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Auf die Alp Chermontane war ein schweres Wetter niedergeprasselt. Jetzt schneite es durch die Augustnacht wie im Jänner. Am Herdfeuer der Hütte saß der Hirt und trocknete sich die Kleider, während der alte Guignard, der Senn, noch eine Weile hin und her schlarfte und dann mit einem kurzen bonsoir verschwand. Er hatte sich sein Lager ein für allemal im Stall bei den Kühen zurechtgemacht; der Sonderling fand es dort behaglicher als im Heu.
Der Hirt, Léon Lapierre, war im Winter Schulmeister unten in Lourtier und verdingte sich für den Sommer auf die Alp. Jetzt, bei dem ungastlichen Wetter, sann er etwas trübselig an seine Schulstube im Tal, und es ging ihm wirr durch den Kopf von Abc und Einmaleins, von Viehtrift und Wellgrubfeuer. Da hörte er draußen Schritte und ein unsicheres Tasten. Er öffnete behutsam die Türe. Das spärliche Licht des Feuers fiel auf die glänzenden Knöpfe einer Uniform und das Metall eines Gewehres. » È permesso?« tönte es aus der Nacht. Es war ein italienischer Grenzwächter. Er trat herein und stellte sein Gewehr in eine Ecke. Der Schulmeister und Hirt empfing ihn mit Mißtrauen. Was hatte der Blaue auf Schweizerboden zu schaffen? Er erklärte sich: er habe sich in dem dicken Gewitternebel verirrt und sei gezwungen, hier um Obdach zu bitten, obschon er wisse, daß das gegen sein Reglement verstoße.
Es war stockdunkle Nacht, der Hirt konnte den Verirrten nicht in den nassen Schnee und die Finsternis hinaustreiben und lud ihn ans Feuer.
Der Grenzer tat sehr freundlich und war gesprächig. Als die allgemeine Unterhaltung zu stocken anfing, lenkte er seine Worte wie von ungefähr auf die Schmuggler: ob sie sich häufig sehen ließen, und ob sie in der Hütte einkehrten. Der Hirt tat anfänglich, als hörte er die Fragen nicht, der andere aber ließ ihn nicht los. »Ja nun,« sagte Léon endlich, »es gehen hier dann und wann Leute vorbei, die Schmuggler sein könnten, aber sie beichten mir nicht und ich frage niemand nach seinem Gewerbe. Ich habe anderes zu schaffen, als zu spionieren!«
»Kennt Ihr den Giacomo Noli?«
Den kannte er freilich, aber er tat nicht dergleichen. Wer hätte ihn nicht gekannt, wenigstens dem Namen nach, den verwegensten Schmuggler und waghalsigsten Wilddieb weit und breit. Man nannte ihn nur den ›Teufel‹. Freilich kannte ihn Léon, den roten Burschen, mit den knorrigen Armen, die den Ästen einer Eiche glichen, und er dachte: »Aha, auf den hast du's abgesehen! Hüte dich, Junge, ›der Teufel‹ läßt sich nicht fangen wie eine einfältige Maus oder erschießen wie ein herrenloser Hund! Ein Gemsbock oder ein Grenzjäger, was liegt dem daran!«
Der Grenzer legte sich neben den Hirten ins Heu. Etwa um die zweite Stunde wurde Léon durch ein unheimliches Ächzen und Stöhnen geweckt. Es war sein Schlafkamerad, dessen Brust rang und arbeitete, als hätte einer das Knie darauf gesetzt. Léon tastete in der Dunkelheit nach ihm und rüttelte ihn. Da fuhr er in die Höhe: »Lass' mich, Giacomo, lass' mich in aller Heiligen Namen!« schrie oder stotterte der Halbwache in Todesängsten. Léon zündete die Laterne an. Der Grenzer saß halb aufgerichtet im Heu, bleich, mit verstörtem, stierem Blick und immer noch keuchender Brust. »Ihr habt von Giacomo Noli geträumt?« fragte der Hirt.
Der Blaue gab keine Antwort, sondern murmelte für sich: »Santa Maria, Madonna santa!« vergrub sich wieder ins Heu und schlief ein, oder tat doch so.
Am Morgen, als Léon erwachte, war er verschwunden. Im frischen Schnee sah man die Spur seiner Tritte, die nach der Paßhöhe führte. Eine grenzenlose Unruhe packte den Hirten. »Da spielt sich etwas Unmenschliches ab,« dachte er und vermochte nichts zu schaffen, und wo er hintrat, sah er den Grenzwächter und den ›Teufel‹ vor seinen Augen. Er machte dem alten Guignard einige Andeutungen, aber der hörte nicht darauf. Was kümmerten ihn die Menschen und ihr Tun, er lebte mit den Tieren. Schließlich hielt es Léon nicht mehr aus, er stieg, den Spuren im Schnee folgend, bergan. Etwa eine Stunde weiter oben führte ein unbegangener, gefährlicher Pfad den Bergabhang entlang und dann über den Gletscher talwärts, Fionnen zu. Dort entdeckte er den Blauen; er saß hinter einem Felsen, starrte unbeweglich nach dem Gletscher hinüber und reckte sich von Zeit zu Zeit leicht empor, lauernd wie eine Katze. Er flößte Schauder ein, dieser kaltblütige Menschenjäger, und Léon dachte: »Ganz recht, daß dir der ›Teufel‹ den Schlaf versalzt!« Er verbarg sich und war entschlossen auszuharren, bis sich etwas ereignen würde; aber er wartete zwei, drei Stunden – nichts! Er fror entsetzlich an die Füße, die im Schnee staken. Endlich gab er es auf und kehrte zurück.
Der andämmernde Abend brachte wieder Unwetter. Der Wind heulte in den Schindeln und Dachsparren und die ganze Hütte stöhnte. Der Schulmeister und Hirt überwachte die Milch, die in einem Kessel über dem Feuer leise sang, der alte Guignard spülte, an der kalten Pfeife saugend, eine Brente. Die Türe knarrte, kaum hörbar. Léon wandte sich um und begegnete zwei bösen Schlangenaugen, die zwischen einer Hutkrempe und einem struppigen Bart hervorzuckten und gleich wieder verschwanden, wie von einem Windstoß angefachte und wieder ausgeblasene Flammen.
»Der ›Luchs‹ ist vor der Türe,« redete Léon dem Alten zu. Der verzog sein sonst ausdrucksloses Gesicht, fuhr aber in seiner Hantierung weiter und blinzelte nur ab und zu nach dem Eingang. Als der Bart wieder erschien, rief er mit seiner mürrischen Stimme: » V'nez toujours.«
Nun schob sich die Gestalt herein, finster, räuberhaft, wie man sich einen Verbannten aus der alten Zeit vorstellt; dem unheimlichen Gast folgten zwei jüngere. Alle drei trugen schwere Säcke, die sie in eine Ecke niederließen. Sie gingen in halb zerlumpten Kleidern und trugen verwetterte, formlose Hüte, um die rote Schnüre liefen. In den Händen drohten ungefüge Knüttel. Sie hockten sich ans Feuer, und bald fingen ihre durchnäßten Kleider zu dampfen an. Der ›Luchs‹ mochte fünfzig Jahre alt sein. Der wirre Bart wucherte auf seinem Gesichte so üppig, daß man unter dem Hut nichts vom Gesichte sah als eine knorrige, etwas gerötete Nase und den bösen Glanz der Augen. Die beiden andern waren Burschen von etwa sechzehn Jahren. Der erste Flaum sproßte ihnen und umfaßte ihr Gesicht mit einem gelblich schmutzigen Rahmen. Sie glichen sich wie die linke Faust der rechten, es mußten Zwillinge sein. Waren in dem Gesicht des Alten Roheit und Schlauheit gepaart, so machten die Jungen mit den rissigen Lippen, den plattgedrückten Nasen und den mächtig herausdrängenden Kinnladen den Eindruck von stumpfsinnigen, gefräßigen Tieren.
» Du lait chaud?« fragte unwirsch das graue Hüttenmännchen nach einer guten Weile.
Der Unheimliche stieß ein scharfes » si« hervor. Er hatte die Frage wohl schon lange erwartet. Er warf nun seinen Wettermantel über die Schultern zurück, so daß die markigen Arme, die gewaltigen Schultern und, da Kittel und Hemd offen waren, die stark behaarte graue Brust frei wurden.
