und überboten sie gewöhnlich nicht, ja eine gutmütige dicke Bäuerin flüsterte ihr ein paarmal ins Ohr: »Bietet doch nicht so viel für den Kram, Ihr kriegt ihn ja gleichwohl!« Züsi aber bot, was ihr recht schien und was sie vorher mit ihrem Jakob ausgemacht hatte. Alle Posten schrieb sie peinlich genau mit einem Stück Kreide auf die Küchentüre, denn sie wollte nicht mehr kaufen, als sie bezahlen konnte. Der Gemeindeammann, der sie beobachtete, sagte zu seinem Nachbar: »Hätte die Züsi in dem Haus die Stiefel getragen, es wäre nicht zu dem gekommen.«
Das letzte Stück war aus der Küche in die Tenne hinausgereicht worden; die Gant schien beendigt zu sein, und schon schickte sich der eine und der andere an, was er gekauft hatte, auf die eckigen Schultern zu laden und heimzutragen. Da durchlief der Gemeindeammann seinen Rodel und sagte nach einigem Zögern: »Es fehlt noch ein Bett, wo mag es sein, Züsi?«
Züsi besann sich eine Weile, dann sah man, wie es sie schmerzlich durchfuhr: »Herrje, jetzt hab' ich das vergessen!«
»Wo ist es?« fragte der Beamte.
»In der Stube,« schluchzte Züsi und eilte in die Küche und von da in den Wohnraum.
Der Gemeindeammann meinte wohl, sie habe das Bett verheimlichen wollen, und sagte leise zu seinem Nachbar: »Es tut mir leid um die Frau, aber ich könnt's nicht verantworten; wir müssen das Bett auf die Gant bringen.«
Der andere nickte.
»Holen zwei oder drei das Bett heraus!«
Zwei Männer traten mit dem Wächter in die Stube. Da sie drinnen etwas lange säumten, fiel es dem Weibel, der schon etwas tief in sein Mostglas geguckt hatte, ein, er könnte das Publikum unterdessen ein wenig unterhalten. Er ergriff die Flasche, die auf dem Tische stand, und hob sie mit der etwas zitternden Rechten in die Höhe. Man hatte sie eben wieder mit dem hellen, grünlichgelben Tranke gefüllt.
»Da ist e Guttere Eine Flasche.! Was ist die wert? Ist die nichts wert?«
»Mit dem, was drin ist?« fragte einer aus dem Haufen.
»Mit dem, was drin ist,« bestätigte der Weibel.
»Fünfzig Rappen!« rief eine Stimme.
»Fünfzig Rappen zum erstenmal, fünfzig Rappen!« kreischte der Weibel. Dann setzte er die Flasche an den Mund und trank daraus bedächtig und in langen Zügen, wobei er mit den Augen blinzelte, um die Wirkung seines Scherzes zu kontrollieren. Die Bauern begriffen ihn und lachten; er aber setzte ab, schnitt ein möglichst ernstes Gesicht und rief: »Fünfzig Rappen zum ersten, und was zum andern?«
»Vierzig Rappen!«
Der Weibel verkündete das zweite Angebot, setzte wiederum die Flasche an und erneuerte die Heiterkeit der Bauern, die noch nie gesehen hatten, daß das zweite Angebot niedriger war als das erste.
»Was ist die ›Guttere‹ jetzt wert?«
»Dreißig Rappen!«
So ging es weiter, der Preis der Flasche nahm ab mit ihrem Inhalt und war endlich bei fünfzehn Rappen angelangt. Die Guttere war leer, der Weibel aber hatte sich mehr zugemutet, als er vertrug, und als er die Flasche mit den Worten: »Fünfzehn Rappen zum ersten, andern und … und … zum … dritten« dem Käufer übergeben wollte, entfiel sie seiner Hand und ging auf dem harten Boden der Tenne klirrend in Scherben. Die Bauern wanden sich ob dem Spaß; der Weibel aber, der auf dem hohen Standpunkt zu schwanken anfing, sah ernsthaft aus, denn nun kam ihm die Überlegung, daß er die Flasche vielleicht selber bezahlen müsse und fünfzehn Rappen seines Taglohnes ›verunschickt‹ habe. Dieser Gedanke dämpfte seinen Rausch etwas, er stieg vom Tische herunter, nicht ohne Anstrengung und Fehltritte; dann, sich zum Gemeindeammann wendend, stammelte er: »Kommt das Bett nicht zum Weibel, so geht der Weibel zum Bett.« Sprach's und wankte in die Stube. Ein Teil der Anwesenden folgte ihm, mehr aus Neugierde, als aus Kauflust; die andern blieben schwatzend in der Tenne stehen oder traten den Heimweg an. Konrad schloß sich dem Weibel an. Als er in die Stube trat und sich umsah, entfuhr ihm ein Ausruf des Schreckens.
Dort in der Ecke stand das Bett und daran saß, das Gesicht ins Kissen gedrückt, die Züsi und schluchzte, daß es sie schüttelte. Im Bett aber lag Pauline, Jakobs einziges Kind, und suchte sich mit den abgemagerten Armen emporzurichten, durch das Nahen so vieler Leute erschreckt. Konrad hätte auf das Bett losstürzen und schreien mögen.
Pauline war Konrads Schulkameradin gewesen. Die beiden wurden im gleichen Jahre geboren und waren während sechs Jahren die einzigen Schulkinder des Hofes. Als am ersten Schultag Konrad das Mädchen abholte und der Kellerjakob scherzend zu dem kleinen Mann sagte: »Aber, Chueri, verlier' mir die Pauline nicht! gelt?« kam über das Büblein das Gefühl seiner Wichtigkeit, es sah den Nachbar selbstbewußt an und sagte: »Hab' ich den Fünfer vom Götti nicht verloren, so werd' ich auch die da nicht verlieren!« Damit nahm der junge Ritter das Mädchen bei der Hand und führte es hinaus auf den Weg und die Halde empor, dem Hofe zu, auf dem das Schulhaus stand. Der Kellerjakob sah den beiden nach, bis sie im Tannenwald verschwanden, und sagte bei sich: »Das gibt gute Kameraden.« Und er behielt recht.
Gerade jetzt, da Konrad das Mädchen so zerfallen vor sich sah, zuckten Bilder aus früheren Tagen durch seinen Geist und jagten sich, Bilder, in denen Pauline anders aussah, wo sie lachte mit Mund und Augen, wo sie tanzte mit glühenden Wangen und quecksilbernen Füßen.
Es ist Winter. Auf dem Land liegt tiefer Schnee und immer wirbeln neue Flocken herab. Den Schulweg findet nur, wer ihn auch mit verbundenen Augen nicht verfehlen würde. Zwei Kinder arbeiten sich mühsam an der Halde empor. Der Knabe geht voraus in seinen hohen Gamaschen und schleift die Füße dem Boden nach, um eine gangbare Rinne in den Schnee zu bahnen. Es ist eine schwere Arbeit, und trotz der Kälte rinnt ihm der Schweiß über den Rücken. Von Zeit zu Zeit blickt er rückwärts. Hinter ihm schreitet, das Köpfchen in ein warmes Tuch gehüllt, seine Kameradin, und ihre Äuglein lächeln ihm zu aus dem wollenen Versteck. Das macht ihm das Schneestampfen zur Lust und er dreht die Fußspitzen wacker nach außen, um die Bahn recht breit zu machen …
Ein Sommertag. Die Türe des Schulhauses fliegt auf, und heraus lärmt die freiheitsdurstige Kinderschar. Aber alle stutzen: denn schwarz ist der Himmel, schon rollt es mächtig über dem Tannenwald und jeden Augenblick werden glühende Zacken auf die Wolken gekritzt. Nun heißt es ausgezogen, sonst setzt es nasse Häute! Die nackten Füße fliegen nach allen Seiten auseinander und die hänfenen Schulsäcke mit den Schiefertafeln und Federschachteln klappern lustig auf den Rücken. Ein Bub eilt dem Walde zu; auf seinem Rücken tanzen zwei Säcke. Ihm hart an den Fersen läuft ein Mädchen, beide lachen dann und wann hell auf, denn die eilige Flucht lächert sie. Sie haben zwei Wälder zu durchqueren, der Weg ist weit, aber patschend geht es dahin zwischen den mächtigen Buchen und Tannen, und der feuchte Lehm des Pfades kühlt die emsigen Fußsohlen. Schon traben sie aus dem zweiten, dem Tannenwald, heraus und eilen den Hügel hinunter dem Hofe zu. Da fegt ein gewaltiger Windstoß an der Halde empor, und hinter ihm drein kommt es durch die Luft gesaust, rauschend und tosend wie ein Wasserfall. Auf dem Boden zerplatzen die ersten Tropfen, groß, wuchtig und mit dumpfem Aufschlag. Das Tosen wird lauter, Angst erfaßt die Kinder, das Mädchen stößt einen Schrei aus: ein Hagelkorn, groß wie eine Nuß, ist ihm ins Haar gefahren und andere folgen nach, bedächtig und schwer, springen von den Steinen in die Höhe, durchlöchern das Kraut und zielen nach den Köpfen. Die Kinder stehen still und ziehen ratlos die Schultern ein. In dem nahen Acker steht ein hoher Kirschbaum, das Mädchen, ohne sich lange zu besinnen, galoppiert über die Furchen und Schollen dahin. Schon ist es dem Ziele nah: da leuchtet es herab mit fürchterlichem Krachen. Das Mädchen bettet sich zwischen die Schollen und liegt regungslos da, der Knabe, vom Schrecken gelähmt, sinkt in die Knie und bebt wie Zittergras. Als er sich etwas erholt hat, kriecht er zu seiner Gefährtin hin und rüttelt sie am Rock. Sie rührt sich nicht. Bei Gott, sie ist tot! Immer zucken neue Blitze, und es dröhnt durch das Tal, wie wenn riesige Steinblöcke übereinander kollerten. Der Junge fühlt es: er darf nicht unter dem Baume bleiben. Er faßt das Mädchen an, um es davonzutragen, aber es ist schwer wie Blei, viel schwerer als sonst, und ihm selber schlottern die Knie. Er versucht es nochmals; umsonst. Er fängt zu weinen an und beschließt nach Hause zu eilen und dort Hilfe zu suchen. Plötzlich fährt ihm ein Wort durch den Kopf: »Chueri, verlier' mir die Pauline nicht!« Er hat es nicht vergessen, und doch sind seitdem vier Jahre verstrichen. Wieder faßt er das Mädchen an, und siehe! diesmal gelingt es! Mühsam, mühsam hebt er es auf die Schulter und schleppt sich mit der Last über die Schollen hin, dem Fußweg zu und die Halde hinunter. Schloßen fallen keine mehr, aber der Regen strömt in dicken Strängen herab, und durch die trübe Landschaft zittert das weiße Licht der Blitze. Bei jedem Leuchten fährt der Knabe zusammen, in Angst, der Strahl falle auf ihn. Unten im Tal, wo die Brücke über den Bach führt und der Weg wieder zu steigen beginnt, sinkt er zusammen, erschöpft und atemlos. Seine Last gleitet ihm aus den Händen und er sinkt neben sie auf den Boden hin. Wie er sich wieder erhebt, hat das Mädchen die Augen aufgeschlagen und schaut erstaunt in den Regenhimmel hinauf und dann wieder nach seinem Hüter. Dem Knaben aber windet sich ein Freudenschrei aus der Kehle, schmerzhaft und lustvoll zugleich: »Lineli!«
Wieder ist es Winter. Die Kinder sind sechszehn Jahre alt geworden, sie besuchen unten im Dorf die ›Unterweisung‹ und lernen viel fromme Dinge. Das hindert sie nicht, am Schlittenfahren und am Schleifen auf dem Eis ihre Herzenslust zu haben. Abseits vom Wege, in einer feuchten Wiese, liegt ein Teich, oder, wie man dort zulande sagt, eine ›Roos‹, in welcher die Hubbäuerin im Spätsommer ihren Hanf taucht, damit der holzige Stengel mürbe werde und sich unter den Schlägen der Breche leicht von den Fasern löse. Dorthin nehmen die zwei ihren Lauf durch den Schnee, das Mädchen voraus, denn nun macht es sich schon selber Pfad. Die Roos ist zugefroren, das Eis glatt und glänzend, wie eine Glasscheibe. Aber ist es auch fest? Das Mädchen, das seinen Gefährten zögern sieht, ruft lachend: »Ich wag's!«, nimmt einen Anlauf und gleitet über den leise knackenden Spiegel. Der Bursche, um nicht feige zu erscheinen, macht das Wagestück nach. Drüben aber hat die andere kehrtgemacht und mitten auf der Fläche kreuzen die beiden ihre Bahnen. Das war dem Eise zuviel zugetraut: der Junge steht bis unter die Schultern, das Mädchen bis ans Kinn im Wasser. Es dauert lange, bis sie sich aus der Patsche herausgearbeitet haben, und nun kommt noch der Heimweg: eine Viertelstunde in Kleidern, die auf dem Leibe gefrieren. Der zähe, trotz seiner Jugend wetterharte Bursche zieht zu Hause andere Kleider an und geht wie sonst seiner Arbeit nach; das Mädchen aber erkrankt an einer Lungenentzündung und hat von da an keine gesunde Stunde mehr.
Aber ans Sterben dachte die lebensfrohe Pauline noch lange nicht. Noch an der letzten Kirchweih war sie mit den andern Mädchen ins Dorf hinabgegangen, um zu tanzen. Auch Konrad war dabei, und die beiden drehten und wiegten sich in der ›Linde‹ bis spät nach Mitternacht. Paulinens dünne Wangen blühten wie Rosen, und Konrad sagte sich mehr als einmal: »Bei Gott, sie wird immer schöner!«
Als aber die beiden den Heimweg antraten und Konrad seine Mundharmonika aus der Tasche zog und einen Marsch zu blasen anfing, machte sich Pauline, ohne ein Wort zu sagen, von seinem Arme los und setzte sich an den Rand der Straße.
»Was ist dir, Pauline?«
»Ich bin so müde, ich kann nicht mehr!«
»Das wird vorbeigehen! Bleib' nur ein Weilchen sitzen.«
Nach einiger Zeit brachen die beiden wieder auf. Der Weg fing nun rasch zu steigen an, und Pauline hängte sich schwer an Konrads Arm. Aber es half nichts, es ging wirklich nicht mehr, das Mädchen blieb stehen, drückte die Schürze an das Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.
