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Vom Golde

Es ist lange her.

In Gsteig war Kirchweih. Der Hirschenwirt hatte auf seiner Hausmatte einen Bretterboden erstellt. Zwei Geiger saßen daneben unter dem Ahorn und lockten junges und altes Volk herbei.

Ursula Ambüel schritt von ihrem Haus, das in der Höhe lag, halb tanzend dem ›Hirschen‹ zu und wäre gelaufen wie ein Fohlen, wenn eine so sichtliche Äußerung der Tanzlust für ein zwanzigjähriges Mädchen wohlanständig gewesen wäre. Bot sich irgendwo eine Gelegenheit zum Tanz, so war sie nicht zu halten. Sie war die wildeste in ganz Gsteig.

Der Tanzboden dröhnte schon wie eine Trommel, als sie ankam. Nicht lange nach ihr stieg ein Bursche den Berg herunter, lehnte sich an einen Baum und schaute dem Tanzen zu. Er sah wunderlich aus. Er trug einen Kittel aus grauem Ziegenfell und ganz kurze Hosen. »Der kommt über den Berg,« sagten die älteren Leute, »es ist ein Ormunter, was er wohl suchen mag? Ein Wunder, daß er nicht nackt gekommen ist!«

Da geschah es, daß die Burschen Ursula einmal im Stiche ließen und sie dem Tanzen zusehen mußte. Das würgte sie, und im Ärger lief sie hin zu dem Burschen im Ziegenfell und fragte ihn, ob er keinen Ländler mit ihr probieren möchte. Er maß sie mit den Augen, faßte sie dann, wie sich's gehört, und nun ging's im Kreise wie geflogen. Sie tanzte den ganzen Abend mit keinem andern mehr als mit ihm, teils aus Trotz gegen die Dorfburschen, die sie fast um einen Tanz gebracht hätten, teils weil ihr der Ormunter gefiel, denn er tanzte leicht wie keiner im Dorfe und hübsch war er auch. Nun ärgerten sich die Einheimischen, sie fingen an, den im Ziegenfell zu necken, wollten ihm beim Tanzen das Bein stellen und ihn hinpurzeln lassen. Aber der Ormunter verstand keinen Spaß; als ihm wieder einer zu nahe kam, ließ er seine Tänzerin plötzlich los, griff nach dem Burschen und schleuderte ihn auf den Boden, daß er ohnmächtig liegen blieb. Man hielt ihn erst für tot, und das war ein Glück, denn in der Bestürzung vergaß man, an dem Fremden gleich Rache zu nehmen, und als man sich darauf besann, hatte sich die größte Wut schon wieder gelegt. Der Ormunter lehnte sich an den Baum wie zuerst, seine Augen gingen von einem zum andern, und jeder hielt es für geraten, ihn in Ruhe zu lassen.

Das Jahr ging um und wieder wurde es Kirchweih. Als Ursula der Hirschenmatte zuschritt, war ihr beständiger Gedanke: »Wird der mit dem Ziegenfell wieder da sein?« Freilich war er da; sie erkannte ihn jedoch nicht sogleich, denn diesmal trug er nicht ein braunes, sondern ein schneeweißes Ziegenfell. Die andern riefen ihr von ferne zu: »He, Ursula! deiner ist schon da!« Er lehnte wieder am Baum und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Als er sie sah, kam er langsam, aber gerade auf sie los: »Wollen wir wieder zusammenhalten?« Und sie hielten wieder zueinander, wie das erstemal. Neckereien setzte es wieder ab, Händel aber nicht, und es war ein schöner Tag für Ursula.

Am Sonntag drauf kam der Ormunter zum drittenmal nach Gsteig, stellte sich vor Ursulas Vater hin und sagte, er hätte seine Tochter gerne zur Frau. Jost Ambüel machte große Augen: »Da wird nichts draus,« polterte er, »ich gebe meine Ursula nicht unter die Wilden! Warum nimmst du dir keine Ormunterin, die zu dir paßt?«

»Weil ich keine mag! Ihr merkt ja an meiner Sprache, daß ich kein geborener Welscher bin, sondern ein Berner, und eine Bernerin will ich zur Frau. Wir stammen aus Saanen, sind aber hinübergezogen, als ich noch ein Kind war, und nun bleiben wir dort, weil es uns gefällt, denn man kann überall glücklich sein, und in Ormunt erst recht. Ihr meint, es seien Wilde drüben? Warum? Weil sie nicht schreiben und nicht lesen lernen, keinen Schulmeister haben und sich in Ziegenhäute stecken? Kommt denn Glück und Zufriedenheit vom Schulmeister oder Pfarrer oder vom wollenen Kittel? Wir haben drüben kein Geld, aber gute Weiden haben wir, und Rinder und Kühe, daß es eine Art hat, und Ziegen, flink und gescheit wie Gemsen. Es fehlt mir nichts als eine rechte Hausfrau, denn meine Mutter starb vor anderthalb Jahren, und nun haushalten wir allein, mein Vater, mein Großvater und ich, und da geht es eben, wie's mag.«

Jost Ambüel war nicht überzeugt; er sagte stets: »Es wird nichts draus!« und als der Ormunter ging und zögernd vom Hause wegschritt, öffnete er noch das Läuferchen und rief ihm nach: »Es wird nichts draus!« Ursula aber wischte zur hinteren Tür hinaus, erreichte ihren Tänzer mit ein paar Sprüngen und sagte zu ihm, er solle nur getrost heimgehen und sie sorgen lassen.

Nun kamen unangenehme Tage für Ursula. Aber sie ließ nicht nach, und drei Sonntage später sagte der Vater ärgerlich zu ihr: »Nimm einen Stock, wir wollen hinüber. Hast du die Wilden gesehen und willst dann bei ihnen bleiben, nun, so mag's mir recht sein.«

So gingen sie, Ursula voraus, er hinterdrein, und sprachen nichts zueinander. Damals führte noch keine Straße hinüber, ein Geißweg stieg am Bache entlang empor zwischen den Wettertannen hindurch und jeden Augenblick von einem Ufer des Wassers zum andern. Es schien Ursula ein langer Weg, und jedesmal, wenn sie den Bach überschritt, maß sie das Wasser mit den Blicken und dachte: »Es ist immer noch tief, es muß noch weit sein bis auf die Höhe.« Nach und nach aber wurde der Bach doch zum Bächlein, und die Sonne stand noch lange nicht im Mittag, als der Wasserlauf in ein paar Tümpeln sich verlor und die beiden oben auf der Paßhöhe waren. Nun redete der Ätti zum erstenmal: »Wir wollen hier den Imbiß nehmen.«

»Tu's, Ätti,« sagte sie, »ich habe keinen Hunger.«

»So kann auch ich es noch aushalten, geh voran, dort rechts zwischen den Lärchen hinunter!« Nach einer halben Stunde traten sie auf eine Weide hinaus, und vor ihnen lag ein schöner Talgrund mit vielen braunen Hütten, die zerstreut an den Abhängen klebten.

»Ist das Ormunt, Ätti?«

»Was sollt' es sonst sein?« Er war sehr mißvergnügt.

»Aber das ist ja gar kein wildes Land! Das Tal ist sonnig und die Weiden scheinen mir gut. Schau, wie weit sie hinaufgehen. Er hatte recht, hier ist …«

»Schau dir die Leute erst an!« brummte Jost.

Sie stiegen ins Tal hinunter. Die erste Hütte stand offen, war aber leblos und verlassen, die zweite und dritte auch. Sie suchten weiter: kein lebendes Bein ließ sich sehen, das ganze Tal schien ausgestorben. Endlich, als sie es schon halb aufgegeben hatten, hörten sie etwas wie eine menschliche Stimme. Sie kam von einer Hütte her, die ein wenig in der Höhe in einer fetten Matte stand. Sie stiegen hinauf; immer deutlicher ward die Stimme. Jost zwinkerte mit den Augen und sagte spöttisch: »Hörst du's?«

»Ja, wenn das ihr gewöhnlicher Ton ist, so gnad mir Gott!« dachte Ursula.

Die Stimme kam hinter der Hütte hervor. Sie gingen ihr nach. Als sie um die Ecke bogen, blieben beide wie auf ein Zeichen stehen, so seltsam war, was sie sahen. Da stand eine Frau, sie, die so schrie, hoch aufgerichtet, und warf ihre langen, nackten Arme in die Luft. Sie war barfuß und der Rock reichte ihr nur bis auf die Knie. Vom Kopf herab hing mächtiges, schneeweißes Haar über Nacken, Schultern und Brust, es war so dicht, daß es fast das ganze Gesicht verdeckte. Von dem sah man nur die schwarzen, flammenden Augen und eine große krumme Nase, deren Rücken scharf war wie der einer Messerklinge. Sie gewahrte die Fremden nicht, denn ihre Blicke zielten nach einem Männchen, das vor ihr auf einem geschälten Lärchenstamme saß, ruhig an einem Pfeifchen sog und lächelnd den Rauch zu dem wilden Weibe hinaufblies. Er sprach keine Silbe, sie aber schleuderte die Wörter auf ihn herab, als wären es Steine, langsam und wuchtig, und bei jedem Ausruf warf sie die Arme in die Höhe, bald mit ausgespreiteten Fingern, bald mit geballter Faust, und ließ sie dann klatschend auf ihr Röcklein fallen.

Obschon Jost und Ursula nicht viel Welsch verstanden, merkten sie doch, daß es ein gräßliches Fluchen war, was der Alten aus dem Munde kam, und es fror sie halb bei dem Klang der Stimme. Ein Satz kehrte jeden Augenblick wieder, wie der Schluß eines Liedes: »Möcht' dich der Schnee erdrücken, oder möcht' dich das Wasser ersäufen, oder möcht' dich der Blitz erschlagen, du fremder Strolch!«

Als sie einmal einen Augenblick von ihrem Opfer abließ, wohl weil ihr der Atem ausgegangen war, fiel ihr Blick auf die Fremden. Das war ein Blick, der dreinfuhr, wie die Sense ins Gras. Ihre Arme hoben sich langsam und ihr zahnloser Mund öffnete sich. – »Nun wird das Wetter auf uns losfahren,« dachte Ursula und zuckte zusammen, wie einer, der einen Stein auf sich zufliegen sieht. Aber die Alte drehte sich um, hob einen Haselstock auf, der ihr zu Füßen lag, und schritt langsam die Halde empor, indem sie ein Selbstgespräch anhub, das wie abziehender Donner klang.

Der Mann mit der Pfeife hatte die Fremden natürlich nun auch bemerkt. Er erhob sich und grüßte. Er war gut gekleidet; es konnte kein Ormunter sein.

Er redete sie auf Französisch an; Jost aber unterbrach ihn mit dem üblichen: »Nit Welsch!« Da fing er an, deutsch zu reden, was wohl seine Muttersprache war.

»Kennt Ihr sie schon, die Alte dort?«

»Nein!«

»Ich nenne sie Berganni, eine verrückte Hexe, sie bringt ihre alten Tage damit zu, die andern zu verfluchen. Auf mich hat sie es aber besonders abgesehen, und es ist begreiflich, wenn ich auch an der Geschichte unschuldig bin wie ein neugebornes Kind. Ich bin noch nicht lange hier, drei Jahre sind's im Frühjahr gewesen. Ich bin Viehhändler, der einzige im ganzen Tal, und der einzige, der etwas Geld in diese gottverlassene Welt gebracht hat. Daneben bin ich noch Vieharzt; ich sollte das eigentlich vor dem anderen sein, aber Ihr begreift: ein Vieharzt in einer Gegend, wo kein Geld ist, wo die Leute nicht einmal wissen, daß es für Menschen Heilmänner gibt, wie soll er da von seinem Berufe leben. So ist der Vieharzt zum Viehhändler geworden und … ach nun, eins gilt das andere!

Vor zwei Jahren habe ich der Alten oder besser ihrem Mann ein Rind abgehandelt; es war ein wildes Vieh und er ein alter Mann. Als er's einfangen wollte, hat es ihn überrannt, und er ist daran gestorben. Das hat die Alte um den Verstand gebracht, und seither sieht sie in mir nichts anderes als den leibhaftigen Gottseibeiuns. Wo sie mich antrifft, hält sie mir eine kleine Bußpredigt, und führt uns der Zufall lange nicht auf den gleichen Weg, so steigt sie zu mir herunter wie heute, und ich lasse es dann ruhig über mich ergehen, denn sie kann ja nichts dafür. Die Leute aber scheuen sie und sagen, sie sei eine Hexe und könne auf ihrem Haselstock fliegen wie eine Krähe, man habe sie schon gesehen. Wer darum unfreundlich von ihr reden will, nennt sie die Hexe.

Die Alte hat den Wahn, ihrem Manne sei das Zeitliche nur deshalb gekürzt worden, weil er gegen die Gewohnheit der Ormunter geldgierig geworden sei und mit einem Fremden gehandelt habe. Das ist das Salz und der Pfeffer ihres Geschreis: das Einheimische ist gut, das Fremde vom Teufel. Heute hat sie auf mich losgewettert, weil ich rauche; sie fürchtet, bald werde das ganze Tal rauchen und dampfen, als hätte der Böse die Hölle unter Ormunt eingebaut. Ein andermal ergeht sich ihre Zunge über meine Schuhe und Strümpfe, oder über meinen Kittel und meine Hosen, und auch mein Frauchen wird nicht verschont, weil es einen Rock trägt, der bis auf die Knöchel reicht. Am schlimmsten aber ist es, wenn sie mir ihre Meinung über das Geld sagt: hört man sie, so möchte man glauben, an jedem Silberstück gehe ein Leben und an jedem Goldstück eine Seele zugrunde.«

Der Viehdoktor hätte noch lange geschwatzt, hätte Ursula ihn nicht unterbrochen und gefragt, ob es nicht einen Peter Schneiter in Ormunt gebe. Der Pfiffikus blinzelte sie mit seinen kleinen schlauen Äuglein an, und sie sah wohl, er hatte es gleich heraus, warum sie gefragt hatte. Er lächelte. »So, so, Ihr sucht die Schneiters?« fragte er, sich an Jost wendend.

»Ja, ich habe ein Geschäftlein mit ihnen … wir sind weitläufig verwandt, sie sind auch von drüben … wo kann man sie finden?«

»Das ist schwer zu sagen, guter Freund,« erwiderte das Männchen. »Ihr wißt ja wohl, wie es die Ormunter halten, sie ziehen das ganze Jahr umher wie die Juden in der Wüste: jetzt ist der ganze Talgrund verlassen, Ihr werdet außer mir und meiner ›Alten‹ da drin kein Bein hier finden, und wir bleiben nur, weil wir droben keine Hütte haben. Kurzweilig ist's nicht, und käme nicht von Zeit zu Zeit die Berganni, es wär' zum Sterben. Wenn Ihr jemand suchen wollt, so müßt Ihr in die mittleren Stafel hinaufsteigen, oder vielleicht in die oberen, ich weiß es nicht: es ist jetzt Ende Juli, da pflegen sie ganz hinaufzuziehen, Ihr müßt es eben versuchen. Ihr nehmt den Pfad, den die Berganni ging; in einer halben Stunde wird die Halde flacher, dort werden sie sein. Ist aber niemand dort, so findet Ihr einen breiteren Pfad, der nach Alp Isenau führt, den müßt Ihr einschlagen und immer rechter Hand den Berg entlang gehen. Erwischen werdet Ihr das Völklein schon irgendwo zwischen diesen paar Bergen, denn jenseits hört für die Ormunter die Welt auf, da wagen sie sich nicht hinaus. Ein sonderbarer Schlag, es sind eben Halbwilde.«

»Kennt Ihr den Schneiter?« fragte Jost mit gleichgültigem Ton und Gesicht.

»Ja, ich kenne ihn schon, das heißt, wie man die Ormunter eben kennen kann; ich kenne ihrer sogar drei.«

»Was spricht man von ihnen hierzuland?«

»Was man spricht, nun, das weiß ich nicht; ich will Euch lieber sagen, was ich gesehen habe: Der junge Peter scheint mir ein tüchtiger Bursche zu sein« – das sagte er zu Ursula gewandt – »man merkt eben, daß er nicht von hier ist. Er ist stark wie ein Ochs und rührig wie ein Fohlen, und mehr braucht man eigentlich hier in Ormunt nicht. Ob er hübsch ist oder nicht, das wißt Ihr vielleicht selber schon, oder dann werdet Ihr es bald heraushaben.«

Da sprach wieder Jost mit dem gleichgültigsten Ton der Welt: »Wenn ich Euch fragte, war's weniger wegen des Jungen, als wegen der andern; was haltet Ihr von denen?«

»Nun, mit dem Vater ist schon auszukommen, ich habe schon etliche Male mit ihm gehandelt, und mich dünkt, er sei nicht von den Schlimmsten. Und der ganz Alte, der Großvater, … der ist so eine Art Methusalah … was ist von dem zu sagen? Heiraten möchte ich ihn nicht, aber er wird schon einmal zu der Einsicht kommen, daß es in einer vierbretterigen Hütte für seinesgleichen am schönsten ist …«

»Haben die Leute etwas Vermögen, etwas Geld?« fragte Jost wieder.

»Geld? Geld hat hier niemand. Man hat Kühe und Rinder und Kälber und Ochsen, Geld braucht man nicht. Ich, mit meinem Viehhandel, habe sie etwas bekannt damit gemacht, aber sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, und es gibt immer noch manche, die reden von einem Louisdor, wie die Juden vom Tempelschatz Salomos. Nein, Reichtümer häufen die Ormunter nicht auf, und ich habe mich selber schon gefragt, ob ich wohl daran tue, es sie zu lehren, am Ende hat doch die Berganni recht: das Geld ist ein Teufel; freilich läßt sich mit dem Geld auch teuflisch viel anfangen, ha, ha, ha!« So lachte er und wackelte mit dem Kopfe.

In dem Augenblick ging die Tür der Hütte auf und ein rundliches Dämchen mit kleinen Augen, einem stumpfen Näschen und roten Bäcklein trat heraus.

»Du hast dich wieder mit der Hexe gezankt!« Dann zu den Fremden gewendet: »Das ist ein Leben zwischen diesen Bergen! Ihr habt keine Ahnung! Ich kann mit niemand ein Wort tauschen und muß es nun schon drei Jahre so dulden, und mein Mann ist nicht fortzubringen! Er ist ein Narr – ja, lache nur, ich sag's vor allen Leuten! – er will dem Volke da ein Heiland sein und sieht nicht, daß es ihn gar nicht braucht und daß es ihm einmal den Fußtritt geben wird. Weil es ihm draußen im Lande nicht immer nach dem Fädchen ging, hat er sich unter die Wilden gesteckt wie ein Apostel; die Apostel hat man gesteinigt; ich bin in einer beständigen Angst!«

Jost schien zu wissen, was er hatte erfahren wollen, er dankte dem Doktor für die Auskunft und stieg den Pfad hinan, schweigsam, als ob sein Kind nicht bei ihm gewesen wäre. Nach etwa einer halben Stunde wurde der Pfad flacher, und man gewahrte das Schimmern einiger Schindeldächer. Ursula eilte ein paar Schritte voraus, um auszuschauen, denn der Ätti war alt und stieg nicht mehr leicht. Plötzlich sah sie einen den Pfad in großen Sprüngen heruntereilen und dabei ein paar Jauchzer in die Luft stoßen. Er war barfuß und trug nichts als kurze Hosen und ein Hemd. Er faßte Ursula und hob sie auf die Schultern, als wäre sie ein leichtes Vögelein gewesen.

»Ich wußte es, daß du kommen würdest,« jubelte er und lief mit ihr den Berg hinan. Als er in die Nähe der ersten Hütten kam, stieß er einen wilden Freudenschrei aus, der durch Mark und Bein ging. Da kam von der Hütte her ein älterer Mann, noch etwas weißer als Jost. Er war gleich angetan wie der junge, hielt die Hand über die Augen, um besser zu sehen, und fragte, was los sei.

»Das ist sie, Ätti!« sagte Peter, indem er Ursula vor ihm auf den Boden stellte.

In dem Augenblicke klang's von der Hütte her wie aus dreißig Trompeten, und sechzig verwunderte Augen hingen an Ursula: in langer Reihe standen sie da, die Kühe und Kälber in den glänzend braunen Fellen, eins hinter dem andern, und alle drehten den gedrungenen Hals nach ihm und brüllten, daß es eine lustige Musik abgab. Etwas abseits an einem Rain standen ein paar Geißen, die grasten und manchmal zwischen zwei Bissen meckerten. Mitten im Zuge aber, auf einem scheckigen Ochsen, saß ein sonderbarer Reiter: er war dürr und mager wie ein Stecken und auf dem Nacken wackelte ein Köpfchen mit langem, weißem Bart und Haar; er sah aus wie ein Spinnrocken, den man am oberen Ende eingeknickt hat. »Das ist der Großätti,« dachte Ursula. Der Alte achtete auf nichts, er stützte seine mageren Arme auf den Rücken des Ochsen, auf dem er saß, und blickte unbeweglich vor sich hin. Peter erklärte: »Er ist fast taub, er hört uns nicht; wir ziehen heute auf die oberen Stafel, und da haben wir ihn auf den Ochsen gesetzt, weil er sonst nicht hinaufkäme.«

»Aber heut ist ja Sonntag, man hält die Alpfahrt doch nicht an einem Sonntag!«

»Hier schon, das ist eben eine eigene Welt. Heut ist Jakobitag, und da mag es Sonntag sein oder nicht, es mag regnen oder hageln: die Ormunter ziehen an diesem Tag in die oberen Stafel, so sei's seit Menschengedenken gehalten worden. Sieh nur, dort geht schon ein Zug, und weiterhin ein anderer, und ein dritter ist dort oben, du siehst doch den dunkeln Streifen?«

Jost war inzwischen nachgekommen. Er blieb stehen und musterte die Kühe und die Hütte, Peters Vater und den alten Reiter auf dem Ochsen. Dann rief er Ursula zu: »Kind, komm her!«

Sie gehorchte. »Wie gefällt dir deine Familie?« hub er spöttisch an. »Siehst du jetzt ein, wie närrisch du bist? In ein Land ziehen wollen, wo man leben muß wie unter Heiden, wo nichts recht ist, als die Weiden und die Kühe darauf!«

»Und der Peter?« rief sie gereizt dazwischen.

»Kind, du bist blind! blind bist du! Käm' in Gsteig einer in dem Aufzuge da, und machte dir einen Antrag, du schlügest ihm die Hand in die Zähne!«

»Nein, das täte ich nicht! Ich schaue nicht auf die Hosen, die einer anhat.«

»Auf gar nichts schaust du, du leichtfertiges Geschöpf! Komm mit mir heim, oder ich reiße dich an den Zöpfen mit.«

In dem Augenblick kam Peters Vater näher und lud Jost in die Hütte ein, um etwas auf den Zahn zu nehmen, wie er sagte.

Jost schüttelte den Kopf: »Ich will mit Euch nichts zu schaffen haben! Lumpenpack!«

»Wenn Ihr's so meint, so bleibt hier außen; aber freundlicher dürftet Ihr schon sein! Wir sind keine Hunde!« Sprach's und drehte Jost den Rücken.

Ursula lief ihm nach und sagte ihm, sie nehme gern, was er ihr anbiete. Da stieß Peter wieder seinen Jauchzer aus, hob sie wieder auf die Achseln und trug sie im Trab in die Hütte.

»Ursula, mein Kind, mein Kind!« rief Jost, und es klang so flehentlich, so weich von dem harten Manne! Ursula merkte es an dem Ton, daß er am Weinen war. Das hatte sie an ihm noch nie gesehen, und es erwürgte sie schier, wie er halb abgewandt nochmals rief: »Ursula, mein Kind!« Aber sie blieb fest. Da ging er.

So wurde Ursula eine Ormunterin.

Nun kamen anderthalb schöne Jahre für sie. Sie hat später als alte Frau oft gesagt: »Könnt' ich einen Wunsch tun, ich flehte: »Herrgott, laß morgen wieder ein Ormunter Jahr anfangen! laß mich nur noch eins erleben und dann sterben!«

Die Schneiter waren nicht reich, aber was sie brauchten, hatten sie. Sie lebten für sich, und da es jedermann so hielt, wurden sie auch von den andern ungeschoren gelassen. Da gab es kein Zanken und Hadern; nur eine im ganzen Tal hatte eine böse Zunge, aber die wußte schon, an wem sie sie wetzen mußte. Die Arbeit drückte nicht: man sah nach dem Vieh. Das war beinahe alles. Denn mit Braten und Kochen verlor man nicht viel Zeit und mit Nähen und Stricken noch weniger. Ans Barfußgehen gewöhnte sich Ursula schnell, hatte sie es doch als Kind auch nicht anders gehalten.

Sorglos und sorgenlos, so war ihr Leben. Sie stand am Morgen auf und wußte: 's wird heut schon alles seinen rechten Gang gehen, und sie legte sich am Abend nieder und wußte: 's wird morgen nicht schlimmer sein, als es heute war. Und diese Gewißheit machte ihr das Leben und selbst die Trennung vom Vaterhause leicht.

Sorglos und sorgenlos, das war der Ormunter: ein Fröschlein, das im Weiher sitzt und nichts zu tun hat, als etwa nach einem Mücklein zu schnappen, ein Eidechslein, das sich an der Sonne wärmt, oder ein Käfer, der auf einem Blümlein sitzt. Der Ormunter wußte, wie man leben muß. Die Gsteiger oder Saaner oder Gstaader aber waren Ameisen und Bienen und Spinnen. Sie sorgten und schunden sich ihr ganzes Leben lang, und fragte man sie, warum und wozu sie sich so sehr krümmten und kümmerten, so wußten sie keinen rechten Bescheid.

Anfangs hatte der Großätti Ursula etwas Sorge gemacht, er war ihr unheimlich mit seinen mißtrauischen Augen, die immer auf der Lauer waren, wenn man etwas sagte, und zu fragen schienen: »Sagt ihr etwas Übles von mir?« Er war ein sonderlicher Grillenfänger: ein rechter Ormunter war er nicht geworden, er war eben schon zu alt gewesen, als er hinüberging. Da, wo niemand ans Sammeln und Erwerben dachte, mußte er die ganze Zeit im armseligsten Sinne nach Geld und Reichtum spähen, wenn er auch nichts davon sagte. Am Morgen, wenn er gegessen hatte, nahm er seinen Stock, denn ohne Stütze hätte er kaum gehen können, und humpelte den ganzen Tag den Felsen nach. Er musterte sie und klopfte daran und nahm Steine und wollte mit seinen zitternden Armen Stücke abklopfen und suchte – Gold. Denn man hatte ihm einmal gesagt, Ormunt heiße Goldberg, und gleich war er überzeugt, irgendwo müsse das Gold an den Tag treten, und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Stelle zu finden. Gegen den Herbst, als man schon daran denken mußte, sich zur Talfahrt zu rüsten, wurde er von einem Tage zum andern noch viel seltsamer: er ging nie mehr aus, wenn man ihn sehen konnte. Oft war er schon davongeschlichen, wenn sich die andern am Morgen erhoben; oft paßte er, um wegzuhinken, einen Augenblick ab, da niemand in der Hütte war. Und ebenso machte er es mit der Heimkehr, nie wußte man, woher er kam, und er, der sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, war auf einmal da, als wäre er angeflogen gekommen. Einst ertappte ihn Peter, wie er mit unsäglicher Mühe aus einem Tobel hervorkroch.

»Was machst du da?« rief er so laut er konnte, um gehört zu werden.

Der Alte gab ihm keine Antwort, sondern belauerte ihn mit seinen mißtrauischen Augen. Peter merkte, daß etwas Besonderes in der Nähe sein müsse, und stieg in das Rinnsal hinab. Da ließ sich der Großätti hinfallen, so daß er das steile Tobel hinunterglitt und vor Peter, allerdings mit blutigem Kopfe und zerschundenen Armen, unten ankam. Dort warf er sich auf einen Stein, sah Peter wild an und rief ihm mit seiner durch die Taubheit fast unverständlich gewordenen Stimme zu: »Fut (fort)! fut!«

Peter aber faßte ihn an und schob ihn auf die Seite. Da kam ein Gestein zum Vorschein, wie man es im Gebirge zuweilen antrifft. Es hat einen gelben Glanz, der von Flitterchen herrührt, die wie Gold scheinen; aber niemand bückt sich danach. Das also war des Alten Schatz. Peter mußte lachen.

Der Großätti, dem das Lachen nicht behagen mochte, nahm sich wieder die Mühe zu ein paar Worten: »'s ischt Guld! my Guld! Mys!«

»Das nehm' ich dir nicht, Großätti,« rief ihm Peter in die Ohren, »sei unbesorgt! Der ganze Stein ist keine Käsrinde wert!«

Der Goldsucher sah ihn mit seinen zitternden Augen fragend an: »Meint er das so? oder sagt er's nur, um mich zu übertölpeln und mich um meinen Schatz zu bringen?« Aber Peter lachte so herzlich, daß der Alte über seine Meinung nicht im Zweifel sein konnte. Er wiederholte zwar: »Doch, 's ischt Guld, 's ischt Guld!«, aber mehr um sich selbst, als um den andern zu überzeugen.

An den folgenden Tagen saß der Großätti immer vor der Hütte und lauerte, ob etwa eins den Weg nach seinem Schatz einschlüge. Weil niemand sich so etwas einfallen ließ, kam ihm die Gewißheit, daß man seinen Stein wirklich nicht hoch schätzte. Da brach er an einem Morgen wieder auf und kehrte erst am Abend zurück. Er hinkte zu Peter heran und zog aus seiner Hosentasche einen Stein, ein Stück von seinem Schatz hervor. Er hielt es Peter vor die Augen, hütete sich aber wohl, es aus den Händen zu lassen, und sagte in einem fort: »'s ischt glych Guld, 's ischt glych Guld!«

Seither schlich er nie mehr zu seinem Schatze, aber sooft man ihn allein fand, hatte er sein Steinstück in den zitternden Händen und spiegelte es in der Sonne und forschte nach Gold.

Der Herbst kam. Der Großätti wurde auf einen Ochsen geladen und das Vieh talwärts getrieben. Von allen Seiten und auf allen Pfaden stiegen muhende Züge herab, und unten belebten sich die Hütten. Der Doktor hatte jetzt eine strenge Zeit. Er war immer auf der Fahrt, ging von einem Stall zum andern, ließ sich das Vieh zeigen, betupfte es allerorten, griff ihm die Haut auf den Rippen, maß mit den Armen die Länge und die Dicke und erhandelte, was ihm gefiel. Hatte er fünf oder sechs Stück beisammen, so band er sie an einen langen Strick und trieb sie davon. Nach einigen Tagen kehrte er wieder zurück und brachte den Bauern das Geld in weißen und gelben Münzen, und die meisten mußten es auf Treu und Glauben nehmen, denn ihre Zählkunst reichte zu dem Geschäfte nicht aus. Das war nicht gut: die sonst so geraden und offenen Ormunter wurden mißtrauisch und neidisch, jeder meinte, der Doktor habe dem Nachbar für seinen Ochsen oder seine Kuh mehr gegeben als für die seinen, oder er habe ihm den ausgemachten Preis nicht voll bezahlt. Neid und versteckten Haß gab es auch, wenn der Doktor aus einem Stall fortging, ohne etwas zu erhandeln. So war es jedesmal, wenn das Männchen mit einer Schar Rinder durchs Tal hinabzog, oder wenn es mit der vollen Geldtasche talauf kam und bald rechts, bald links in eine Hütte abschwenkte, als ob ein böser Geist durch das Land schreite und eine üble Saat aussäe. Die alten Ormunter merkten es wohl, sie sahen das Treiben ungern, hielten die Hand davon und ließen die Jungen feilschen und das Geld einstecken.

Einst an einem Nachmittag war große Aufregung in dem sonst so friedlichen Tal. Was mochte es sein? Man lief zusammen, man horchte, man fragte sich. Da kam einer und rief: »Man hat gestohlen!«

»Was?«

»Gestohlen, ihr hört's ja, gestohlen!«

Ein Schrei des Entsetzens entfuhr allen, die es hörten: »Gestohlen!«

Ja, man hatte dem Baptist im Plan das Geld entwendet, das er kürzlich vom Doktor erhalten hatte!

Gestohlen! davon hatte man früher in Ormunt nichts gewußt!

Wer konnte es sein? Alle dachten das nämliche, aber keiner wagte, es keck auszusprechen. Ja, es mußte Claude, der Jäger, sein, dem hatte noch niemand recht getraut, dem war auch nicht zu trauen, das sah man ihm schon an den Augen an. Claude war der einzige im Tal, der kein Hornvieh zog, sondern nur ein paar Geißen hielt. Er wohnte in einer elenden Hütte im Creux de Champ, wo der Schnee auch im heißesten Sommer nie ganz weicht. Das nützlichste Ding, das er außer der Hütte hatte, war eine Flinte. Mit der stieg er in die Felsen hinauf und jagte nach Gemsen. Das Fleisch aß er und die Felle tauschte er gegen Käse und Brot, und so lebte er mit einem zwanzigjährigen Sohne, den er Jeannot nannte, abseits von den andern, auf eigenen Pfaden. Was ein rechter Ormunter war, hielt ihn für einen Tagedieb und ging ihm aus dem Wege. Wie das Wort ›gestohlen‹ durch das Tal flog, dachte jeder gleich: »Tat's einer, so heißt er Claude!«

Da kam einer aus dem Creux de Champ, der von dem Frevel noch nichts wußte. Und als man ihn nach dem Gemsjäger fragte, berichtete er, Claude sei am Tage vorher zu Berge gestiegen, er habe ihn selbst gesehen, zurückgekehrt sei er noch nicht. Neue Bestürzung, wachsende Unruhe: wer war's denn? war das ganze Tal diebisch geworden? wie sollte das noch enden? Die Männer, junge und alte, trafen auf einer Wiese unter einem großen Ahorn zusammen, um zu beraten, und die Weiber standen um sie herum. So hatten die Ormunter noch nie beieinander gestanden, jeder sah den andern mit Mißtrauen an: »Bist du's vielleicht?« Keiner mochte den andern anreden, aus Furcht, den Hauch eines Diebes einzuatmen, jeder war von der Angst besessen, man möchte ihn gar selber für den Täter halten.

Da fing der ältesten einer zu reden an und forderte den Baptist auf, zu sagen, wie es geschehen sei. Der sagte, was man schon wußte: am Morgen habe er das Geld noch gehabt, es habe in einer hölzernen Schüssel auf einem Balken gelegen. Am Vormittag sei er mit Frau und Kind über den Bach gegangen, um Holz zu schlagen, und als er um Mittag zurückgekehrt sei, habe das Geld gefehlt.

»Einer von euch ist der Schelm,« sagte der Alte hierauf, »denn mich dünkt, es seien alle aus dem Tale um den Ahorn versammelt. Einer von euch ist's, und ich fordere den auf, herauszutreten und zu bekennen, auf daß wir wissen, wem wir trauen können und wem nicht.«

Keiner trat heraus; die mißtrauischen Blicke trafen sich und wichen sich aus und gingen aneinander vorbei, und es war eine unheimliche Stimmung, die Frauen wagten kaum zu schnaufen, denn jede sagte sich mit Bangen: »Wenn's nur nicht dein Mann oder Bub ist!«

Da alles schwieg, hub der Alte wieder an: »Du Entehrer des Tales, ich fordere dich nochmals auf, daß du heraustretest und bekennest!«

Er hatte umsonst gerufen, und umsonst war auch die dritte Mahnung. Da erhob er die Stimme höher als sonst und rief, daß es alle in den Knochen fror: »So sei verflucht! verflucht! verflucht! Und du mögest krepieren an deinem Lohn!«

Und ohne Verabredung, ohne ein Zeichen, wiederholten alle, die um den Baum standen: »Er sei verflucht! verflucht! verflucht! Und er möge krepieren an seinem Lohn!«

Die Weiber wischten sich die Augen.

Wieder fing der Alte zu reden an: »Ich bin ein alter Mann und bin schon manchmal zu Berg und wieder zu Tal gefahren und habe schon mancherlei erlebt; aber ich mußte weiß werden, um zu erfahren, daß es in Ormunt Schelme gibt: ich wollte, ich wäre gestern gestorben! Wir haben keine Satzung für Schelme, unsere Väter und wir bis auf den heutigen Tag brauchten das nicht; jetzt aber ist es anders: es muß eine Satzung gemacht werden, und so es euch recht ist, werden wir es fürderhin so halten: Wer vom Gut eines andern nimmt, ohne daß ihm dieser gesagt hat: nimm's! den ersäufen wir im Wasser. Ist es euch recht, so sagt ja!«

Und sie sagten: »Ja!« alle wie einer.

»Geht nun heim, und wer Geld hat, der sehe dazu und spiegle es nicht, um keinen zu locken, und wer ein schlecht Gewissen hat, der gehe hin und ersäufe sich in dieser Nacht, denn sein Urteil ist gesprochen!«

Als man kleinlaut auseinandergehen wollte, kam eine die Berghalde herabgerannt und ihre Haare flogen hinter ihr; es war die Hexenanni. Auf einem Rain, etwa fünfzig Schritte vom Ahorn, stand sie still, warf ihre fleischlosen Arme und den Haselstecken in die Höhe und schrie hernieder, wuchtig und scharf wie ein Richtschwert: »Je mehr Geld, desto schlechter die Welt! Alles Geld sei verflucht! Wer's gebracht, sei verflucht! Wer's nimmt, sei verflucht! Je mehr Geld, desto schlechter die Welt!«

Sonst, wenn sie fluchte, kehrte sich keiner nach ihr, jeder ging lachend seines Weges. Diesmal flößte sie Schauder, ja fast Ehrfurcht ein, und mancher mochte sich sagen: »Sie ist nicht so verrückt, wie man glaubt.«

Es war ein seltsamer Abend, der nun anbrach. Von oben und von unten, von allen Seiten hörte man ein Zimmern und Hämmern und Klopfen: an jenem Abend befestigte man in Ormunt zum ersten Male starke Riegel an alle Türen. Das Zimmern machte alle fast krank.

Am folgenden Morgen, als Baptist seine Tür aufmachte, lag davor ein Häufchen Geld: sein Gut war über Nacht wieder heimgekommen. Noch am nämlichen Tage sah einer etwas Seltsames im Fluß liegen, gerade am Fuß eines senkrechten, hohen Felsens, den man ›Ziegensprung‹ nannte. Er kletterte hinab, es war eine Leiche, ganz zerschmettert und entstellt, und es dauerte lange, bis man herausfand, daß es Jeannot, Claudes Sohn war. Er hatte sich gerichtet, wie man ihn geheißen hatte. Alle aber sagten: »Der Gedanke ans Stehlen ist dem Jeannot nicht von selber gekommen, er war kein böser Bursche. Gnad' Gott dem andern!«

Noch einmal stieg in jenem Herbst der Doktor mit sechs Rindern ins Land hinab, und noch einmal kam er herauf mit der ledernen Geldtasche auf dem Rücken: noch einmal war es, als ob ein böser Geist das Tal hinab und wieder herauf stiege und links und rechts vom Wege ein giftiges Kraut säe. Dann aber drang ein kalter Wind von der Comballaz ins Tal ein und warf Schnee um sich her wie mit Schaufeln und versperrte allen Weg und Steg, dem bösen Geist, wie den guten Ormuntern. Nun war Ormunt wieder das glückliche, friedfertige Tal mit dem gemächlichen, einförmigen, guten Leben. Es war ein langer, strenger Winter, Ursula aber war so wohl, daß sie manchmal wünschte, der Schnee möchte immer vier oder fünf Fuß tief auf den Matten liegen. Aber der Lenz hat nur eine Gebieterin: die Sonne. Schon klopfte er ans Tal und die Lawinen stürzten von den Teufelshörnern in das Creux de Champ hinunter, und eine folgte der andern, so daß man sich an ihren Donner gewöhnte, wie an das Rauschen eines Baches. Dann schaute der braune Boden da und dort aus dem Schnee heraus, und es fing an zu blühen und darauf zu grünen. Die Ställe wurden aufgesperrt, und die Kühe rannten heraus, wild vor Freude, auf das junge Gras los. Am Johannistag begann das Wanderleben wieder. Man setzte den Großätti auf den zahmsten Ochsen und stieg in die mittleren Stafel hinauf, und am Jakobitag in die obern, und der Sommer war so schön wie der erste. Nein, schöner war er für Ursula: denn sie hatte jetzt ein Bübchen, ihren Hansli, der auf ihren Armen und, als er etwas stärker geworden war, auf ihrem Rücken herumwanderte, bergauf, bergab, wie's gerade sein mußte. Und während sie nach dem Kleinen sah, besorgten Peter und sein Vater das Vieh; der Großätti aber humpelte oder kroch umher und suchte Gold. Man hatte Mitleid mit ihm, und im Herbst, als der Doktor das Geld für einen Ochsen hinzählte, den Ochsen, der den Alten zwei Sommer lang treu getragen hatte, steckte Peter dem Goldjäger unvermerkt ein Geldstück in den Sack, klopfte mit der Hand darauf und rief lachend in die tauben Ohren: »Da drin ischt Guld!« Da fuhr es wie Fieber in den Großätti. Er räumte seine Hosentasche, die mit allerhand Gestein gefüllt war, aus, und als er das gelbe Scheibchen gefunden hatte, konnte er sich daran nicht satt sehen, und wenn er's einmal nicht ansah, hielt er die linke Hand in der Tasche und in der zitternden Hand das Geld. Nun war er wie alle glücklich den Winter lang.

Wieder waren die Lauenen ins Tal gefahren; schon standen die Kühe an den sonnigen Halden und rauften das junge Gras mit der Zunge ab, und bei jedem Bissen und jedem Tritte bimmelten die schweren Trinkeln, die ihnen um die Hälse hingen, und es ging eine lustige Musik durchs ganze Tal.

Da schritt wieder der Doktor von Hütte zu Hütte. Aber er war nicht allein; er hatte einen mitgebracht aus dem Ennetbirgischen, einen großen, schweren Mann, mit rotem, schlecht rasiertem Gesicht und mit einer Burgunderbluse, die ihm bis auf die Knie reichte. An seinen Fersen war immer ein grauer Hund mit einem Stumpfschwanz, gestutzten Ohren und einem bösen Blick. Der Mann ließ sich das Vieh vorführen, betastete es mit den feisten Fäusten, fand allerhand Fehler daran, und wenn er es recht schlecht gemacht hatte, klopfte er dem Bauer auf die Achsel und sagte: »Ich geb' Euch soundsoviel, wollt Ihr?« Dem Preise hängte er immer die Worte an: »Und keinen Deut mehr!« Aber das war ihm so ernst nicht, und wer nicht gleich einschlug, konnte es leicht erleben, daß der Preis um manchen Deut in die Höhe ging. Hatte er ein Stück erstanden, nahm er eine Schere aus der blauen Bluse und schnitt damit dem Vieh hinter dem Kreuz ein Zeichen ins Haar, um es wieder zu erkennen.

Der Doktor stand neben ihm und war ganz glücklich, und sagte zu jedem, der es hören mochte: »Ihr werdet sehen, was ich aus Ormunt mache! Steinreich sollt ihr werden, und ein Leben sollt ihr haben, wie die Maus in der Speckkammer! Es soll eine Zeit kommen, da die Alten zu den Jungen sagen werden: ›Ach geht, was wißt Ihr vom Schinden und Darben! Als ich noch ein Bub war und man noch nichts von dem Doktor wußte, da ging's magerer zu als heutzutage! Da klingelte das Geld noch nicht in allen Taschen! Da hatte man weniger Brot als jetzt Silber!‹ Oder: ›Ja, das ist nun schon lange her! Wie lange mochte damals der Doktor im Tal sein! Zwei, drei Jahre, mehr nicht! das war in der Zeit, da man in Ormunt Geld zählen lernte!‹ … Glaubt mir's, Nachbar, die Ormunter sollen die Jahre von mir an zählen!«

Der Mann mit der Bluse kaufte wohl an die vierzig oder fünfzig Stück Vieh, dann trieb er sie zusammen, zählte den Bauern den Preis auf die Hand und ging davon mit seiner Herde, die ihm der bissige Hund hübsch beisammen hielt.

Es mochten seitdem etwa vier Tage vergangen sein. Da, als Peter am Morgen die Stalltüre öffnete, um das Vieh auf die Weide zu lassen, folgte eines der Kälber den andern nicht. Es stand in einer Ecke, senkte den Kopf und ließ die Ohren hängen. Was mochte ihm sein? Man trieb es ins Freie, um es bei Tageslicht zu besehen. Es hatte keinen Tau an der Schnauze, die Ohren waren warm, die Augen trüb, es mußte krank sein. Man holte ihm Heu von der Diele herunter; es roch daran, fraß aber nicht, sondern streckte sich hin und legte den Kopf auf den Boden.

»Wenn wir den Doktor kommen ließen?«

Das Männlein kam, sah dem Tier ins Maul, legte das Ohr an die Magengrube, schüttelte den Kopf und machte ein bedenkliches Gesicht. Beim Gehen sagte er: »Ich will euch ein Kraut schicken, das siedet im Wasser und von dem Trank schüttet ihm alle zwei Stunden ein Steinfaß voll ein.«

Das Mittel tat keine Wirkung. Gegen Abend bekam das Tier rote Augen, und das Wasser fing an ihm daraus zu fließen. Es weinte wie ein Mensch.

Am folgenden Morgen war es abgemagert, als hätte einer die Nacht über mit einem Beil daran gezimmert; es hatte Mühe zu atmen, sein Fell hatte keinen Glanz mehr, die Haare standen struppig durcheinander. Es war ein Jammer, die Kreatur anzusehen, sie hielt sich kaum auf den Beinen, rang nach Luft und schien beständig dem Ersticken nahe.

Als Peter das andere Vieh auf die Weide treiben wollte, kam er in einen neuen Schrecken: wohl an die fünf Stück blieben im Stall, starrten vor sich hin, und eines schüttelte sich, als hätte man es mit Eiswasser begossen. Es war klar: der Stall war verseucht, und stand das eine Kalb um, so war der ganze Viehstand hin.

»Wir müssen die Gesunden in die mittleren Stafel treiben, und sollte oben auch noch der Schnee liegen,« sagte Peter.

In dem Augenblick kam der Doktor den Pfad herunter.

»Es kommt ein großes Unglück über das Tal,« klagte er, »die Pest ist los, und wer in zehn Tagen noch in seinem Stalle brüllen hört, mag seinem Herrgott danken.«

»Wir treiben die Gesunden hinauf!«

»Es ist zu spät, es sind die meisten, es sind wohl alle angesteckt, und ihr schleppt bloß die Krankheit in den Berg hinauf und verseucht auch die oberen Ställe. Bleibt hier und laßt es über euch ergehen.«

Da kam atemlos ein Bub dahergerannt: der Doktor möchte mit ihm kommen, es sei zu Haus eine große Not mit dem Vieh.

»Du bist nicht der erste, der mich heute rufen will! Geh nur heim und sag deinem Vater, es sei die Pest, und für sie sei kein Kraut gewachsen.«

Nun ging durch das Tal von einem Ende zum andern ein einziger Angstruf: »Die Pestilenz ist los!« Das Wort kannte man und dachte sich etwas Schreckliches dabei, aber die Wirklichkeit war schlimmer als alle Ahnung.

Wäre der Berg zusammengestürzt und hätte die Weiden überschüttet, es hätte kein größerer Jammer entstehen können. Erbarmungslos hauste der Tod in den Ställen. Man meinte ihn zu hören, wie er hereinschlich, den wehrlosen Tieren einen Strick um den Hals zog und sie erwürgte, eins nach dem andern, und des Mordens nimmer müde wurde.

Es waren glitzernde Frühlingstage, aber man sah den Himmel schwarz, und auf den grünen Matten erblickte man nur das Blitzen der Schaufeln, mit denen die Gruben für das Vieh geöffnet wurden, oder die braunen Erdhügel, die die teure Habe zudeckten.

Das Quälendste war, daß man den armen Tieren nichts zulieb tun konnte; man mußte ihnen zusehen, wie sie vom Frost geschüttelt wurden, wie sie abmagerten und vor Schwäche zu zittern anfingen, wie sie nach Luft schnappten und zuletzt den Kampf aufgaben und ruhig verendeten, wenn man ihnen nicht aus Gnade eine Axt in den Kopf schlug.

Dann schlang man ihnen einen Strick um den Hals und schleppte die schweren Klumpen mühsam hinaus, und die noch gesund im Stalle standen, blickten ihnen nach mit vorgestreckten Köpfen und brüllten kläglich und tanzten unruhig in der Streue.

Nach ein paar Wochen hörte man im ganzen Tale kein Schellengeläut mehr, in allen Matten aber erhoben sich die braunen Hügel, so zahlreich wie sonst die Heuhaufen. Und traf man einen Nachbar und fragte ihn: »Wie steht's im Stall?«, so schlug er die Hände zusammen und ging traurig seines Weges.

Im oberen Tale standen damals noch, wenn's viel war, zehn Stück Vieh: eins davon gehörte der Berganni. Es war eine große schwarze Kuh mit einem weißen Fleck auf der Stirne, drum nannte man sie ›Stern‹.

In dieser großen Not erinnerte man sich an das Geld, das der Doktor und der Mann mit der Bluse ins Land gebracht hatten. Die jungen Leute taten sich zusammen und beschlossen, gemeinsam ins Land hinabzusteigen, um Vieh zu erhandeln, und sie nahmen den Doktor mit, damit er ihnen rate und helfe, und mancher sagte ihm unterwegs: »Wie ständen wir Ormunter jetzt ohne dich! Wie wollten wir die Ställe wieder füllen ohne ein Stück Geld in der Tasche? Wir werden's dir nie, nie vergessen! Nein, wir werden's dir, bei Gott, nie vergessen!«

Als die Männer hinabkamen, wo sich das Tal weitet, stießen sie auf eine Wache, die ihnen den Weg versperrte: »Wir lassen keinen durch, unser Vieh ist uns lieber als ihr! Tretet uns nicht zu nah!«

»Was soll das bedeuten?« fragten die Ormunter. »Wir kommen, um Vieh zu holen und euch dafür unser Geld zu lassen, was ist da Schlechtes dabei?«

»Ihr schleppt die Pest mit euch!«

»Wie sollen wir das, so wie wir sind? Ist mein Stock die Pest? oder mein Schaffell? oder meine Hose? Ich versteh' euch nicht!«

»Wie ihr sie bringt, wissen wir nicht, aber daß ihr sie bringt, das ist uns gewiß.«

»Wir sind keine schlechten Leute!«

»Mag sein! aber die Pest ist mit euch!«

»So sagt uns, wo sie ist und was sie ist!«

»Das wissen wir nicht, wer weiß das? Aber daß man heutzutag auf der Hut sein muß, das weiß jedermann. Hättet ihr's so gehalten wie wir, eure Ställe wären noch voll!«

»Wie meint Ihr das?«

»Nun, die Pest kommt nie allein, es muß sie einer bringen, und hättet ihr keinen Fremden ins Tal gelassen, so wäre sie von selber draußen geblieben.«

»So hat sie der mit der Bluse gebracht!« sagte einer der Ormunter, und dann zum Doktor gewendet: »Und du hast ihn hergeführt!«

»Ich kann nichts dafür, ich wußte nicht, daß die Pest im Lande ist,« sagte der Doktor.

Nun murrten die Ormunter und sahen den Doktor mit bösen Augen an und traten von ihm weg.

»Du solltest der Narren Spott sein!« rief ihm einer zu, »du versprichst dem Vieh die Krankheit zu nehmen und nennst dich Doktor, und du räumst den hintersten Stall im Tal aus! Wir werden's dir, beim Eid, nie vergessen!«

»Woher kam der mit der Bluse?« fragte einer von der Wache den Doktor.

»Ich führe seit ein paar Jahren Vieh über die Comballaz nach Ösch, und als ich vor drei Wochen drüben meinen Geschäften nachging, traf ich ihn an. Es ist ein Greyerzer, der Geld hat und Schlachtvieh nach Frankreich liefert; er hätte für Ormunt ein Segen werden können. Daß er die Pest brachte, wer konnte das wissen? Ich bin kein Hexenmeister, der heute weiß, was morgen sein wird.«

»Wer hieß dich ihn bringen? Wer hieß dich selber kommen? Haben wir nicht auch gelebt, als wir von dir noch nichts wußten? Uns zulieb tatest du's? Das glaub' dir der Teufel! Und am Ende wußtest du's und hast der Pest den Weg gezeigt, eh' sie dich darnach fragte!«

Sie umstanden den Doktor mit drohenden Gebärden. Da legten sich die Leute von der Wache ins Mittel und sagten, man tue dem Doktor wohl unrecht, er hätte es sicherlich mit ihnen gut gemeint.

»Mag sein, mag auch nicht sein!« erwiderten sie. »Gleichviel! Glück hat er uns nicht gebracht: wir wollen mit ihm nichts mehr zu schaffen haben!«

Der Doktor beteuerte seine Unschuld auf's neue, aber es half ihm nichts, man hörte ihn nicht an.

»Geh deiner Wege!« riefen sie ihm zu, »und laß uns die unseren gehn! Wir wissen jetzt, was wir von dir zu halten haben, und werden's nicht vergessen.«

Da ging er.

Derweil hatte einer von der Wache den Gemeindevorsteher gerufen. Der hörte das Begehren der Ormunter an, hielt sie sich aber immer einige Schritt vom Leib. Endlich sagte er in biederem Tone zu ihnen: »Das Unglück hat euch übel mitgespielt, ich will mich umsehen, und wenn es sich machen läßt, soll euch geholfen werden. Geht jetzt am Fluß hinauf, etwa zweihundert Schritt. Das Ufer ist dort auf beiden Seiten flach. Wartet daselbst, bis ich wiederkomme. Ihr erkennt die Stelle an einem großen Nußbaum, setzt euch darunter in den Schatten und laßt euch die Zeit nicht lange werden.«

Die Ormunter gehorchten. Sie saßen zwei, drei Stunden unter dem Baume; es ging nichts vor, und schon fürchteten sie, man habe sie genarrt. Da endlich regte sich etwas unten am Fluß, und man hörte Viehgebrüll und das ›Hü!‹ der Männer.

»Sie kommen! Sie treiben Vieh herauf!«

Es nahte sich ein ziemlich langer Zug, und bald sah das Ufer drüben aus wie ein Viehmarkt. Der Fluß war kaum zwanzig Schritt breit. Die Ormunter prüften mit spähenden Augen die Ware, die man ihnen vorführte, und sahen sich dann enttäuscht an und begriffen nicht.

»Das Vieh sieht ja elender aus, als das unsere, wenn es die Pest hat! Hungergruben hat es, man könnte einen Kopf darin verstecken, und die Rippen stechen durch die Haut! Sie haben in der langen Zeit die schlechtesten Stücke zusammengetrieben, und die sollen wir nun erstehen! Das ist schlecht gehandelt!« So sagten sie untereinander.

Am andern Ufer trat der Vorsteher aus dem Knäuel heraus und rief über den rauschenden Bach mit starker Stimme:

»Hier seht ihr Vieh zu Wahl und Kauf. Wir führen eins ums andere vor, und wer kaufen will, der mag bieten, wir handeln über das Wasser.«

Eine Kuh wurde bis an den Rand des Flusses getrieben, am andern Ufer standen die Ormunter mit den Füßen im Wasser, um dem Stück Vieh möglichst nahe zu sein.

Der Verkäufer rief herüber: »So tut ein Gebot!«

Die Ormunter aber rührten sich nicht, und jeder mochte sich sagen: »Ich müßte mich schämen, solch ein Gerippe heimzutreiben.«

»So tut ein Gebot,« tönte es wieder vom andern Ufer.

»Ist das Tier gesund oder krank?« rief endlich ein Ormunter, »es sieht ja aus, als hätte es eine Leiter verschluckt! Und steinalt ist's, die Hörner haben sich ihm nach unten gedreht und sind in die Backen hineingewachsen!«

Da trat wieder der Vorsteher vor: »Das Vieh ist gesund wie ein Fisch im Brunnen, und treten die Rippen heraus und stehen die Hörner nach unten, nun, so ist das halt unser Schlag: schaut nur, so sind sie alle!«

Das war nicht ganz gelogen, so waren viele.

Die Verkäufer lächelten ob den Worten ihres Vorstehers und stießen sich mit den Ellbogen an; einer aber, dem es wohl leicht von der Zunge gehen mochte, rief den Ormuntern zu: »Für die Pest ist das Vieh alleweil noch gut genug!«

»So tut ein Gebot!«

Als wiederum keiner der Aufforderung folgte, ergriff der Vorsteher das Wort aufs neue: »Ihr scheint nicht so kauflustig zu sein, wie ich meinte! Doch wißt: wir führen kein anderes Stück vor, bis dieses verkauft ist, und laßt ihr uns zu lange warten, so könnte uns die Geduld zum Feilhalten ausgehen! Bedenkt auch, daß ihr heute noch das Vieh hinauftreiben müßt, denn auf unserem Grund lassen wir euch nicht übernachten!«

Was war zu tun? Ohne Vieh wollte man nicht nach Hause kehren und mußte so den Weg gehen, den die andern wollten.

Einer der Ormunter bot und fing an zu feilschen und kaufte das lebendige Gerippe dreimal zu teuer, wie es ihn dünkte.

»Schaut her!« rief der Vorsteher, »hier ist ein Säcklein, in das leg' ich einen Stein und werf' es zu euch hinüber. Ihr nehmt den Stein heraus, legt das gezählte Geld hinein, bindet die Schnur wieder um und werft es zurück. Ist alles in Ordnung, so treiben wir die Kuh übers Wasser.«

»Erst treibt die Kuh herüber!«

»Nein, wir halten's, wie ich sagte.«

Man mußte wieder da durch, wo er wollte. Das Säcklein flog mit dem Gelde zurück; der Inhalt wurde nachgezählt und richtig befunden. Nun wurde die Kuh mit Peitschen und Stecken ins Wasser getrieben und geprügelt, bis sie, aus Verzweiflung brüllend, sich vom Ufer in die Mitte des Flusses wagte. Von drüben streckten ihr die Ormunter die Hände entgegen, ergriffen sie an den Hörnern und halfen ihr aus der Not.

So ging Handel um Handel. Das Säcklein flog hinüber und herüber, das eine Mal mit einem Stein, das andre Mal mit Geld gefüllt, und hatte das Säcklein seine Pflicht getan, so klatschten die Peitschen und die Stecken auf dem Rücken der Tiere.

Als ein langer dürrer Mann mit starker Bogennase seine Kuh ins Wasser trieb und sie nicht gehorchen wollte und immer wieder den Kopf nach der Heimat drehte, rief er ihr mit trockener Stimme zu: »Fahr' in die Pest, Luder!«

Die andern lachten, fanden das Wort gut, und jeder, der von da an sein Vieh wegtrieb, rief ihm in den Fluß nach: »Fahr' in die Pest, Luder!«

Eine Kuh stand auf so schwachen Beinen, daß sie dem Stoß des Wassers nicht widerstehen konnte, umfiel und vom Flusse fortgerissen wurde. Von beiden Seiten eilte man ihr zu Hilfe, aber unterhalb der Furt war der Fluß reißend und man mußte die Kuh im Stiche lassen. Sie kämpfte mit dem Wasser so gut sie konnte und ihr Brüllen übertönte das Rauschen des Flusses, aber sie ertrank, und statt der Pest trieb sie der Rhone zu.

Nun entstand ein Streit um das Geld, das man für die Kuh bezahlt hatte.

»Du gabst mir das Geld, ich gab dir die Kuh, der Handel ist abgemacht und fertig!« rief es von der einen Seite.

»Ich gab dir das Geld auf Treu' und Glauben! Schaffst du mir die Kuh lebendig her, so magst du das Geld behalten!« schrie der Käufer, dem das Tier, das in den Wassern trieb, nun schon viel schöner vorkommen mochte als zuvor, da er darum feilschte.

Der Streit wurde heftig, man fing an, sich von einem Ufer zum andern zu beschimpfen, man schwang die Fäuste und Peitschen und Stöcke. Die Ormunter wären am liebsten durch den Fluß gewatet, um sich Recht mit den Fäusten zu verschaffen, aber drüben war ein ganzes Dorf versammelt. Da machte die Not den Geprellten erfinderisch: »Wir schleppen Euch die Pest ins Land!« rief er hinüber. »Stellt Wachen auf, soviel Ihr wollt, wir werden den Weg zu Euren Ställen doch finden.«

Er rief es trotzig und die andern wurden stutzig.

»Mein Geld oder die Pest in deinen Stadel!«

Man hörte auf, die Fäuste und Stöcke zu schwingen und beriet sich; ein Weilchen darauf flog das Säcklein wieder zu den Ormuntern hinüber, diesmal mit Geld gefüllt.

Mit dem Handeln war es nun aus. Ohne Gruß schied man auseinander, hier flußaufwärts, dort abwärts.

Es dämmerte durchs Tal, als die Ormunter zu Hause ankamen. Sie waren mißmutig, besonders Peter. Er hatte zwei Kühe gekauft, die er so rasch in den Stall trieb, als hätte er sie gestohlen, wohl um niemandem Zeit zu lassen, sie im Freien zu mustern.

Peters Vater stand drinnen bei der Türe, um zu sehen, mit welchem Bein die Kühe zuerst die Hütte betreten würden, und sagte bei jeder: »In Gottes Namen,« wenn sie den ersten Fuß im Stalle aufsetzte.

»Es sind beide mit dem rechten Fuß eingetreten, es kann noch recht werden.«

»Habt Ihr den Stall auch ordentlich ausgeräumt, wie ich befohlen?« fragte Peter mürrisch.

»Wir haben getan, was wir konnten,« entgegnete der Vater. Und das war wahr, denn man ahnte, daß die Pest in dem Mist stecken könnte.

Nun war großes Sorgen in allen Hütten um das neue Vieh: es ging keiner am andern vorbei, ohne zu fragen: »Wie geht's im Stall?« Erwiderte der Gefragte: »Wenn's nur so bleibt!«, so freute sich der erste, als hätte es sich um sein eigen Gut gehandelt. Denn das sagte sich jeder: »Bricht's beim Nachbar wieder los, so wirst auch du nicht verschont.«

Wo zwei zusammentrafen, da ging das Gespräch aber auch über den Doktor, und es wurde nicht freundlich von ihm geredet. Er merkte es und ließ sich selten blicken. Am dritten Morgen erzählte man sich, er sei in aller Frühe aufgebrochen und habe mit seiner Frau den Fußpfad nach der Comballaz eingeschlagen.

»Gut, daß er gegangen ist! Mög' er uns nie mehr unter die Augen treten!«

So verstrichen einige Tage. Da, an einem Nachmittage ging die Schreckensbotschaft um: »Die Pest ist in Leblancs Stadel wieder los!«

Und sie ging wieder durchs Tal von zu oberst bis zu unterst und würgte wie zuvor. Und diesmal raffte sie auch die weg, die sie das erstemal verschont hatte. Aber merkwürdig: an Hexenannis schwarzer Kuh mit dem weißen Stern ging sie wieder vorbei! Man sah sie immer noch oben an der Halde weiden; am Vormittag kletterte sie in die Höhe und am Abend stieg sie langsam herunter, um unter dem Ahorn zu übernachten. Sie ging nie in einen Stall, und das mochte sie retten; aber wer sie sah, empfand einen Grimm und sagte sich: »Warum die eine dort und die meine nicht? Womit hat's die Anni, die Hex, verdient?«

Es kam eine große Verzweiflung über alle, man saß da und brütete vor sich hin, und keins mochte zum andern reden, alle aber bedachten das eine: »Kein Vieh mehr! kein Geld mehr! wie sich vor Hunger schirmen?« Viele gaben sich nicht einmal die Mühe, das verendete Vieh zu vergraben, sondern ließen es im Stall verfaulen, und der Gestank war so groß, daß man kaum zu schnaufen wagte.

Einige aber sagten, wenn ihr Vieh von der Krankheit befallen wurde: »Komme, was da wolle, ich schlag' es nieder und dörr' das Fleisch; womit soll ich sonst leben?« Denen geriet es übel, denn die von dem Fleisch aßen, starben unter großen Schmerzen.

An einem Mittag, als die Sonne heiß am Himmel stand, vernahm man ein Lärmen und Schreien von vielen Stimmen. Ein Mann mit zwei Eseln kam den Fußpfad daher. Es war der Doktor, der seiner Hütte zuschritt. Er wollte seine Habe holen.

Hinter ihm drein kam ein wildes Gejohle von Männern und Frauen und Kindern; sie schalten und fluchten, und dann und wann flog ein Stein über des Verfolgten Kopf weg.

Der Haufen hielt etwa dreißig Schritt unterhalb des Doktors Hütte an und rief dem Manne und seinen Eseln drohende Flüche ins Haus nach. Als die Schreier so dastanden und nicht wußten, was nun anfangen, rief einer aus dem Haufen: »Dort geht Bergannis Stern!«

Wirklich, dort ging sie, im fetten Grase geudend, der Halde entlang. Spiegelglatt war sie, es machte ihr kein anderes Maul die Weide streitig. Jedem fuhr ein Stich durchs Herz, es war die Mißgunst. Aus allen Gesichtern gierte sie.

»Das Vieh hat gute Losung jetzt!« rief einer giftig.

»Es muß den Teufel beherbergen,« rief ein anderer, »sonst wär's krepiert wie das unsrige.«

»Verhext ist's!« schrie eine Weiberstimme, »es müßte auch nicht der Hexenanni gehören!«

»Wer weiß, ob es nicht der Leibhaftige selber ist, auf dem die Anni ausreitet!«

»Wenn wir dem Luder einen Besuch machten?«

»Treibt ihr den Teufel aus dem Wanst!«

Die Burschen eilten bergan, die Buben und Mädchen keuchten ihnen nach, und hinterdrein krabbelten die Alten, so rasch es eben gehen mochte. Die Kuh sah auf und betrachtete den Zug, der auf sie zukam, und als die vordersten mit ihrem Geschrei ihr nahten, erhob sie den Schwanz und setzte in großen Sprüngen den Berg hinan. Nun begann die lärmende Jagd erst recht. Ein paar flinke Burschen holten sie ein und schlugen sie mit den Stöcken auf das Maul, so daß sie brüllend umkehrte und nun bergab an der Halde hinlief, um dem tobenden Haufen auszuweichen.

Wütend und lärmend jagte es hinter ihr drein. Bekam ein Bursche den Vorsprung, so schlug er ihr den Stock über den Kopf, dann hielt sie an und drehte sich auf den Hinterfüßen herum, um eine andere Richtung einzuschlagen. Aber da stand schon ein andrer mit seinem Knüttel. So ging es hin und her, und jeden Augenblick sauste es auf ihren Kopf nieder, und säumte sie eine Weile in ihrer ratlosen Angst, so nahten die Streiche auch von hinten, zehn auf einmal.

Endlich wußte die Arme sich nicht mehr zu helfen. Sie stand still, brüllte kläglich und ließ die Streiche auf sich niederfahren. Da das Dreschen kein Ende nehmen wollte, kauerte sie sich nieder und leckte mit der Zunge das Blut ab, das ihr aus der Nase floß.

»Kaputt soll sie sein!« rief der alte Leblanc, nahm sein Messer aus der Tasche und stach es dem Tiere mit starkem Stoße in den Hals. Da sprang es stöhnend auf, warf den, der gerade vor ihm stand, über den Haufen und stürmte in gewaltigen Sätzen davon, bergab.

»Ihr nach, Buben! Jagt sie! Kaputt soll sie sein!«

Und sie hetzten sie wie toll. Die Männer und Burschen waren wie reißende Tiere und die Frauen und Kinder kreischten hinterdrein. Das viele Unglück hatte alle halb wahnsinnig gemacht.

Die Kuh kam unten am Wasser an.

»Jagt sie zum Ziegensprung!« rief es von hinten, »zum Ziegensprung und über den Stein hinunter!«

Die Kuh schien zu erlahmen. Die lange Hatz und die Hiebe und das Blut, das sie verlor, hatten sie betäubt. Sie wurde von der nachströmenden Menge umzingelt und nach dem Abgrunde hingetrieben. Sie sah ihn, erkannte die Gefahr, stellte die Hinterfüße schief nach vorn, um sich umzudrehen. Aber wie sie den Kopf nach der Seite wandte, sauste ein Streich darauf nieder, und auf den Rücken fuhren die Knüttel hageldicht. Es war ein wahnsinniges Toben.

Zum zweitenmal legte sie sich nieder, keuchend, den Kopf ins Gras gestreckt.

»Haut ein! Sie soll hinunter!«

Die Stecken flogen, aber sie rührte sich nicht.

»Ich will ihr warm machen,« rief einer, eilte hinauf, wo ein Haufen dürres Heu lag, und brachte einen Arm voll herunter, den er hinten über das Tier warf. Dann zog er sein Feuerzeug aus der Hosentasche, schlug Funken, und im Nu flackerte das Heu. Man hörte das Haar der Kuh zischen. Nun sprang sie auf und in weitem Satz flog sie über den Felsen hinaus und hinab. Dumpf schlug sie auf; das Wasser spritzte empor und floß dann weiter, rotgefärbt.

Auf dem Felsen war der Jubel groß, keinem fiel ein, wie elend die Tat war.

Da rief einer ins Geschrei hinein: »Sie kommt!« Man begriff. Der Lärm legte sich, man sah an der Halde empor. Dort kam etwas Gespenstiges, Weißes, in eiligem Laufe: Bergannis Haare flatterten herab. Hoch schwang sie ihren Haselstock ob dem Haufen, als sie rief:

»Hunde, elendige! Was habt ihr meinem ›Stern‹ getan? Was hat euch der ›Stern‹ getan, Hunde, elendige? Möchtet ihr alle verrecken, wie mein ›Stern‹, das wünsch' ich euch von Herzen!«

Sie rief es langsam, und man merkte, daß ihr die Tränen in den Augen standen. Die meisten wurden ernüchtert und empfanden Reue über das, was geschehen war. Nur einem schienen ihre Worte den Kopf noch mehr zu erhitzen, er eilte mit erhobener Faust zu ihr hinauf, um sie zu züchtigen; sie aber kam ihm zuvor und schlug ihm den Haselstecken so scharf über die Stirne, daß er taumelte und von ihr ließ.

Wieder ertönte die schneidende Stimme der Anni:

»Hat die Pest noch nicht genug gewütet? Brauchte sie euch, um ihr Werk ganz zu tun? Was tat euch mein ›Stern‹, daß ihr ihn zu Tod hetztet, Blutteufel, die ihr seid!«

»Der Teufel war deine Kuh! Verhext hast du sie, wie wäre sie sonst der Pest entgangen? Den Leibhaftigen haben wir hinabgesprengt! Du aber bist verrückt, und so geh deiner Wege!«

»Verrückt seid ihr! Die beste Kuh habt ihr ersäuft, den Teufel aber verschont! Dort oben ist er, in jenem Haus! Das Tal war glücklich, eh' er kam, er brachte das Geld und den Neid und den Haß und den Diebstahl! Und zuletzt brachte er die Pestilenz, die euch zu Bettlern machte und zu wilden Tieren! Das ist der Teufel! Den stürzt in den Fluß! Folgt mir nach, und euer Zorn strafe ihn! Denkt an das Vieh, das euch elendig verreckt ist. Denkt an euer Vieh!«

Sie drehte sich, und mit langen Schritten stieg sie hinauf. Hinter ihr drein ging es grollend: »Ja, sie hat recht! Er fahre dem Teufel zu! Er büße für unser Vieh!«

Einige folgten ihr, andere zögerten, liefen dann aber auch nach.

Während die Horde emporschnaubte, kam einer den Berg herab. Er ging mit grollenden Augen an dem Haufen vorüber, trat an den Rand des Felsens, sah hinab und wischte sich die Augen, um besser zu sehen. Es war Kaspar, Bergannis einziger Sohn.

Die Hütte des Doktors war verriegelt, die Männer schlugen die Türe auf und brüllten unheimlich dazu. Sie schleppten den Doktor heraus und schlugen ihn. »Hinab zum Ziegenstein!« Und sie stießen ihn vor sich her und jagten ihn, wie vorher das Vieh.

»Halt!« rief es von der Hütte her, »da sind die Esel! er soll hinabreiten! Bringt ihn her!« Und sie setzten ihn auf einen Esel. Als er oben war, nahmen zwei das Tier am Zügel, der eine links, der andere rechts. Der Doktor aber fiel herab oder sprang herab. Gleich war er wieder eingefangen. »Holt einen Strick! Wir binden ihn fest!« Und so taten sie. Der Esel war störrig. Das kam dem Doktor zugut, denn nun flogen die meisten Prügel auf die Beine des Tieres, doch fiel noch genug für den Reiter ab.

Das Toben und Schreien und die dumpfen Schläge der Stöcke füllten das Tal. Langsam kam die Raserei herab, langsam, für den Doktor eine Ewigkeit. Die Berganni ging voran und wies den Weg. Ihr Haar war wie eine weiße Fahne im Wind. Der Doktor drehte dann und wann den Kopf. Er war bleich wie ein Leinentuch.

Sie kamen zum Stein. Der Esel sah den Abgrund, warf den Kopf zurück, sperrte alle viere nach vorn und blieb fest.

Nun mußte auch der Doktor erraten haben, was sie wollten, er stieß einen gellenden Schrei aus und wand sich auf dem Rücken des Esels in seinen Stricken: »Laßt mich los!«

»Um's Himmels willen, tut's nicht!« rief eine Frauenstimme, andere aber brüllten: »Schlagt dem Esel auf die Beine! Denkt an euer Vieh!«

Das Tier stemmte sich nach rückwärts, schlug den Kopf nach links und rechts, warf ihn wieder unwillig in die Höhe und blieb fest. Der Doktor hoffte schon, das Tier werde ihn retten.

»Kehrt den Esel um!«

Sie rissen ihn herum, er ahnte Rettung und folgte willig. Nun stand er da, die Hinterfüße am Rand des Abgrundes, den Kopf hinaufgewendet und vorwärts strebend.

»Nun schaut, wie ich's mache!« rief einer, erhob seinen Knüttel und ließ ihn dem Tiere auf die Nase sausen. Es bäumte sich, wich zurück, verlor den Stand, und unten klatschte es auf dem Wasser. Der letzte Angstschrei des Doktors drang herauf.

Aber als sich der Esel vor dem Sturze bäumte, faßte sein Kopf den, der ihn geschlagen hatte: der Mann taumelte, fuchtelte, um nicht zu stürzen, mit den Armen, fiel aber doch zuletzt hin, und ehe es einem andern in den Sinn kam, ihn zu halten, kollerte er über den Rand des Felsens, und aufs neue zischte unten das Wasser auf.

Ein Geschrei erhob sich, erst der Freude, dann des Entsetzens, und still schlich jeder von dannen, nüchtern geworden.

Von da an wuchs das Elend von Tag zu Tag. Es waren nur noch Geißen im Tal, die den Hunger nicht aufhielten.

In jenem Sommer stieg man nicht in die obern Stafel hinauf, man tat überhaupt nichts: wozu hätte es auch gefrommt? Selbst das Gras auf den fetten Matten ließ man verfaulen: wozu sich damit abmühen, da die Mäuler fehlten, die es im Winter fressen sollten! Und für die Geißen war bald gesorgt.

Diese Not wurde noch drückender durch die beständige Angst, in der man war, es möchte einem auch noch das letzte Gut abhanden kommen. Denn mehr als einmal hörte man die bittere Klage: »Seit heute nacht fehlt uns eine Ziege, wir haben keine Spur von ihr, sie muß gestohlen worden sein! Die Pest über den Dieb!«

Die Männer fingen an, nachts in den Ställen bei den Ziegen zu schlafen und legten einen Knüttel neben sich; die alten Leute aber, denen das Wort ›stehlen‹ fremd klang, wie ein aus der Ferne gekommenes, sagten: »Wie soll das enden, wenn nirgends mehr Treu' und Reu' ist!«

Nach einigen Wochen bot man das Gerücht herum, man habe in Leblancs Stall brüllen hören. Man schlich nachts zu der Hütte hin, legte das Ohr an die Stallwand: wirklich, man hörte drin das Pusten einer verdauenden, sich von Zeit zu Zeit reckenden Kuh. »Wo hat er sie her? Oh, der Teufel! er muß sie auf einer fremden Alp gestohlen haben! Totschlagen sollte man ihn! Mög' sie ihm die Pest holen!« Aber der Abscheu schlug bei vielen in Neid um, und der Neid gebar frevlerische Pläne, und es ging nicht lang, da muhte es in mehr als einem Stall. Bald fanden sich auch Zungen genug, die das Diebsvolk in Schutz nahmen und sagten: »Ich möcht's ihnen nicht nachtun, aber wahr ist und bleibt wahr: gestohlene Milch und gestohlener Käse schmecken alleweg besser als der Hunger.«

So ging der Viehfrevel weiter, bis einmal ein paar Burschen ohne einen ihrer Gefährten von einem Raubzug zurückkehrten und selber übel zugerichtet waren: die Sennen ringsum, im Greyerzerland, im Wallis und im Bernbiet, hatten sich mit Waffen versehen, und an allen Eingängen ins Ormuntertal standen Wachen, um die Diebe abzufangen.

In diesem Elende sagte Ursula einmal zu ihrem Mann: »Ich geh nach Gsteig hinüber und hole mir eine Kuh aus meines Vaters Stall, mit zwei Ziegen können wir den Winter nicht abwarten. Denk' doch an den Hansli!«

Da wurde er zornig und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Gehst du hinüber, so magst du auch drüben bleiben! Hier bin ich, dort dein Ätti, entscheide! Er hat uns verachtet, ich will ihn nicht anbetteln!«

Sie suchte ihn zu beschwichtigen, er aber blieb bei dem, was er gesagt hatte. Sie mußte sich seinem Willen fügen. Als er sah, daß sie ihren Plan aufgegeben hatte, sagte er zu ihr: »Ich weiß wohl, wir können mit den beiden Geißen den Winter nicht überwinden, drum meine ich, ich wolle unsere alte Flinte in Ordnung stellen, mir in Aigle Pulver holen und Gemsjäger werden. Grattiere hat's genug in den Felsen, und erwischen werd' ich sie wohl auch; dann dörren wir Gemsfleisch für den Winter, und was uns zu viel scheint, das trag' ich ins Land hinab und verkauf's.«

Und er tat so. Von nun an stieg er täglich am frühen Morgen in die Berge hinauf und kehrte abends spät zurück, die ersten Male mißmutig, weil mit leeren Händen; aber er verlor den Mut nicht. Einst kam er in guter Laune zurück: »Heut kam ich zum Schuß! Wäre ich ruhiger gewesen, ich hätt' sie über den Haufen geschossen! Aber ich habe jetzt was gelernt, ich weiß, wie sie gehen und grasen und wie man sie erschleichen kann. Gebt acht, was morgen geschieht!«

Er schlief in jener Nacht nicht vor Aufregung. Mitternacht war kaum vorbei, als er aufbrach und in die Felsen hinaufstieg. Und er behielt recht! Er kehrte früher heim als sonst, und über die Schultern trug er etwas Braunes. Das warf er lachend in die Küche: »Nun mag's gehen, wie's will, verhungern müßt ihr mir nicht!«

Am Tag darauf hatte er einen Verdruß. Als er wie gewohnt vom Creux de Champ gegen die Teufelshörner hinaufsteigen wollte, vertrat ihm Claude, der Jäger, den Weg.

»Du jagst an den Teufelshörnern?«

»Ja! Was ficht's dich an?«

»Das ist mein Gebiet! Seit zwanzig Jahren und mehr ist der Berg mein, und mich dünkt, er sollt's auch ferner bleiben!«

»Er ist mein wie dein! Behagt es mir, hier zu jagen, so frage ich den Claude nicht erst!«

»Tu, wie du willst, doch sag' ich dir das: wenn ich jage, so ist es meine Gewohnheit, zu schießen, wo ich etwas sich rühren sehe: bis jetzt war's immer ein Tier, ich möchte nicht, daß es einmal etwas anderes wäre!«

»Meine Kugel fliegt so rasch wie die deine!« zürnte Peter und ging seines Weges.

Die Jagdlust tobte in ihm von da an wie ein Fieber, er schlief kaum, und waren die Berge verhängt und strömte der Regen herab, so war er mißmutig und mürrisch und blickte jeden Augenblick nach dem Tannenzweig über der Türe, der des Hauses Wetterprophet war. Kaum rissen die Wolken entzwei, so griff er nach dem Gewehr und schritt davon, als wartete dort oben das strahlendste Glück auf ihn.

Er kam nun öfter mit als ohne Beute zurück. Sein Vater trug manche Last Gemsfleisch ins Land hinab, und nach einiger Zeit konnte er aus dem Erlös eine Geiß erstehen. Es war ein großes Fest, als er sie in den Stall zu den andern trieb.

Zu der Zeit schien der Großätti wieder neues Leben zu bekommen. All den Sommer hatte man kaum gemerkt, daß er noch da war: tagaus, tagein saß er in der Matte auf den Hügeln, unter denen das Vieh verfaulte, und sonnte sich und sann und wußte wohl selber nicht immer was. Wenn er aus der Hütte trat, um nach den Erdhaufen zu hinken, hörte man ihn manchmal zwischen den Zähnen murmeln: Oh, mys G'richt (Vieh)! oh, mys G'richt!« Und wenn er abends sich in einem Winkel zur Ruhe streckte, stieß er nochmals den klagenden Ton hervor: »Oh, mys G'richt!« Anderes brachten seine Lippen in jenen Tagen kaum hervor.

Einst aber, als Peter einen prächtigen Gemsbock auf den Tisch warf, schleppte sich der Großätti zu ihm heran, reckte sich empor, um mit dem Munde Peters Ohren möglichst nahe zu sein, als ob der und nicht er selber taub gewesen wäre, und brachte mühsam hervor: »Wo jagscht, Peti?«

»Am Oldenhorn!«

»Am Oldenhorn?« wiederholte der Alte, und sein Gesicht sagte: »So hab' ich's erwartet, so ist's recht! Am Oldenhorn?«

»Ja!«

»Uf'em Bärg het's Guld!«

Peter lachte und schüttelte den Kopf; der Alte aber wiederholte, so laut er konnte: »Uf'em Bärg het's Guld!«

»Gold, wie das auf Isenau! Gold wie dein Stein!« rief ihm Peter in die Ohren; aber der Großätti war seiner Sache sicher: »Die alte Lütt hei's gseit! Peti reich's abha (hol's herunter)! d'r Tüfel tuet der nütt!«

Von nun an ließ er Peter keine Ruhe mehr, wo er ihn antraf, rief er ihm zu: »Uf'em Bärg het's Guld! Reich's abha! nimm nummen es Chrüz (nimm nur ein Kreuz)!«

Man wußte anfangs nicht, wie ihm das Hirngespinst konnte gekommen sein; nach und nach aber kam Peters Vater eine verwischte Erinnerung aus seiner Jugend in den Sinn und an einem Abend rückte er damit heraus: »Nun weiß ich's wieder! ich meine die Geschichte von Großättis Gold, man hat uns Buben manchmal davon erzählt, ich will sehen, ob ich's euch berichten kann.

Das Oldenhorn hat nicht mehr seinen rechten Namen, in den alten Zeiten hieß es Goldenhorn, und in der Sage nennt man's immer zusammen mit den Teufelshörnern. Einst wollte der Herrgott dem Teufel seine Macht nehmen und ihm sein Handwerk verleiden, und er bannte ihn auf den Berg dort und meinte, nun sollten die Seelen vor ihm ihre Ruhe haben. Vom Tal aus aber sah man ihn wohl, insonderheit seine Hörner, und davon hat der Berg seinen Namen bekommen, und bis zum heutigen Tag zeigt man sich die Teufelshörner. Der Teufel aber gab sein Spiel nicht auf und sann auf Ränke. Er hatte ein Horn bei sich, das von purem Golde war und aussah wie das Alphorn, das die Sennen blasen. Am Abend bei Sonnenuntergang nahm er das Horn hervor, schob das Mundstück zwischen die Lippen und stützte die weite Mündung auf den Berg, der gegen das Bernbiet aufragt, und fing an zu blasen, und es war wie ein Alpsegen zu hören. Und die Sennen sahen auf und suchten, woher der Segen komme. Sie brauchten nicht lange zu spähen, denn die Sonne schien auf das Gold und der ganze Berg ward rot, und einer rief dem andern zu: »Siehst du das Horn auf dem Berge, das Goldenhorn?« Und der andere gab zurück: ›Wer's hätte!‹ So kam der goldene Alpsegen Abend um Abend. Einst aber blies der Teufel nicht das fromme Lied, sondern es war eine Rede, und die klang, als hätte einer die Hände hohl ums Maul gelegt. Alle Sennen horchten auf. Der Teufel aber rief laut durch die Hände:

Ho-ho! ho! loset all, ho!
Buben und Sennen im Tal, ho!
Melken und hüten und scheuern so,
Mag der Älpler werden froh?
Gold auf dem Berg,
Hol's, du Zwerg!
Müh' dich ein wenig,
Und du wirst reich wie ein König!
Se–het, Sen–nen, ho!
's Goldenhorn bren-nen, ho!

So sang er von da an jeden Abend und dabei ließ er das Abendrot auf sein goldenes Horn scheinen, daß es wie Alpenrosen ins Tal hinunter leuchtete. Das Lied verlockte die Sennen, und eines Tages machte sich einer auf und stieg dem Gipfel zu und hörte immer im Ohr das Wort: Müh' dich ein wenig! Und du wirst reich wie ein König! Als er auf der Spitze ankam, sah er das goldene Horn vor sich liegen, und er wollte es aufheben. Aber es war schwer wie ein Felsblock. Da nahm er sein Messer aus der Tasche, um sich ein Stück abzusägen. Gleich fing das Horn zu tönen an:

Meister im Schnee,
's tut einer mir weh!

Nun kam der Böse von den Teufelshörnern her, nahm den Sennen am Kittel und warf ihn auf den Gletscher hinab; seine Seele aber fing er wie in einem Vogelschlag auf und lachte, weil es ihm so wohl gelungen war. Darauf sang er wieder seinen Spruch ins Tal hinab und andern Tags stieg wieder ein Älpler aufs Goldenhorn, und es geschah ihm wie dem ersten. So ging es den ganzen Sommer lang, die Sennen sahen nicht mehr zu ihrem Vieh, sie summten vor sich hin:

Gold auf dem Berg,
Hol's, du Zwerg,

und guckten in die Höhe und maßen den Berg und sagten sich: Ich wag's doch einmal, ist's morgen nicht, so ist's vielleicht übermorgen!

Das vernahm der Pfarrer von Gsteig, daß den Sennen der Kopf verdreht werde und einer um den andern auf den Berg steige und nicht wiederkehre. Er nahm einen Alpstock, stieg selber hinauf und kam zu dem Horn und wußte nun, warum die Sennen im Tal keine Ruhe mehr hatten: Du verfluchtes Gold, sagte er, wo dein Glanz einzieht, da zieht Ruh und Glück aus! Ich will deinem Gleißen ein Ende bereiten. Sprach's und nahm einen Stein, so schwer als er selber stark war, und warf ihn auf das Horn, um den Glanz zuzudecken. Da rief aber das Horn, wie es sein Befehl war:

Meister im Schnee,
's tut einer mir weh!

und gleich war der Leibhaftige zur Stelle und wollte dem Pfarrer tun, wie er den Sennen getan hatte. Aber er war an den Unrechten geraten. Der Pfarrer hatte ein Kreuzlein um den Hals hängen, wie's früher Brauch war, das hielt er dem Bösen entgegen, denn er erkannte ihn sogleich und rief ihn an: ›Guten Tag, Herr Goldteufel! Wie geht's? wie steht's? Wollen wir ein bißchen hos'len (ringen) miteinander? Komm her, mach deinen Griff, schlag mir den Haken! Ei, so komm doch! Kommst du mir nicht entgegen, so geh ich dir entgegen, das Hos'len tu ich ums Leben gern, eine so schöne Gelegenheit find' ich nicht bald wieder. – Jetzt läufst du gar davon! du bist ein schöner Held! ha, ha, ha!‹

Der Teufel war wirklich vor dem Kreuze davongelaufen und hatte sich auf einen Felskopf gesetzt, um das Treiben des Pfarrers zu sehen. Der nahm nun Steinstück um Steinstück und warf sie alle auf das Horn; mit einem schweren Blocke schlug er die Mündung zu, so daß das Gold von da an nicht mehr tönen konnte. Der Teufel auf seinem Steine sah, was für schlimme Arbeit ihm der Pfarrer machte, aber jedesmal, wenn er heranschlich, um dem Treiben Einhalt zu tun, wurde ihm das Kreuzchen entgegengehalten, und er spuckte darnach und kroch mit eingekniffenem Schwanz wieder auf seinen Stein.

Als der Pfarrer meinte, sein Geschäft redlich besorgt zu haben, löste er sein Kreuzlein vom Hals und pflanzte es auf den Steinhaufen. Wie er das tat, fing's an zu wachsen, so daß, wer gute Augen hat, es heutigentags noch vom Tal aus sehen kann und den Steinhaufen drunter nicht minder gut. Als er das Kreuz gewahrte, merkte der Teufel, daß er sein Horn nun nicht wieder befreien konnte; er fing an zu wüten und zu fluchen, daß der ganze Berg zitterte und der Gletscher Risse bekam, die seither nicht wieder zugewachsen sind und jeden, der ihnen zu nahe kommt, verschlingen. Denn alles, was Teufelswerk ist, kann von teuflischer Art nicht lassen.

Der Böse wütete dermaßen, daß er nicht merkte, wie der Pfarrer die Gelegenheit benutzte und so schnell er konnte, den Berg hinunter kletterte, in Sprüngen, auf allen vieren, auf dem Bauch, wie's die Gelegenheit erheischte.

Nach einer Weile kam der Böse freilich wieder zur Vernunft und hätte fast lachen mögen bei dem Gedanken, daß der verwünschte Schwarzrock sein Kreuz abgelegt hatte: nun war er ja wehrlos! Er eilte ihm nach und meinte schon, er könne ihm den Hals umdrehen. Aber er war auf den Teil des Berges gebannt, wo der Schnee ewig liegen bleibt, und als er mit der Hand nach des Pfarrers Rockkragen greifen wollte, sprang der fromme Mann über die Grenze. Drüben kehrte er sich um, rieb sich den Schweiß von der Stirne und sagte: ›Ich mag nun nicht mehr hos'len, Vetter, es sei auf ein andermal verspart.‹ Darauf setzte er sich auf einen Stein, zog Brot und Käse aus der Tasche und biß wacker drein. Der Teufel stand zwei Schritte vor ihm auf dem letzten Schnee und wollte manchmal auf ihn losfahren, aber er war wie ein Hund an der Kette.

Als der Pfarrer Brot und Käse im rechten Säcklein versorgt hatte und sich wieder bei Kräften fühlte, stand er auf, zog seinen Hut, sagte zu dem Teufel lächelnd: ›Gott befohlen!‹ und zog talwärts.

Von da an tönte das Horn nicht mehr zu den Sennen herab, der Teufel aber rief jeden Abend durch die Hände:

Gold auf dem Berg,
Hol's, du Zwerg!

und die Sennen drehten wieder die Augen in die Höhe. So stark wie früher war der Glanz nicht mehr, und mancher fragte sich: Ob's einem geglückt ist? Alles aber kann er nicht mitgenommen haben, denn noch glänzt der Berg wie keiner ringsum.

Und so war es, denn zwischen den Steinen, die auf dem Horn lagen, waren Fugen – wie hätt' es auch anders sein können – und aus diesen guckte das Gold hervor und lockte und lockte. Mehr denn einer stieg in jenem Sommer noch hinauf und kam nicht wieder.

Als der Schnee die Älpler ins Tal trieb, rief der Pfarrer die Talbewohner zusammen und erzählte, daß er den Gottseibeiuns auf dem Berge aufgesucht und mit eigenen Augen das Gold gesehen habe, mit dem er die einfältigen Leute anlocke, und wie er jedem, der um des Glanzes willen komme, den Hals umdrehe und seine Seele in die Pechpfanne werfe. Und er sprach so starke Worte, daß die Sennen ein Gruseln überkam und sie bei ihrer Seele Heil versprachen, nie mehr nach dem Teufelsgolde zu laufen, sondern bei des Teufels Spruch die Ohren mit den Fingern zu verstopfen. Damit aber das Gedächtnis von dem Gold auf dem Berge aussterbe, beschloß die Gemeinde, es solle keiner mehr den Berg Goldenhorn nennen, Oldenhorn, das solle künftig sein Name sein, und wer's anders halte, der solle gepeitscht werden. Das ward Brauch, und von dem Gold auf dem Berge weiß jetzt niemand mehr zu erzählen als die alten Leute.«

So berichtete Peters Vater, und alle begriffen nun Großättis ewiges Stottern: »Uf'm Bärg het's Guld!«

Als Tags darauf der Alte sein Anliegen wieder anbrachte, wandte sich Peter zu Ursula und sagte: »Ich mein', ich wolle ihm einmal den Gefallen tun«; dem andern aber rief er schalkhaft in die Ohren: »Der Bärg ischt mir z'ruuha (zu rauh)!«

Großätti schüttelte den Kopf, fast verächtlich, und brummte, als er nach der Matte und zu den Erdhaufen humpelte: »Wenn i no junge weeri!«

Am folgenden Tage stieg Peter wieder in den Berg hinauf und kehrte erst in dunkler Nacht zurück, todmüde, mißmutig und ohne eine Klaue.

»Du hast nicht gejagt,« sagte ihm Ursula auf sein Gesicht zu, »du bist der Narrheit des Alten nachgelaufen!«

»Ja, ich wollt's einmal versuchen, ich wollte einmal sehen, wie's oben ist!«

Da sagte sie ihm, was sie schon lange mit sich getragen hatte: »Peter, seit du jagst, bist du ein anderer geworden, dir ist das Haus nichts mehr, und Frau und Kind könnten dir vom Wind geholt werden. Ich sehe dir's an: dir ist nur wohl, wenn du stundenweit von uns weg bist; es ist, wie wenn der alte Teufel noch auf dem Berg säße und in sein Horn bliese. Peter, wir haben jetzt des Fleisches genug für den Winter und mit drei Geißen können wir uns behelfen, steig' nicht wieder hinauf, ich habe keinen ruhigen Augenblick, wenn ich dich in den Felsen weiß.«

Er gab keine Antwort, sondern legte sich schlafen. Am frühen Morgen erhob er sich geräuschlos und wollte davonschleichen. Sie aber hatte nicht geschlafen und hielt ihn auf: »Geh nicht wieder!«

Da gestand er ihr seine Sucht: »Sieh, du verstehst das nicht, und ich kann es dir auch nicht recht sagen. Ich habe euch alle gern wie immer, aber glaub' mir's: kennt man den Berg einmal, so kann man nicht mehr von ihm lassen, und muß man einen Tag im Tale bleiben, so meint man am Abend, man habe gar nicht gelebt alldieweil. Ich weiß nicht, was einen so hinaufzieht. Ist es, weil man dem schnellsten Gemsbocke sagen möchte: Du bist mir nicht zu flink! oder der steilsten Wand: Ich will dich erklettern, oder der dunkelsten Kluft: Mir graut nicht vor dir? Nein, es ist noch etwas anderes, aber ich kann's nicht sagen, ich fühl's nur da drin!«

»Bleib' bei uns, du bist zu waghalsig, es könnte einmal übel ausschlagen! Du weißt doch, daß ich mit meinem Zweiten gehe!«

»Laß mich heute noch! Ich hab' es mir vorgenommen, ich will einen Weg auf den Gipfel suchen, ich möchte einmal von dort hinunterschauen. Hab' ich's erreicht, so will ich den ganzen Sommer und Herbst hübsch bei dir zu Hause bleiben.«

Als die Nacht einkehrte, stand er wieder in der Stube, übler gelaunt als je: es war ihm auch diesmal nicht gelungen.

Der Großätti, der gemerkt haben mochte, daß Peter nun nicht Jagens halber in die Felsen kletterte, hinkte zu ihm heran, stieß ihn mit dem obern Ende seines Stockes an und sagte: »Häb guetig! La nit lugg!«

Und er ließ nicht locker. Am folgenden Tag brach er erst gegen Abend auf: er wolle in den Felsen übernachten, sagte er, er brauche einen ganzen Tag, um endlich den Weg zu finden.

Ursula hatte eine unsägliche Angst die Nacht und den ganzen folgenden Tag. Aber bevor es dämmerte, kam er daher, die Freude lachte ihm aus den Augen, und er stieß einen hellen Jauchzer aus, den ersten, der seit der bösen Pest durchs Tal klang: diesmal war's gelungen!

Auch der Großätti las ihm die Freude vom Gesicht ab; er humpelte heran und blinzelte nach seinen Taschen, nach dem Gold. Da er aber sah, daß sie leer waren, flog es wie Trauer über sein Gesicht, und er kroch in seinen Winkel zurück, ohne ein Wort zu sagen.

Peter aber war heiter an jenem Abend und hatte viel zu erzählen: wie er sich die ersten Male abgemüht und jedesmal gemeint habe, jetzt müsse es gelingen, und wie er immer auf eine Wand gestoßen sei, an der keine Fliege hätte emporklettern können. Heute sei er zu einer Grashalde gekommen, auf der Gemsen weideten, zwanzig, dreißig beieinander; die hätten ihn ein Weilchen mit erstaunten Augen angesehen, als hätten sie ihren Sinnen nicht getraut und sagen wollen: »Selbst hier oben hat man keine Ruhe mehr vor dir, du Störenfried?« Dann seien sie davongestoben und an einer lotrechten Felswand hinangeklettert, wie Mäuse an einer Mauer, und oben an einer Kante verschwunden. »Und die Gemsen haben mir den Weg gezeigt. Mühsam ist er gewesen, oft hat mir der Fels kaum zwei Finger breit Weg geboten, oft habe ich mich von einem Vorsprung zum andern mit den Armen heben müssen. Wich der Fels, oder ließ die Hand locker, versagte der Arm oder zitterte der Fuß beim Greifen, so ging's hinunter in die schwindlige Tiefe. Aber es ist wie Tollheit über mich gekommen, an mein Leben habe ich nicht mehr gedacht, nie hab' ich den Blick nach unten gehen lassen: hinauf, hinauf! Unter meine Füße sollst du, verfluchter Berg! Endlich bin ich oben am Grat, hinter dem die Gemsen verschwunden waren, angekommen, vor mir stieg ein Schneefeld auf und hinter dem Schneefeld die Spitze. Da bin ich hinaufgestampft, das Herz hat mir gepocht und der Atem fast versagt, und ich habe mich auf dem Gipfel niedergeworfen und ihn wild mit den Armen umschlungen. Oh, du seliger Berg! Ich habe um mich geschaut und war wie in einem großen Dorf mit weißen Dächern und Türmen. Und Dächer und Türme waren Bergspitzen und Hörner und Grate, alle im Schneekleid. Und gen Niedergang erhoben sich andere Berge, nicht weiß, sondern blau und grau und langgestreckt, als ob sie nicht ständen, wie die weißen, sondern lägen und es sich hätten wohl sein lassen. Zwischen den blauen und den weißen Bergen dehnte es sich wie ein großes Wasser mit schäumenden Wellen; da muß Nebel gelegen haben. Dunkle Flecken tauchten daraus hervor, fast als schwämmen Riesen drin und streckten die braunen Köpfe heraus. Gegen Mittag stieg der Nebel auf wie siedende Milch. Auch zwischen den Schneebergen wurden da und dort runde Klumpen heraufgetrieben, wollig wie Hammelköpfe, und es wurden ihrer immer mehr und verwandelten das Bergdorf in ein Wolkendorf, und das Wolkendorf war das schönere von den beiden. »Ich führ' oder trag euch einmal hinauf,« sagte Peter lachend, »ihr sollt auch wissen, wie's oben aussieht!«

»Und der Steinhaufen und das goldene Horn?« fragte sein Vater, halb im Scherz, halb im Ernst. Denn auch er glaubte in einem Hinterstübchen an die Sage.

Peter lachte: »Ich habe nicht Zeit gehabt, darnach zu suchen!«

Peter wurde im Wachen und im Träumen von der Sehnsucht nach dem Berge geplagt. Aber er hätte das Wort, das er seiner schwangeren Frau gegeben hatte, nicht gebrochen, wäre nicht die Versuchung mit einem goldgespickten Beutel an ihn herangetreten.

Eines Tages erschienen zwei Fremde im Tal. Sie sprachen eine Sprache, die weder welsch noch deutsch war. Nur der eine der beiden konnte ein paar Worte Französisch, und endlich begriff man, daß er einen Gemsjäger suche. Man sagte, es gebe deren zwei im Tal, Claude und Peter. Er ließ beide rufen. Nach langem Stottern und Stammeln hatte man es heraus, daß die beiden das Oldenhorn besteigen wollten. Im ganzen Tal begriffen nur zwei ein solches Unterfangen: Peter, der wußte, wie schön es oben war, und sein Großätti, weil er an die alte Sage glaubte. Als man dem Alten das Vorhaben der Fremden in die Ohren rief, wurde er unruhig, und seine Augen hefteten sich lauernd und bös auf die beiden Männer. Dann zupfte er Peter am Kittel, humpelte mit ihm abseits und sagte: »Die reichen's abha! Peti, reich' du's, reich' du's!« Die Fremden fragten die beiden Gemsjäger nach dem Berg, so gut sie es mit ihrem Stottern konnten, und endlich fragten sie Peter, ob er ihnen den Weg auf den Berg zeigen wolle, er müßte es nicht umsonst tun. Peter sagte zu; Claude aber ging davon und fluchte fast den Himmel herunter.

Peter stieg noch am nämlichen Abend mit den Fremden ein gut Stück am Berge hinan, um am folgenden Tag mit frischer Kraft den Gipfel zu erklettern.

Die Reise glückte; von weitem schon meldete Peters Jauchzen die Rückkehr.

Als er mit seinen Fremden jodelnd an den Hütten vorbeischritt, streckten sich neugierig die Köpfe heraus und viele, die gerade nichts Besseres zu tun hatten, schlossen sich ihnen an, so daß es endlich ein ganzer Zug war, der zu Schneiters Hütte einbog. Um auszuruhen, setzten sich die Fremden in den Schatten, den das Dach warf; sie wollten am nämlichen Abend noch ins Tal hinuntersteigen. Alles Volk belagerte und begaffte sie, denn Leute, die um nichts auf einen Berg kletterten, mußten wohl andere Nasen, Backen und Augen haben als ehrbare Christenmenschen. Am auffälligsten benahm sich der Großätti. Er hinkte hart an die beiden heran, musterte sie mit den stechenden, mißtrauischen Augen und beschnüffelte sie so kindlich dreist, daß die Fremden lachen mußten und alles Volk mit ihnen. Der Alte aber ließ sich nicht stören, vollendete seine Musterung und wurde ruhiger.

Unterdessen war eine neue Zuschauerin gekommen, die in ihrem Aufzuge den Fremden so in die Augen stach, daß sie aufstanden und ihr näher traten, denn sie hielt sich abseits. Berganni war's. Sie sah die Fremden mit scharfen Augen an und rührte sich nicht. Da zog einer der Reisenden ein Büchlein und einen Stift aus der Tasche, schaute sie an, kritzelte etwas ins Buch, schaute wieder und kritzelte emsig drauf los, und die Ormunter lachten, weil er's gar so eilig hatte. Die Berganni aber lachte nicht mit; sie trat dem Zeichner näher und fing an, auf ihn loszuwettern, daß er sich klein machte und den Rückzug antrat, und des Lachens um ihn her kein Ende ward.

Nun zog einer der Fremden ein Ledertäschchen hervor, entnahm ihm etwas und drückte es Peter in die Hand; dann brachen die beiden auf und schritten am Flusse abwärts.

Als Peter seine Hand öffnete, war ein großes Goldstück drin, und er stieß einen Jauchzer aus, wie immer, wenn er die Lust im Sinne hatte. Er rief dem Großätti ins Ohr: »Das ist Gold vom Berg!« und hielt ihm das glitzernde Stück vor die Augen. Der Alte klatschte in seine dürren Hände und kicherte.

Die Berganni aber stimmte beim Anblick des Goldes ihr Fluchgebet über das Geld an und lief hinter den Fremden drein und überschüttete sie mit Schmähungen. Sie hatte diesmal die andern Ormunter auf ihrer Seite. Murrend gingen sie auseinander und sagten: »Die Berganni hat recht, aus dem Gelde wird wieder Unglück reif werden, es ist Sündenlohn! Man denke doch, ein Goldstück, und keins von den mindern, als Taglohn! Recht erworben Gut ist das nicht! Und warum muß es gerade dem Berner zugeschneit werden? Der hat ja schon fünf Stück auf der Matte!«

Am lautesten grollte Claude, der Gemsjäger: »Die Grattiere schießt mir der Hund weg! Das Goldstück jagt er mir ab! Mög' ihm der Teufel den Dank auszahlen!«

Es vergingen nicht zehn Tage, da kam wieder ein Reisender nach Ormunt und hatte zwei halbwüchsige Buben bei sich. Er fragte nicht wie die ersten nach einem Gemsjäger, er sagte einfach: »Führt mich zu Peter, dem Bergführer!«

Tags drauf, als Peter zu dem ersten Goldstück ein zweites legte, sagte er strahlend vor Freude: »Noch ein paar solche Gelegenheiten, und ich bin imstande, eine Kuh in den Stall zu stellen. Der Berg wird uns zum Segen! Es ist wahrhaftig Gold auf ihm.« Die Leute aber sahen ihn von da an mit scheelen Augen an, sie mochten ihm das bißchen Glück nicht gönnen, und besonders die Berganni stieg nun öfters herab, um vor Schneiters Haus zu fluchen.

Es war zu Ende des Monats August, als das Tal wieder durch zwei Fremde in Aufregung versetzt wurde. Es waren ein Alter mit einem weißen Backenbarte, der ihm bis auf die Achsel reichte, und ein Junger mit einer Brille. Sie wollten außer Peter noch einen andern zur Begleitung, denn der Alte meinte, er sei nicht mehr fest genug auf den Füßen, man müsse ihm etwas nachhelfen. Peter sollte den zweiten Führer selber wählen, so wollten's die beiden.

Claude, der immer auf der Lauer war, trat vor Peter hin und gab ihm zu verstehen, er würde gern das Stück Geld verdienen; Peter aber wollte nichts von ihm wissen. Da ging der Jäger im Zorn davon und stieß etwas Grimmiges zwischen den Zähnen hervor.

Peter ließ Kaspar rufen, Bergannis Sohn, wußte man doch, daß es bei ihm zu Haus recht ärmlich zuging und er ein wenig Geld sehr wohl brauchen konnte. Seit Bergannis ›Stern‹ den Sprung in den Fluß hatte tun müssen, stand in der Hütte oben an der Halde kein Stück Vieh mehr, nicht einmal eine Ziege. Die alte Frau ging einen Tag wie den andern an den Matten empor, stach mit einem Messer Wurzeln aus, und davon lebte sie mit ihrem Kaspar, und Schmalhans war Küchenmeister.

Kaspar ließ sich nicht lange bitten mit auf den Berg zu steigen, denn er hätte gern dem Elend zu Hause ein Ende bereitet.

Die vier Männer standen reisefertig in Peters Hütte, als die Türe aufgerissen wurde, und die Berganni mit ihren unheimlichen Augen herein stürzte. Sie ging auf den erschrockenen Kaspar los und nahm ihn am Arme: »Kaspar, mein Bub, was willst?«

»Auf den Berg, es ist nichts Übles!«

»Teufelswerk ist's! Ich laß dich nicht! Geh mir voraus nach Haus!«

Er suchte sich von ihrer Hand loszumachen. Da erhob sie ihren Haselstock gegen ihn: »Geh voraus, oder ich schlage zu!«

Kaspar wurde wankend. Man sah es ihm an: er tat seiner Mutter nicht gerne weh, er mochte an ihr hangen.

Da ließ die Frau ihren Haselstock fallen, faßte mit beiden Händen nach Kaspars Armen und riß ihn der Türe zu. Der Bursche folgte halb willig, halb sich sträubend. Die Fremden mußten lachen ob des Auftrittes. Das Lachen verdroß Kaspar derart, daß er sich mit einem Ruck von seiner Mutter losmachte und den Fremden zurief: »Ich komme mit Euch!«

Als die Mutter die Wandlung in ihrem Sohne wahrnahm, ließ sie auf einmal von ihrem Zorne, ja, sie wurde weich, wie man sie noch nie gesehen hatte, sie schlang ihren Arm um Kaspars Hals und schluchzte: »Komm mit mir, Guter, komm!«

Da hinkte der Großätti, der bis da in einem Winkel zugesehen hatte, herbei, stellte sich hinter Kaspar und rief ihm in einem fort mit seiner lallenden Stimme zu: »Chasper, bis numme nit chlupfig (furchtsam)! Chasper, bis numme nit chlupfig!« und klopfte ihm dabei mit seinem Stocke auf den Rücken.

Die Fremden fanden das wieder lustig und lachten. Kaspar mochte sich der Rolle schämen, die er spielte; er riß sich die Mutterarme vom Halse und rief über die Schultern den andern zu: »Ich komme mit Euch!«

In Berganni ward die Wut wieder Meister. Sie schoß knirschend an ihrem Sohn vorbei, griff nach ihrem Haselstock und stellte sich drohend vor die Fremden, die ihr Vergnügen an dem tollen Gebaren fanden, die Hände in die Taschen steckten und das Unwetter ruhig über sich ergehen ließen.

Endlich aber hatten sie das Treiben satt, besonders der ältere. Er zog aus seiner Brusttasche ein ledernes Säckchen hervor und öffnete es. Es war mit Gold gefüllt und tönte verführerisch, als er mit den magern Fingern hineingriff.

Er langte ein Stück heraus und hielt es der Berganni unter die Nase: »Nimm das und dann laß uns in Ruh, alte Hexe!«

Statt sich zu besänftigen, fauchte und zischte nun die Berganni wie die Katze vor dem Hunde. Mit flinkem Griffe nahm sie das Goldstück und schleuderte es dem guten Alten an den Kopf, so daß es von da absprang und über den Boden hinrollte. Der Großätti sah es, warf seinen Stecken hin und kroch auf allen vieren dem Goldstücke nach, fand es aber nicht.

Die Berganni füllte unterdessen das Haus mit ihrem Geschrei: »Um Gold meinen Kaspar? Was tat ich Euch zuleid, daß Ihr mir meinen Kaspar abkaufen wollt? Den Mann nahmt Ihr mir! Die Pest brachtet Ihr! Meinen ›Stern‹ ersäuftet Ihr! Ja, geht auf den Berg! Lauft dem Teufel ins Garn! Aber meinen Kaspar laß ich Euch nicht! Geht nur! Und mög' Euch die Felswand zerschmettern oder ein Abgrund verschlucken! Und mög' Euch ein Felsstück erschlagen oder die Lawine erdrücken! Ja! geht! geht! Aber mein Kaspar bleibt bei mir! Geh! geh! du Landstreicher!«

Dem jüngeren der beiden Reisenden ging die Geduld aus; er packte sie an der Schulter und schob sie unsanft auf die Seite. Dann trat er vor Kaspar hin, sah ihn scharf an und sagte: »Bleibst du, oder kommst du?«

Kaspar zauderte erst; aber der Blick des andern gebot eine Entscheidung, und es war, als schreibe er sie gerade vor. »Ich komme mit Euch!« sagte Kaspar fest, und, ohne nach seiner Mutter zu sehen, wandte er sich zur Türe. Da warf sich die Berganni nieder, umfaßte die Knie ihres Sohnes und flehte: »Geh nicht, Kaspar! Bleib' bei mir, bin ich nicht mehr deine Mutter?« Der Sohn, bleich vor Erregung, schleppte sie mit sich bis vor die Türe. Dort ließ sie ihn los, und er eilte davon dem Oldenhorn zu, schnell wie eine Gemse, ohne zurückzusehen. Die drei andern folgten ihm gemächlich.

Die Berganni lag vor dem Haus auf den Knien, den Kopf nach vorn gestreckt, und sah ihrem Sohne nach, bis er verschwand. Da brach sie zusammen: »Nun ist er mir hin!« schluchzte sie und barg das Gesicht an der Erde. So lag sie noch weinend, als die Nacht herabsank.

Drinnen in der Hütte schluchzte auch einer: der Großätti. Er kroch auf dem Boden herum und klagte: »O das Guld! Wo ischt das Guld?«

Das Wetter war gut zum Reisen, kein Wölkchen stand über den Berggipfeln, aber durch Ormunt schlich die Ahnung von einem Unheil. Ursula tröstete sich: »Peter kennt den Weg und von all seinen Bergfahrten ist er immer heil zurückgekehrt.« Es half nichts, sie ward die Angst nicht los. Am zweiten Tag wandte sich ihr Gesicht beständig nach dem Creux de Champ und den Bergen, und regte sich etwas an einer Halde, so meinte sie, es müßte ihr Mann sein. Der Tag schien ihr ewig zu dauern. Endlich schickte sich die Sonne an, auf die Berge hinabzusinken. Das war die Zeit, da Peter sonst mit den Reisenden zurückkehrte. Ursula stieg auf eine Anhöhe, um besser zu sehen: es kam nichts, und ihre Unruhe wuchs. Da, wie sie wieder nach der Sonne schaute, um die Zeit zu schätzen, sah sie, wie sie in einen schwarzen Wolkensack hinabglitt: »Es rüstet sich zu einem Wetter. Wenn es sie ereilte!«

Immer schwärzer ward das Gewölk, düster stiegen die Schatten das Tal herauf. Ein Feuerschein zerriß die Wolken, und dumpf grollte ein Donnerschlag in der Ferne. Vom Berg herab kam immer noch niemand.

Die Weiden- und Erlenbüsche wechselten die Farbe, ein Windstoß fegte vorbei, die Teufelshörner hüllten sich in Nebel, es nachtete durchs Tal. Auf einmal brach das Wetter los, als krachte ein Stück Himmel zusammen, und es rollte grausig von Bergwand zu Bergwand. An den Halden flogen Regenschwaden herab wie graue Tuchfetzen.

Das Wasser floß wie ein Bach an Ursula herunter, als sie in die Hütte zurückkehrte. In der Stube waren Leute versammelt. Es war Sonntag, und die Neugier oder die böse Ahnung hatte den Müßigen keine Ruhe gelassen.

Man sprach vom Unwetter.

»Ja,« sagte der alte Grosjean, »ein Sturm auf dem Berg, das schmeckt nicht wie Käs und Brot. Ich habe einen erlebt, den werd' ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich suchte eine Geiß, die sich verstiegen hatte; sie ist zugrund gegangen; ich kam davon, es war ein Wunder. Der Luft fiel über mich her wie ein Sturzbach; der Regen hätte nichts gemacht, aber der Luft, der Luft, das ist das Schlimmste! Da versuche keiner aufrecht zu stehen; er nimmt dir den Atem und schlägt dich zu Boden und den stärksten Farren wie dich! Mich warf er in ein Loch, daß mir die Rippen krachten, und das war noch mein Glück, denn nun sauste er über mich weg. Zuweilen aber fuhr er in das Loch hinein und suchte mich herauszuwerfen, und ich klammerte mich mit den Fingern fest und stemmte die Füße gegen den Anprall. Da müssen einem die Haare fest auf dem Kopfe sitzen, sonst fegt sie der Luft weg.

Und erst die Musik! Hui, wie's pfeift und heult um die Grate, wie's saust und brüllt und stöhnt durch die Schluchten! Mir war, man blase mir mit hundert Hörnern ins Ohr. Und kalt ist's dazu, brrr! Wie Eiswasser fährt's durch die Knochen! Es ging eine gute Weile, bis ich wieder gerade Finger machen konnte!«

Während er so sprach und sich ereiferte, ward die Türe aufgerissen.

»Was will der hier?« Allen war's, das Unglück trete herein, ein lachendes und grimmiges zugleich. Es war Claude, der Jäger.

»Ha, da treff' ich ja das halbe Tal! Guten Abend! Ein Teufelswetter!«

»Wo hast du den Hut gelassen, Claude? Barhäuptig sieht man dich sonst nie, und bei dem Wetter hättest du ihn wohl brauchen können!«

»Ich wollte den Läusen einmal ein Bad gönnen,« lachte er; aber niemand lachte mit ihm, denn nur sein Mund war lustig, die Augen waren finster und gingen scheu von einem zum andern, als fragten sie etwas. Und seine Stimme war heiser, er mußte sie aus der Kehle heraus würgen.

Er suchte sich einen Platz im dunkelsten Winkel. Wenn ein Blitz leuchtete, schlug er die Augen zu. Hinter ihm her lief auf dem Boden ein Bächlein, wie eine Schlange, die ihn in die Ferse stechen wollte.

»Der Peter und der Kaspar wären jetzt auch froh um solch ein Winkelchen,« sagte er beklommen und hätte es gern lustig getan, »so hat's schon lang nicht mehr gekracht.«

Peters Vater ging zu ihm hin und redete ihn an: »Wie mag's kommen, daß sie so lang ausbleiben, Jäger?«

»Ihr habt wohl gar Angst um sie? Wagt's der Peter, Fremde auf den Berg zu führen, wird er auch wissen, wie man sie wieder ins Tal schafft. Von dem bißchen Regen da stirbt man noch nicht, da weiß ein Gemsjäger von anderem zu erzählen. Sie werden schon kommen. Ums Geld soll man auch was ertragen!«

»Ja, der Luft, der Luft!« rief Grosjean dazwischen, »das Schlimmste ist der Luft, ich hab's grad jetzt gesagt.«

»Bah, der Luft! Was wißt Ihr! Macht eine Kuh Euch etwas mehr Wind, als Ihr's gewohnt seid, so meint Ihr schon, die Welt werde verblasen wie eine rostige Flinte!«

Er suchte über seine Rede zu lachen, aber es ging ihm nicht von statten. Seine Augen schielten aus dem dunklen Winkel nach Ursula.

Ihr ward ganz beklommen, und sie sagte zu ihm: »Ihr wißt etwas, ich seh's Euch an … Ihr habt den Peter …«

»Was siehst du mir an?« rief er und fuhr in die Höhe … »was hab' ich …«

»Ihr wißt etwas von meinem Mann!«

Da preßte er wieder sein heiseres Lachen hervor: »Ha, ha, ha! Wie du Angst hast, das ist lustig! Du hättest eben deinen Mann an die Bettstatt anseilen sollen, ha, ha, ha! Er jagt die Gemsen wie ich und sollte in dem Regen da den Kopf verlieren! Ha, ha, ha! Da weiß ich von anderem zu erzählen! Hört her, ich will Euch etwas Lustiges berichten, ein Gemsjägerstück! So geht die Zeit um, und derweil werden sie kommen.«

»Nein,« rief Ursula, »erzählt jetzt nicht! Wenn Ihr was tun wollt, so geht meinem Mann entgegen, mir bangt, er sei in Nöten!«

»Ei, zum Teufel auch! Weiberblut, Weibermut! Was soll ihm begegnet sein? Die Gemsen kann er einem wegschießen und die Goldstücke wegschnappen, und dann soll man noch nach ihm sehen, daß er keine Beulen kriegt! ha, ha, ha!«

»Lacht nicht so, ich kann Euer Lachen nicht ertragen heut!«

»Zum Teufel auch! Soll ich denn flennen wie ein Kind, das in die Brennesseln geraten ist, nur weil's wieder einmal ordentlich donnerwettert in Ormunt? Ich bin an anderes gewöhnt! Zum Teufel auch! Ich erzähl' Euch was vom Jagen, Ihr sollt die Ohren spitzen! Hört! Ich war – –«

»Nein, jetzt nicht!« schrie sie ihm zu; »wir sitzen hier müßig, mein Mann ist in dem Wetter draußen, die andern mit ihm! Brecht auf, Ihr Männer, um's Himmels willen, und helft, wenn's menschenmöglich ist! Hört doch, wie der Wind pfeift, seht, wie der Regen herabströmt und wie's blitzt! Die beiden Fremden sind an so was nicht gewöhnt, Peter und Kaspar werden sie nicht mehr fortbringen! Geht und helft!«

Die Nachbarn schauten in das Unwetter hinaus und sahen sich fragend an.

Da brach der Jäger das Stillschweigen: »Bald gesagt: suchen! Aber wo suchen? Der Berg ist kein Hosensack! Ha, ha, ha!«

Das war's, was die Nachbarn alle dachten, und sie sagten zu Ursula: »Claude hat recht: wir wüßten nicht, wohin uns wenden. Verlier' nur den Mut nicht, der Peter braucht uns nicht, der sorgt schon für sich selber; er ist stark und frech!«

»Ich erzähl' Euch meine Geschichte, das wird Euch allen die Zeit kürzen und dir die Angst vertreiben!« Und er hub an mit seiner rauhen, heiseren Stimme:

»Wahr ist's! glaubt mir's, oder glaubt mir's nicht! Wahr jedes Wort! War ich da einmal auf der Jagd, gegen die Teufelshörner hinauf und hatte den ganzen Tag auf ein Gemspaar gelauert. Es war ein Bock, ein ganz grauer, und ein junges Geißlein. Er hat keinen schlechten Geschmack, der Alte da, dacht' ich. Aber er hatte auch eine feine Nase: wie ich anlegen wollte, war er schon davon mit seinem Bräutlein, und mir blieb nichts als das Nachsehen und das Fluchen! Himmelhagel, kam ich in einen Eifer.

Endlich lief mir die Geiß in den Schuß: bum! Sie machte einen Sprung, als hätt' sie über den ganzen Berg setzen wollen. Dann rutschte sie langsam an dem Felsen hinunter und blökte, was ihr zum Hals heraus mochte, bis sie unten aufschlug. Ich kletterte ihr nach; 's war mühsame Arbeit. Und als ich sie hatte und etwas verschnaufen wollte, merkte ich, daß der Teufel los ging. Im Nu war der Berg im Nebel, dunkel wie Nacht, und der Wind fing an zu heulen, als stecke er auf einem Messer! Nun fuhr die Hölle über mich her, ich wußte nicht mehr, wo ich den Kopf hatte! Da ist mir manche Laus ersoffen! ha, ha, ha! Und die Blitze fuhren um mich herum wie Bremsen, und der Donner prallte und polterte an die Felswände, als wollte er sie umwerfen. Ich hatte mich zwischen zwei Felsblöcke geworfen; die Gemse lag auf einem Steine und die Flinte auf einem andern. Auf einmal ward mir ganz sonderbar: die Haare auf dem Kopfe richteten sich auf, ich konnte es wohl merken, und als ich die Augen etwas verdrehte, sah ich meinen Bart leuchten wie glühende Drähte. Beim Eid ist's wahr, glaubt's oder glaubt's nicht! Ich langte mit der Hand darnach, um ihn zu löschen, er brannte aber nicht, er glühte nur. Als ich an mir herunter sah, da leuchtete mein Ziegenfellkittel wie mein Bart. Mir ward unheimlich zwischen meinen Felsen drin, und ich kroch aus dem Winkel heraus. Neuer Schrecken! Auf allen Felsen und Steinen ringsum waren kleine Flammen. Die Hölle ist aufgegangen, der Teufel will dich holen, Claude! schrie ich und rief die drei heiligsten Namen. Da fuhr es herab wie ein brennender Baumstamm, der Berg zitterte, ich sprang auf wie das Gemslein nach dem Schuß! Himmelhagel, war das ein Schrecken! Ha, ha, ha!

Mein Bart glühte nicht mehr, und die Feuerlein auf den Felsen waren ausgeblasen. Der Teufel ist so schlimm nicht, wie er aussieht, dachte ich und legte mich wieder zwischen meine Felsen. Ich lag nicht lang, da fing's von neuem an, in meinen Haaren zu krabbeln, der Bart ward wieder hell und die Steine brannten. Nun rief ich die drei heiligsten Namen nicht mehr; zum Teufel auch, man gewöhnt sich an alles; ja, ich fand das Ding fast lustig und fing an, mich etwas umzusehen. Die Gemsgeiß, die etwa sechs Schritt von mir abseits lag, glühte wie mein Bart und sah aus, als hätte man glühende Asche auf sie gestreut; das Sonderbarste aber war oben auf dem Grat, man sah es kaum durch den Nebel, es schaute herab und rührte sich nicht, es mußte ein Gemsbock sein, der Gesell des Geißleins. Oder war es der Teufel selber und hatte ich ihm die Herzallerliebste weggeschossen? Ha, ha! Aber Spaß beiseite! Er sah ungemütlich aus, der Bock; auch er glühte, besonders die Hörner und der Bart, und er sah wie ein Gespenst zu mir herab und zu seiner Geiß. Da fuhr der feurige Baumstamm wieder herab, wieder krachte es, als springe der Berg in tausend Stücke. Und neben dem lauten Knall hörte ich noch einen schwächern. Wie das Feuer kam, hatte ich die Augen geschlossen, nun riß ich sie wieder auf und sah um mich. Meine Flinte war ganz zerfetzt, nur noch der Lauf war zu sehen, zerkrümmt und zerrissen wie ein schwacher Strohhalm. Ich begriff: der Donnerstrahl war drauf gefallen. Ein Glück, daß ich nicht im Schuß lag, dachte ich bei mir, und dabei suchte ich mit den Augen die Richtung, in der die Ladung etwa geflogen sein mochte. Hätt's den Bock getroffen? Möglich war's: er war nicht mehr dort!

Derweil hatte das Glimmen wieder begonnen, stärker als je, und es knisterte mir in den Haaren. Auf einmal war's wie ausgelöscht, und ich wußte von nichts mehr.

Ich mußte lang bewußtlos gelegen haben. Als ich die Augen wieder aufschlug, schlich der Nebel an den Halden hin, und da und dort brach die Sonne durch. Ich lag in einem Bächlein, das durch den Regen entstanden war. Im Kopf war's mir wüst und schwindlig. Ich stand auf. Mein Blick fiel auf die Gemsgeiß; der waren die Haare verbrannt, sie war kohlschwarz. Der dritte Donnerstrahl mußte auf sie gefallen sein. Schade drum! dachte ich und betupfte sie. Sie war weich anzufühlen, und es stieg mir ein Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase. Wie? Wenn der Strahl das Vieh gekocht hätte?

Ich zog das Messer und löste die Haut; das Fleisch sah nicht übel aus, ich schnitt einen Fetzen los und fing an dreinzubeißen wie ein rechter Gemsjäger. Bei meiner Seel ist's wahr! Und dabei dachte ich: den Braten hat dir der Teufel zugerichtet, 's nächste Mal will ich ihm sagen, er solle das Salz nicht vergessen! ha, ha, ha!

Es wurde dämmerig und ich wandte mich talwärts. So bist du noch nie von der Jagd nach Hause gekehrt, Claude, ohne Flinte und ohne eine Klaue, es ist eine Schmach. Da erinnerte ich mich an den Gemsbock, der so grimmig nach mir geguckt hatte: Wenn er oben läge? Nachschauen kostet nichts! Und richtig, da lag er, in die Stirne getroffen, glaubt mir's oder glaubt mir's nicht! Ich hob ihn auf die Achseln und stieg ins Tal.

Ja, so geht's auf dem Berge zu, wenn die Hölle losbricht. Himmelhagel, das ist kein Spaß, und kommt einmal einer nicht wieder, so wundert Euch nicht! Der Berg spaßt nicht! Und suchen müßt Ihr ihn auch nicht; wer wollte ihn finden? Zum Teufel auch, der Berg ist weit!«

Indem er so sprach, blinzelte er nach Ursula.

»Du weißt etwas vom Peter!« schrie sie ihn an, »sag', wo ist er? Wo sahst du ihn? Hat ihn der …«

»Was soll ich wissen? Ich war heut und gestern nicht vom Hause weg. Kreuzhagelwetter, soll ich denn alles wissen! Es kann einem auf dem Berge was zustoßen, es kann auch dem Peter was zustoßen, drum habe ich meine Geschichte erzählt, drum kam ich her, damit es Euch nicht wundere, wenn er etwa nicht … Gesehen hab' ich ihn nicht, ich nicht! Wie sollt' ich auch? War ich denn auf dem Berge heut und gestern? Sagt ich's Euch nicht? Keinen Fuß hab' ich aus der Hütte gesetzt!«

»Das lügst du!« rief ihm der junge Leblanc zu. »Ich sah dich heut zu Berge steigen und sagte zu meinem Vater: »Heut geht der Jäger spät jagen!«

Claude schoß aus seiner Ecke hervor: »Sag's noch einmal, und ich hau' dich zusammen! Keinen Schritt hab' ich vor die Hütte gesetzt, und wer's anders sagt, hat's mit mir zu tun.«

Leblanc schwieg, denn er fürchtete Claude. Alle aber sahen den Jäger mit mißtrauischen Augen an. Ohne weiter ein Wort zu sagen, ging Claude der Türe zu. Ursula versperrte ihm den Weg und bat ihn, er möchte doch reden; er aber warf sie mit den Fäusten gegen eine Wand und eilte hinaus dem Creux de Champ und seiner Hütte zu. »Der Blitz hat meinen Mann erschlagen,« rief Ursula den Nachbarn zu, »macht Euch auf, um's Himmels willen! sucht ihn, ich täte es selbst, wäre ich nicht in dem Zustande, den Ihr seht.«

Die Nachbarn waren nun willens, ihr zu gehorchen, aber es nachtete, es war zu spät.

»Hab' keine Angst,« sagten sie zu Ursula, »noch kann er kommen. Ist er aber morgen früh nicht zurück, so suchen wir ihn im Gemeinwerk.« Damit gingen sie hinaus. Sie hörte noch, wie vor dem Hause einer zum andern sagte: »Ich weiß nicht, was ich vom Jäger denken soll!« Der junge Leblanc aber beteuerte: »Ich sah ihn, so wahr ich lebe.«

Die Nacht war hereingebrochen. Peters Vater und der Großätti gingen schlafen, Ursula blieb in der Stube, zündete die Ampel an und streckte jeden Augenblick den Kopf in die Nacht hinaus und horchte. Manchmal meinte sie, Stimmen oder Tritte zu hören! Aber es war immer nichts. Die Ampel erlosch gegen Morgen; da fiel Ursula der Kopf auf den Tisch und sie fing an zu träumen. Sie sah ihren Mann zwischen zwei Felsen liegen und glühen wie ein brennendes Scheit, dann wurde er zu einer schwarzen Katze mit funkelndem Balg und leuchtenden Augen. Auf dem Felsen stand der Gemsbock mit dem langen feurigen Bart und den roten Hörnern und sah zu Peter hinab. Er nickte und bekam ein Menschengesicht, wie der Moses, von dem der Pfarrer in Gsteig einst berichtet hatte. Der Moses aber begann das Gesicht zu verzerren und ward zu einer Kunkel mit glühendem Werg. Die Kunkel war nichts anderes als der Großätti mit seinem langen Bart und Haar. Sein Mund ging auf und zu, er kaute an dem Barte und sagte: »Das ischt Guld!« Da stürzte ein feuriger Baumstamm herab. Sie wollte schreien und erwachte. In dem Augenblicke hörte sie Tritte und das Aufschlagen eines Stockes. »Er kommt!« dachte sie und wollte nach der Türe eilen. Aber es war der Großätti. Er humpelte herein, sah sie mit seinem mißtrauischen Blicke an und fragte: »Hesch's (hast du's)?«

Sie verstand, daß er das fortgeworfene Goldstück meinte, und schrie ihn an, und die Tränen liefen ihr aus den Augen: »Der Peter ist noch nicht zurück, und du kannst an das Lumpengold denken!«

Er achtete nicht auf ihr Schelten, sondern warf seinen Stecken auf den Boden und fing an, auf allen vieren in der Stube herumzukriechen, und bald hörte sie ihn wimmern und stöhnen: »'s Guld, wo ischt's Guld?«

Als es Tag geworden war, kam ein Nachbar nach dem andern, steckte den Kopf durch die Türe und fragte: »Sind sie da?« Dann machte sich ein Trüppchen mit Stricken und Stöcken auf, um die Vermißten zu suchen.

Das war ein langer Tag. Als der Abend dämmerte, kam ein Zug auf Schneiters Hütte zu. Ursula schlug die Hände vor die Augen, um nicht zu sehen. Als aber die Türe knarrte, konnte sie nicht widerstehen, sie mußte hinsehen, sie mußte wissen. Sie kamen herein, schwer, je zwei hintereinander, und streckten dunkle Lasten auf dem Boden aus. Die letzten trugen Peters Leiche, und die harten Männer schluchzten, als sie sie niederlegten.

Von allem, was sie sagten und erzählten, verstand Ursula nur, daß alle vier, ans Seil gebunden, unten an einer Felswand lagen. Und dann noch etwas, einer rief es mit grimmiger Stimme: »Und da haben wir auch den Hut! Des Jägers Hut! Kein Wunder, daß er gestern barhäuptig kam. Er lag nicht weit von den Leichen, er soll ihn gleich haben, heut nacht noch, der Halunke!«

Die Männer gingen traurig davon.

Bald darauf verfiel Ursula in heftige Krämpfe und in der nämlichen Nacht gebar sie ihr zweites Knäblein. Es war tot. Am Abend waren vier Leichen unter ihrem Dache gewesen, am Morgen waren es ihrer fünf geworden.

Als sie aus ihrer Schwäche erwachte, hörte sie zimmern und klopfen hinter der Hütte. Der rote Nicolet, der dazu besonders geschickt war, fügte die Särge für die Toten zusammen.

Ursula lag im Gaden. In der Stube sah sie durch die offene Türe Peters Vater mit ein paar Männern. Sie stellten zwei Stühle einander gegenüber, den einen eine Manneslänge vom andern weg, legten auf die Sitze ein Brett und darauf Peters Leiche, denn es ist nicht Brauch, die Toten auf dem bloßen Boden liegen zu lassen. Dann betteten sie Kaspar und die beiden Fremden in gleicher Weise.

Vor den vieren, in der Nähe der Türe, auf einem Holzklotz, der sonst als Sitz diente, lag das totgeborne Knäblein.

Als die Männer die traurige Arbeit getan hatten, gingen sie hinaus, und lauter und emsiger begann es darauf wieder hinter der Hütte zu hämmern und zu pochen. Drin in Stube und Gaden war's still wie im Grab. Ursula wurde bang in der Gesellschaft der vielen Toten; wäre sie nicht so schwach gewesen, sie hätte sich erhoben.

Da hörte sie drüben etwas knarren; die Stubentüre mußte geöffnet worden sein. Es war der Großätti, der Schlag seines Steckens verriet ihn. Er humpelte zwei-, dreimal um die Leichen herum und schnüffelte. Endlich stand er bei der Leiche des fremden alten Bergsteigers still und machte sich daran zu schaffen. Er betastete den Rock, öffnete die Knöpfe mit den zitternden krummen Fingern und zog etwas aus der Brusttasche hervor, nicht ohne Mühe. Nun hielt er sich das Ding vor die Augen; es war das lederne Geldsäckchen des Fremden. Er öffnete es und kicherte, als er hineinguckte, sein ewiges: »Das ischt Guld! Guld!«

Ursula rief ihm zu, den Toten ihr Gut zu lassen, allein ihre Stimme war zu schwach, er hörte sie nicht. Er hinkte zu dem Holzstocke hin, auf dem das Knäblein lag, schob das Leichlein mürrisch wie ein Scheit oder einen Stein beiseite, setzte sich daneben und fing an, in dem Golde zu wühlen. Er griff ein Scheiblein heraus, hielt es sich vor die Nase, blinzelte es mit seinen lüsternen Augen an und kicherte und kicherte, daß die Kunkel ihr Werg schüttelte. Dann zog er ein zweites Scheibchen hervor, hielt es neben das erste und verglich sie auf beiden Seiten und kicherte, als wäre lauter Jubel und Freude in der Hütte gewesen. Nachdem er mehrere so nebeneinander gehalten hatte, fing er an, die Münzen zu zählen. Er setzte das Säcklein zwischen sich und das Leichlein, nahm mit der rechten Hand ein Scheibchen nach dem andern heraus und legte sie in die linke Hand, behutsam, wie zerbrechliche Ware, und dabei zählte er: »Eis Stuck, zweu Stuck, drü Stuck, vier Stuck, füf Stuck.« Bei fünf hörte seine Zählkunst auf, und er fing wieder von vorne an, und jedesmal, wenn er bei ›füf Stuck« angelangt war, kicherte er wie ein Glückseliger. Als alle Münzen vom Säcklein in die Hand gezählt waren, wanderten sie in gleicher Art von der Hand ins Säcklein zurück: »Eis Stuck, zweu Stuck … chi chi chi! chi chi chi!«

Während er so an der Arbeit war, knarrte die Türe wieder: die Berganni schoß herein. Ihr erster Blick fiel auf den armen Kaspar. Sie sank an dem Stuhle nieder, drückte sich ihr langes weißes Haar wie ein Tuch ins Gesicht und schluchzte: »Kaspar, Kaspar, mein Bub, mein armer Bub! Wart' nur, ich will ihn strafen, ich will ihn strafen, du armer Bub!«

Der Großätti hatte sie nicht gewahrt, und auch sie merkte seine Gegenwart erst, als sie sich müde geschluchzt hatte. Da mußte sie den Klang des Geldes gehört haben. Sie stutzte, stand auf und entdeckte den Alten. Er zählte eben von der Hand ins Säckchen, und war beinahe mit der Arbeit fertig: »Füf Stuck, chi chi chi!«, als ihr Schatten auf ihn fiel, und er aufblickte. Es ging durch ihn wie ein Schlag. So rasch es seine dürren Finger vermochten, schlossen sie sich links um die paar Goldstücke und griffen sie rechts nach dem Säcklein. Das Säcklein schob der Geängstigte zwischen die Schenkel, ohne es mit der Rechten loszulassen. Dabei maß er die Berganni mit boshaften, flackernden Augen und stotterte sie an: »Was wottscht?«

Sie, ohne ihm eine Antwort zu geben, schlug ihn mit der Faust auf die linke Hand, so daß sich die Fugen der Finger öffneten und ein paar Goldstücke auf den Boden rollten. Beide fuhren danach, aber die Berganni war flinker, sie erhaschte sie und warf eins nach dem andern durch die Lichtlücke ins Freie, und ihre mageren, nackten Arme schwangen sich weit, wie sie rief: »In den Wind, in den Wind! Du verfluchter Lohn!«

Der Großätti glotzte sie an. Er begriff nicht und stammelte: »'s ischt Guld, 's ischt Guld!«

Die Anni wandte sich wieder zu ihm: »Gib alles her!« Er klemmte die Schenkel fester zusammen, um das Säcklein zu bergen, und setzte sich auf die linke Hand, in der er den andern Teil des Schatzes hielt. Sie zerrte und riß an ihm, bis sie wieder ein Goldstück erobert hatte. Auch das flog durch die Lichtlücke in die Matte hinaus und glänzte in der Sonne auf wie ein Goldfalter. Und wieder begann die Rauferei. Die Anni riß den Alten herum, an den Haaren, am Bart, am Kittel, auf und nieder, her und hin, er aber wehrte sich in seiner Gebrechlichkeit mit der Kraft des Geizes, steckte das Goldsäcklein in den Mund und biß, Grimassen schneidend, auf die Zähne. Ursula raffte all ihre Kraft zusammen, um sich zu erheben. Sie hielt sich an der Bettstatt und an den Wänden fest, erreichte endlich die Türe und zerrte das Weib am Rock. Die Verrückte ließ einen Augenblick ihr Opfer fahren, kehrte sich gegen die junge Frau und warf sie mit einem Stoß in ihre Kammer zurück. Ursula schlug mit dem Kopfe schwer auf. Dann hörte sie's über sich hinrasen wie ein Wetter: »Sei verflucht, du und das ganze Haus! Fremde Ware seid ihr! Fremder Ware schließt ihr Tür und Gaden auf und meinen Kaspar verkauft ihr dem Tod. Seid verflucht auf immer! