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Freund Paul

Man sprach von der Macht einer Idee auf den Einzelnen, eine Generation, ein Volk, ein ganzes Zeitalter. Man trug Beispiele zusammen. Die Beweisstücke flogen über den Tisch her und hin, wurden geprüft, gebilligt oder zurückgewiesen. Der Forstmeister Frischknecht, ein etwas wunderlicher Träumer, der lange geschwiegen hatte, holte gleich zu einer ganzen Geschichte aus. Er nannte sie die »Tragödie seiner Jugend«.

»Es war in den …ziger Jahren,« begann er. »Ich studierte in B. Theologie. Ja, lächeln Sie nur! Man gelangt manchmal auf Umwegen in den Wald. Zu jener Zeit sah man mich selten allein. Mir war stets, die Hoffnung oder das Glück wandle an meiner Seite in der hohen, schlanken Gestalt meines Freundes Paul. Er hatte hellblondes Haar und schwarze Augen, seltsam.

Als wir vier Semester hinter uns hatten, kam über uns beide eine große Unbefriedigtheit: die Vorlesungen boten uns zu wenig, sie drückten sich an den tiefsten Fragen scheu und abwehrend, im Grunde ratlos vorbei, nie traten sie jenem Ungetüme, das jedem denkenden Theologen einmal bedrohlich den Weg versperrt, offenen Auges und festen Schrittes entgegen.

Wir beschlossen, B. zu verlassen, um an einer deutschen Universität zu studieren, besonders Philosophie. Wir hatten felsenfestes Vertrauen in unseren Glauben und in unsere Religion: sind wir erst durch das Bad der Philosophie gegangen, so werden wir die innere Wahrheit des Christentums nur um so deutlicher sehen und die Hindernisse, die unsere Theologieprofessoren mit Sophismen oder Schlagwörtern umgehen oder hinter ihren Brillen nicht sehen können, schon selber aus dem Wege zu räumen imstande sein.

Wir gingen nach Heidelberg, weil dort ein Philosoph mit glänzender Beredsamkeit lehrte.

Nun ging es mit vollen Segeln in die horizontlose Ferne. Horizontlos, freilich, aber auch trostlos! Kaum war mit sprudelnden Worten und mit dem Brustton der Überzeugung ein System aufgebaut, so wurde es auch wieder mit klatschender Hand zerschlagen, wie ein Kartenhaus. Ein System folgte dem andern, alle zerschmetterte selbstgefällig der redegewandte Mann auf dem Katheder, alle glichen einer Maschine, deren Erfinder behauptet, sie sei das Perpetuum mobile. Es ist alles, aber auch alles daran, nur die Hauptsache nicht.

Nun bekam der Zweifel Anteil an uns. Ist alles hohl und wurmfräßig, was die auserlesensten Geister aller Völker bis jetzt ersonnen und aufgebaut haben, wie soll das in Zukunft besser werden? Wie sollen wir uns einmal zu wahrer Erkenntnis durchringen?

Mit dem Glauben an die Menschheit zerstob auch der Glaube an die Gottheit und mit dem Streben ins Jenseits erlosch hinwiederum das Streben für das Diesseits. Wozu sich mühen? Wozu denken? Die Weltanschauung eines Bauern ist so gut wie die deine: beide sind Stückwerk, auf den Grad kommt es nicht an.

Paul und ich bewohnten das gleiche Zimmer. Wie oft saßen wir ganze Nächte bei der Lampe und disputierten, und jeder hätte gerne dem andern die Krankheit wegphilosophiert, an der wir beide gleicherweise litten. Und wie oft glaubten wir gegen Morgen, wenn der bleiche Tag zu uns hereinschlich, eine Lösung gefunden zu haben! Ach, wenn wir auf dem unruhigen Lager wieder erwachten, erwies sich der Stern, den wir glaubten entdeckt zu haben, als ein Nebelfleck oder als ein fauler Strunk.

Indessen waren zwei Semester verstrichen. Von Hause trafen Briefe ein, die sich nach unseren Studien erkundigten und fragten, wann wir gedächten unsere Examina zu bestehen. Wir konnten nichts Bestimmtes antworten, und ich teilte meinen Eltern mit ausweichenden Worten mit, daß ich mich mit dem Gedanken trage, das Studium der Theologie mit einem andern zu vertauschen. Der Brief mußte in meinem Elternhause einen heftigen Sturm erregt haben. Mein Vater, der die Waldungen unseres Städtchens als Förster überwachte, war eine derbe, hitzige Natur. Als er den Brief gelesen hatte, warf er sich gleich in sein Sonntagskleid, um nach Heidelberg zu fahren und dem ungeratenen Sohne, wie er sich ausdrückte, die langen Ohren zu zausen, bis er wieder Lust an der Theologie bekäme. Das Mütterchen hatte seine liebe Not, ihn von dem Vorhaben abzubringen, indem es ihm begreiflich machte, daß er mit seinem Poltern die Sache nur noch verschlimmern würde. Er solle ihr das Geld zur Reise geben, sie habe immer noch mehr Einfluß auf den Sohn gehabt als er.

So erschien denn eines Tages, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte, meine Mutter unter der Türe unseres Stübchens, gerade als Paul und ich uns abmühten, die Gründe zusammen zu tragen, die für und gegen den Materialismus sprechen, zu dem wir uns unwiderstehlich hingezogen fühlten, der uns aber in seiner maschinenartigen Trostlosigkeit entsetzte. Mir war, ich sähe mein strafendes Gewissen leibhaftig hereintreten.

›Du, Mutter? Was ist zu Haus vorgefallen?‹

›Erschrick nicht, Georg, ich hatte nur so sehr Heimweh nach dir und konnte nicht mehr schlafen davor. Du bist doch wohl?‹

Ich räumte die Bücher, die fußhoch auf dem Sofa lagen, hinweg, um meinem ›Gewissen‹ einen weichen Sitz zu bereiten und es so milder und versöhnlicher zu stimmen. Aber diese Kriegslist wäre nicht nötig gewesen: das Mütterchen fing an gemütlich über das und dies zu plaudern: über den Vater und den Wald, über Tante Susanna und das traurige Leiden und Ende ihrer Angorakatze.

Gegen Abend jedoch bat sie mich, ihr Heidelberg zu zeigen, besonders das Schloß, von dem ich so oft geschrieben hätte. Wir stiegen also zusammen den Hügel hinan und wanderten im Schatten der herrlichen Baumgruppen dahin. Auf einer stillen Bank ließen wir uns nieder, und nun begann das Examen. Ich suchte erst ausweichend zu antworten, die Klippen zu umgehen und einen leichtfertigen Ton anzuschlagen; aber das Mütterchen wußte, was es wollte, und drang so liebreich in mich, daß ich ihm schließlich alles beichtete.

Das war ein grausamer Schlag für die liebe Seele. Es war eine fromme Frau, und als sie alles wußte, schlang sie ihre schwachen Arme um meinen Hals und schluchzte, als hätte sie mich eben durch den Tod verloren. Mir selbst hingen die Tränen an den Wimpern.

›Ich habe immer zwei Dinge nicht verstanden,‹ sagte sie in ihrem Schmerze: ›wie man seinen Gott verlieren und wie man sich selber das Leben nehmen kann. Das eine hast du fertig gebracht, mir ist bang vor dem andern.‹

Als wir bei Sonnenuntergang den Schloßhügel hinab schritten, war es beschlossene Sache, daß ich Heidelberg verlassen und tags darauf mit der Mutter heimreisen sollte. Es wurde ein Versuch gemacht, meinen Freund zum gleichen Schritte zu bewegen, aber er ließ sich nicht überreden.

Zu Haus wurde mir nun diktiert, alles Studieren für einige Zeit zu unterlassen. Früh morgens trat mein Vater dröhnenden Schrittes vor mein Bett und weckte mich auf; dann ging es hinaus in den Wald, gradaus und links und rechts, wir waren überall und nirgends: hier wurde ein morscher Baum gefällt, dort einem die Krone gestutzt, gestern ein Weg abgesteckt, heute dem Waldbache sein Zerstörungswerk verleidet. Da hörte das Grübeln von selber auf, und kam ich abends nach Hause, war ich so müde, daß mir manchmal beim Abendbrot die Augen zufielen.

Wer meinem Vater dieses Heilverfahren angeraten, weiß ich nicht, aber gut war es. Schon nach einem halben Jahre begriff ich nicht mehr, wie ich meine Zeit einst mit nutzlosem Grübeln hatte totschlagen können. Das Leben im Walde übte einen mächtigen Reiz auf mich aus.

Ich sah täglich die Schöpfung am Werk, ich sah das sich immer erneuernde und ablösende Werden, Wachsen und Vergehn. Ich sah das Zusammenleben, das Sich-Schirmen und Decken, aber auch den Kampf um Licht und Wärme und Erdenkraft. In besonderen Feierstunden schaute ich überall das Sehnen nach der Höhe, nach der Sonne, nach Erlösung aus dem schweren Bann der Erde. In jedem Gipfel, in jedem Zweig, in jeder Nadel und in jedem Blatt fiel es mir entgegen. Ging ich durch den Wald, so fühlte ich mich aufgenommen, ganz verstrickt in die große Familie alles Lebenden, in ein wundersames Streben von der Erde weg in ein leichteres, reineres Land. Streifte ich einen Strauch mit der Hand, ein Moos, eine Knospe mit dem Auge, war mir, ich sei das alles auch einmal gewesen. Ich wurde selber ein Stück Wald und sonnenergebene Natur, ich war glücklich, ich fühlte mich gerettet. Nie war ich ein besserer Theologe. Ich beschloß Förster zu werden. Erst wollte ich mir unter Anleitung meines Vaters die nötigen praktischen Kenntnisse erwerben und dann eine Forstschule beziehen.

Von meinem Freunde Paul erhielt ich sehr spärliche Nachricht. Ich schrieb ihm von Zeit zu Zeit, erhielt aber selten Antwort; und die Briefe, die er mir schickte, zeigten, daß er immer noch im gleichen Fahrwasser trieb. Auch sein Vater erfuhr nicht mehr als ich, und das war ein Kreuz für den armen, hilflosen Mann.

Er war Arzt gewesen. Einst, als er bei Nacht, im Winter, zu einem Kranken gerufen worden war, fiel er auf dem Glatteise hin und litt seitdem an einem Rückenmarkleiden, das ihm nach und nach die Füße lähmte. Er hatte seine Frau längst verloren und auf der Erde nur noch den einen Wunsch, sein Paul möchte etwas Rechtes werden.

Fast jede Woche ließ er mich einmal an seinen Rollsessel rufen und fing dann an von seinem Sohne zu plaudern, mich über ihn auszuforschen. Eines Tages, als wir so bei einander saßen, sagte er: ›Sie könnten mir einen großen Dienst tun: reisen Sie nach Heidelberg und bringen Sie mir ihn zurück.‹

Ich versprach es ihm und ein paar Tage später stand ich in dem Stübchen, in dem ich so oft geträumt, disputiert und spintisiert hatte.

Paul lag auf dem Sofa, den Kopf auf dem einen Seitenpolster, die Füße auf dem andern. So hatte ich ihn früher nie gesehen. Als wir uns begrüßt hatten, musterte ich die Bücher, die auf dem Tische lagen. Es waren alte Bekannte, und war ein neues darunter, so war's ein unterhaltendes.

›Was treibst du, Paul?‹

›Nichts, wie du siehst; wozu sollte ich auch?‹

›Aber etwas muß doch der Mensch treiben!‹

›Wozu?‹

›Erschreck' mich nicht mit deinem tonlosen Wozu!‹

›Nun, so will ich es lachend sagen! Du bist jetzt Förster und ich gratuliere dir dazu, das ist doch etwas, bei dem man die Hand des Schicksals, besonders des Todes, spielen kann. Nun hör' mir zu und sage: Wenn einer von deinen vielen Bäumen nicht mehr wächst, ist das ein großes Unglück?‹

›Nein, das wohl nicht. Aber …‹

›Gut, so ein Baum bin ich. Du mußt dich daran gewöhnen.‹

›Aber wie kommst du zu dem grauen Standpunkte?‹

›Grau? er ist nicht trostloser als ein anderer, aber gewißlich philosophischer als alle! Wie viele Millionen und Milliarden von Menschen sind schon auf der Erde gewallt? von wie vielen spricht man noch? Was aber ist im Auge des Denkers das Leben und Wirken jener ungezählten Menge, von der man nicht mehr spricht? Luft! Nichts! Wozu haben sie sich abgemüht und gequält? Wozu sich geängstigt und gefreut? Die Menschen sind Schneeflocken, die der Wind an die Halde weht und die darauf von der Sonne geschmolzen werden; und sind sie erst Wasser geworden und ins Meer geflossen, wer fragt noch danach? Alles Leben auf der Erde wird einst ersterben und es wird die Zeit kommen, da weder Pflanzen, noch Tiere, noch Menschen diese kalte Kugel bewohnen, ja sie selber wird einmal zugrunde gehen, in einer Weltkatastrophe zersplittern, verdampfen. Und ist es so weit, wie steht es dann um die Menschen, die einst darauf gewohnt und gedacht und gelitten und sich an dem unendlichen Kletterbaum die Hände blutig geschunden haben? Im Weltentod vergehen die Werke wie die Namen, die der größten wie die der kleinsten, und für den ganzen unendlichen Rest der Zeit zeugt kein Atom mehr von einem Plato oder Kant oder Christus. Die ganze Welt wird seelenlos, gottlos sein. Und ich soll mich mühen und schinden, obschon ich weiß, daß ich keiner von den Großen sein werde? Schinden, damit man an meinem Grabe ein paar tönende Sätze spreche, die man eine Stunde später beim Bier oder Wein wieder vergißt? Nein, Freund! Bei allem, was ich tue, habe ich mich gewöhnt zu fragen: Wozu? Unterbrich mich nicht! Höre wie es kam! Es war in einer dunkeln Nacht. Das Öl war mir ausgegangen, ich besaß nicht einmal ein Streichhölzchen. Ich starrte in die Finsternis. Und dann fand ich es. Oh, es war sehr einfach, aber schwer, wie alles Einfache. Die meisten können es nicht. Du, zum Beispiel, wirst es nie können. Ich will dir die Sache erklären: Ich habe mich ganz einfach aus der Welt weggedacht. Zuerst fiel mein Leib; ich löste ihn im All und im Dunkel auf, wie man Salz im Wasser löst. Dann zerblies ich meinen Namen, hierauf meinen Stolz, meinen Eigendünkel, meinen Verstandesdünkel, meinen Ehrgeiz, den Menschenwahn, den Wissenswahn, den Unsterblichkeitswahn. Zuletzt setzte ich eine Null, wo mein Selbstbewußtsein war. Das war das Schwerste, und ich gebe zu, daß ich hier nicht ganz erfolgreich oder konsequent war. Die Null, in die ich den bewußten seltsamen Punkt in mir ertötete, begrub, war die verlassene Seelenzelle eines verdorrten Baumes. Warum es gerade ein dürrer Baum war, kann ich nicht sagen, es hätte ebensowohl ein Klumpen Eisen oder Blei oder Lehm oder ein Wassermolekül sein können. Du begreifst: all das war so eine Art inneren Erlebnisses, eine Vision, eine Versenkung. Das ist's! Eine Versenkung! Und als ich daraus wieder aufstieg, war ich so weit. Und nun warte ich. Du verstehst schon! Vegetieren wäre nicht das rechte Wort. Ich bin ja ein dürrer Baum, die verwaiste Seelenzelle einer abgestorbenen Tanne.‹

›Ist das ein Leben, das deiner würdig ist?‹

›Warum nicht? Ich meine erst recht!‹

›Denkt und tut jeder so, so hat der Menschheit letzte Stunde geschlagen!‹

›Was läge daran? Es wäre die Erlösung! Jetzt oder in hunderttausend Jahren, was ändert das? Das ganze Leben der Erde ist kaum ein Augenblick in der unendlichen Zeit und alle Wiederkunft ist ein Märchen! Übrigens zwinge ich niemand, meinem Beispiele zu folgen! Jeder tue, wie ihm gefällt. Ich will kein Apostel sein, den Ehrgeiz kenne ich nicht!‹

›Paul, du mußt unsäglich unglücklich sein!‹

›Im Gegenteil: diese abgerundete Weltauffassung, wo jede Konsequenz gezogen ist, hat mir völlige Seelenruhe gegeben: ich könnte das Haus über mir einstürzen sehen, ich würde mich nicht rühren auf meinem Sofa.‹

›Aber das ist ja Verrücktheit!‹

›Halte mich für verrückt, wenn es dich so gut dünkt.‹

›Für einen Menschen, der so denkt, bleibt nichts als eine Kugel …‹

Paul zuckte mit den Achseln und sagte gleichgültig: ›Vielleicht!‹ Dann nach einer Weile:

›Es wird alles kommen, wie es muß. Die höchste Maschine, die ich kenne, ist die Uhr. Man zieht sie auf, sie läuft ab, man zieht sie wieder auf. Das geht ins Unendliche, in der Theorie nämlich. Aber für jede Uhr kommt die Stunde, da sie völlig ausgelaufen ist. Man sieht ihr äußerlich nicht viel an. Und doch … Zieh mich nicht auf, Freund, zieh mich nicht unnötigerweise auf!‹

Ich hatte ein schweres Stück Arbeit, meinen Freund zur Heimreise zu bewegen. ›Wozu soll ich Heidelberg verlassen? Wozu soll ich meinem armen Vater die letzten Tage noch trauriger machen? Denn glaube nicht, daß eine Luftveränderung mein philosophisches Gebäude über den Haufen werfe! Ich habe es zu fest in mir begründet. Alles ist zu Ende gedacht.‹

Endlich gab er doch meinen Bitten und Vorstellungen nach.

Der hilflose Zustand des Vaters schien einigen Eindruck auf Paul zu machen. Jedenfalls ließ er sich überreden, dem Kranken zulieb seine Zeit mit etwas Nützlichem zuzubringen und einen praktischen Beruf zu ergreifen. Der Umstand, daß er sich zu dieser Inkonsequenz hatte bewegen lassen, gab mir wieder Hoffnung.

Durch Vermittlung der Freunde seines Vaters erhielt er eine Lehrstelle an den unteren Klassen des Gymnasiums. Aber bald zeigte es sich, daß ihn sein ewiges: ›Wozu?‹ zum Lehrerberuf unfähig machte. ›Wozu die Buben mit diesem nutzlosen Zeuge quälen? Wozu sie wie ein Feldwebel anfahren und in Zucht halten? Wozu? wozu?‹

Es ging nicht lange, da erklärte die Schulbehörde, Pauls Unterricht sei ungenügend: die Disziplin mangelhaft, der Lehrer gleichgültig und die Resultate dem entsprechend. Er wurde gemahnt und quittierte tags darauf seine Stelle.

Ich riet ihm eine Beschäftigung im Freien an, und wir fanden einen Geometer, der bereit war, ihn praktisch in seinen Beruf einzuführen. Aber auch da ging es nicht auf die Dauer. ›Wozu den Acker mit dieser peinlichen Genauigkeit ausmessen? Als ob die Erlösung der Menschheit an einer Dezimale hinge!‹

Was nun anfangen? An einem grauen Wintertage nahm ich ihn mit in den Wald hinaus, um in der Einsamkeit Sturm auf ihn zu laufen. Ich hatte mir die Predigt, die ich ihm halten wollte, schön erdacht, und in einem mächtigen Tannenschlag, der wie ein gotischer Tempel über uns himmelan strebte, ließ ich sie auf ihn los. Ich geriet beim Reden ins Feuer und schrie ihn zuletzt pathetisch an: ›Raffe deinen Willen zusammen, Paul! Zeig', daß du nicht von einem Holze bist, das höchstens dazu taugt, in einem Moraste zu verfaulen! Kämpfe deine unseligen Ideen zu Boden, werde ein Mensch wie andere Menschen und gib deinem Leben einen Zweck! Leben wie eine Dogge oder noch elender! Da hat man ja aufgehört, ein Mensch zu sein.‹

Er lachte mir ins Gesicht.

›Sei kein Narr,‹ sagte er, ›jeder wird, was er werden muß: wäre ich vielleicht nur ein ganz wenig anders geartet, oder in andere, flachere Verhältnisse gedrängt worden, wäre mein Gehirn nur um ein paar Gramm leichter, das Schicksal hätte aus mir wohl etwas ganz anderes gemacht, vielleicht so etwas, was man ein nützliches Glied der Gesellschaft nennt. Ja, wenn! wenn! Mein besonderes Schicksal besteht eben darin, daß mich der Gedanke, die Überzeugung von der Nichtigkeit alles Irdischen ganz durchdringt und beherrscht! Der Gedanke ist groß! Du sagst mir, ich solle einen Lebenszweck suchen: ich finde jeden lächerlich, weil nichtig, und einer Lächerlichkeit jage nach, wer da will.

Ihr aber mit euerm ewigen Dreinreden und Schulmeistern verleidet mir das Leben ganz, und wenn ihr mich nicht nach meiner Überzeugung wollt leben lassen, so mache ich der Komödie ein Ende, auch auf die Gefahr hin, euch mit Gewissensbissen zurückzulassen. Ihr verdient eine kleine Strafe.‹

Ich flehte ihn an, an seinen Vater zu denken, und an die Blicke, mit denen der arme Mann ihn jeden Abend ansah und die fragten: ›O du einziges Wesen, an dem ich noch Anteil nehme in meinem Elend, hast du für dein Leben immer noch keinen Inhalt gefunden? O suche, suche, deinem sterbenden Vater zulieb!‹

Er ließ sich erweichen und versprach mir in die Hand, wenigstens bis zum Tode seines Vaters zu arbeiten und zu tun wie andere Leute.

Froh des errungenen Erfolges kehrte ich mit ihm nach Hause. Als wir bei ihm eintraten, bemerkten wir große Aufregung in der Stube: der alte Mann lag wie tot auf seinem Rollsessel: ein Schlagfluß hatte ihm das Bewußtsein geraubt, und acht Tage später begruben wir ihn.

Ob der Tod des Vaters Paul erschütterte, wer weiß es? Er ließ sich nichts anmerken. Sich aufzuraffen vermochte er jetzt weniger als je. Ich ersann alles mögliche, um ihn zur Arbeit anzuspornen: seit bei ihm zu Haus die mahnenden, fragenden Augen erloschen waren, vermochte ich nichts mehr über ihn.

Da fiel mir noch ein letztes Mittel ein. In B. hatte Paul als Student ein Fräulein kennen gelernt, ein reichbegabtes, herrliches Geschöpf, das aber wußte, daß es nicht gewöhnlichen Schlages war und jedem, der sich nähern wollte, seinen Wert zu fühlen gab.

Paul wurde heftig in das Mädchen verliebt, aber wenn er ihr entgegentrat, fühlte er empfindlich, daß er noch nichts war. Das war vielleicht auch einer der Gründe, warum er B. verließ, er mochte hoffen, in ein paar Jahren zuversichtlicher vor das Mädchen treten zu können. Ach! er ahnte nicht, daß es mit ihm ganz anders kommen sollte! Jetzt nach dem Zusammenbruche seiner realen Lebensbrücke, konnte er nicht mehr daran denken, ihr unter die Augen zu treten, und nie mehr kam ihr Name auf seine Lippen. Was mußte es ihn gekostet haben, ihr Bild zu verdrängen!

In meinem Bestreben, dem armen Freunde zu helfen, reiste ich nach B. und suchte das Mädchen auf. Sie erinnerte sich noch lebhaft des schönen, gescheiten Studenten; vielleicht hatte sie seiner geharrt.

Sein Schicksal ging ihr so nahe, daß ihr die Tränen in die Augen traten, und ohne viele Mühe konnte ich sie dazu bewegen, einen Rettungsversuch zu machen.

Durch meine Vermittelung wurden die beiden zusammengeführt. Julia, so hieß das Mädchen, versprach, mir selbigen Tages noch das Ergebnis der Unterredung mitzuteilen. Als ich am Abend spät aus dem Walde zurückkehrte, fand ich ein Briefchen mit folgenden Worten auf meinem Tische:

›Ich habe getan, was in meiner Kraft und vielleicht mehr, als in meiner Würde ist, um unsern Freund zu retten. In meinem Leben habe ich keine traurigere Stunde erlebt: es war alles umsonst! Es bleibt mir nichts übrig, als ihn zu beweinen. Stehen Sie dem Unglücklichen bei!

Julia K…‹

Am folgenden Tage suchte mich Paul auf und kam mit mir in den Wald hinaus, wo ich Arbeiter, die Holz fällten, zu überwachen hatte. Es war kalt, der Schnee lag tief auf dem Lande und darüber schlich eine neblige Luft, die den Rauhreif an die Äste und Nadeln der Tannen hauchte. Es war kein Wetter, das fröhlich stimmte, und wir sprachen wenig. Ich hoffte, Paul werde mir von Julia erzählen, aber er berührte ihre Unterredung mit keiner Silbe. Dennoch mußte sie ihn beschäftigen: als wir im Wald einer Frau begegneten, die mit ihren vier Kindern Holz sammelte, sprach er: ›Wie würden die Menschen glücklich sein, wenn man ihnen begreiflich machen könnte, wie lächerlich im Grunde alle Erdensorge und das ganze Leben ist, und wie leicht es einem reifen Pilgrim wird, sein irdisches Bündel von sich zu schleudern. Freilich sollte man keinen Kindern das Leben gegeben haben, wie jene Mutter dort, denn, wenn man sie gebiert, übernimmt man ihnen gegenüber Pflichten und das Leben verliert seine Freiheit. Das ist die Überlistung des Menschen durch die Natur. Das große Geheimnis aber ist, der Liebe zu widerstehen, so bleibt man Herr seiner selbst und kann Abschied nehmen von der Welt, wenn man genug von ihr weiß.‹

Derweil kamen wir zu unsern Arbeitern. Wir blieben bei ihnen stehen und sahen den Tannen zu, die rauschend herabfuhren und mit den dunklen Ästen dumpf aufschlugen.

›Wie majestätisch ihr Fall ist,‹ sagte Paul, ›trotzig, wie lebensüberdrüssige Riesen strecken sie sich hin und knirschen noch: Bleib mir fern, du Wurm, oder ich zermalme dich noch im Tode!‹

Ich machte mir bei den Holzhauern etwas zu schaffen. Da, nach einer Weile, kam Paul heran und sagte, ich möchte ihm eine Axt verschaffen, er wolle auch eine Tanne schlagen. Ich entsprach ihm; warum hätte ich auch nicht gesollt? Er wählte eine der mächtigsten und fing an drauf los zu hauen. Da er die Axt etwas ungeschickt führte, wollte ich ihm helfen. Er aber bestand darauf, seinen Bruder, wie er lächelnd sagte, ganz allein zu fällen: ›Ich werde doch soviel noch imstande sein! Wie?‹

Als der Stamm mehr als zur Hälfte durchschnitten war, verlangte er ein Seil, das er vermittelst einer Leiter oben in den Ästen befestigte. Heruntergestiegen, fing er an, an dem Seile zu reißen, aber die Tanne erzitterte kaum. Arbeiter wollten ihm helfen, er wies sie fast heftig ab: er wollte alles allein machen und ergriff die Axt wieder, um den Widerstand des ›Bruders‹ zu brechen.

Als er wieder nach dem Seile griff, rief ich ihm zu: ›Tu's nicht allein, es könnte leicht ein Unglück geben!‹

›Ein Unglück? Nein, sei ruhig! Ein Unglück gibt's wahrlich nicht!‹

›Geh' einer und helfe ihm!‹ rief ich den Holzhauern zu.

Da wurde er zornig: ob man glaube, er sei ein Kind? Er habe nun doch lange genug zugeschaut, um zu wissen, wie man es anfange!

So ließen wir ihn gewähren, nicht ohne Bangen.

Noch war der Stamm zu fest, noch einmal half Paul mit der Axt nach. Als er wieder anzog, fing der Wipfel bedrohlich zu schwanken an.

›Wenn er gegen dich kommt, so spring' zur Seite!‹ rief ich ihm zu, ›dort nach links ist das Entweichen leicht, Zeit wirst du genug haben, er ist hoch, aber säume ja nicht! Säume nicht!‹

›Sei unbesorgt! Nach links ist das Entweichen wirklich leicht.‹

Paul zog aus Leibeskräften; der Stamm knackte, oben neigte sich der dunkle Wipfel und guckte über die unteren Äste hinweg auf den Boden hinab, als wollte er die Höhe überschlagen. Schon fing es oben in den Zweigen zu sausen an, und der hohe Stamm drehte sich wie ein ins Rennen geratener riesiger Uhrzeiger.

›Paul, flieh! flieh! um's Himmels willen! Siehst du denn nicht?‹

Er aber stand fest, warf das Seil von sich und schaute hinauf zu dem fallenden Bruder.

›Flieht! flieht!‹ riefen die Arbeiter.

Doch er schaute hinauf und machte noch langsam zwei Schritte nach links, um dem Riesen die Mühe zu ersparen, die Fäuste nach ihm auszustrecken.

Ich sprang wie toll auf ihn zu, ohne zu bedenken, was ich tat.

Knackend und krachend fuhr der Baum nieder, ein Ast warf mich zu Boden und schlug mir eine Schulter entzwei. Mein Freund wurde von der Krone begraben. Man zog ihn leblos hervor.«

Der Erzähler schwieg eine Zeitlang, dann sprach er eindringlich, wie in einer tiefen Erregung oder aus einem Leid: »Wäre man allein Mensch, man könnte, man müßte vielleicht denken wie mein Freund. Aber wir sind Menschen neben Menschen, jeder ist eines andern Hand und hat kein Recht, sie ihm zu entziehen. Wir sind nicht Einzelne, wir sind Glieder, jedes dem Ganzen irgendwie für seine Kraft verantwortlich. Nur so kann die Welt vorwärts kommen. Nur so!«

Eine Dame drückte ihm warm die Hand: »Ihre Einsicht, Herr Forstmeister, hat die Welt noch nicht erobert, aber sie muß es!«


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