»Aber was ist dir denn?«
Da brachte sie hervor, was sie sich selber noch nie offen gestanden hatte: »Konrad, ich muß sterben.«
Er schlug einen Ton an, wie manchmal Leute aus dem Volke tun, wenn sie ihre Gefühle nicht zeigen wollen oder einem andern etwas ausreden möchten, das sie selber fürchten: »Schwatze keinen Unsinn, Pauline! Du und sterben! Eine Nacht lang tanzen wie eine Bachstelze und dann vom Sterben reden! Schlag' solche Grillen in den Wind!«
Sie erwiderte leise: »Es ist keine Grille, ich fühl's, es geht nicht mehr lange.« Das rasende Tanzen habe ihr den letzten Stoß gegeben. Die schmetternden Noten hätten ihr freilich die Füße gelüpft, jetzt aber seien sie wie Blei, und der Atem wolle ihr nicht mehr in die Brust hinabsteigen. Wenn es nur schon vorbei wäre, sie habe so Angst.
Konrad war der Gedanke, Pauline möchte sterben, schon mehr als einmal gekommen, aber er war ja jung und bei der Jugend hat die Hoffnung noch immer willige Ohren gefunden. Jetzt aber, da er den bangen Gedanken aus ihrem eigenen Munde vernahm, übermannte er ihn, ein unsägliches Weh schnürte ihm die Kehle zu und seine Hand fuhr unwillkürlich über die Augen. Und nun sagte er ihr mit weich gewordener Stimme, was die Scheu sonst noch lange in seiner Brust zurückgehalten hätte: »Aber weißt du denn nicht, Pauline, wie gern ich dich habe?«
»Doch, ich merke es, und das eben macht mich so gar traurig!«
»So hast du mich auch ein wenig lieb?«
»Konrad!«
Da redete ihr der Bursche zu, sie sollte doch nicht ans Sterben denken, sondern lustig sein, wie damals als sie zusammen zur Schule gingen. Sie müsse nur gesund werden wollen, dann werde sie es sicherlich auch bald sein. »Und, wenn du gesund bist und wieder springen und tanzen magst, stecken wir ›Maien Sträuße.‹, du ins Haar und ich an den Rock, und es soll hoch hergehen. Willst du's?«
Sie hatte nichts dagegen. Bei seinen Worten war auch in sie die Hoffnung wieder eingezogen. Und merkwürdig: das Bleigewicht schien von ihren Füßen abgefallen zu sein, und sie sagte zu ihrem Begleiter: »Nun spiel' noch eins auf, und ein lustiges!«
So ging es leidlich zum Wieshof hinauf.
Nun waren die beiden Jugendgespielen versprochen, aber niemand durfte es wissen, dazu hatte es noch Zeit, und waren Leute zugegen, so ließen sie sich nichts anmerken und taten gar, als ob sie sich nicht recht leiden könnten.
Pauline wehrte sich tapfer gegen ihr Siechtum. Im Sommer ging es gut und im Herbst nicht viel schlimmer. Nun aber kam der Winter mit seinem kalten Nordwind, der da meint, es sei nicht recht, wenn nicht landauf, landab alles huste und belle wie die Füchse, wenn rauhes Wetter naht. Pauline hatte keine gute Zeit, aber Konrad kam hie und da ins Unterhaus, wenn er abends aus dem Walde nach Hause kehrte, und fand dann Gelegenheit, ihr Mut einzuflößen: das sei eben der Winter, aber der währe nicht ewig und der Frühling sei ein guter Doktor.
Sie lächelte dazu mit ihren dünnen Lippen und Wangen, glaubte ihm halb und glaubte ihm halb nicht und fragte sich: »Werd' ich den Kuckuck nochmals schreien hören?«
Der Frühling kam. Pauline vernahm den Ruf des Kuckucks, aber an jenem Tage wollte der Kellerjakob gar nicht zu Mittag essen, und als man in ihn drang, stotterte er es heraus: es sei alles fertig, in vier Wochen werde der Hof und alles was darauf sei »stübis und rübis« vergantet, er habe sich lange gewehrt, jetzt habe er die Gabel ins Heu geworfen.
Oh, diese Schande! »Verlumpen« nennen es die Bauern auf den Höfen. Also Pauline ist das Kind eines Verlumpten! Nun wird Konrad nichts mehr von ihr wissen wollen und sie verachten, wie die andern Nachbarn es alle tun werden! An jenem Mittag legte sie sich zu Bette und stand seither nicht wieder auf. Die Schande hatte ihren Widerstand und das letzte Restchen Kraft gebrochen, sie ließ es jetzt gehen, wie es mochte, und dachte stets: »Wenn's nur schon vorbei wäre.«
Da sie von Tag zu Tag elender wurde, hatte man sie in die Wohnstube gebettet; die Hilfe war so gleich zur Hand, wenn ihr etwas fehlte. Eines Tages, als sie mit ihrer Mutter allein war, hörte sie Tritte vor dem Haus. Sie kannte sie wohl, es war Konrads Gang. Die Freude durchfuhr sie: »Er kommt doch noch, er verachtet die Verlumpte nicht!« Aber gleich folgte der Umschlag: sie könnte ihm nicht ins Gesicht sehen, sie, deren Schmach auch auf ihn fallen würde, wenn jemand erführe, daß … Nein, es mußte abgebrochen sein! Um seinetwillen! Sie fuhr im Bett empor: »Mutter, riegle die Türe zu!«
»Was fällt dir ein, Mädchen?«
»Stoße den Riegel vor, oder ich gehe selber!«
Züsi erschrak ob der Aufregung ihrer Tochter und gehorchte, um sie zu schonen. Als es geschehen war, trat sie vor das Bett hin: »Was soll das heißen, Kind?«
»Scht! sei mäuschenstill!«
Züsi setzte sich kopfschüttelnd auf ihren Stuhl.
Draußen klopfte es. Niemand gab Antwort. Es klopfte wieder. Vergebens. Da drückte eine Hand auf die Klinke, aber die Türe blieb fest.
»Ist niemand da?« – Alles schwieg.
Noch mehrmals kreischte die Türklinke, erst schüchtern, dann heftiger. Als alles nichts nützte, entfernten sich draußen die Schritte. Im Bette, halb aufgerichtet, hatte Pauline gelauscht wie ein Reh, das den Jäger wittert. Während die Schritte verhallten, sank sie ins Kissen zurück, zog das Leinentuch über ihr Gesicht und schluchzte bitterlich. Sie hatte dem den Riegel vorgeschoben, den sie über alles liebte, den sie vielleicht nie wieder sehen würde, ihrer ersten und letzten Liebe. Sie tat es nicht aus Eigensinn, sie tat es ihm zu lieb, mußte es tun, und nun blutete ihr das Herz.
Züsi ahnte, was in ihrem Kinde vorging, sie nahm den Kopf der Kranken in ihre Hände und suchte ihr Trost zuzusprechen.
Zwei Tage später machte Konrad noch einen Versuch, in Kellerjakobs Haus einzudringen. Er stieß wieder auf eine verriegelte Türe. Man wollte ihn nicht sehen, er mußte es aufgeben und sich begnügen, vom Kellerjakob zu erfahren, wie es dem Mädchen gehe, und der sprach seit einigen Wochen nur noch mit den Achseln.
Als Konrad am Ganttage mit den Bauern in die Stube trat, trafen seine Blicke Paulinens Augen. Es lag darin eine flehende Angst. Was mochten sie sagen? »Verachte mich nicht in meiner Schande!« oder: »Verzeih', daß ich dir den Riegel vorschob!« oder: »Laßt mich doch in Frieden sterben!« Ja, er sah es: der Tod schaute ihr aus den tiefen Augen mit den bläulichen Rändern und dumpf, bei dem Klange der Schritte und dem Summen der Stimmen nur wenigen vernehmlich, rang es sich heraus: »Um's Himmels willen! … Um's Himmels willen, sie stirbt ja!« Er drängte sich an das Bett heran und stöhnte: »Pauline!«
Sie sah zu ihm auf und hätte gerne gelächelt, wie einst, wenn er vor ihr den Schnee furchte und seinen Lohn in ihren Augen suchte. Denn sie sah wohl, daß er ihr immer noch gut war. Da erschallte dicht am Bette die kreischende Stimme des Weibels, der in seinem Rausche nicht wußte, was er tat: »Da ist ein Bett, was ist das wert?«
Ein Murren des Unwillens ging durch die Stube. Die Leute, die neben und hinter dem Weibel standen, stießen ihn mit den Ellbogen, um ihn zur Besinnung zu bringen. Er aber wurde störrig, hieb mit den Fäusten um sich und wiederholte: »Da ist ein Bett! ist das nichts wert?«
Pauline sah den Weibel mit Augen des Entsetzens an. Die Bauern riefen: »Halt dein Maul!« Der Betrunkene aber schlug auf die Arme, die sich nach ihm ausstreckten, und rief: »Ich muß ganten! Was sein muß, muß sein! Was ist das Bett wert?«
Konrad zuckte es in der Hand, er beherrschte sich und sann auf ein Mittel, um dem Unfug ein Ende zu machen. Aber es sollte rasch gefunden sein und er fand den richtigen Weg nicht und stieß dem Weibel die Antwort hin: »Hundert Franken!«
Kaum war ihm der Ruf entfahren, als es ihm klar wurde, was für eine Unschicklichkeit er begangen habe, und als nun gar der Weibel wiederholte:
»Hundert Franken zum er…«, da kochte ihm das Blut, er umschlang den rohen Gesellen mit seinen rüstigen Armen, stieß die Leute, die ihm im Wege standen, auf die Seite und trug ihn in die Tenne hinaus, wo er ihn unsanft in eine Ecke warf.
Als er wieder in die Stube trat, war Pauline ins Kissen zurückgesunken, ein Schleier hatte sich über ihre Augen gelegt, sie war dahin. Züsi stieß einen Schrei aus, der allen durch Mark und Bein ging, und warf sich über ihr Kind. Die Bauern schlichen verlegen weg, ohne jedoch zu vergessen, die erstandenen Waren mitzunehmen. Konrad blieb allein mit Züsi und der Toten in der Stube zurück, er hätte gerne der armen Frau sein Herz ausgeschüttet, aber sie gab sich so sehr ihrem Schmerze hin, daß sie die Gegenwart des Nachbars gar nicht gewahrte. Er konnte den Jammer nicht mit anhören und ging hinaus wie die andern. Er nahm den Weg hinten um das Haus herum, um dem Kellerjakob das Unglück mitzuteilen, aber der war verschwunden. Es war Mittag und Essenszeit. Konrad hungerte nicht. Im Oberhaus angekommen, nahm er eine Axt auf die Schultern und schlich ungesehen davon, dem Walde zu. Erst am Abend kehrte er wieder zurück. Den Bäumen hatte er kein Leid getan, die Axt war noch rostig wie am Morgen.
Beim Mittagessen gab es auf allen Höfen viel zu erzählen. Der Eichbauer Jörli schloß seinen Bericht mit den Worten: »Des Schulpflegers Konrad ist sonst ein Bursche, der keinen Strumpf für eine Kappe hält, aber heute muß der Teufel in ihn gefahren sein. Ein Gebot auf ein Bett tun, in dem eins auf den Tod liegt, wer hat das schon erlebt? Jetzt weiß man nicht, wer der Pauline geholfen hat, der Weibel mit seinem ›Was ist das Bett wert?‹ oder er mit seinen ›Hundert Franken‹.«
»Wie ich den Konrad kenne, hat er nichts Schlechtes gemeint!« sagte eifriger, als sie es wollte, Jörlis Tochter Rosine.
»So? wie du ihn kennst?« förschelte der Bauer, »du kennst ihn also? So, so, wie du ihn kennst?«
Rosine legte ihren Löffel in den Teller und flüchtete damit in die Küche. Man sah es ihr am Rücken an, daß sie rot wurde wie ein gekochter Krebs.
»Oho,« dachte Jörli bei sich, »will's dort hinaus?«
Rosinens Bruder, der Bert, der die geheimen Gedanken seiner Schwester schon längst erraten hatte, hielt die Gelegenheit für gekommen, ihr einmal seine Meinung zu sagen und rief ihr nach: »Auf den Chueri kannst du warten, bis die Kuh einen Batzen gilt!« In der Küche aber trotzte Rosine, als sie, ärgerlich über ihr dummes Gebaren, den Teller etwas unfreundlich auf einen Tisch stellte: »Und ich will ihn doch!« Dabei stampfte sie mit dem Fuße auf den roten Ziegelboden.
Am folgenden Tage ging ein Mädchen von Gehöfte zu Gehöft und meldete dem ledigen Volk, daß am Samstag Abend im Schulhaus für Kellerjakobs Pauline »geschäppelt« werde.
Die Hofbauern hangen so zäh an alten Gebräuchen, wie an ihrer lehmigen Erdscholle, und was anderwärts schon längst vergessen ist, wird dort noch liebreich in Ehren gehalten. Wenn eine Jungfrau oder ein Jüngling stirbt, tun sich die Jugendfreundinnen und Kameraden zusammen und flechten aus Immergrün und Moos lange Kränze, die um den Sarg gewunden werden. Mit Kränzen wird auch ein schwarzes, hohes Kreuz geschmückt, an das ein Porträt mit einer Widmung befestigt ist, und das dem Sarg vorangetragen wird. Früher, als sich die Landestracht noch nicht in die alten wurmstichigen Kästen verkrochen hatte, setzte man oben auf das Kreuz einer Ledigen das »Schäppeli«, den schmucken Hut, den die Bräute an ihrem Hochzeitstage als Zeichen der Reinheit trugen. Als eine Himmelsbraut sollte die Freundin im Friedhof Einzug halten. Daher kommt es, daß das bekränzte Kreuz »Schäppeli«, das Flechten der Kränze aber »Schäppeln« genannt wird.
Am Samstag Nachmittag versammelten sich die Mädchen beim Schulhaus, das auf einem Weiler etwa im Mittelpunkte der Hofgemeinde steht. Als sie vollzählig waren, stiegen sie zum Schloßrain hinauf. Dort ragen zwischen mächtigen Föhren die geborstenen, von den Wurzeln der Sträucher zernagten Mauern und Türme einer alten Ritterburg empor, und rings um den Hügel im Gebüsch und auf dem grauen Mörtel wuchert üppiges Immergrün, das einzige, das in der Gegend wild wächst und, wie die alten Leute versichern, vom Schloßgarten herrührt. Es war eben in voller Blüte und es schien, als hätte sich ein Stück des klaren Frühlingshimmels auf den Schloßrain niedergelassen und ins frische Grün geschmiegt.
Die langen Stengel des Immergrüns mit den glänzenden Blättern wurden nun sorglich aus dem grün und blauen Teppich herausgeholt und ordentlich in Körbe gelegt; andere Körbe wurden mit gelbgrünem, weichem Moos gefüllt, und von den rissigen Stämmen der Föhren löste man einige Efeuranken. Als die Sonne in die dunkeln Tannenwipfel des Hasenwaldes hinuntersank, neckisch durch die Äste und Zweige hindurchblitzte und plötzlich nochmals eine Saat von Goldstaub über den Schloßrain ausschüttete, waren die Körbe gefüllt, die einen mit hellem, die andern mit dunklem Grün. Die Mädchen ergriffen zu zweien die nach dem Waldboden duftenden Lasten und nun ging's wieder hinab, dem Schulhause zu. Hinter ihnen aber begann ein süßes Flöten. Eine Amsel, der das junge Volk den ganzen Nachmittag verdorben hatte und die ihr Lied nicht mehr in der sangeslustigen Kehle zurückzuhalten vermochte, hatte sich auf den höchsten Zweig einer Föhre gesetzt und sang nun in das warme Abendrot hinein, und mit ihr der ganze Schloßrain, so daß sich auch in der Brust der Mädchen etwas regte wie ein Lied, und es wäre mächtig jauchzend herausgequollen, wären nicht die ernsten grünen Körbe gewesen.
Vor dem Schulhaus harrten jüngere Mädchen, die noch zur Schule gehen mußten. Die brachten ihren älteren Schwestern das Abendbrot und betrachteten mit feierlichen Mienen die grünen Lasten. Sie hatten heute vor ihren Schwestern mehr Respekt als sonst und dachten: »Wenn auch ich einmal groß sein werde und schäppeln darf!«
Die Schäpplerinnen traten in das Schulzimmer, setzten sich in die langen Bänke, in denen sie sich so oft nach ihren Höfen und deren Ungebundenheit gesehnt hatten, und machten sich über die Eßkörbe her. Ihr Inhalt verriet, daß auf den Höfen der Hunger keine mächtige Herrschaft besitzt: vor dem Roggenbrot und der Butter, dem Magerkäs, dem rotdurchzogenen Speck und den Rauchwürsten und all den Dingen, die da hervorgezogen wurden, hätte er das Feld räumen müssen und wäre er auch mit einer ganzen Kompanie eingerückt, und an klarem, perlendem »Moste« fehlte es auch nicht. Die Zähne bekamen nun wacker Arbeit und die Zunge wurde gezügelt: man wollte den guten Eindruck, den man sichtlicherweise auf die Schulmädchen gemacht hatte, nicht mutwillig wieder verwischen und das konnte man nur, indem man mit den Brot- und Käsebissen auch die Wörter hinunterschluckte: denn was können fünfzehn lebensfrohe Mädchen von achtzehn bis fünfundzwanzig Jahren – und wären sie auch Schäppelens halber beieinander – anderes plaudern, als was zum Lachen kitzelt und die weißen schelmischen Zähne aus ihrem Verstecke lockt.
Als das Essen nicht mehr schmeckte, wurden die Körbchen wieder gepackt und die kleinen Mädchen mit einem freundlichen Klapps auf die Wangen nach Hause geschickt. Die Nacht brach herein, die große Hängelampe wurde angezündet und das Flechten der Kränze konnte beginnen. Die einen sortierten das Immergrün und das Moos und vereinigten zusammenpassendes zu kleinen Büscheln, die von andern, die Erfahrung und geschickte Hände hatten, an Schnüre gereiht wurden. Einmal schlich sich eine der Schäpplerinnen ans Fenster und horchte in die Nacht hinaus.
»Steht der Max draußen?« rief ihr eine andere neckisch zu, und der ganze Schwarm fing an zu kichern.
»Ihr seid wohl närr'sch! ich wollte nur sehen, ob der Mond schon komme!«
»Freilich, der M–ond!« meinte eine in trockenem Tone.
»Schscht!« unterbrachen die Älteren das losbrechende Gelächter.
Als die Flechterinnen recht im Zuge waren und die Arbeit weidlich von statten ging, hörte man Tritte draußen. »Sie kommen!« Große Bewegung im Schulzimmer, die Blätter und Moosfetzchen wurden von den Schürzen geschüttelt, die Hände fuhren über die glattgekämmten Haare, man setzte sich in Positur, als hätte man photographiert werden sollen. Dann wurde alles still und mit doppeltem Eifer zappelten die Finger der braunen, an Arbeit gewöhnten Hände. Die Türe knarrte in den Angeln und herein traten langsam die Burschen in ihren schweren Schuhen, unter denen der tannene Zimmerboden ächzte. Sie machten möglichst gleichgültige Gesichter und sogen an ihren kurzen Pfeifen. Man drückte sich die Hände, bald stärker, bald schwächer, wie man's gerade meinte oder im Sinne hatte. Als die Mädchen ihre Arbeit wieder aufnehmen wollten, sagte einer der Burschen: »Erst müssen wir den Grabgesang einüben, hol' einer den Schulmeister herunter!«
»Wir klopfen an die Diele,« riet ein anderer, »er wird schon merken, was wir wollen.«
Bald darauf leuchteten zwei dunkle, freundliche Augen durch das Schulzimmer. Sie gehörten zu einem alten Männchen, dem ein ehrwürdiger Bart bis auf die Brust wallte, während ein schwarzes Sammetkäppchen ihm die Haupthaare ersetzen mußte.
»Guten Abend, Kinder!« – »Guten Abend, Herr Schullehrer!«
»Ihr werdet das ›Ruhe sanft‹ singen wollen?« Dies sagend überblickte der Alte mit seinen beweglichen Augen die Schar seiner einstigen Schüler, öffnete sein Instrument, ein kleines, baufälliges Harmonium, und fing an zu treten und die Tasten zu drücken. Schnarrend gab der braune Kasten Töne von sich.
Die jungen Leute kannten das Lied, es war das Grablied, das sich auf den Höfen von Generation zu Generation vererbt hatte, und man sah keinen Grund, ein neues zu lernen. Die einfache Weise und die schlichten Worte hatten ihre Wirkung in der Kirche noch allezeit ausgeübt und hätte man einen Sterbenden gefragt: »Was sollen wir dir singen, wenn's vorbei ist?«, er hätte sicherlich geantwortet: »Wie könnt ihr auch so etwas fragen! Ich habe mein ganzes Leben lang nie recht ausruhen können, drum singt mir: Ruhe sanft im Grabe, Ruhe sanft im Grab.«
Die jungen Leute stellten sich vor das Harmonium, jeder zu seiner Stimme, nur einer zögerte, Schulpflegers Konrad.
»He, Chueri« – das war sein Kosenamen geblieben –, »He, Chueri! was treibst du dort hinten?«
»Ich mag nicht singen!«
»Mögen, mögen! Es heißt müssen! Wozu bist du denn gekommen?«
»Ich habe einen Hals so rauh wie eine Feile.«
»Begreiflich,« sagte Kaspar, der Witzbold, »hätten wir gestern auf der Gant so laut geboten, 's wär' auch unsereiner heiser geworden!«
Ohne ein Wort zu erwidern, griff Konrad nach seinem Hute und wandte sich zur Türe. Spott ertragen, das fehlte ihm gerade noch!
Man durfte ihn nicht gehen lassen, er war der beste Baßsänger der Kameradschaft, es ging nicht ohne ihn. Man umdrängte ihn, versperrte ihm die Türe und bat ihn zu bleiben.
Den besten Trumpf spielte aber Rosine, Jörlis Tochter, aus. Sie rief dem Spaßmacher zu: »Kaspar, ich kenne einen, der war freilich nicht heiser, als wir für Steffens Lisbeth sangen!«
Man kicherte; Jörlis Bert aber meinte, er müsse eine Auslegung zu den Worten seiner Schwester geben: »Ja, damals hat einer gebrüllt wie ein Ochse, den man allein im Stall läßt!«
Kaspar bildete sich nicht wenig auf seine Tenorstimme ein, hatte aber bei einem Begräbnis das Unglück gehabt, in eine Pause zu krähen wie eine Posaune, die zum Jüngsten Gericht ruft. Damals hatte man im Dorfe über die Hofbauern gelacht – denn Berg und Tal haben sich ewige Fehde geschworen – und boshafte Bemerkungen herumgeboten: wenn die Höfler singen, müsse ihnen der Geißbub auf seinem Horn Tenor blasen, oder: wenn man im Dorfe einen Nachtwächter brauche, wisse man jetzt, wo ihn holen. Die Hofburschen verziehen es ihrem Kameraden lange nicht, daß er sie so lächerlich gemacht hatte. Er selber aber hatte sich am meisten darüber geärgert und so trafen ihn Rosinens Worte wie ein Guß kalten Wassers. Konrad seinerseits empfand eine große Genugtuung, den gedemütigt zu sehen, der ihm so unsanft an seine schmerzlichste Wunde gerührt hatte, und er wußte es dem Mädchen Dank.
Während die andern sich über den verlegenen Kaspar noch weiter lustig machten, ihm aber dabei auf die Schultern klopften, zum Zeichen, daß es so bös ja nicht gemeint sei, machte sich Rosine hart an Konrad heran und sagte halb leise zu ihm: »Was fällt dir auch ein, davonzulaufen? Da wären wir schön dran! Den Dörflern freilich hieße das Wasser auf ihre Mühle richten; denn wer sollte das Solo singen mit dem tiefen Ton drin? Etwa der Franz, der eine starke Stimme hat, aber entweder eine halbe Elle zu hoch oder ein Klafter zu niedrig singt? Den tiefen Ton bringt keiner so schön heraus wie du! Willst du den Dörflern den Spaß machen?«
Das Mädchen verstand es, Schulpflegers Konrad zu packen, denn von Eitelkeit war der Bursche nicht frei und daß er eine hübsche Stimme hatte, wußte er, bevor es ihm Rosine sagte. Indessen kämpfte er noch mit sich selber, als der Schulmeister ungeduldig mit seinem Taktstöckchen auf den Deckel des Harmoniums klopfte und rief: »Nun, Konrad, seit wann läßt man sich so drängen, wenn es gilt, einer Jugendgespielin auf dem Grabe zu singen!«
Die Worte des allgemein geachteten Alten brachen seinen letzten Widerstand, das konnte man ihm am Gesicht ablesen; zwei Burschen nahmen ihn ohne weitere Umschweife in ihre Mitte, und er ließ sich vor das Harmonium führen.
Nun wurde das Lied geübt, zuerst jede Stimme einzeln, dann alle zusammen. Nachdem Konrad einmal die Zunge gelöst war, ging er ganz im Gesange auf, und als zum Schlusse das Solo probiert wurde und er das: »Ruhe, ruhe, ruhe sanft« singen mußte, dachte er an das Mädchen, das drüben kalt im Wieshof lag und seine Stimme bebte leise vor Rührung. Die andern stießen sich mit den Ellbogen an: »Der Chueri singt heut wie eine Orgel.«
Der Schulmeister klappte den Deckel seines Instrumentes herunter, drehte das Schlüsselchen um und sagte, sich zur Türe wendend, zu dem jungen Volk: »Gute Nacht, Kinder! Seid mir nicht zu laut, ich und meine Alte möchten nun gern die Augendeckel herunterlassen.« Da trat ein Bursche herein, der sich kurz vorher entfernt hatte; er trug in der Hand ein hölzernes Gefäß, einem Fäßchen vergleichbar, eine Legel, wie man dort zulande sagt. Die Legel ist zur Erntezeit die erquickende Quelle der Schnitter, erwies sich aber auch beim Schäppeln als brauchbar. Der Bursche stellte das Gefäß auf eine Bank: »Herr Schulmeister, ihr müßt mit uns den Schäppelitrunk tun, so ist's immer gehalten worden.« Der Angeredete machte ein sauersüßes Gesicht, nickte aber zustimmend. Derweil hatte man einen Korb mit Gläsern und einen großen braunen Brotlaib hereingetragen. Man griff zu den Gläsern, hielt sie an das dünne Kupferröhrchen der Legel und ließ den perlenden Rotwein hineinsprudeln. Dann stellte man sich in zwei Reihen, hier die Burschen, dort die Mädchen, und zwischen drin pflanzte sich der Schulmeister auf, dem man ein feineres Glas mit einem Fuß in die Hand gegeben hatte.
Konrad, ohne zu wissen, wie es kam, befand sich Rosinen gegenüber und war froh, daß es sich so traf, denn des Mädchens Verhalten wirkte noch nach und tat ihm wohl.
Alles war mäuschenstill wie in einer Kirche. Der Schulmeister zog sein Sammetkäppchen ab, und da er gerade unter der Hängelampe stand, leuchtete sein kahles Haupt freundlich durch das Schulzimmer, wie der Mond durch die Nacht, und es war, als lege sich ein klarer Schein, ein Heiligenschimmer darum. Er schaute eine Weile sein Glas an, wie um sich zu besinnen, und sprach dann mit feierlicher, etwas singender Stimme und mit altväterischer Aussprache den Spruch, den er selber einst in jüngeren Jahren verfaßt hatte und seither mit kleinen Änderungen immer beim Schäppeln vortrug:
»Liebe Freund'!
Kam der Tod einhergeschritten
Und aus unsrer Mitten
Riß er eine, die fürwahr,
Allen von uns teuer war,
Die als Kind mit uns gesprungen,
Die gar lustig einst gesungen,
Wenn wir Ringelreihen
Tanzten im Maien.
Oh, wie in der Erntezeit
Übers Feld weit, weit
Ihre Jauchzer klangen
Und zum Herzen drangen!
Und wie sie sich froh gemacht,
Wenn wir in der Winternacht
Schlitten fuhren am Rain
Beim Mondenschein,
Und in warmer Stube drauf
Nach dem wilden Lauf
Nüsse knackten, Lieder sangen
Und zur Lust im Tanz uns schwangen!
Nun hat sie genug gesungen,
Ausgejauchzt und ausgerungen!
Nie mehr hört ihr ihre Lieder,
Nie mehr lacht und tanzt sie wieder,
Doch wir wissen, daß fürwahr
Sie uns allen teuer war.
Ward die Heimat einem schwer,
Und er wandert übers Meer,
Ist's ein Brauch in diesem Land,
Daß er nimmt ein Glas zur Hand
Und den Freunden, treu vereint,
Zeigt, wie er's im Herzen meint.
Also stellt euch jetzund für,
Daß durch dieses Hauses Tür
Unsre Sel'ge tret' herein,
Fasse dieses Glas mit Wein
Und mit jedem stoße an:
Bricht das Glas ihr dann,
Ist's, als wär's das Leben,
Das der Schöpfer ihr gegeben.
Denn das Leben ist wie Glas,
Glänzt wie Glas und tönt wie Glas
Und – bricht wie Glas.
Heute trifft es dieses hier,
Morgen kann es gelten dir:
Jedes geht einmal in Scherben
Im Sterben.
Aber wie die Scherben springen,
Darf der Geist in Himmel dringen,
Laben sich an Himmelskost.
Das ist unser Trost. –
Pauline Keller, ruh' in Gottes Namen.
Amen.«
Während der Alte sprach, standen die Burschen und Mädchen stillschweigend da, wagten nicht sich zu rühren und hielten fast den Atem zurück, denn diese Handlung gehörte zu dem Feierlichsten, was sie kannten, und gar von der gemütvollen Pauline Abschied zu nehmen, die keinem etwas hätte zuleide tun können, die sie alle so gerne hatten, das ging den meisten nahe. Konrad kämpfte mit den Tränen, aber er hätte sich sein Leben lang geschämt, sich in Gegenwart der andern die Augen zu wischen, und so suchte er das Bild der Geliebten aus seinem Geiste zu verdrängen. Aber wie das anfangen? Erst wollte er überlegen, was er die nächste Woche alles in Haus und Feld zu tun habe, aber wenn er ans Oberhaus dachte, tauchte gleich daneben das Unterhaus auf. So ging es nicht! – Sein Vater, der Schulpfleger, war schon drei Tage abwesend, er war ins Oberland verreist, um Vieh zu erhandeln, mußte aber jetzt, als am Samstagabend, wohl heimgekehrt sein. Hatte er wohl einen guten Schick gemacht? Was wird er gesagt haben, als er erfuhr, daß Kellerjakobs Pau … Wieder war Konrad bei ihr angekommen, und so ging es ihm mit allem, was er überdenken wollte, jeder Gedanke führte ins Unterhaus. Aber er erreichte doch, was er wollte: bei diesem Suchen nach Zerstreuung kam der Verstand zu seinem Recht, und das Herz bäumte sich umsonst. So merkte ihm niemand etwas an, nicht einmal Rosine, die ihm zwar gegenüberstand, aber mit sich selber zu tun hatte und den Blick auf den Boden heftete. Sie hatte einen Plan gefaßt, der nun ausgeführt werden sollte, aber es kam eine Beklommenheit über sie, die dem entschlossenen Mädchen sonst fremd war, und sie spürte, wie das Glas in ihrer Hand leicht zitterte und ihr Herz pochte.
Rosine und Konrad wurden aus ihrem Brüten durch das Klingen von Gläsern geweckt. Ein Paar war zu dem Schulmeister hingetreten und Bursche und Mädchen hatten gleichzeitig von entgegengesetzten Seiten mit dem Glase angestoßen, das der Alte in der Hand hielt. Nach dem ersten Paar kamen die andern der Reihe nach, langsam, mit der Haltung, die sie annahmen, wenn sie in der Kirche zum Taufstein traten. Man gab dem Schulmeister ein besonders dünnes Glas, weil die Meinung war, es sollte bei der Zeremonie in Brüche gehen. Nichts wäre leichter gewesen, als diese kleine Katastrophe herbeizuführen, aber es hatte sich mit der Zeit der Aberglaube ausgebildet, daß das Paar, unter dessen Stoß das Glas in Scherben springe, Anlaß gebe entweder zum nächsten Schäppeln oder zum nächsten Hochzeitstanz. Wirklich wußten alte Leute von Fällen zu berichten, wo dies zugetroffen, und sie glaubten so fest an das Schäppeliorakel wie an ihre Bauernregeln. Die jungen Leute lächelten zwar, wenn die Alten davon sprachen und mahnend zu ihnen sagten: »Ja, das junge Volk glaubt eben nichts mehr!«, dennoch benahmen sie sich beim Schäppelitrunk recht vorsichtig und hüteten sich wohl, fester zu stoßen, als es das Glas etwa ertragen mochte. Den Hochzeitstanz, nun, den hätte man sich ja unter Umständen gefallen lassen, aber den andern … Der Aberglaube sitzt auf den Höfen so fest, wie der Kleeteufel im Acker, und lächelt ein Hofbauer, wenn von einem verworfenen Tag oder vom Zerspringen des Schäppeliglases gesprochen wird, so ist ihm zu mißtrauen. Tatsache ist, daß seit vielen Jahren beim Schäppeln kein Glas mehr gesprungen war.
Die Reihe kam an Rosine und Konrad. Das Mädchen war immer noch nicht mit sich einig und zögerte, bevor es den Fuß vom Flecke hob: »Soll ich, oder soll ich nicht?« Sie sah Konrad an, den starken Burschen mit den breiten Schultern, und vergegenwärtigte sich ihre eigene Gestalt, wie sie sie aus dem Spiegel kannte: das letzte Bedenken war überwunden! Wahrhaftig, das müßte ein närrisches Glas sein, das beim Zerspringen rufen könnte: »Ich bin dein Totenglöcklein!«
Sicher trat sie zum Schulmeister hin, Konrad gegenüber. Sie stießen gleichzeitig an. Alles fuhr auf und sah hin. Ein Stück Glas klirrte auf dem Zimmerboden und der rote Wein floß über des Schulmeisters Hand und plätscherte einen Augenblick wie ein Bächlein.
Man sah sich verlegen an und außer Rosine fiel es im ersten Augenblick niemand ein, über den Schäppeliaberglauben zu lächeln. Sie aber lächelte wirklich und dabei leuchteten ihre dunklen Augen zu Konrad hinüber. Er, um seine Verwirrung zu verbergen, lächelte nun auch so gut er es fertig brachte. Die andern drängten sich um das Paar: sie sollten sich doch wegen des dummen Aberglaubens keine grauen Haare wachsen lassen, es gucke wahrhaftig jetzt noch keinem von beiden der Tod aus den Augen; sie sollten nun erst recht und den Scherben zum Trotz den ganzen Abend guter Dinge sein.
Um die gedrückte Stimmung zu verscheuchen, die die fallenden Glasscherben erzeugt hatten, machte Kaspar den Vorschlag, auf die Lebenden anzustoßen, nachdem man der Toten die Ehre gegeben habe. Man reichte dem Schulmeister ein anderes Glas und nun klingelte das Schulzimmer wie eine Wirtsstube an der Kirchweih, und bei jedem Klingeln blickten über die beiden Gläser hinweg vier Augen ineinander wie es Brauch ist; die letzten, in die Konrad sah, waren schwarz und wie an einem Freudenfest glänzend, und er wich ihnen aus.
Der Schulmeister leerte sein Glas zur Hälfte, stellte es auf eine Bank und griff nach der Türklinke. Man machte sich an ihn heran, um ihn zurückzuhalten, er aber sagte: »Bei Leibe nicht, Kinder! Einmal und nicht wieder! Als ich als junges Bürschchen zum erstenmal hier in diesem Haus schäppelte – 's ist schon manches Jährchen seither auf Reisen gegangen – bin ich auch mit den andern geblieben und mußte schließlich noch Tanzmusik spielen, bis der Tag graute. Seither … na! …« Sprach's und wünschte allen mit seinem freundlichen Gesicht eine gute Nacht. Auf der Schwelle wendete er sich nochmals zu dem jungen Volk und hielt schalkhaft drohend den Finger empor.
Der Gedanke, daß einmal beim Schäppeln getanzt worden war, machte Eindruck auf die Burschen. »Ja, die Alten trieben's viel toller als wir,« sagte Kaspar, der eine bewegliche Zunge hatte, »und jetzt, wenn wir einmal an der Kirchweih oder am Jahrmarkt ein bißchen über die Stränge hauen, tun sie, als ginge darob das ganze Heimwesen zugrunde. Ich werd's aber meinem Ätti unter die Nase reiben, wenn er mich wieder einmal herunterkanzeln will!«
In diesem Augenblick knarrte die Türe.
»Ist's erlaubt?«
»Wer ist da?«
Nun trat einer herein, aufrecht, als hätte er einen Ladestock verschluckt: »Guten Abend, allerseits!«
»Was suchst du hier, Brändli? Du fehltest uns gerade noch!«
»Nichts für ungut, Max! Du weißt ja, der Brändli hat's immer mit dem jungen Volk gehalten, wenn er jetzt auch ein grauer Kerl geworden ist.«
Bei diesen Worten griff er nach dem Glase, aus dem der Lehrer getrunken hatte: »Gesundheit, allerseits!« rief er und trank aus.
Der Brändli war der Hoflump. Da er die Arbeit scheute, hatte er in jungen Jahren Handgeld genommen und gehörte zu den letzten Schweizersöldnern, die im Dienst des Königs von Neapel standen. Als das Schweizerregiment aufgelöst wurde, kehrte er in die Heimat zurück; aber das Arbeiten hatte er in Italien nicht gelernt und verspürte in seinem ganzen Leben nie mehr Lust, das Versäumte nachzuholen. Ehe er in fremde Dienste trat, hatte er bei seinem Vater gelernt, Körbe zu flechten und zu flicken; daran erinnerte er sich und zog nun seit Jahren mit seinem geraden Soldatenrücken und seinem langen Soldatenschritt im Land umher, schnitt sich auf anderer Leute Grund und Boden Ruten und Weiden, arbeitete einen, wenn's gut ging auch zwei Tage in der Woche, führte aber sonst ein sorgloses Wanderleben, im Sommer barfuß, im Winter in geschenkten Stiefeln mit Rissen und Flicken, und hätte mit keinem Fürsten getauscht. Und machten ihm die Bauern Vorwürfe wegen seines Müßiggängerlebens, so lachte er sie aus: »Wozu soll ich arbeiten? Ehren brauche ich nicht und Schätze will ich nicht! Hab' ich nicht so viel Sonne wie ihr und so viel Lust wie ihr? Und einen Totenbaum werde ich auch einmal kriegen. Schafft ihr nur! Füllt euern Geldsäckel und krümmt euren Rücken und reibt euch Schwielen an die Hände: in fünfzig Jahren seid ihr doch nicht mehr als der Brändli, und wer der Gescheitere ist, merkt ihr ja selber jetzt schon. Aber nachmachen könnt ihr es nicht und darum ärgert ihr euch!«
Er war weit in der Runde bekannt, aber sein eigentliches Fürstentum waren die Höfe, und er nannte sich gerne »Hoffürst«. Dort fühlte er sich wohl, dort brauchte er kein Geld, dort beunruhigte ihn das lauernde Auge des Landjägers nicht. Er nährte sich von dem, was von den klotzigen Bauerntischen abgetragen wurde, und mit einem Korbe erwarb er sich für eine ganze Woche oder auch für zwei das Recht, am Morgen ein Schnäpschen und am Nachmittag oder Abend ein Schöppchen Most zu trinken. Wie manches geschenkte Räuschchen hatte er auf den grasigen Wegen von einem Hof zum anderen getragen, oder im Sommer hinter dem Haselnußhag auf dem braunen Laube und im Winter im Stall ausgeschlafen.
Die Hofbauern duldeten ihn. Bettler und Handwerksburschen machten selten den weiten Weg zu ihnen hinauf und dem einen Landstreicher stopften sie gern die Löcher im Magen und spülten sie gern die Leber ab, wie sie sagten, besonders wenn er ihnen dafür an den langen Winterabenden von seinem Soldatenleben erzählte: von Aufläufen und Straßenkämpfen und vom Kreuzfeuer, mit dem man die Stadt bändigte; von Raufereien mit italienischen Soldaten, in denen die Schweizer immer die dickeren Fäuste hatten; von den feisten Pfaffen, denen man auf der Straße beim Vorbeigehen mit den Ellenbogen zusetzte; vom Ausbruch des Vesuvs; von der Cholera und wie die Soldaten die Leichen mit Kärsten aus den Häusern schleppen mußten. »Da war ich dabei, ich, der Heiri!« fügte er jedesmal nach einem Abenteuer zwischen zwei ergiebigen Schlücken hinzu. Warf er dann und wann, wie zur Bekräftigung seiner Aussage, einen italienischen Brocken in seine Suppe, meistens ein maledetto, oder ein Christo madonna, oder ein sacramento, oder auch alle drei untereinander, da sah er um sich die Augen glänzen: die sonst so nüchternen Hofbauern waren fast stolz auf ihren Lumpen, und kamen ihnen auch die Körbe etwas hoch zu stehen, so dachten sie: »Das Vergnügen muß bezahlt werden auf dieser Welt, vielleicht ist's in der andern besser.«
Nachdem Brändli des Schulmeisters Glas geleert hatte, mischte er sich unter das junge Volk, um die angefangenen Kränze zu mustern. Dabei trat er auf die Glasscherben, die man vergessen hatte aufzuheben. Er sah hin: »Ist's diesmal gesprungen? Hä? ha, ha, ha! Wer ist das glückliche Paar? Du, Rosine? und du, Konrad? Famos! Hör', Chueri, ich lade mich zur Hochzeit ein und verspreche dir zur ›Ürte‹ einen Kinderkorb, so groß, daß Drillinge drin Platz haben sollen! Wann ist die Hochzeit?«
Alle Gesichter hellten sich auf. Der Brändli mußte kommen, um dem Völklein zu sagen, daß das Schäppeliorakel hinter der dunkeln Seite auch eine helle habe. Nur eine hatte den ganzen Abend daran gedacht; endlich hatte der Korbflicker das Wort ausgesprochen, auf das sie all die Zeit gewartet hatte, das ihr selber nicht von der Zunge springen durfte, ohne das aber ihr ganzer Kriegsplan eitel Wünschen geblieben wäre. Sie sah den Lumpen mit leuchtenden Augen an, und wenn sie ihm auch zurief: »Du wüster Mann, so zu reden an einem Schäppeliabend!«, er glaubte ihren Augen mehr als ihrem Munde, lachte ins Fäustchen und sah sich nach einem Glase um.
Rosine ihrerseits wünschte offenbar nicht, dieses Gespräch weiter auszuspinnen: das Korn war ja jetzt gesät, es würde schon aufgehen; nur nicht merken lassen, daß man es selber gestreut hatte! Sie rief ihren Gefährtinnen zu: »Ihr Jungfern, so werden unsere Kränze nicht fertig!« und bald darauf saßen die Mädchen wieder an ihren Plätzen und emsig zappelten die braunen Finger, ja emsiger als zuvor, denn nun hatten sie Zuschauer bekommen und schauspielerten ein wenig. Die Burschen steckten ihre Pfeifen an und wem gerade in der Brust etwas keimte, der machte sich an seine Auserwählte heran und gab sich mit seinen täppischen Händen den Anschein, als wollte er ihr behilflich sein. Die Mädchen hatten nichts dagegen einzuwenden, wenn sie auch sahen, daß die Arbeit eher gehemmt als gefördert wurde. Von Zeit zu Zeit fanden sie sogar Muße, ihre Augen vom Immergrün und Moos ein wenig aufzuheben oder auf das leichtmaskierte Liebesgeplauder zu antworten, bald ermutigend, bald abwehrend, wie es ihnen gerade zweckdienlich schien.