Der Schulmeister reichte ihnen Milch in einem großen hölzernen Geschirr, das der ›Luchs‹ seinen Buben zuschob, während er selber eine Schnapsflasche aus dem Kittel zog und deren Mündung in der Wirrnis seines Bartes verschwinden ließ. Die Jungen tranken nacheinander aus der Melchter wie das Vieh, in langen Zügen, und starrten dabei steif in das Gefäß. Man hörte die Milch wie ein Brünnlein durch ihren Hals gurgeln. Der alte Guignard war unvermerkt hinausgeschlichen und erschien nicht wieder. Es war ihm in der Gesellschaft seiner Gäste unheimlich geworden. Der Schulmeister dachte an den Grenzwächter. Wenn er wieder käme? Es würde auf Tod und Leben gehen. Er stand auf und schob den hölzernen Riegel vor die Türe.
Die Hütte wurde schweigsam. Die drei Schmuggler hatten ihre Pfeifen angezündet und schauten stumm vor sich hin, nur der Alte drehte manchmal seine dunkeln Augen schnell wie der Blitz in alle Winkel der Küche, wie aus Gewohnheit. Einer der Jungen vergaß bald an seiner Pfeife zu ziehen und begann zu schnarchen. Er hatte der behaglichen Wärme nicht widerstehen können. Der ›Luchs‹ sah sich nach ihm um, brummte etwas in seinen Urwald und griff gemächlich nach seinem Stock, den er wuchtig auf den Rücken des Buben niederschwang. Der Getroffene stieß einen tierischen Schrei aus und schoß auf. Als er aber sah, wer ihn so unsanft berührt hatte, und ferner sah, daß der Stock des Alten nicht übel Lust zeigte, noch einmal zu tanzen, duckte er sich knurrend nieder, mit eingezogenen Achseln. Sein Bruder sah ihn an und lachte dumm, wobei er die Faust vor die Zähne hielt.
Dann wurde es wieder still. Auf einmal klopfte es, ohne daß man vorher Schritte gehört hätte. »Es ist der Grenzer!« dachte der Schulmeister und überlegte, wie er ein Unglück verhüten könnte. Da erdröhnte die Hütte von einem gewaltigen Faustschlag, der hölzerne Riegel krachte entzwei, und die Türe sprang knarrend ins Haus. Über die Schwelle trat mit einem grimmigen Fluch und einem übermütigen Lachen der ›Teufel‹. Er brachte die mächtige Last, die er auf den Schultern trug, kaum durch die niedrige Türe.
»Schad' um deinen Riegel,« höhnte er den Schulmeister. Dann zu seinen Gefährten: »Da hab' ich ihn!« Er wies auf seinen Hut, der ganz voll Schmutz war und den ihm der Sturm wohl unterwegs vom Kopf gerissen hatte. »Bis in den Bach hinab mußte ich dem Satan nachklettern!«
Der ›Luchs‹ bot ihm Schnaps an und er trank einen langen Zug, bevor er seine mächtigen Glieder am Feuer ausstreckte. Wie ein Felsblock saß er da, ein Stück unbändiger Kraft. Das Wasser floß ihm aus den Kleidern, er beachtete es nicht.
Der Schulmeister überlegte, wie er einen Zusammenstoß mit dem Grenzer verhüten könnte. So widerlich ihm die Gesellen waren, er mußte sie warnen.
»Ihr habt eine gute Nase gehabt,« sagte er zu ihnen.
»Wie meinst du das?« fragte der ›Teufel‹ aus einem Mundwinkel.
»Oben hätte Euere Haut leicht Löcher bekommen können.«
»Ist ein Spürhund oben?«
»Könnte wohl sein!«
»So? Etwa ein Junger? Etwa mit schwarzem Haar im Gesicht? Etwa mit einer Schmarre über den Augen?«
»Von meiner Größe, aber schmäler über die Brust.«
»Er ist's!« sagte der ›Teufel‹ halblaut zu seinen Gefährten, und dann zum Hirten: »Wo sahst du ihn?«
»Oben, wo man nach dem Gletscher abschwenkt.«
»Sollen wir …?« raunte der ›Luchs‹ dem ›Teufel‹ mit funkelnden Augen zu.
Dieser warf Léon einen Blick zu, den jeder verstanden hätte und der sagen wollte: »Jetzt geht dich unsere Rede nichts mehr an!«
Der Hirt ging in den Milchgaden hinüber, aber die Neugier trieb ihn, das Ohr an ein Loch zu legen, das durch das Herausfallen eines Holznagels in der Bretterwand entstanden war. Da hörte er, wie der ›Teufel‹ halblaut sagte: »Glaubst du, ich woll' ihn aufstöbern und hinterlistig überrumpeln etwa wie ein Gemstier? Treff' ich ihn einmal durch Zufall …«
Er machte den Satz nicht fertig, sondern schnalzte mit der Zunge, wie wenn man ihm einen Leckerbissen vorgesetzt hätte.
»Vergiß nicht, daß er ein Gewehr hat, das auf tausend Schritte trägt, und wir mit unseren Pistolen …«
»Du sprichst wie ein altes Weib! Hätt' ich nichts als etwa einen Stein in der Hand, ich wiche dem Serbling nicht aus, und hätt' ich keinen Stein, müßt's nicht mit den nackten Armen sein?«
Und wieder schnalzte er so stark, daß es klang wie ein Pfiff.
»Ich dächte, wir täten's, dann hätten wir Ruh' für Monat und Tag!«
»Wir müßten auch dem da drin das Maul stopfen.«
»Sonst kommt's dir nicht so drauf an!«
»Wir dürfen uns die Sennen nicht auf den Hals laden! Und dann mag ich ihm nicht auflauern! Du hörst's: offen! So soll's sein! Offen! Ist der ›Teufel‹ etwa eine Katze, die vor dem Loch hockt, bis es sich trifft?«
»Lass' mich den Handel besorgen! Du weißt nichts davon, keiner weiß nichts davon, dem da hau' ich das Maul zu, es soll kein Hahn …«
»Wag's und rühr' ihn an! Und ich schlag' dich ungespitzt in Grund und Boden hinein! Mich geht der Handel an! Bin ich etwa ein feiger Luchs, dem das Fell schlottert? Wag's und rühr' ihn an! Mir gehört er!«
Er hatte diese Worte zwischen den Zähnen hervorgepreßt, wohl vernehmlicher, als er es wollte, und es klang so wild und tierisch, daß dem Horcher ein Schauder über den Rücken lief.
»He, Kuhknecht! Wo bist du?«
Der Hirt zögerte noch eine Weile, um sie in der Meinung zu lassen, er sei zu hinterst im Milchgaden gewesen, und trat dann zu ihnen hinaus.
»Hat der Hund etwa hier geschlafen?«
»Ja, er kam spät, ich konnte ihn nicht wegschicken …«
»Kommt er etwa wieder?«
»Ich hoffe, er bleibe aus, aber wer kann wissen …«
»Und du willst das Heu wieder mit ihm teilen?«
»Es ist Nacht, wenn er jetzt noch kommt, was kann ich tun? Es ist Sennenbrauch, keinem die Türe zu verriegeln. Ihr wißt's!«
»Wirst du ihm etwa sagen, daß wir hier waren?«
»Ich werde mich hüten.«
»Das rat' ich dir auch!«
Und lautlos schlichen die vier davon; der ›Teufel‹ aufrecht, den drei andern krümmten sich die Rücken unter der Last. So verschwanden sie in der Dunkelheit wie Nachtgeister. Der Hirt atmete auf.
Eine Stunde später – Léon hatte kaum einen neuen Riegel fertig gezimmert – klopfte es wieder. Das mußte der Grenzjäger sein. Seit er ihn so kaltblütig auf Menschen hatte lauern sehen, hatte der Hirt ein Grauen vor ihm, und er hätte ihn am liebsten von der Schwelle gewiesen. Um ihm zu zeigen, daß er sich durch seinen Besuch nicht sonderlich geehrt fühlte, ließ er ihn drei-, viermal pochen. Endlich öffnete er. Der Blaue war halb erfroren, schien aber nicht schlechter Laune zu sein.
»Er kam Euch nicht in Schuß?«
»Ich sah kein Bein.«
»Das war ein Glück.«
»So sag' auch ich: ich hätte ihn erschießen müssen.«
»Oder er Euch!«
»Vielleicht! Wer kann es wissen. Einer wird es schon sein.«
»Aber warum tragt Ihr denn Eure Haut dahin, wo er gerbt?« Der Grenzer gab keine Antwort, sondern rieb seine halberstarrten Finger und klaubte dann die scharfen Patronen aus dem Magazin seines Gewehres, um sie in der Patronentasche zu bergen.
In dieser zweiten Nacht wiederholte sich der Auftritt der ersten: der Hirt mußte den Burschen wieder aus seinen Todesängsten aufwecken und benutzte die Gelegenheit, ihm eine Predigt zu halten: »Warum, Unglücksmensch, wollt Ihr nach Giacomo jagen, wenn Ihr ihn doch so fürchtet und seinetwegen Nacht und Tag in der Hölle sitzt? Drückt doch ein Auge zu über seinen Taten, oder besser alle beide! Steigt hier hinauf, wenn Ihr ihn drunten wißt, und steigt er hinauf, so laßt Euch Zahnschmerzen oder ein Magenweh oder einen Hexenschuß anwerfen und setzt Euch drunten ans Kamin! Was kümmert es Euch, daß er den armen Teufeln drüben billigen Zucker einkramt und den Staat schädigt! Den Staat! Als ob der nicht genug hätte und allezeit reichlich zu seiner Sache käme! Was kann Euch der Giacomo so Übles getan haben, daß Ihr ihm nach dem Blut trachtet? Warum müßt Ihr …«
»Ich muß, weil ich muß,« unterbrach ihn der Blaue; »es gibt Menschen, die können nicht wollen, sie müssen, müssen, müssen! So einer bin ich. Und nun laßt mich wieder schlafen!«
Am Morgen brach der Blaue in aller Frühe auf. Der Hirt ließ ihn ruhig gewähren, denn er wußte, daß ihn heute der ›Teufel‹ nicht anrennen konnte, daß der vielmehr drüben in der Heimat seine Ware an den Mann bringen und sich einen Rausch antrinken würde nach altem Schmugglerbrauch. Er sah dem Grenzer mit halbverschlossenen Augen zu, wie er sein Gewehr sorgfältig lud, dann den Rosenkranz aus der Brusttasche zog, niederkniete, die gewohnten Gebete hermurmelte und schließlich mit dem Tone eines zehnjährigen Kindes etwa folgende Worte sprach:
»Maria, Madonna del buon consiglio, du siehst mein Herz und was ich denke, alles ist dir offenbar. Du weißt, daß mich nicht gelüstet nach seinem Blute, oder weißt du's anders? Und du weißt auch, daß ich ihn töten muß. Im Himmel aber sitzt eine wie du, und die hat es mir gesagt, daß es so kommen müsse. Lege nun du eine Bitte ein bei deinem Sohne, daß er sage, ich müsse nicht. Willst du es aber nicht so oder kannst du es nicht mehr ändern, so führe ihn mir auf den Weg, und bald, bald, und wenn meine Hand es vor Zittern nicht kann, so halte du sie, denn mich erdrückt die Angst, und wo ich hingehe, da folgt sie mir nach, Stapfe in Stapfe. Mir ist die Qual bitterer, als mir das Leben süß ist; drum mach' ein Ende, Madonna del buon consiglio. Amen.«
Er steckte noch einige Bissen Käse und Brot zu sich, die er sich am Abend ausgebeten hatte, und verließ die Hütte. Als es dämmerte, kehrte er wieder zurück; es war, wie Léon vorausgesehen hatte, nichts vorgefallen. So ging es noch zwei weitere Tage. Der Hirt kannte die Gewohnheiten der Schmuggler genau und wußte, daß sie in den nächsten Tagen wieder herüberkommen und dann einer Begegnung mit dem Spion nicht aus dem Wege gehen würden. Er beschloß deshalb, noch einen Versuch zu machen, den armen Burschen, den er für halb verrückt halten mußte, zur Heimkehr zu bewegen. Als er im Morgengrauen wieder aufbrechen wollte, versperrte ihm Léon den Ausgang und fing an, auf ihn einzureden. Er aber hatte auf alle seine Vorstellungen immer nur den einen für ihn unumstößlich feststehenden Einwand: »Ich kann nicht wollen, ich muß, ich muß!«
Da an diesem Schild alle Pfeile wie stumpfe Spähne abprallten, versuchte Léon, sein religiöses Gewissen zu erschrecken, denn er hatte wohl gesehen, daß die kirchlichen Dinge in seinem Kopfe hoch aufgespeichert waren.
»Ich gebe zu,« sagte er, »daß die Schmuggler große Sünder sind und daß Giacomo nicht der Joseph unter ihnen ist; aber hat denn nicht der Herr selber verkündet: Ich will nicht den Tod des Sünders?«
»Ich habe Beweise und Zeichen, daß der Himmel seinen Tod will!«
»Sind Eure Beweise so kräftig und die Zeichen, die Ihr habt, ohne Widerrede?«
»Ich glaube es: ich habe meine Träume.«
»So, Träume habt Ihr und darum glaubt Ihr? Meinetwegen! Ihr mögt ihnen glauben, aber wissen tut Ihr nichts! Wissen! Wissen! Träume! Geht mir doch mit Euren Träumen! Und gesetzt nun, Ihr begeht den Mord und es kommt einmal der Jüngste Tag und Ihr werdet gefragt: ›Warum hast du dem Giacomo Noli das Leben ausgetrieben? Was hast du, Bürschchen, dich vermessen, den Richter zu spielen auf Erden? Wer befahl dir, deine verrückten Träume für meine Ratschlüsse zu nehmen?‹ Sagt, womit werdet Ihr dann die Blutflecken aus Eurem Gewändlein auslaugen?«
Da er schwieg, fuhr der Hirt weiter: »Geht hinüber und tretet in eine Kapelle und betet um ein Zeichen, das das Sonnenlicht aushält und nicht zergeht wie ein Räuchlein. Geht, aber versprecht mir, daß Ihr Euer Gewehr gegen keinen Menschen ladet, eh' Ihr sagen könnt: ›Nun ist es mir sonnenklar, der Himmel will, daß ich ihn töte.‹«
Der Grenzer kaute an den Spitzen seines schwarzen Schnurrbartes und zog die Augenbrauen zusammen; dann sagte er kurz: »Gut, ich will tun, wie Ihr sagt.«
»Gebt mir Euer Gewehr, ehe Ihr geht!«
»Das darf ich nicht.«
»So gebt mir die Patronen!«
Nach einigem Zögern leerte er seine Patronentasche und das Magazin seines Gewehres und überreichte Léon die Kupferhülsen mit dem grauen, tödlichen Kopfe. Dann ging er hinaus und stieg langsam bergan, der Paßhöhe zu.
Léon sah ihm erleichtert nach. Es sollte ihm aber nicht lange wohl sein; denn vor Einbruch der Nacht trat der Grenzer wieder in die Hütte und sagte: »Nun bedarf es keines Zeichens mehr! Spricht ein Herr hundertmal zu seinem Knechte: Tue dies, tue das? Zu mir hat der Himmel hundertmal geredet und ich habe getrotzt! Und heute hat sein Zeichen auch das Tageslicht nicht gescheut!«
Léon war verdrießlich und wandte ihm wortlos den Rücken. »Verrückt!« brummte er.
Drauf, in der Nacht, es war am Jahrestage des heiligen Bernhard, weckte ihn der Grenzjäger aus dem Schlafe und bat ihn, die Laterne anzuzünden.
»Laßt mir meine Ruhe!« knurrte ihn Léon an.
»Morgen geschieht's, ich weiß es und kann nicht schlafen vor Erwartung und vor Angst. Wär's nur schon getan!«
»Brecht meinetwegen jetzt schon auf, nur liegt mir nicht in den Ohren mit Eurem verrückten Geschwätz!«
»Nein, ich muß es Euch sagen; Ihr müßt mich hören.«
»Schert Euch zum Kuckuck mit Eurer Litanei!«
Léon drehte sich im Heu auf die andere Seite, der Grenzer aber kroch an ihn heran, ganz nahe, und flüsterte in einem Tone, in dem zugleich Freude und Schauder zitterten: »Morgen geschieht's: sie ist mir heute zweimal erschienen.«
»So, ist sie? Sagt ihr, ich lasse sie grüßen!« – Damit stieß Léon ihn weg. Ihm war unheimlich bei dem Verrückten. Der aber ließ sich nicht abschrecken, und wieder fühlte Léon seinen warmen Hauch an der Backe: »Spottet nicht! Zündet die Laterne an und dann hört mich an!«
Er ließ dem Hirten keine Ruhe, bis er Licht machte. Dann setzte er sich neben ihn, sah ihn mit seinem schwarzen, unsteten Schwärmerauge an und wurde auf einmal vertraulich wie ein Kind mit seinem Vater. Er duzte ihn jetzt.
»Drüben weiß es ein jeder, du aber kannst es nicht wissen, drum verstehst du mich nicht,« so fing er an zu erzählen. »Ich bin in Valpellina aufgewachsen. Wir hatten ein kleines Haus, am Fluß, abseits vom Wege. Mein Mütterchen war eine kleine, liebe Frau im braunen Rock. Sie saß am Spinnrad und spann Wolle vom Morgen bis zum Abend und einen langen Teil der Nacht dazu, du weißt, die braune Wolle der Bergschafe. Zu andern Leuten ging sie nie oder selten und sprach nicht viel. Sie schien stets bekümmert und traurig zu sein und manchmal habe ich gesehen, wie ihr das Wasser über die Wangen schlich und auf die fleißig spinnenden Hände kugelte. Nur wenn sie mich abends ins Bett legte und herzte, sah ich sie lächeln. Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Als ich einmal das Mütterchen fragte, warum ich keinen Babo habe wie Sattlers Paolino, sagte es mir, der meine sei gestorben, als ich noch nicht einmal auf der Welt gewesen sei. Er sei ein Schmuggler gewesen, einst müsse ihm auf dem Berge etwas zugestoßen sein: man habe ihn verstümmelt und tot ins Tal hinabgebracht. Mehr sagte es mir nicht und schien nicht gern von meinem Babo zu reden. Später haben mir fremde Leute gesagt, wir hätten einen Nachbar gehabt, den man Giannuccio nannte; der sei Fuhrmann gewesen und habe die Saumtiere über den Berg in die Walliser Täler getrieben. Auf einmal hätte mein Vater angefangen, ihn zu hassen und zu verfolgen und der andere ihn. Einst seien sie am gleichen Tag über den Berg gestiegen. Mein Vater sei nicht mehr zurück gekommen, man habe ihn zerschellt am Fuße einer Felswand gefunden. Bald darauf sei Giannuccio ausgewandert, nach Amerika, und man habe ihn von da an für den Mörder meines Vaters gehalten. Soviel weiß ich.
Ich hatte noch einen Bruder und wir beide waren das Kreuz der Mutter. Wir haben uns nie vertragen und haßten uns, seit wir hassen konnten, ohne daß ich eigentlich recht wußte warum. Mir war immer, er trage die Schuld, denn er war fünf Jahre älter als ich und viel stärker, und wenn die Mutter nicht da war, um ihm zu wehren, schlug er mich oft fürchterlich, weil, wie er sagte, sie mich verhätschele und bevorzuge. So wuchsen wir auf. Als er siebzehn Jahre alt war, trat er einmal vor die Mutter hin und erklärte ihr, er wolle Schmuggler werden, der ›Luchs‹ nehme ihn mit, er habe es ihm versprochen. Sie schob das Spinnrädchen beiseite und sah ihn bittend an und sprach: ›Tu's nicht, mein Bub, tu's nicht!‹
›Warum soll ich's nicht? Ist es nicht ein Gewerbe, das seinen Mann nährt wie ein anderes?‹
›Es ist kein gutes Gewerbe.‹
›Es war das meines Vaters!‹
›Es ist doch keins, das Segen bringt!‹
›Natürlich! weil's mein Vater trieb, ist's schlecht! Der ›Luchs‹ hat es mir gesagt, du hast meinen Vater nicht leiden mögen. Ich weiß, ich weiß jetzt alles, und ich will des Vaters Gewerbe treiben, weil er es trieb, und willst du es nicht, so tu' ich's dir zum Trotz und ihm zulieb'!‹
›Hab' ich deinen Vater nicht leiden mögen, so war's, weil er ein roher Mensch war und mich schlug, und liebte ich sein Treiben nicht, so war's, weil es ein unredlich Treiben war. Folg' ihm nicht nach und glaube deiner Mutter: es trägt kein Glück ein; es bringt nichts als Angst, und bringt es dir keine Angst mehr, so ist aus dem Menschen ein Tier geworden. Folg' deinem Vater nicht und glaube mir! Glaube mir!‹
So flehte sie ihn in beweglichen Worten an. Umsonst! Er erhitzte sich immer mehr und ging schließlich im Zorne davon. Seither hat er nicht mehr in unserem Häuschen gewohnt, nur von Zeit zu Zeit fanden wir vor dem Fenster, auf dem Gesims, in Papiertüten Zucker, Schokolade oder Kaffee, die niemand anders als er fürs Mütterchen hingelegt haben konnte. Das hätte mir manchmal Lust gegeben, ihn aufzusuchen und Frieden zu machen; aber ich wußte, daß es ein vergeblicher Gang sein würde. Denn wenn er mich auf der Straße traf, tat er, als sähe er mich nicht, oder er spuckte geräuschvoll aus, indem er an mir vorüberschritt. Im übrigen war ich mit diesem Verhältnis zufrieden, bekam ich doch keine Schläge mehr.
So wurde ich neunzehn Jahre alt. Ich hatte meine Lehrzeit bei Meister Gioggio, dem Wagner, beinahe vollendet und wir zimmerten schon Pläne, das Mütterchen und ich, wie wir nachher unser Leben einrichten wollten. Da, als ich einmal nach Feierabend heimkam, fand ich die Mutter im Bette, fiebernd und krank. Sie hatte den ›Seitenstich‹ und wollte sich davon nicht mehr erholen. Das Fieber verließ sie freilich nach wenigen Wochen, aber die Kräfte kehrten nicht wieder und sie fing an trocken und hohl zu husten. Die Augenhöhlen bohrten sich ihr immer tiefer in den Kopf hinein, die Wangen verbargen sich unter den Backenknochen, und an den Händen stach jedes Knöchelchen hervor. Sie sprach oft vom Sterben und ich blieb Tag und Nacht bei ihr, denn ich fürchtete jeden Augenblick, es könnte mit ihr ein Ende nehmen.
An einem Abend, als ich bei ihr am Bette saß, trat mein Bruder herein, legte ein paar Tüten auf den Tisch, stellte sich vor das Bett und ergriff die Hand der Kranken: ›Du siehst übel aus, Mutter!‹ – ›Ja, es geht mit mir wohl zu Ende‹. – ›Hast du vergessen, daß du zwei Buben hast?‹
›Nein, ich habe die Zeit immer daran gedacht und hab' auch gedacht, wie elend eine Mutter ist, wenn sie Kinder hat, die sich scheuen wie Leben und Tod.‹ Dann sagte sie leiser, wie zu sich selber: ›Ich habe es erfahren, wie der Himmel einen in seinen Kindern straft und einem bis zum Tod nicht vergeben will, man mag beten Tag und Nacht, beten und weinen.‹
Die Augen wurden ihr voll und sie schluchzte: ›Buben, meine Buben, mir ist, ich sei schuld an eurem Haß; nun geh' ich aber aus der Welt, drum denkt, ich trage euren Haß mit mir ins Kirchengrab hinab, und werdet zueinander, wie Bruder und Bruder sein sollen.‹
Mir standen die Tränen in den Augen und auch der andere schien weniger hart dreinzuschauen als sonst. Er drehte sich nach mir um; aber in dem Augenblick war es, wie wenn die Nacht wieder bei ihm einkehrte: die Augenbrauen zuckten gegeneinander und er wandte sich weg mit unwilliger Gebärde. Ich gewahrte, wie der Mutter die Herzensnot aus den Augen schaute. Sie hauchte mit ihrer müden Stimme Worte der Versöhnung, bis ihr die Kraft ausging und sie sich in ihre Kissen zurückfallen ließ. Und wie sie so lag, hingen ihre Augen an ihm und sprachen und bettelten in ihrer stummen Sprache: ›Ich weiß, was du hast! Vergiß es und tu' mir den letzten Gefallen, mir, deiner Mutter!‹
Er aber schüttelte den Kopf: ›Ich kann nicht!‹ und schickte sich zum Gehen. Unter der Türe stand er still und sagte zu der Mutter in fast weichem Tone: ›Schick den dort aus dem Hause, und ich will bei dir wachen und dir soll nichts mangeln, bis an dein Ende! Tu's, tu's!‹
Nun war es die Mutter, die in ihren Kissen stumm den Kopf schüttelte.
Das reizte meinen Bruder, denn er hatte einen Teufel im Blut und konnte wegen nichts manchmal in ein helles Rasen geraten. Er trat wieder ganz ins Zimmer und preßte zwischen den Zähnen hervor, wie nur er es konnte: ›Immer er! er! er! So hast du's stets getrieben!‹
›Willst du ihn fortschicken oder nicht?‹ fügte er nach einer Pause hinzu.
›Ich ginge nicht!‹ schrie ich ihm zu. ›Ich habe das Recht auf diesen Platz!‹ Da loderte er auf wie ein Garbenbund, das Feuer fängt. Man sah es seinen Augen an, wie er nach einem Grunde des Haderns suchte, sie drehten sich ihm wild im Kopfe herum. Dann stieß er klanglos hervor: ›Wo ist die silberne Uhr hingekommen, die Uhr des Vaters?‹
›Ich habe sie,‹ erwiderte ich.
›So, erbt der da meinen Vater? Dieser Eseltreiber, dieser Aufgelesene, dieser Giannuccio! dieser Gian-nu-ccio!‹ Er schloß das Wort mit dem garstigen Schnalzen, das er in der Erregung jeden Augenblick hören ließ, und das mir immer Angst einflößte. Diesmal aber fuhr mir eine Blutwelle in den Kopf, ich sah rot vor den Augen. Hätte der Schimpf nur mir gegolten, ich hätte ihn hinuntergewürgt, aber das Mütterchen, das arme Mütterchen auf dem Totenbette! Ich erinnere mich noch, wie sich ein Schrei aus meiner Brust losriß und wie ich auf ihn einstürmte. Er stieß seine eckige Faust gegen meine Brust, so daß ich zurücktaumelte, und als ich aufs neue gegen ihn fuhr, sah ich ihn den Stiefelknecht ergreifen, der neben dem Bette lag. Er holte aus und hätte mich sicherlich niedergestreckt, hätte ich nicht flink den Kopf zurückgeworfen. So streifte er nur die Stirne und schlug sie mir wund, du siehst die Narbe jetzt noch, hier ist sie. Sie bleibt immer rot, ist das nicht seltsam? Ich fühlte, wie mir das Blut über das Gesicht und in die Augen floß, und hörte das Wimmern der Mutter. Aber ich hatte alle Vernunft vergessen und stürzte auf den Bruder los. Das Blut brannte mir in den Augen, ich sah nur halb, und eh' ich meine Hände brauchen konnte, fühlte ich mich von seinen riesigen Armen umschlungen, so daß mir die Rippen krachten. Ich stöhnte in der Beklemmung und Atemnot und griff mit den Händen aufs Geratewohl in die Luft. Da wollte es der Zufall oder das Glück – oder wie soll man's nennen? – daß meine Finger sich krampfhaft in seine Gurgel eingruben. Er schüttelte den Kopf, seine Arme lockerten sich etwas, ich faßte mit den Füßen wieder Boden und wehrte mich wie ein Rasender. Wir schoben uns hin und her in dem engen Raume, keuchend, schäumend. Da stolperte er am Tische, wir fielen hin, fest aneinander geklammert, ich oben auf, er unter mich. Es war ein Wunder, daß es so kam; denn er war ein Riese an Kraft, und hätte ich ihm die Kehle nicht zugeklemmt, er hätte mich zermalmt wie einen Wurm. So rangen wir auf dem Boden wie wilde Tiere. Das Blut troff von meiner Stirne auf ihn hinunter. Er wurde blau im Gesicht und sein Leib wand sich unter mir unbändig. So rasten wir, bis wir beide erschöpft waren und nicht mehr konnten. Dann ließen wir uns los, wie auf ein Zeichen. Er schwankte hinaus. Unter der Türe wandte er sich um, ballte die Faust und knirschte: ›Dir zahl' ich's heim!‹ Ich wischte mir das Blut aus dem Gesicht. Da fiel mein Blick auf die Mutter, die halbaufgerichtet im Bette saß, mit weit aufgesperrten Augen; wie ein Geist sah sie aus. ›Ihr werdet euch noch töten!‹ sagte sie zweimal, und ich habe diesen ohnmächtigen Schrei der Verzweiflung nie aus den Ohren verloren: ›Ihr werdet euch noch töten!‹ Dann sank sie ins Bett zurück und schluchzte, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen. Ich sah an dem Zittern des Bettzeuges, das sie sich über den Kopf gezogen hatte, wie sehr es sie erschütterte.
Sie sprach nicht mehr bis gegen Mitternacht; dann öffnete sie nochmals die Augen, sah mich starr an und hauchte: ›Ihr werdet euch noch töten, ach Gott!‹ Das war ihr letztes Wort. Eine Stunde später verschied sie. Ich weinte wie ein Kind und wünschte mir selber den Tod; denn hatten wir nicht das gute Mütterchen gemordet?
Gegen Morgen schlief ich an ihrer Leiche ein. Da erschien sie mir im Traume, gespenstig und schauerlich, wie ich sie durch mein Blut hindurch gesehen hatte, und sie sagte in einem fort: ›Ihr werdet euch noch töten! Ihr werdet euch noch töten, ach Gott!‹ Ich wachte auf, in kalten Schweiß gebadet.
Der Gedanke, daß einer von uns des andern Mörder werden könnte, verließ mich nicht mehr, denn jene Worte, ich hörte sie in der Werkstatt aus dem Kreischen des Hobels, aus dem Singen der Säge, aus dem Tosen des Hammers, und fing sich zu Haus der Wind am Dach, oder fing er sich im Kamin, immer stieß er den klagenden Seufzer aus: ›Ihr werdet euch noch töten, ach Gott!‹ Ich mußte es glauben, ob ich wollte oder nicht. Mir fiel nichts anderes ein, als daß ich das Opfer sein würde, und es nistete sich eine Angst in meine Brust, die mich keinen Augenblick froh werden ließ. Legte ich mich nachts nieder, kam mir immer der Gedanke: ›Wenn er nur nicht einbricht.‹ Ich floh jeden Ort, wo ich Menschen antreffen konnte, aus Furcht, er könnte dort sein. Ich war entschlossen, nur noch das Ende meiner Lehrzeit abzuwarten und dann der Heimat den Rücken zu kehren. Da kam die Rekrutierung, ich wurde für den Dienst tauglich befunden und unter die Alpini gesteckt. ›Je nun,‹ dachte ich, ›so werde ich auch Ruhe vor ihm haben.‹
Wir hatten einen Nachbar namens Sellajo – er ist seither gestorben. Der hatte ein Mädchen, das sauberste im ganzen Orte, und wo ich auch hingekommen bin, ich habe kein zweites so gefunden, das darfst du mir glauben. Ich war der Maria gut und merkte, daß sie auch mich wohl leiden mochte. Am Tage, bevor ich in die Garnison einrücken mußte, ging ich ins Nachbarhaus hinüber, um den Leuten Lebewohl zu sagen. Da fing das Mägdlein zu weinen an; ich faßte es in die Arme und versprach ihm ewige Treue und sie mir auch. Das war ein seliger Abend. Am Morgen darauf verließ ich die Heimat, den Himmel unter den Füßen.
Das Garnisonleben war mir weniger hart, als ich erwartet hatte; wußte ich doch meinen Bruder dreißig Meilen weit! Und kam etwas, das mir nicht behagte, so träumte ich von meiner Maria und vergaß darüber alles Ungemach. Nach einem Jahr bekam ich einen Urlaub von zwei Wochen. Ich hatte diese Zeit lange ersehnt, mich trieb das Herz zu meiner Braut, denn da sie nicht schreiben konnte und mir nur einmal, im Anfang der Dienstzeit, durch einen Kameraden einen Gruß geschickt hatte, wußte ich nicht, wie's mit ihr stand. An einem Sonntagabend kam ich in Valpellina an. Ich wollte am Wirtshaus vorbeieilen; da kamen einige Burschen heraus, schleppten mich mit sich und schenkten mir zu trinken ein, mehr als mir lieb war, und taten freundschaftlicher, als ich es an ihnen gewohnt war. Endlich machte ich mich los und grüßte sie. Da rief mir einer nach:
›Wohin willst du denn? Doch nicht etwa zum alten Sellajo hinauf?‹
›Und warum nicht?‹
›Nun, ich meinte ja nur!‹
›Was willst du sagen?‹
›Ich dachte, es sei schade, daß du gerade heute kommst; zu einer andern Zeit hättest du deine allernächste Verwandtschaft dort antreffen können.‹
›Von wem sprichst du?‹
›Ei, seht! Der Giovanni ist kaum ein Jahr von hier fort und schon kennt er seine Verwandtschaft nicht mehr!‹ Die andern lachten gezwungen. Mir dämmerte es.
›Was hat er beim Sellajo zu schaffen?‹
›Warum geht man zu Nachbarn? Man vertreibt sich die Zeit, und ist ein Mädel da, geht's um so leichter!‹
Ich lachte: ›Er und die Maria! Das habt ihr gut ausgeheckt!‹ Aber das Lachen klang mir nicht in der Kehle; mir war, ich habe einen Strick um den Hals, und ohne weiter auf die andern zu horchen, ging ich das Dorf hinauf, im gewöhnlichen Schritt, obschon ich am liebsten gerannt wäre.
Da kam mir einer im Dunkel nachgeeilt, faßte mich am Arme und sagte: ›Es war kein Scherz, Giovanni! Maria hält es mit deinem Bruder!‹
Ich warf den Burschen auf die Seite und setzte meinen Weg fort. Sellajos Haus war hell, aber geschlossen. Ich polterte an die Türe. Da öffnete sich behutsam das Fensterchen und der Alte streckte sein graues, wackeliges Köpfchen ins Mondlicht hinaus.
›Wer klopft? Aha, du bist's, Giovanni? Ei, ei, ei!‹
In dem Augenblick wurde drin das Licht ausgeblasen; das mußte sie getan haben.
›Was ist hier vorgefallen, Nachbar?‹
›Ja, es gibt Geschichten! leidige Geschichten! Aber wer kann so etwas voraussehen, so etwas voraussehen? Ich hab's lange nicht zugeben wollen, ja, lange nicht, glaub' mir, aber du weißt ja, wenn der etwas will … Kehr' wieder um, Giovanni, und nimm's nicht so krumm, es hat noch manche Mutter ein liebes Kind!‹
So plapperte der Alte. Ich überschüttete ihn mit Schmähungen. Da schlug er das Fensterchen zu und ließ sich nicht mehr sehen.
Wie war das so gekommen? Er mußte sie verhext haben, denn sonst hätte sie es nimmer getan, ja, er mußte sie verhext haben, weil er mich haßte. Aus Haß hatte er mir das getan! ›Ich zahl' dir's heim!‹ hatte er einst gesagt! Ich klopfte an Mariens Fenster, denn ich wußte, wo sie schlief; sie sollte mir sagen, wie es gekommen sei, und ich glaubte, wir müßten uns nur zwei Worte sagen, und alles würde wieder sein wie einst. Aber sie öffnete das Fenster nicht und rührte sich nicht.
Ich saß vor dem Hause bis gegen Morgen, bis der Mond hinter den Bergen verschwand. Ich glaube, ich habe geweint; immer aber zitterten mir an jenem Abend die gleichen Worte auf den Lippen, der Seufzer der sterbenden Mutter: ›Ihr werdet euch noch töten!‹
Als die Sonne aufging, befand ich mich auf der Straße zwischen Valpellina und Aosta. Ich ging talwärts. Wie es kam, daß ich das Feld räumte, ich weiß es nicht. Es war nicht Furcht vor ihm; ich glaube, es war eher Furcht – vor mir selber, Furcht vor dem Morde. Bis da hatte ich aus den Worten der Mutter immer meinen Tod herausgehört, jetzt war es mir eingefallen, es könnte ja auch anders kommen! Dieser Gedanke erschreckte mich und flößte mir Grauen ein: ich, ein Mörder!
In den folgenden Tagen bummelte ich der Garnison zu und vertrank das bißchen Geld, das ich in der Tasche hatte. Ich konnte mich anfangs nicht wieder in die soldatische Ordnung fügen, ich benahm mich wie ein hartmäuliger Gaul und zog mir schwere Strafe zu. Man warf mich in ein muffiges, dunkles Loch, in dem ich bei schlechter Kost Zeit genug fand, mein Elend zu überdenken. Da erschien mir im Schlaf die Mutter, so wie ich sie an ihrem Todestage auf dem Bette gesehen hatte, gespenstig und schauerlich, und sie redete zu mir, aber nicht mehr wie damals: ›Ihr werdet euch noch töten!‹ nein: ›Du sollst ihn töten! Giovanni, du sollst ihn töten!‹ und sie hatte nicht mehr jenes angsterfüllte Gesicht: der Zorn flammte aus ihren tiefen großen Augenhöhlen. So erschien sie mir dreimal während meines Arrestes, und seither weiß ich, daß ich ihn töten werde und es meine Mutter im Himmel so will, ich mag mich sträuben und wehren, soviel ich will, ich werde müssen, ich bin nun einer, der muß.
Als ich meine drei Jahre bei den Alpini gedient hatte, fragte mich unser Hauptmann, was ich nun anfangen wolle. Ich sagte ihm, ich sei Wagner, wisse aber noch nicht, wohin mich wenden, in die Heimat zurückzukehren, hätte ich keine Lust.
›Wir müssen die Grenzwächter in den Alpen verstärken,‹ fuhr er weiter, ›darf ich Sie vorschlagen?‹
Wie er das Wort aussprach, fuhr mir der Gedanke an meinen Bruder, den Schmuggler, durch den Kopf und ich bat mir zwei Tage Bedenkzeit aus. Wer hieß ihn, diese Frage an mich stellen? Warum fiel sein Auge gerade auf mich, da doch neben mir andere standen, die den Dienst so gut hätten versehen können wie ich oder besser? Auch er mußte! Ich erkannte den Plan des Himmels: er wollte nicht, daß ich meinen Bruder umbringe als gemeiner Verbrecher, ich sollte ihn töten im Namen des Gesetzes, ich sollte sein Richter sein. Schon am folgenden Tage trat ich vor meinen Hauptmann und sagte, ich stehe dem Könige zu Diensten. Nachdem ich die nötigen Unterweisungen empfangen hatte, wurde ich an die Schweizergrenze, nach Tirano, geschickt. Ein Jahr später versetzte man mich nach Canobbio und vor zwei Monaten nach Aosta, immer näher meinem Ziele, stets vorwärts, keinen Schritt zurück. Ich ließ es ruhig geschehen, was hätte ich vermocht gegen den Himmel?
Als ich vor wenigen Tagen von Aosta talaufwärts schritt und durch Valpellina kam, blickte ich ohne zu wollen nach dem Hause, in welchem der alte Sellajo gewohnt hatte. Da stand eine Frau unter der offenen Türe, Maria. Ich wandte mich ab, doch wie ich rasch vorüberging, hörte ich sie rufen: ›Giovanni, Giovanni!‹ Ich achtete nicht darauf und ging meines Weges. Als ich am Abend zurückkehrte und gegen das Dorf hinunterstieg, saß sie am Wege auf einem Bornstein und wartete. Sobald sie mich sah, barg sie das Gesicht in der Schürze und fing an zu schluchzen. Ich war schon an ihr vorübergegangen, da schrie sie, daß es ein Tier erbarmt hätte: ›Giovanni, Giovanni!‹ Ich blieb stehen, und als sie mir näher trat mit ihren roten Augen und mich ansah, wie ein Hündchen, das etwas Unrechtes getan hat und die Peitsche erwartet und fast froh ist, zu sühnen, brachte ich keinen Vorwurf über die Lippen. Sie aber schonte sich nicht und machte sich schwärzer, als sie war. Aber sie konnte mir nicht sagen, wie es sich begeben hatte: einst als sie in der Küche gewesen, sei er unvermutet hereingetreten und habe sie mit seinen knorrigen Armen gezwungen, und von da an habe sie keine Kraft mehr gegen ihn gehabt. Ja, er mußte sie verhext haben. Als er merkte, daß er sie ganz in seiner Gewalt hatte, sei er roh gegen sie geworden und vom Hochzeitstage an seien Schläge ihr tägliches Brot gewesen.
Es dämmerte im Tal, als wir zusammen Valpellina zuschritten. Die Dunkelheit entlockte mir meine düsteren Gedanken, und ich sagte Maria, daß es mir bestimmt sei, ihren Mann zu richten. Da schauderte sie: nein, ein Mörder sollte ich nicht werden! Als ich ihr aber erzählte, wie es sich so füge und wie das, was ich tun müsse, kein sündiger Mord sei, ebensowenig wie ein Mord im Kriege, da wurde sie ruhiger und sagte endlich: ›Du mußt das besser wissen, Giovanni, und will's der Himmel, wie du sagst, so wird es schon sein müssen.‹
Dann vergaßen wir, was uns leid war, und plauderten von dem, was einst gewesen, und wir wurden fast froh. Unten vor dem Haus angelangt, sagte sie: ›Komm herein, du wirst hungrig sein, lass deine alte Maria dir etwas vorsetzen. Zu fürchten brauchst du nichts, er ist heut früh über den Berg gegangen und kehrt erst in ein paar Tagen zurück.‹
Ich trat unter das alte Dach, wo ich so oft gewesen, und wie's dann kam, eines um das andere, es ist mir, ich hätte es bloß geträumt. Wir wurden einig, unser Leben und Lieben wieder da anzuknüpfen, wo wir es abgerissen hatten an dem Tage, da ich in die Garnison einrücken mußte. In der nämlichen Nacht haben Maria und ich Hochzeit gemacht und nun wartet sie drüben, bis ich komme und sage: ›Ich habe meines Amtes gewaltet, du darfst mein und glücklich sein und ich mit dir.‹
Und ich darf es tun, ich muß es tun, und ich bin kein Mörder, siehst du's nun, siehst du's nun?
Am Morgen darauf bin ich ihm entgegengegangen und durch das Unwetter in deine Hütte verschlagen worden. Das übrige weißt du. Doch nein, eins noch nicht! Was mir heute, oben auf dem Paß, zugestoßen ist, als ich, deinem Rate folgend, hinübersteigen wollte. Ich schlich langsam bergan, mir alles hundertfältig überlegend, und je mehr ich sann und je weiter ich von dir weg war, um so deutlicher wurde es mir, daß ich lang genug gesonnen, aber zu wenig gehandelt hatte. Als ich deshalb oben ankam und talwärts schreiten sollte, wollten meine Füße nicht mehr mittun. Ich setzte mich auf einen Stein, am Rande des kleinen Sees, der so ganz grün ist, der zog mich mehr an als die andern, und ich grübelte und grübelte weiter. Wie es dann über mich kam, ich kann es nicht sagen: ich schlief ein. Müdigkeit konnte es nicht sein, denn ich spürte nichts in den Gliedern und auch mein Kopf war munter und frei von dem Drucke, der mir seit jenem Schlag mit dem Stiefelknecht von Zeit zu Zeit darauf lastet. Wie lang ich geschlafen, weiß ich es? Plötzlich war mir, ich hätte etwas gehört, ich fuhr auf und sah aus dem Wasser sie, meine Mutter, tauchen. Sie sah nach mir, mit vorwurfsvollem Blicke. Ich stieß vor Schreck einen Schrei aus, da verschwand sie und statt ihrer sah ich nichts als im Wasserspiegel das Bild eines gegenüberliegenden grünen Felsblockes. Aber sie erschien mir so deutlich, so deutlich! Ein Trugbild! Ach, geh! Ich sah sie, wie ich meine Hand hier sehe, wie ich dich sehe! Ich sah sie leibhaftig! Und das war das Zeichen, auf das du mich warten hießest! Das Zeichen, das die Sonne nicht scheut. Sag' jetzt, muß ich, oder muß ich nicht? Und heut nacht ist sie mir wieder erschienen und ich hörte ihre Stimme vernehmlich: ›Giovanni, Giovanni, mach' ein End'.‹ Es tönte so traurig, daß ich weinen mußte und mir war, meine Tränen schwebten hinüber auf Mütterchens hohle Wangen und wurden zu schwarzrotem Blut, und ein anderer Teil fiel herab auf meinen blauen Rock und färbte auch ihn. Da wachte ich auf.
Nun weißt du meine Geschichte. Du siehst, ich muß dem Ding ein Ende machen, und heute wird es geschehen. Wache bei mir bis zum Tag; mir schaudert, wenn du schläfst, denn ich fürchte, sie käme wieder, um mich zu mahnen. Ach, wär's nur schon getan!«
Er schwieg. Der Hirt sah ihm scharf in die Augen und sagte: »Gesteh' mir noch eins! Hätte er dir nicht die Braut genommen, erhöbest du dein Gewehr dennoch gegen ihn?«
»Weiß ich denn, ob der Himmel auch ohne dieses Bubenstück seinen Tod gewollt hätte?«
»Aber ist es nicht das größere Bubenstück, das du an ihm begehen willst, oder schon begangen hast? Du hast ihm sein Weib verführt!«
»Er hat sie mir weggehext; ich nahm nur zurück, was mir gehörte! Und dann will sie ja mein sein! Hätte es der Himmel nicht so gewollt, er hätte es wohl anders gefügt, er wird schon wissen, was er will.«
Léon sah, daß ihm mit Vernunft nicht beizukommen war und schwieg. Schlafen konnte er nicht mehr, er wachte beim Scheine der Laterne neben seinem unheimlichen Gaste, bis der Morgen durch die Spalten unter dem Dache hereindrang. Da erhob sich der Blaue und stieg in die Küche hinab. Léon hörte ihn sein Gebet murmeln und dann mit seinem Gewehre manipulieren. Bald stieg er wieder herauf und sprach ruhig:
»Gib mir die Patronen zurück!«
Richtig, sie lagen ja versteckt auf einem Balken. Léon frohlockte innerlich; es war von ungefähr nicht übel geraten: nun mochte er auf die Jagd gehen, dieser tolle Menschenjäger!
»Nein, du kriegst sie nicht wieder!«
»Um's Himmels willen gib sie mir! Du weißt ja, ich muß sie haben!«
»Dein Kopf ist verrückt!«
»Soll ich mich ihm wehrlos entgegenwerfen?«
»Nach Hause gehen sollst du und dort hübsch ruhig bleiben und gebratene Kastanien essen!«
»Sei kein listiger Fuchs! Ich hab' dir ja gesagt, daß es heute geschehen muß!« sagte er in schmeichelndem Bitteton.
»Gib dir keine Mühe mehr!«
Da warf der Grenzer rasch den Kopf zurück, wie einer, dem ein glücklicher Einfall gekommen ist. Er faßte den Hebel seines Gewehres, drückte ihn in die Höhe, zog ihn behutsam gegen sich und sah in den Verschluß hinein mit neugierigen Sperberaugen. Ein helles Lachen schoß ihm aus der Brust:
»Ha, ha! An die im Laufe hast du nicht gedacht! Du siehst, Menschenwitz vermag es nicht zu ändern! Addio!«
Und er ging. »Oh, diese verdammte Patrone im Lauf!« Der Hirt sprang aus dem Heu, eilte vor die Hütte und sah dem Wahnsinnigen nach, wie er hastigen Schrittes an der Halde emporstieg. Nun kam der Zwist zum Austrag, das war gewiß. Léon sann auf ein Mittel, den Unglücklichen von seinem Vorhaben zurückzuhalten. Umsonst! »Doch halt! Ich will ihm nacheilen, ihn zu Boden werfen, ihn entwaffnen …«
Barfuß, wie er war, setzte Léon ihm auf dem hartgefrorenen Schnee nach. Sein Keuchen verriet ihn, der Blaue kehrte sich um, riß das Gewehr von der Achsel und erwartete seinen Angriff. Er hätte ihn niedergeschossen! Es war, wie wenn ihm ein wütender Tiger aus den Augen sähe.
»Was willst du?« fuhr er den Hirten an.
»Tu's nicht, tu's nicht!« keuchte Léon außer Atem.
Er lachte: »Kehr' um und hol' dir deine Schuhe!«
Dann wandte er sich wieder zum Gehen, halb vorwärts, halb rückwärts schauend. Als Léon sah, daß nichts in der Welt ihn von seinem Vorhaben abhalten konnte, fing das Gewissen an sich in ihm zu regen: »Ist es recht, den Unglücklichen fast wehrlos, mit einer einzigen Patrone auf die vier Unholde loszulassen?« Er fragte nicht lang, ob er recht handelte oder nicht: er rief dem Blauen nach: »Halt, ich hol' dir die Munition!« Und er sprang die Halde hinunter, steckte eine Handvoll Patronen zu sich und trug sie ihm hinauf. Der Grenzer hatte gewartet, nahm die Hülsen und steckte sie sorglich in das Magazin seines Gewehrs. Dann dankte er dem Hirten und mit einem freundlichen: »Siehst du! Auch du hast gemußt! Addio!« verließ er ihn.
Léon kehrte in die Hütte zurück und trieb das Vieh aus; dann schlich er ihm nach. Er fand ihn oben, am gleichen Platze wie das erstemal, lauernd wie eine Katze, diesmal aber nach der Paßhöhe spähend, denn er mochte ahnen, daß sein Wild die Nacht in Valpellina zugebracht hatte. Der Hirt verbarg sich wieder hinter einem Felsblocke und wartete, zwei, drei, vier Stunden. Auf einmal reckte sich der Jäger in die Höhe, um sich gleich wieder zu ducken. Oben erschienen auf dem blauen Schnee vier Gestalten, die behutsam näher rückten. Giacomo trug gegen seine Gewohnheit eine Büchse, das war eine deutliche Sprache. Die vier standen alle hundert Schritte still und hielten Umschau. Der ›Teufel‹ schritt voran, die Flinte unter dem Arm, wie ein Jäger; ihm folgte der ›Luchs‹, in der rechten Hand die in der Sonne glitzernde Pistole, in der linken den Stock, und hinterdrein schlichen mit runden Rücken, den Kopf zwischen die Schultern eingezogen, die Buben: ihre langen Arme schienen fast den Boden zu berühren, sie sahen aus wie boshafte Affen, die einen schlechten Streich vorhaben.
Als die Schmuggler sich auf etwa hundertundfünfzig Schritt genähert hatten, erhob sich der Grenzwächter und rief sie an:
»Halt! Wer seid ihr?«
Die andern standen still. Giacomo nahm die Flinte in beide Hände, der ›Luchs‹ spannte die zwei Hähne seiner Pistole, in der reinen Luft hörte man deutlich das Knacken; die Buben kauerten nebeneinander auf dem Boden, gafften und rührten sich nicht.
»Wer seid ihr, frag' ich im Namen des Gesetzes, und was wollt ihr?«
»Jäger sind wir! Auf Spürhunde jagen wir!« antwortete oben der ›Teufel‹ mit seiner rauhen tiefen Stimme.
»Streckt euere Waffen und folgt mir!«
Die Schmuggler lachten, ohne sich zu rühren und ohne die Augen von ihrem Gegner zu wenden.
»Du bist Giacomo Noli!«
»Und du etwa des Eseltreibers Giannuccio Kuckucksei!«
Der ›Luchs‹ lachte und die Buben stimmten ein, wohl ohne zu wissen warum.
»Ein Schelm, wer seine Mutter beschimpft!« rief Giovanni hinauf.
»Ein schlechtes Weib, das es mit andern hält!«
»Meinst du dein eigenes?«
»Das hütet sich!«
»Gestohlen Weib lohnt nie mit Treu!«
»Willst du mir's etwa abjagen, Bube?«
»Was sprichst du, Hund?«
»Der Kuckuck läßt nicht von seiner Art!«
»Das lügst du, Hund!«
»Ich hab' dir's heimgezahlt!«
»Spar' die Lunge, Giacomo!« rief der ›Luchs‹ dazwischen, indem er seine Pistole in Augeshöhe erhob. Ein Blitz zuckte, der zu weißem Rauch wurde; etwa zehn Schritte vor Giovanni flog der Schnee in die Höhe. Die Felswände ringsum krachten hundertfach.
»Höllendonner!« stieß der ›Luchs‹ hervor, »schieß du, Giacomo! ich muß ihm näher rücken.« Und er fing an den Abhang herab zu eilen.
Giacomos und Giovannis Gewehre flogen gleichzeitig an die Backen, die beiden Schüsse deckten sich: man hätte glauben können, ein Gewehr habe versagt.
Giacomo sank lautlos in sich zusammen; beim Fallen ging der zweite Schuß seiner Flinte los. Die jungen Luchse schossen jählings empor und setzten den Berg hinan, auf allen vieren, wie es schien.
Giovanni war in die Knie gesunken und stöhnte: »Maria, Maria!«
Der ›Luchs‹ mußte geglaubt haben, Giovannis Schuß gelte ihm: er hatte sich flach auf den Boden geworfen, schnell wie der Blitz. Jetzt schnellte er auf und kugelte den Berg herab, den Leib fast an den Boden geschmiegt. Giovanni sah ihn kommen, griff wieder nach dem Gewehr, das er hatte fallen lassen, und wollte die Hebelbewegung ausführen, um neu zu laden. Da entsank ihm die Waffe, er neigte sich vornüber und fiel hin, das Gesicht in den Schnee. Der ›Luchs‹ hatte im Laufen alles gesehen und stand still, die Pistole schußfertig. So lauerte er einige Minuten, dann schlich er behutsam heran.
»Rühre dich, du Schuft, wenn du noch lebst, oder ich erschieße dich wie einen räudigen Hund!«
Giovanni versuchte sich aufzurichten, aber er vermochte sich nicht einmal zu drehen. Da faßte ihn der Schmuggler an und wendete ihn auf den Rücken. »Bravo, Giacomo!« stieß er hervor, als er die Blutlache und seine rotgefärbten Hände sah, »bravo, Giacomo, er hat genug!« Dann ließ er ruhig den Hahn seiner Pistole herunter und murmelte: »Das Pulver können wir sparen!« Er steckte die Waffe in seinen Kittel, faßte den Stock, den er immer in der Linken geführt hatte, mit beiden Händen, hob ihn hoch auf und ließ ihn mit einem gräßlichen Fluch ein-, zweimal auf den Unglücklichen niedersausen. Man hörte die Rippen brechen.
Der ›Luchs‹ warf seinen Stock weg, raffte mit den Händen Schnee auf und rieb sich damit das Blut ab; hierauf zog er die Flasche aus dem Kittel und tat einen schweren Zug. Seine Buben waren unterdessen auch herbeigeschlichen, begafften den Toten und grinsten. Einer griff nach dem Gewehre. Der Alte ging hinauf, wo Giacomo lag, kniete nieder und sprach wohl ein kurzes Gebet. Dann kehrte er wieder zurück, trat auf seine Buben zu und sagte in hartem Tone: »Kniet nieder!« Und da sie nicht gleich gehorchten, griff er nach dem Stocke und wiederholte seinen Befehl. Nun taten sie's.
»Hebt diese drei Finger auf und sagt nach, was ich euch vorsage:
›Wir schwören, nie einem Menschen von Giacomos und Giovannis Tod ein Wort zu sagen, wir schwören's bei unserer Seligkeit. Amen.‹«
Die Buben wiederholten den Schwur Wort für Wort, dann, ehe sie sich's versahen, hob der Alte den Stock auf und ließ ihn zur Besiegelung ihres Gelübdes auf ihre Rücken sausen, daß sie heulend aufschossen und den Berg hinunter kollerten.
»Kommt her, ihr Schlingel!« rief er ihnen nach. Sie krochen mißtrauisch heran.
»Hier habt ihr Geld; geht ruhig nach Fionnen hinunter, kauft ein, was in die Säcke geht. Zu fürchten habt ihr nichts, der Berg ist jetzt sauber.«
Die Jungen machten sich davon, schneller, als sie zu gehen gewohnt waren, und bald verschwanden sie hinter den Abhängen.
Der ›Luchs‹ setzte sich in den Schnee und blieb noch etwa eine Stunde bei der Leiche sitzen. Ruhig, als wäre nichts geschehen, zog er seinen Imbiß hervor und fing an zu essen, die Bissen mit starken Schlücken Schnaps hinunterspülend. Als er satt war, zündete er seine Pfeife an, schmauchte gemütlich und brannte sie zweimal leer; dann erhob er sich, nahm Giovannis Leichnam auf seine breiten Schultern und trug ihn langsam den Berg hinan. Wo er wohl den armen Burschen versorgte? Hat er ihn in einen der Seen auf der Paßhöhe versenkt, in den nämlichen etwa, in dem der Träumer am Mittag die Mutter gesehen hatte?
Als er oben im Geröll des Mont Avril verschwunden war, wagte sich der Hirt endlich hervor und suchte Giacomo auf. Da lag er blutüberströmt, der braune Bursche, dessen Arme wie Eichenäste aus dem mächtigen Rumpf herauswuchsen und die Flinte noch fest umklammert hielten. Die Kugel war ihm mitten durch den Hals gedrungen. Den Hirten wunderte, was mit ihm weiter geschehe; er verbarg sich wieder, aber weiter weg von dem Orte der schrecklichen Tat. Nach geraumer Zeit erschien der ›Luchs‹ wieder, sah den Kameraden eine Weile an, band dann den langen Sack los, den er um die Schultern trug und steckte den Toten hinein. Er mußte ihn stark zusammenwürgen, aber schließlich ging es; er knüpfte den Sack zu, hob ihn auf die Schultern und davon keuchte der seltsame Leichenzug. Hat er die Last der Witwe heimgebracht? Und was hat sie empfunden, die Maria?
Im Sommer darauf, als Léon wieder auf der Alp war, sah er einmal oben ein Weib, das ihm scheu auswich und in jeden Schlund und hinter jeden Felsblock spähte. Sie war schwarz angezogen. War es Maria, die ihren Giovanni suchte?