Konrad hatte sich in eine Bank gesetzt und, obschon er nicht hungrig war, machte er sich mit einer Brotkruste zu schaffen, die er sich von dem schweren Laibe geschnitten hatte, und die nicht klein ausgefallen war. Das war so ein Mittelchen, um seine Gemütsverfassung zu verbergen und Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen; innerlich war es ihm so unbehaglich, als es einem Menschen in seiner Haut nur sein kann. Es sah in ihm aus, wie in einem Kornacker, den die Disteln zu ersticken drohen: »Ich Elender, wie kann ich zwei Tage nach ihrem Tode es anhören, daß sich einer zu meiner Hochzeit einlädt, ohne daß ich ihm das unsaubere Maul mit der Hand wische, ohne daß ich nur ein Wort finde, um ihn zurecht zu weisen!« Der Bauerndünkel war an der Arbeit, das bessere Gefühl zu verdrängen: der Bursche hatte sich in seinem Heiligsten verletzen lassen, um sein Geheimnis nicht zu verraten und etwa lächerlich zu erscheinen. Denn, wäre es nicht lächerlich gewesen, eine Liebe, die man so lange geheimgehalten, in dem Augenblicke zu verraten, da man sie begraben mußte? Gesteht ein Hofbauer je, daß er sich verrechnet habe?
Wohl sagte eine andere Stimme in Konrad: »Schämst du dich denn deiner Liebe, daß du nicht vor deine Kameraden hintrittst und sagst: ›Schont mich heute abend und laßt mich trauern, denn morgen legt ihr meine Liebe in den Erdboden!‹« Aber er horchte nicht auf sie.
Dieser Widerstreit der Gefühle, dieses Unterliegen der besseren aber feigen Überzeugung brachte über Konrad eine unerträgliche Verstimmung und er schaute unwillig zu der hinüber, die ihn mit einem teuflischen Rucke der Hand so tief in die Patsche gestoßen hatte. Denn er hatte schon gemerkt, daß nicht er das Glas zerschlagen hatte. Warum aber tat sie's? Absichtlich? Das glich ihr, denn sie liebte gewagtes Spiel, das hatte sie schon als Schulmädchen oft bewiesen, sie hatte manchmal den Teufel im Leib. Und sonderbar! man konnte dem kleinen Satan nicht einmal recht böse sein!
Jetzt waren ihre Augen auf die Arbeit gesenkt, Konrad aber sah sie immer noch, wie sie zu ihm herüberleuchteten, über das zerbrochene Glas weg, und wie sie lächelten, und wie sie zu sprechen schienen und ihre Sprache ein Rätsel und doch keines war … und er, er hatte auch gelächelt, und wußte jetzt nicht mehr recht, ob er es tat, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, oder um auf den Gruß der dunklen Sterne zu antworten.
»Nein, kleiner Teufel, diesmal soll dir dein Plan nicht geraten! Ich bin kein Gimpel, der auf eine Leimrute sitzt!« Er wollte sich einreden, er sei auf das Mädchen böse und suchte seinen Zorn zu schüren. Aber er merkte, daß alles Spiegelfechterei war; denn kann man allen Ernstes Haß dahin schleudern, wo Liebe herkommt? »Nun, wenn man nicht zu hassen vermag, braucht man dann gleich zu lieben? – Pauline, sei unbesorgt!«
Er war soweit in seinen Betrachtungen, als sich ein Glas vor sein Gesicht schob: »Gesundheit, Chueri!«
»Geh zum Kuckuck, du Lump!«
»Tu nicht wie eine Wildkatze, ich hab's wahrhaftig nicht böse gemeint!«
»Laß mich in Ruhe, du Halbnarr!«
Brändli beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Das bist du, wenn du Jörlis Rosine über die Achsel ansiehst. Das ist ein Mädchen, 's gibt kein zweites so auf den Höfen. Mit der ist keiner verloren; schaffen kann sie wie ein Roß, stell' sie, wohin du willst! Die ist in jedes Geschirr recht! Und für dich ging' sie durchs Feuer, wenn's sein müßte, denk' nur, der Brändli hab' dir's gesagt und der hat muntere Augen, wenn er nicht gerade einen Schwips hat. Und der Alte, ich meine den Jörli, der geht auch nicht am Bettelstecken, der hat's dick im Kasten! G'sundheit, Chueri! G'sundheit, sag' ich!«
Konrad legte seine Brotkruste hin und ohne etwas zu erwidern oder dem Lumpen Bescheid zu tun, mischte er sich unter die andern. Der Brändli war an solche Behandlung längst gewöhnt. Er leerte sein Glas, ohne es einmal von den Lippen abzusetzen, aber bedächtig, mit halbgeschlossenen Augen, wie einer, der zu genießen versteht, schnalzte dann mit seiner glücklichen Zunge und machte sich wieder an die Legel heran.
Wie Konrad in die Nähe der Lampe kam, rief einer aus: »Ei, seht den Chueri an! Er macht ein Gesicht, als ob wir für ihn schäppelten! So rasch geht's nicht! Eins nach dem andern!« Viehhändlers Hans meinte, er müsse den Scherz weiterspinnen, nahm einen Kranz, der fertig in einem Korbe lag und warf ihn Konrad über die Schultern, indem er rief: »Es soll keiner sagen, das Schäppeliglas wisse nichts! Schaut nur her: wir haben dem Chueri geschäppelt!« »Das heißt Gott versuchen!« riefen die Mädchen entrüstet. Konrad aber bekam einen roten Kopf, kehrte sich um und warf den Spötter, der diese Wendung der Dinge nicht vorausgesehen hatte, so heftig an eine Wand, daß das Getäfel krachte. Es wäre zu einer Rauferei gekommen, hätten nicht die Mädchen ob solchem Beginnen ein Geschrei erhoben und die andern Burschen sich zwischen die beiden gestellt.
»Geh nach Hause!« sagte sich Konrad, aber gleich regte sich sein Bauerneigensinn wieder: »Nein, sie sollen mich nicht mit ein paar schlechten Späßen vertreiben; ich bleibe zum Trotz, wer mir aber zu nahe tritt, dem weise ich die Zähne.«
Indessen hörten die Sticheleien und Neckereien nicht auf. Den Burschen war die Laune, die er den ganzen Abend zur Schau trug, unerträglich und sie wollten es ihn büßen lassen, richteten sich jedoch dabei so ein, daß sie seinem Ingrimm nie genügenden Grund gaben loszubrechen. So wurde Konrads Lage immer ungemütlicher, und schließlich sah er ein, daß er entweder das Feld räumen oder eine andere Maske anlegen müsse. Er wählte das Schwierigere von den beiden; da ihm aber ein fröhliches Gesicht und lustige Rede nicht gelingen wollten, beschloß er bei der Legel ein Darlehen zu erheben und tat mit dem Glase freundlicher, als es sonst seine Gewohnheit war. Als etwa eine Stunde später der Hoflump sich ihm wieder näherte, ihm sein Glas vor die Nase hielt und rief: »He, Chueri, G'sundheit!« sagte er ihm nicht mehr: »Geh, zum Kuckuck, du Lump!« sondern stieß kräftig mit ihm an, wie mit einem andern.
Es mochte etwa elf Uhr sein, als die Kränze fertig in den Körben lagen. Die ganze Gesellschaft war gesprächig geworden, die Kirchenstimmung, die anfangs geherrscht hatte, war schlafen gegangen, man scherzte und lachte wie in einer Spinnstube. Alle saßen oder standen ein Weilchen mit müßigen Händen da, und man sah es ihnen an, zum Aufbrechen schien ihnen die Stunde noch zu früh: man kommt so selten zusammen, und jetzt ist der Sommer vor der Türe mit all seinen Mühen, und bis zur Kirchweih sind noch volle drei Monate!
Da übertönte Brändlis heiserer Ruf das allgemeine Gesumme der Stimmen: »Die Legel hat verblutet! Kein Tröpflein mehr drin! Hört nur: hohl! hohl!« Er hatte ihr unvermerkt den Garaus gemacht und stand nun da mit seinem geraden Rücken, hielt in der einen Hand ein noch halbgefülltes Glas und klopfte mit den Knöcheln der andern auf das Gefäß.
Was war da zu tun? Aufbrechen? trocken beieinander sitzen?
»Christian, füll' sie nochmals!« rief einer.
»Nein, nein!« wehrten die Mädchen, »jedenfalls nicht mehr ganz!«
»He, Christian, was zauderst du, wie eine Geiß vor einer Brennessel!«
Der Angerufene wollte sich nicht uzen lassen, rasch griff er nach dem Riemen der Legel und verschwand unter der Türe. Er wohnte auf dem Hofe, auf dem das Schulhaus stand, und wurde nun von seinen Kameraden gebrandschatzt. Als Brändli sah, wie die Aussicht auf eine neugefüllte Legel Sonnenschein auf alle Backen warf, rieb er sich vergnügt die Hände und dachte: »Sie sagen mir jedesmal, wenn ich ihnen über den Weg laufe: ›Brändli, du bist ein Lump, Brändli, du säufst zu viel!‹ Bah, sie täten's alle gern und sind bloß zu dumm dazu!«
Diesmal war die Legel nicht mit Wein gefüllt: der rote Trank, der aus dem dünnen Kupferröhrchen in die Gläser schäumte, war Freude, eitel Freude. Wer dachte noch daran, daß man zum Schäppeln zusammengekommen war? Man stieß an mit kecker Hand, und wo zwei Gläser sich fanden, da leuchteten auch vier Augen ineinander und manchmal auch vier Reihen Zähne und meinten in ihrer schelmischen Sprache: »Nimm dich in acht, oder ich beiße dich!«
Als man die zweite Legel mit munterem Läuten gesegnet hatte, ließ sich des langen Kaspars Stimme vernehmen: »Wie wär's, Kameraden, wenn wir es hielten wie die Alten?«
»Wie meinst du das?«
»Ei, wenn wir ein Tänzchen machten!«
Anneli, das jüngste der Mädchen, lachte wie ein silbernes Glöcklein zu dem Einfall, aber ihr helles Klingen wurde erstickt von dem Gebrumm und Gezwitscher des Widerspruchs, das auf allen Seiten losbrach: »Das geht nicht an! Was für ein Einfall! Das schickt sich doch nicht! Das wär' gottlos!«
»Nun, es war ja nur eine Meinung,« höhnte Kaspar, »laßt es meinetwegen bleiben und tanzt am Montag mit dem Karst auf dem Kartoffelacker oder in der Küche mit dem Besenstiel! Mir mag's recht sein, aber das sag' ich: wenn man sich zu euch hält, kann man in seinen alten Tagen nicht einmal einen ordentlichen Streich erzählen, ihr Essigkrüge! Was wäre es denn für eine Sünde? Hans, als dein Großvater, der Viehhändler Stoffel starb, hat nach der Beerdigung Jung und Alt getanzt, alles was ins Leid geladen war. Ist das wahr oder nicht? Und kein Mensch hat sich darüber aufgehalten, und ich habe deinen Vater selber sagen hören, sein Ätti selig hätte gewiß im Grab gelacht, wenn er's hätte mit ansehen können: man müsse tanzen, wenn einen danach gelüste und ein Paar anderer Beine auch mittun wolle.«
Kaspars Rede wirkte wie Salz auf Schnee. Auf den Gesichtern konnte man lesen, daß der Widerstand im Begriff war zu schmelzen. Er war ja auch so ernst nicht gemeint gewesen: er war ein Mäntelchen, gewoben aus ein bißchen Scheu, wohl auch aus ein bißchen Heuchelei, und man hatte es umgeworfen in der festen Zuversicht, es werde sich schon eine anständige Art finden, es wieder abzustreifen. Indessen hütete man sich wohl, das Mäntelchen zu früh fallen zu lassen: der Bauer ist bedächtig, will man von ihm etwas, einen Kauf oder eine Einwilligung, und wär's auch zu seinem Nutzen, und wär's auch zu einem Tänzchen, man muß mit ihm darum feilschen, das gehört zu seiner Lebensweisheit.
Während jeder erwartete, sein Nachbar werde einen bequemen Weg vom Schäppeln zum Tanzen finden, klang es tief und weich: »Tanzt heute nicht!«
Das war eine Enttäuschung. Aber der Retter in der Not ließ nicht auf sich warten, er kam von der Legel her mit seinen langen Soldatenschritten: »Was bist du heut für ein verdrießlicher Bursche! Christo Madonna sacramento! Willst du denn besser sein als die andern? Du Freudenversalzer! Geh! ich weiß, du würdest ums Leben gern tanzen, wenn du nicht angst hättest, der Schulpfleger Ruedi könnt's erfahren und seinem Chueri die Kappe schleifen!«
Die andern lachten und Brändli, durch den Erfolg ermuntert, sprach weiter: »Wenn der Chueri nicht tanzen will, was schert das euch? Tanzt, weil ihr noch Waden habt und die Füße lüpfen könnt! Das ist alleweg besser als greinen und flennen. Wollt ihr nicht, daß es die Alten erfahren, nun, wer plaudert's aus? Ich einmal nicht! Ich nicht! Ich, der Heiri!«
»Aber der Schulmeister? Ihr habt ja gesehen, wie er den Finger aufhob,« kümmerte Anneli, das noch vor zwei Jahren zur Schule gegangen war.
»Ach, der Alte war noch nie eine Plaudertasche; gefällt's ihm auch nicht, so schwatzt er's doch nicht aus. Ihr sagt ihm morgen ein Wörtchen ins Ohr und damit basta!«
Dem jungen Volk zuckten schon die Tänze in den Füßen, besonders den Mädchen. Sie drängten sich zusammen, stellten sich auf die Zehen und zwitscherten und kicherten und stützten die Arme in die Hüften. Einer der Burschen, der die Stimmung richtig beurteilte, bückte sich, um die gelockerten Schuhriemen fester anzuziehen. Christian aber stellte sich vor ein Seitenfenster, sah in die Nacht hinaus und brummte etwas.
»Was hat dir der Mond zuleide getan, daß du ihn anknurrst?« fragte ihn Jörlis Bert, der hinter ihm stand.
»Da, sieh nur her! Wenn der Nachbar Stelzer den Kopf unter der Bettdecke hervorstreckt, sieht er gerade durch dieses Fenster ins Schulzimmer, und merkt der etwas von unserem Tanz, weiß es morgen die ganze Gemeinde. Es geht wirklich nicht!«
Er hatte die letzten Worte so laut gesprochen, daß sie auch von andern vernommen wurden.
»Wegen dem Fenster da?«
Alle begriffen sogleich. Wie war da zu helfen? Einen Augenblick wurde es mäuschenstill im Zimmer.
Da platzte das lebhafte Anneli, das seine Tanzlust noch nie recht gesättigt hatte und nun ohne Besinnen seine Seligkeit für ein Wälzerchen oder ein Hopserchen hingegeben hätte, plötzlich mit der Rettung heraus: »Ich hab's! die Wandtafel! die Wandtafel!«
»Hurra, Anneli! Respekt vor dir!«
Drei, vier Mädchen eilten auf die Wandtafel zu, hoben sie vom Gestell und trugen sie lachend zu dem verräterischen Fenster. Nun griffen auch die Burschen ein und nach wenigen Minuten war das Seitenfenster so gut wie blind, und das Schulhaus zeigte dem lauernden Nachbarhaus keines seiner freudenhellen Augen mehr.
Jetzt wurden die Schulbänke zurückgeschoben und aufeinandergestellt, um Raum zu gewinnen. Bei dieser Arbeit kam eine ausgelassene Heiterkeit über die jungen Menschen. Einige der Burschen zogen ihre braunen Barchentkittel aus und warfen sie auf die aufgeschichteten Bänke, andere suchten mit den Augen möglichst unauffällig die Tänzerin, mit der sie am liebsten den ersten Wirbel durch das Zimmer gedreht hätten, einer aber rief: »Stampft nicht zu stark auf den Boden, damit der Schulmeister nicht ärgerlich wird.«
Neue Bestürzung! Daran hatte man nicht gedacht. Man sah sich um und musterte sich.
»He! Konrad! Heraus mit der Mundharmonika!«
»Ich habe sie nicht bei mir!«
»Schaut den Schlaukopf! Da es ihm nicht ums Tanzen ist, sollen auch wir feiern! Heraus mit der Knittlingerin!«
»Ich habe sie nicht bei mir!«
»Glaub's, wer mag!« rief Kaspar, näherte sich seinem Kameraden, der auf einer Bank saß, und klopfte ihm auf die Taschen seines Kittels. Dann wandte er sich mit einem langen Gesicht zu den andern: »Wahrhaftig! Wer hat den Chueri je ohne seine Musik gesehen! Und grad heute muß er sie zu Hause lassen! Chueri, du bist heute Morgen mit dem linken Bein aufgestanden!«
»'s wird doch einer ein Tänzchen pfeifen können!« rief Anneli. »Wenn's keiner der Burschen tut, kann ich's zur Not.« Und sie fing an, das Liedchen zu pfeifen: »Auf und an, spannt den Hahn,« machte dazu ein paar Tanzschritte, mußte aber lachen und brach ab, und alles lachte mit dem drolligen Geschöpfchen.
Als alle ratlos dastanden und nicht wußten, was anfangen, tönte es von der Legel her: »An den alten Brändli denkt ihr natürlich nicht! Der ist altes Eisen und taugt zu nichts!«
Richtig, der Brändli! Hatte er nicht schon mehr als einmal bei einer Spinnstube ausgeholfen? Spielte er auch nur Maultrommel, was tat's? Brauchte man denn mehr als den Takt?
»Laß los, Hoffürst! Spiel' auf, daß dein Volk tanze!«
Der Lump war ganz glücklich, sich dem jungen Volke nützlich machen zu können. Lächelnd griff er in die Brusttasche seines schäbigen Rockes, nahm bedächtig ein rotes Taschentuch heraus und wickelte aus diesem seine Maultrommel. Nachdem er noch rasch einen ausgiebigen Schluck aus dem Glas gesogen und sich die Lippen abgeleckt hatte, nahm er sein kostbares Instrument zwischen die Zähne und fing an, ihm mit dem rechten Zeigefinger die einförmige Musik zu entlocken. Schon drehten sich die ersten Paare, als das Tönen wieder abbrach: »Halt! halt! Wenn Schulpflegers Chueri nicht tut, wie andere Leute, spiele ich nicht! Wenn der Hoffürst Tanzmusik macht, tanzt alles, alles!« Rief's und stieß mit seiner vom Alkohol heiseren Stimme einen Jauchzer aus: »Ju-hu-hu!«
»Halt's Maul und spiel' auf!« riefen die Burschen, denen der kreischende Jauchzer bei ihrem schlechten Gewissen nicht lieb war. Der Lump aber, der halb betrunken und, wie immer in diesem Zustande, eigensinnig war wie des Müllers Esel, beharrte auf seinem Begehren: »Tanzt der Chueri nicht, spielt der alte Brändli nicht auf!«
»Ich tu's nicht!« sagte Konrad.
Da drangen alle in ihn, er solle ihnen doch jetzt nicht den ganzen Abend verderben. Die Burschen wurden unwillig und die Mädchen vielleicht noch mehr, wenn sie es auch weniger zeigten: »Er will den ganzen Abend besser sein als wir, er ist gar nicht wie sonst! Können wir etwas dafür, daß er ein Bett mit einer Sterbenden drin erhandelt hat? Was sollen wir jetzt darunter leiden?« raunte man sich ins Ohr.
Konrad mußte endlich nachgeben. Er reichte dem ersten besten Mädchen den Arm und die Paare umfaßten sich wieder. Aber wieder protestierte der Lump: »Da wird nichts draus! Mit seiner Schäppelijungfer tanzt er! Die Scherben sollen zusammengeflickt werden! So will ich's! Ich, der Heiri!«
Alles lachte über das selbstbewußte Gebaren des Fürsten. Rosine aber huschte an Konrads Seite und flüsterte ihm zu: »Es ist nichts mit ihm anzufangen, wenn er so ist, du weißt es ja! Drum gib nach, sonst setzt es noch Händel ab, und das wäre schlimmer als ein Tänzchen. Tanze den ersten mit mir und mach' nachher, was dich gut dünkt.«
Konrad sagte leise zu sich: »Du bist der elendeste Tropf, den der Erdboden trägt,« und reichte dem Mädchen seinen Arm. Als der Lump sah, daß er seinen Willen durchgesetzt hatte, stieß er seinen zweiten Jauchzer aus: »Juhuhu!« und nun ging der langersehnte Tanz los, rasch, brausend, wild, wie der Mühlbach, wenn der Müller die Schleuse aufzieht. Die Maultrommel klang zwischen den Zähnen des Korbflickers wie das halbunterdrückte, schelmische Lachen eines Kobolds: »Ha, ha, ha!«
Die Kittel und Röcke streiften sich, die Schuhe glitten auf dem Boden, die einen flink und leicht, die andern schwer und wuchtig, und die Nägel zogen dunkle, krumme Linien auf den tannenen Brettern. Der Staub in den Fugen wurde aufgescheucht und flog erschreckt in die Zimmerluft, besonders wenn einer der Burschen, seiner Lust nicht mehr Meister, mit den Hacken wuchtig zum Takt stampfte. Der Atem flog rasch und rascher, die Wangen erglühten wie Morgenwolken, die Augen, voller Lust, schlossen sich halb, der Bursche faßte sein Mädchen fester und ihr Kopf suchte Halt an seiner Schulter; die langen Bankreihen klapperten leise und wären gerne mitgehüpft, der Stubenboden zitterte unter der Lust und wurde warm.
Die Maultrommel brach ab. Kaum gönnte man dem Musikus die Zeit, seine immer trockene Zunge zu letzen: »Hü!« rief einer zum Scherz, und »hü!« ging's weiter: auf den Walzer folgte eine Polka, auf die Polka ein Schottisch, dann ein Ländler und ein Hopser, und waren Musikus und Tänzer am Ende ihrer Kunst angelangt, so ging's wieder von vorne an: »Juhuhu!«
Konrad tanzte wie ein anderer. Es ging ihm mit dem Tanzen wie mit dem Singen: war er einmal im Zuge, so hätte der Saal einstürzen können, er hätte auf den Trümmern seine Schuhnägel geschliffen. Ja, er wurde nun gesprächig, und drehten sich die Beine nicht, so tanzte die Zunge in ihrem engen Kämmerlein. Und war das ein Wunder? War nicht die Legel mit Freude gefüllt, und hatte sich der Bursche nicht wacker an sie gehalten? Und hatte Rosine nicht das kurzweiligste Plaudermäulchen von der Welt?
Nur hie und da, wenn die Maultrommel erschlaffte, die Fußsohlen ruhten und die Stimmen sich dämpften, fuhr ihm die Erinnerung an Pauline wie ein Nadelstich durch die Brust, aber es war nur ein Augenblick: »Ha, ha, ha!« rief der Kobold in der Maultrommel! »Hü!« ging es weiter und fort war Paulinens Bild! Kann man etwas genau ins Auge fassen, wenn man sich dreht wie ein toller Kreisel? Kann die Brust fühlen, wenn sich die Seele in den Füßen zu schaffen macht? Findet der Tod ein Plätzchen, wo sich das Leben so ungestüm gebärdet?
Rasch wie der Tanz flieht die Zeit. Die Uhr an der Wand, wenn man auch bei dem Treiben ihr Ticktack überhört, eilt und eilt, wie wenn auch ihr der rasende Takt ins Räderwerk gefahren wäre, und das alte Perpendikel mit dem angelaufenen Messingknopf schlägt aus nach links und nach rechts, stramm wie ein Turner. Sie meinen's gut, das Räderwerk und die Zeiger und das Perpendikel in ihrer Sympathie mit dem jungen Volke, aber sie verstehen ihr Geschäft nicht recht: rückwärts sollten sie gehen, rückwärts an diesem tollen Abend! Erst noch hatte der Kuckuck aus seinem Häuschen gerufen: »'s ist zwei, Ihr Leut'!« und eben jetzt, eine Pause im Tanzen benutzend, knackte das alte Ding an der Wand, es warnte: in fünf Minuten ist's drei!
Erschreckt schaute alles an die Wand, als wäre dort das » Mene, Tekel, Upharsin« erschienen: »O je! Und wir sind noch nicht einmal recht im Zug! Brändli, hü! Keine Zeit verloren!«
Er aber, der bis jetzt so wacker ausgehalten, beeilte sich nicht zu sehr, er griff zum Glase, leerte es mit zitternder Hand und hätte nochmals sein »Juhuhu!« ausstoßen mögen. »Ju…« Die Stimme versagte ihm. Er versuchte es noch einmal: umsonst, seine Kehle war lahm, das Restchen Energie, das ihm noch geblieben war, wie fortgeblasen: der Wein war sein Herr geworden. Er warf das Glas auf den Boden, suchte in seiner Brusttasche nach dem roten Taschentuche und lallte: »Ich spiel' nicht mehr!«
Die Burschen fuhren ihn barsch an; er aber, seiner Wichtigkeit noch halb eingedenk, warf ihnen seine Maultrommel ins Gesicht: Maledetti villanacci!«
Die Mädchen, denen das Tanzfieber immer noch in den Füßen zuckte, suchten ihn zu beschwichtigen. Umsonst. Er ging schwankend den Bänken nach, auf denen die Gläser standen, trank eins ums andere leer und warf es dann auf den Boden, bis ihn ein Bursche etwas unhöflich am Rocke zupfte. Der Betrunkene purzelte auf den Boden hin, fing an, mit seiner lallenden Zunge zu fluchen wie ein Türke und machte gar keine Anstrengung, sich wieder zu erheben. Da sahen die jungen Leute, daß es mit dem Tanzen für diesmal aus sei; sie stellten die Bänke wieder in Reih und Glied, hoben die Wandtafel vom Fenster herunter und schickten sich an, den Heimweg anzutreten. Christian griff nach der Legel, schüttelte sie und meldete, daß noch ein Restchen Wein drin sei. Das vernahm der Lump am Boden. »Mir die Legel, Christo … mir die Legel!« Er sperrte sein Maul auf, und als Christian nicht auf ihn hörte, fing er an zu weinen und zu schreien wie ein kleines Kind: er hatte das ›trunkene Elend‹. Da packten zwei Burschen den Hoffürsten, einer am Kopf, der andere an den Füßen, und trugen ihn hinaus und hinab zu Christians Scheune. Dort warfen sie ihn auf einen Haufen Streue. Er lallte noch ein paar unverständliche Worte und schlief dann ruhig ein; er war an solches Lager und an solche Behandlung längst gewöhnt: eine königliche Seele steht über den Erbärmlichkeiten des Lebens.
Das Schulzimmer leerte sich, die Lampe erlosch von selbst. Sie war müder als alle.
Draußen vor der Treppe gab man sich die Hände, wünschte sich einen guten Tag und ging nach allen Winden auseinander. Man sputete sich, um vor dem allgemeinen Erwachen die verschiedenen Höfe zu erreichen. Jeder Bursche begleitete seine bevorzugte Tänzerin, wie dies Brauch ist, nach Hause. Konrad schritt mit Rosine dem Eichhofe zu. Das Mädchen plauderte munter, wie ein gesprächiges Wiesenbächlein, und er mit dem etwas nebligen Kopf hatte sein Wohlgefallen an dem lustigen Klingen und Singen, das ihm zur Seite schritt.
Sie traten in den dunkeln Buchenwald mit dem feuchten Lehmboden, der den Klang ihrer Schritte erstickte. Sie hörten auf zu reden und merkten es nicht. War es, weil sie den Weg im Dunkeln suchen und ihre Sinne beisammen halten mußten? War es des Waldes Feierlichkeit, die ihnen den Mund schloß?
Da glitt der Morgenwind durch das bewegliche Laub und weckte die Baumkronen, die nun einander ihre Heimlichkeiten zuflüsterten, leise, süß, geisterhaft. Was hatten sie zu plauschen und zu lauschen? Was hatten sie sich flüsternd zu sagen, was hatten sie sich hauchend zu klagen? War's Lenzeslust, was sich so geheimnisvoll von dem frischen Laub ablöste und die laue Maienluft durchtränkte? War's Lenzesschmerz, was von der Erde kühl nach den Gipfeln strebte? …
Waren Liebende in den Kronen versteckt? Oder war es der Wipfel eigenes Liebeslied, was kaum vernehmlich, aber so sehnsüchtig und weich hinunter zu der sprossenden, keimenden Erde zitterte? Und was meinten die Büsche am Wege, wenn sie die Kleider der Heimkehrenden sanft streiften, oder ihnen mit den zarten, seidenen Blättern um Wangen und Nacken strichen? Waren es wirklich Zweige mit laubigen Fittichen, oder waren es sanfte Feenhände, die so gut zu liebkosen verstanden und die Leutchen hineinlocken wollten in das lenzige Leben und Lieben der Büsche? …
Und was hinterdrein kam und ins Haar fuhr, schüchtern und schonend, und sich leicht an den Locken festhielt und neckisch, kaum merkbar daran zupfte, waren es Finger, zart und weich wie die Luft, und gehörten sie einem, zart und weich wie die Luft, der nur wartete, bis du dich wenden würdest, um dir auf die Lippen zu brennen, wild und glühend wie Feuer? …
Da klang's von einem Aste herab: »Zip! zip! zip!«
Das Pärchen unten stand still, wie auf ein Zeichen, und lauschte. Wieder erklang das »Zip! zip! zip!« und auf der andern Seite des Weges antwortete es, etwas schläfrig noch und zögernd: »Zip! zip!« »Das sind Buchfinken,« flüsterte Konrad seiner Begleiterin ins Ohr. Sie gab keine Antwort, sondern lauschte dem Erwachen des Waldes. Nach und nach stießen die Wipfel oben und die Büsche unten kurz abgebrochene Töne aus, wie erwachende Kinder: erst mit noch schlaftrunkener Kehle, dann immer munterer, die einen lustig und frisch, die andern klagend und sehnsüchtig, manche schüchtern und leis, die meisten kräftig und ohne Scheu. Rechts und links vom Wege, ganz nah, hörte man Federn, die sich auseinanderschoben. Nach den Kehlen waren auch die munteren Flügelchen erwacht und rauschten nun ein wenig in die Luft, um sich zu überzeugen, daß es noch gehe.
Es wurde den beiden Lauschern ganz weich und süß zumute bei diesem erwachenden Stammeln und Flügelschlagen des Waldes und sie horchten schweigend. Konrad merkte, wie sich das Mädchen fester an ihn schmiegte, und er hörte, daß ihr Atem rascher und lauter ging. Ein warmer Hauch flog an seinem Gesicht hinauf, und er schloß daraus, daß sie zu ihm empor oder hinauf zu den Baumwipfeln schaute, denn in dem Waldesdunkel vermochte er ihre Züge nicht zu sehen.
»Was ist dir, Rosine?« fragte er flüsternd.
»Ich fürchte mich halb, da in dem Wald drin,« erwiderte der warme Hauch, der zu ihm aufstieg.
»Sei nicht närrisch! Wenn ich bei dir bin!«
»Ach, es ist mir, ich …«
»Was ist dir?«
»Es dünkt mich, ich fürchte mich grad vor – dir, Konrad,« sagte sie zögernd und schloß sich fester an ihn an in einem unbewußten Widerspruch der Liebe. Ihr Atem flog noch rascher und der Bursche glaubte zu hören, daß ihr das Herz im Busen zitterte, wie das eines Meischens in der Hand des Vogelstellers.
»Aber wie kannst du mich fürchten und kennst mich von Jugend auf!«
»Ich fürchte dich nicht und fürchte dich doch und wollte ich wäre zu Haus. Komm, lass' uns gehen.«
Sie wollte gehen und ihr Arm zog an dem seinigen, er aber wurde eigensinnig und hielt stand:
»Was bist du ein dummes Kind, so Angst zu haben! Bin ich nicht zahm wie ein Schaf?«
»So komm, mein Schaf, und lass' uns heimkehren!«
Das Wort ›Schaf‹ hatte in ihrem Munde die Bedeutung gewechselt. Es klang ihm wie Hohn in den Ohren und wirkte wie eine Zauberformel: »Ja, sie hat recht, du bist ein Schaf!« Sein Blut fing an zu kochen, auf einen Schlag war aus dem Schafe ein Wolf geworden; durch seine Sinne, die wie im Nebel schwammen, und durch seine erhitzte Brust zuckte es wie ein unsäglicher Schmerz, den man loswerden, den man abwerfen möchte.
In diesem Augenblick brach der Fink auf der Buche, unter der sie standen, mit Macht los: »Zip! zip! zip! bin ich, bin ich froh! Es lenzt ja!«
Ja, es lenzte in der Erde und über der Erde, in den Büschen und in den Baumkronen, in den kleinen, heißen Herzen der Vögel und in der Brust des Menschenpärchens, das mitten drin in dieser Werdensfreudigkeit stand.
Aus Konrads Kehle brach's hervor, ungestüm, wild verlangend: »Rosine, Mädchen!« und sie merkte, wie sich seine Arme um sie schlingen wollten. Der seltsame Klang von Konrads Stimme brachte sie völlig zur Besinnung. Sie rief, und ihr Ruf klang wie der Schrei einer Amsel, die man zu Tod erschreckt hat: »Lass' mich, Bursche!« Damit wischte sie ihm mit einem kräftigen Ruck aus den Armen und rannte auf dem weichen Wege davon, mit vorgestreckten Händen, um nicht an die Bäume zu stoßen.
»Rosine, Mädchen!« klang es noch in ihren Ohren, keuchend, halb unterdrückt, und dieser Klang beflügelte ihre Füße. Sie fürchtete den nun wirklich, den sie liebte, und es überkam sie Reue über ihr unkluges Gebaren.
Konrad stand einen Augenblick da, verblüfft, und rief ihr nach: »Rosine, Rosine!« Sie aber huschte davon wie ein flüchtiges Reh und der Waldboden verschlang den Klang ihrer Füße. An ihrer Statt gaben Antwort die Vögel im Geäst. Konrads Ruf mußte sie vollends geweckt haben, und nun schmetterten und zwitscherten und schlugen und kreischten und tirilierten sie, was aus den Kehlen mochte und mehr, als der Wald fassen konnte, und es war Konrad, als spotteten sie seiner, der Grünspecht mit seinem auflachenden Gewieher und der Häher mit seinem schnarrenden Rrrr!
Aus all dem Wettgeschrei der Amseln, Drosseln, Meisen und Rotkehlchen heraus vernahm Konrad besonders den Zuruf des Finkleins auf der Buche:
»Hi! hi! hi! Fang' sie doch ein! Es lenzt ja!
Hi! hi! hi! sei nicht so blöd, es lenzt ja!
Eins, zwei, drei! lüpfe die Füß', es lenzt ja!«
Und er fing an zu laufen, Rosine nach, und die Buchen über ihm und hinter ihm kicherten, wie er o sprang:
»Hi! hi! hi! Alles ist närr'sch, es lenzt ja!
Hi! hi! hi! Liebet, o liebt! Es lenzt ja!«
Als Konrad aus dem Wald herausbrach, flog ihm das graue Morgenlicht entgegen und fünfzig Schritte vor sich sah er Rosine durch das Halbdunkel jagen. Er rief ihr wieder, sie kehrte sich nicht daran und fing auf dem schmalen Weg noch schneller zu laufen an, mitten durch die Roggenäcker, die im Frühwind zitterten. Der Bursche wurde immer heißer in seiner Jagd, er mußte sie einfangen! Schon näherten sie sich dem Eichhofe, da, unter Jörlis mächtigem Nußbaume, erlangte er sie, seine Arme schlangen sich um sie: »Hab' ich dich endlich, du Teufelchen!« Sie gebärdete sich wie eine Wildkatze, die man in einen Sack stecken möchte, und eine Angst, die Angst des unentweihten Mädchens schrie ihn an aus der keuchenden Brust: »Was willst du?«
Er wußte nichts zu sagen als: »Rosine, Rosine!« und schloß seine starken Arme fester zusammen. Dabei suchten seine Lippen ein passendes Plätzchen an ihrem Kopf, um sich festzusaugen. Sie zitterte und wand sich, und der Zorn lohte aus ihrer Frage: »Was willst du von mir?« Er war nicht in der Laune nach einer Antwort zu suchen, er mochte meinen, seine Arme verständen jetzt ihr Geschäft besser als seine Zunge, und wirklich, sie machten so treffliche Arbeit, daß Rosine bald ohnmächtig war wie ein Eisenstück in einem Schraubstock, und schon fühlte sie des Burschen heiße Lippen auf ihrem Nacken brennen. Da machte sie noch eine letzte Anstrengung und schrie ihn an: »Ein schlechter Kerl, der sich so benimmt! Hör' auf oder ich schreie, daß der ganze Hof erwacht!«
»Was will ich denn Schlechtes?« keuchte er in seiner Leidenschaft.
»Was ein rechter Bursche ist, küßt nur seine Braut!«
»Und so auch küss' ich dich!« rief er ohne Überlegung und setzte wieder seine Lippen auf den unwilligen Nacken.
Da drehte ihm das Mädchen das Gesicht zu: »Ist das dein Scherz oder ist's dein Ernst?« und sie zeigte ihm das Weiße der dunkeln Augen.
»Mein Ernst!« rief Konrad, dem das Buchenlaub die Besinnung abgewischt hatte.
»Schwörst du's bei deiner Ehre?«
»Bei jedem heiligen Namen!«
Da wehrte sie sich nicht mehr: »O, Konrad.«
Und nun fiel es über beide wie ein Rausch, ein dämmernder Taumel, ein Versinken in ein Meer von Wonne. Ihre Lippen fanden sich und fügten sich fest zusammen, und aus ihren Kehlen klang ein verhaltenes Murmeln: es war das Glück, das sich in ihre Brust genistet hatte und nun einen Ausweg suchte, um in die Welt hinauszuschreien: »Glück! Glück!«, dem aber die Schranken der Lippen den Ausweg versperrten und es in die Brust hinabbannten, aus der es aufs neue loszubrechen suchte. Und die Brust, voll der eingesperrten, unbändigen Lust, voll des mächtig geflügelten, aber gefesselten Jubels, wogte wie die See im Sturm und wollte zerspringen.
Wie lange standen sie da, Brust an Brust, Lippe an Lippe, Atem in Atem? War's ein Augenblick? War's eine Stunde? War's eine Ewigkeit? Sie hätten's nicht zu sagen vermocht.
Plötzlich fuhr es durch Konrad wie ein lähmender Schlag und ein Schmerz durchzuckte ihn, als hätte er flüssiges Erz getrunken. Paulinens Bild hatte wie ein Wetterleuchten in seine Seele gezündet, und nun war er nüchtern auf einen Schlag: nüchtern vom Wein, nüchtern von der Liebe. Fort war der Taumel, und die Lust fort! Die eben noch so volle Brust war leer wie ein ausgebranntes Haus.
Wie er Rosine verließ, er wußte es nicht. Er eilte querfeldein, seinem Hofe zu, über die Matten hin und durch die Kornfelder und achtete des kalten Taues nicht, in dem er sich bis an die Knie badete. »Oh, ich Elender! Oh, ich Elender!« stöhnte er. »Noch ist sie nicht unter dem Boden, und ich habe ihr schon die Treue gebrochen!«
Nachdem des Lebens Himmel sich über ihm geschlossen hatte, brach unter ihm des Lebens Hölle auf, ein schwarzer, schmutziger Sumpf, und ihm wäre recht gewesen, der Pfuhl hätte ihn hineingezogen und ihn ertränkt, ihn und auch den Ekel, den er vor sich selber empfand. »Oh, ich Elender, ich Elender!«
Es war schon heller Tag, als er sich dem Vaterhause näherte. Wenn nur noch niemand wach war, er hätte seinem Vater oder seiner Mutter nicht begegnen mögen. Er trat deshalb nicht durch die Haustüre ein, sondern schlich sich ums Haus herum, nahm die Leiter, die ans Scheunentor angelehnt war, und stellte sie an die Mauer, unter sein Kammerfenster. Als er hinaufstieg, um sich ungesehen wie ein gehetzter Fuchs in seinem Schlupfwinkel zu verkriechen, ging das Fenster nebenan auf und heraus streckte sich lachend ein junger rotbackiger Mädchenkopf. Es war Konrads Schwester Marie, ein Mädchen, das seit einigen Wochen den Konfirmandenunterricht besuchte. Die beiden verstanden einander trefflich und hatten, ohne es zu wissen, eine Art Schutz- und Trutzbündnis miteinander geschlossen: den Bund der Jungen gegen die Alten. Konrad stand einen Augenblick auf der Leiter still und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Mariechen, zum Zeichen des Einverständnisses, deckte sich die Augen mit der Hand und lächelte: »Unbesorgt! Ich habe nichts gesehen!« Dann verschwand das rosige Köpfchen vom Fenster. Konrad schwang sich in die Kammer, gab der Leiter einen kräftigen Stoß mit der Hand, so daß sie sich rückwärts überschlug und ins Gras legte. In dem Augenblicke hörte er vor seiner Kammertüre, auf dem Gang, polternde Tritte von Holzschuhen, die die Treppe hinunter donnerten, durch die Küche klapperten und sich in der Scheune verloren. Es war der Schulpfleger Ruedi, Konrads Vater, der nach seinem Vieh sah, während sein Sohn sich ächzend aufs Bett warf, ohne sich die Mühe zu nehmen, die Kleider auszuziehen.
Konrad hätte gern seinen wüsten Kopf ausgeruht, aber er fand den Schlaf nicht, denn seine schmerzenden Gedanken ließen sich nicht einlullen. Sie waren erbarmungslos und rissen und zupften an seiner Seele wie mit glühenden Zangen. Er schloß die Augen und wälzte sich stöhnend von einer Seite zur andern, und bei jedem Atemzug war ihm, es reiße ihm in der Brust eine Faser entzwei. Und wie er so nach Schlaf und Ruhe rang und die Qual niederkämpfen wollte und alles nichts half, kam über ihn eine helle Wut gegen die Urheberin all seines Wehs.
»Du hast es so gewollt und mit Weiberschlauheit von langer Hand so gefügt! Überlistet, überrumpelt, den Sack über die Augen geworfen hast du mir, du kleiner Satan! – Du hast mir schon lange nachgestellt, das hab' ich wohl gemerkt, und jetzt hast du den Gimpel ins Garn gelockt! Oh, ich Narr! ich Narr! – Daß ich mit ihr tanzte, mit ihr nach Hause ging, mit ihr auf die vermaledeiten Waldfinken horchte, ihr nachjagte, als trüge sie das Heil meiner Seele im Sack herum, und daß ich ihr den Willen tat und sie einfing! Oh, ich Narr, ich Narr, ich Narr! Und ich hab' ihr mein Wort verpfändet! – Aber nein, so weit soll's nicht kommen! Die Freude soll sie nicht haben! Die nicht! Ist es leicht, ein Band zu knüpfen, so ist es nicht um einen Deut schwerer, es wieder zu …«
Er machte den Gedanken nicht fertig, denn in seinem Geist dämmerte ein anderes Bild herauf, der Nußbaum und in dessen Dunkel ein Paar: Rosine in seinen Armen, erst wild, dann zahm und fest an ihn geschlossen, und der Drang ihrer Lippen eins und eins der Flug ihrer Herzen. Nun kam ihm allmählich die Wahrheit: der kleine Teufel war in sein Herz gestürmt und klammerte sich fest und wird sich nicht mehr vertreiben lassen. Die alte und die neue Liebe stritten sich in ihm, und er fühlte wohl, wohin sich der Sieg neigen werde, wohin er sich bereits geneigt hatte, und das gerade machte sein namenloses Wehe: hier Liebe und Leben, dort Liebe und Tod, hier lohe Glut, dort kalte Verwesung, der Kampf war zu ungleich!
Er konnte Rosine nicht mehr zürnen, wie er gerne gewollt hätte, alle Schuld war ja in ihm, er war ein schwaches, leichtes Blatt, das mit dem Wind flog, der just der stärkere war. »O Pauline, Pauline, Pauline!« Und er fühlte, wie ihm die Augenwimpern, wie sehr er sich auch wehrte, zu zucken begannen und ihm die Tränen über die Wangen nach den Mundwinkeln schlichen, salzig, brennend.
Während er so dalag, drang von unten aus der Küche ein Gespräch zu ihm hinauf, wie der Klang von zwei Saiten, einer gespannten, singenden, und einer schlaffen, schnarrenden:
»Was, steht der Bub heut nicht auf? Was ist das für eine neue Ordnung?«
»Sie haben ja gestern geschäppelt, da wird's etwas spät Feierabend gegeben haben!«
»So? Und nun sollen wir Alten dafür herhalten und unsere alten Knochen tanzen lassen? Verträgt er's nicht so lang aufzubleiben, so halte er's mit den Hühnern und lege sich beizeiten aufs Stroh! Reich' mir da deinen Besen, ich will ihm an die Diele klopfen!«
»Nein, Vater, lass' ihn schlafen, ich will schon helfen melken und das Vieh tränken. Und wenn's auch heut etwas später wird als sonst, was tut's, 's ist ja Sonntag!«
»Nein, nein! Der Faulpelz soll mir heraus, gib her den Besen!«
»Lass' ihn doch schlafen, Vater, er muß ja heute noch mit Kellerjakobs Pauline ans Grab, er ist Leichenträger und da soll man nicht sagen, Schulpflegers Chueri habe ein Gesicht gemacht wie eine Milchsuppe und habe einmal übers andere gegähnt! Auch muß er in der Kirche singen, und hat man nicht ausgeschlafen, so bringt man keinen rechten Ton heraus, ich weiß das! Geh' jetzt nur, ich wecke ihn schon, wenn's Zeit ist!«
»Du hältst immer zu ihm,« brummte der Alte, als er mit seinen schweren Holzschuhen in die Tenne hinausklapperte.
Konrad hatte das Gespräch Wort für Wort verstanden, es hatte ihn von seinen quälerischen Gedanken abgelenkt. Die Parteinahme des Schwesterchens tat ihm wohl, und wohl mochten ihm auch die Tränen tun, und der Körper, diese Pause im Kesseltreiben der Seele benutzend, machte sein Recht geltend: der Alte hatte im Stall draußen noch nicht nach dem Melkeimer gegriffen, als Konrad in seiner Kammer tief zu atmen anfing und Leib und Seele für einmal Ruhe hatten.
So lag er etwa eine Stunde. Er erwachte an dem alten Seelenschmerz, der, die Müdigkeit endlich überbietend, wieder hervorbrach, wie ein Stück Holz an die Oberfläche steigt, wenn die Hand erlahmt, die es unter Wasser halten sollte. Der beklemmende Kampf begann aufs neue, und Konrad, um ihm zu entrinnen, sprang von seinem Lager auf, und nie sah man ihn emsiger in der Scheune arbeiten als an diesem Morgen.
Paulinens Beerdigung fand, wie es auf den Höfen Brauch ist, am Vormittag statt. Um acht Uhr versammelten sich die Verwandten, die aus dem Dorfe heraufgekommen waren, in Jakobs Stube, während draußen auf der Hofreite die ins Leid geladenen Höfler in größeren oder kleineren Gruppen herumstanden, die einen schweigsam, wie sie in Gesellschaft des Karstes und der Schaufel geworden waren, die andern mit gedämpfter Stimme plaudernd, vom Pflügen und Säen, von Apfelblust und Heugras. Jede Haushaltung war wenigstens durch ein Glied vertreten.
Die Burschen und Jungfrauen bildeten eine Gruppe für sich und scharten sich um das Schäppeli. Vier Burschen, von den stattlichsten und stämmigsten, traten ins Haus und holten auf einer Bahre den schwarzen Schrein heraus. Er wurde in die Mitte der Hofreite gestellt, und die rührigen Hände der Mädchen umwanden ihn liebevoll mit den Kränzen, deren grüne Blätter und Ranken dem Tod sein Grausen nahmen. All die jungen Leute machten ernste Gesichter, und man sah es ihnen nicht an, daß sie vor wenigen Stunden noch getanzt und getollt hatten, als ob auf dieser Erde keiner herumginge, der uns Tropfen um Tropfen in den Becher gießt, bis es endlich genug ist und wir den Weg gehen, den Pauline eben antrat.
Auch Rosine war da in ihrem schwarzen Kleide. Sie hielt das Schäppeli in der Hand, denn als die Stattlichste von allen, war sie dazu erkoren worden, das Kreuz dem Sarg vorauszutragen. Es gab niemand auf dem Platze, der nicht von Zeit zu Zeit einen Blick nach ihr geworfen hätte, denn auf den Höfen war es eine Ehre, ›Schäppelijungfer‹ zu sein, und mehr als einer flüsterte seinem Nachbar zu: »Wie nur der klobige Jörli zu so einer hübschen und manierlichen Tochter kommt!«
Natürlich erzählte man sich auch, daß Rosine und Schulpflegers Konrad das Glas zerbrochen hatten, und das gab Anlaß zu allerlei lauten und leisen Betrachtungen: »Ob's die Schulpflegerin gern haben wird? Sie sieht noch nicht aus, als wollte sie das Heft aus der Hand geben! Ja, und der Jörli, der könnte sein Kind auch noch brauchen zu Haus. Und das Geld erst für die Aussteuer, der wird's zwischen den Fingern herumdrehen! Der Narr, und hat alle Kästen voll!«
Die Verwandten traten heraus. Voran die Männer, Kellerjakob an der Spitze, wie ein Stab, den man in der Mitte geknickt hat; hinterdrein Züsi mit den Frauen. Das arme Mütterchen hielt sich ein weißes Taschentuch vors Gesicht, und es schüttelte sie wie vor Frost. Alle Häupter entblößten sich.
Die Verwandten stellten sich in eine Reihe, und nun schritten die andern mit langsamen Schritten an ihnen vorbei, gaben jedem die Hand und sagten: »Gott ergetz' euch 's Leid.«
Vier Burschen, unter denen Konrad sich befand, hoben hierauf die Bahre auf die Schultern, während vier andere sich ihnen zur Seite stellten, um sie von Zeit zu Zeit abzulösen. Die Schäppelijungfer stellte sich bescheidentlich vor den Sarg, und nun ging es langsam davon, dem Tale zu.
Auf den Sarg folgte das ledige Volk, Paulinens Jugendfreunde und -freundinnen; ihre Reihen verhüllten den unglücklichen Eltern die Bretter, die ihr einziges Kind bargen. Hinter der Jugend kamen die Männer und den Schluß des Zuges bildete Züsi mit den Weibern. Hie und da, besonders wenn man durch ein Gehöfte schritt, schlossen sich neue Trüppchen an oder auch nur ein einzelnes altes Mütterchen oder ein von der Arbeit bucklig gewordenes Männchen, denen der Weg zu Jakobs Heim hinauf zu weit gewesen war. Wo der Zug sich mit dem Wege bog, blickten manche zurück, musterten das dunkle Band, das sich zwischen den Wiesen und Äckern und blühenden Apfelbäumen hinzog, und schüttelten den Kopf, denn es waren große Lücken in den Reihen entstanden. Einige Weiber watschelten beständig zehn oder zwanzig Schritte hinterdrein und murrten über das junge Volk, das nicht wisse, was für eine Gangart sich für ein Begräbnis schicke. Die andern, die an dieser Unordnung unschuldig zu sein glaubten, deuteten mit einer Bewegung des Kopfes auf die zerrissenen Reihen und raunten sich zu: »'s muß bald wieder eins den Weg, wem mag's dann gelten? Behüt uns Gott.« Denn man glaubt auf den Höfen, der Tod weile bei einer Leiche, bis sie bestattet sei, und folge dem Leichenzuge bis ans Grab. Entstehen in diesem Lücken, so nehme er die Gelegenheit wahr, dränge sich zwischen die Reihen hinein und wem er da zur Seite trete, dem möge Gott gnädig sein.
Konrad schritt vorn. Auf der rechten Schulter trug er einen Arm der Bahre. Wenn er vom Wege aufsah, fiel sein Blick auf Rosine, die mit gesenktem Kopf sinnig vorausschritt. Unter der Last seiner toten Braut, von deren blasser Wange die seinige nur durch ein Brett getrennt war, und an den Fersen der lebenden kämpfte der Bursche seinen mühsamen Kampf weiter. Der Gang ins Kirchdorf schien ihm ein Gang in die Ewigkeit, länger als all das Leben, das er bis jetzt durchschritten hatte, und bitter, oh, bitter! Das Bräutchen auf der Achsel drückte ihn nicht, wie hätte sie drücken können, die sanfte, gute Pauline? Ihn drückte das Gewissen, auf ihm lag wie ein Berg die Erinnerung an die letzte Nacht.
Und der Weg, auf dem er ging! Wo der Blick sich seitwärts wendete, links, rechts, überall traf er auf einen Fleck, der an die Jugendjahre gemahnte, an die Zeiten, da er mit Pauline zur Kirche oder zur Unterweisung oder zum Tanze ging: hier der Kirschbaum, mit dessen Früchten sie sich im Sommer, ohne lang zu fragen, die trockenen Zungen letzten, dort am Bach die Buche, in deren Rinde, freilich weit auseinander, ein K und ein P mit ungeschickter Hand eingeschnitten waren. Jetzt wußte er, warum das P jeden Frühling, wenn der Saft in den Bäumen stieg, feucht wurde und zu weinen anfing. – Auf der sumpfigen Wiese, jetzt im Gras versteckt, lag des Hubbauers ›Roos‹, wo sich das Mädchen den Tod geholt hatte, und nun schlich der Leichenzug an der Halde hinunter, an deren Fuß, an der Kirchweih, sich ihr das herbe Wort ›sterben‹ aus der erschöpften Brust herausgerungen hatte …
Was hatte er ihr damals gesagt? »O, ich Elender, ich Elender!« Wie manchmal wünschte er auf diesem martervollen Gange an ihrer Stelle zu sein; aber wenn dann sein Auge auf die Gestalt fiel, die vor ihm wandelte, schlich sich die Liebe neben den Tod und schüchtern, aber unabweislich, berührte sie ihm den Mund, und es war Rosinens Mund in der vergangenen Nacht. Dann fuhr mitten durch seine Qual ein Funke, ein Aufflackern der sich durchringenden Liebeswonne, wie ein Sonnenstrahl durch eine Wetterwolke. Und wie der Sonnenstrahl auf den dunkelen Wolkengrund den leuchtenden, farbigen Bogen wirft, so der Liebesfunke in Konrads Brust die schillernde Ahnung versöhnlichen Glückes.
»Verzeih' mir, verzeihe, Pauline. Es ist stärker als ich!«
Unten im Dorfe, auf dem Friedhofe, stellte man die Bahre neben das Grab. Dann öffnete man den Sargdeckel, und wer die Tote noch einmal sehen wollte, trat herzu und warf einen Blick in den schwarzen Schrein und auf das stille, blasse Gesicht.
Auf dem langen Wege hatte sich Konrad oft gesagt: »Du darfst ihr nicht einmal einen letzten Blick ins Grab geben, du Nichtswürdiger!« Jetzt aber, am Rande der gähnenden Grube, an der düsteren Pforte der Ewigkeit, wurde es ihm leichter, und es schien ihm, sein Herz habe sich wieder ganz seiner Jugendliebe zugewendet und des anderen Mädchens Bild sei aus seiner Brust geflohen. Er wollte vor Paulinen hintreten und ihr bedeuten: »Ich bin wieder zurück!« Von ihm sollte sie den letzten Erdenblick empfangen, von ihrer einzigen Liebe den Scheidegruß.
Der Kellerjakob und sein Züsi waren in die Kirche gewankt, von den Verwandten sachte hinweggeschoben, und alles Volk war ihnen nach und nach gefolgt. Konrad war, wie er sich vorgenommen, der letzte, der in den Sarg schaute und er konnte den Blick von den teuren Zügen nicht abwenden. Einige Schritte von ihm entfernt stand Rosine, denn sie mußte das Schäppeli während des Gottesdienstes hüten, es vor dem Ausläuten auf das frische Grab pflanzen und auf die braune Erde ringsum das verhüllende Grün der Sargkränze werfen.
Sie sah, wie Konrad mit Wehmut zu der Toten herabschaule und die zuckenden Lippen zwischen die Zähne klemmte. Wahrhaftig, er rang mit den Tränen!
Da ging Rosine ein Licht auf, und eine schmerzliche Gewißheit kam über sie. Sie begriff auf einen Schlag, warum er am Abend vorher nicht singen und nicht tanzen wollte, warum er seine Musik nicht in der Tasche trug. »Oh, ich habe nicht gut an ihm gehandelt.«
Zugleich fühlte sie, daß er ihr noch nicht von Herzen gehöre, und da erst ward ihr klar, wie lieb sie ihn hatte. Der Gedanke, den wieder verlieren zu müssen, den sie so wenige Augenblicke besessen hatte, machte sie namenlos elend. Aber sie gewann über sich einen Sieg, der ihr vielleicht nur im Angesicht des Todes gelingen konnte: sie trat vor den Geliebten hin und mit leiser, zitternder Stimme sagte sie zu ihm: »Konrad, ich gebe dir dein Wort zurück. Werde ihr nicht schon am Grabe untreu, sie war besser als ich.«
Konrad erwachte aus seinem Brüten; er sah dem Mädchen ins Gesicht und gewahrte, wie über ihre Augen sich ein feuchter Schleier senkte, und es lag in den schönen, dunkeln Sternen so viele Liebe und Treue und Ehrlichkeit, und es sprach aus der Stirne darüber soviel gesunde Kraft, daß, eh' er sich's versah, der Entschluß gereift war. Er streckte Rosine über den Sarg hinweg die Rechte entgegen: »Bleib' mir treu bis übers Jahr, ich muß es erst überwinden!« Rosine blieb unbeweglich.
»Fasse sie an, sie ist dein.«
Nun tat sie, wie er sie geheißen, und die beiden hielten sich einen Augenblick wie mit Zangen fest, während ihre Augen ineinander lagen.
Konrad trat in die Kirche. Als einige Minuten später der Totengräber mit seinen Gesellen nahte, um die Leiche zu versenken, fand er Rosine am Sarge kniend. Die Tränen rollten ihr von den Wangen, fielen hinab in den schwarzen Schrein und benetzten das Kissen der schlummernden Pauline, deren halb geöffneter Mund etwas zu sagen schien. Was? Eine Klage oder Anklage war es nicht, dazu waren ihre Züge zu friedsam. Es wird wohl ein Wort des Verzeihens gewesen sein.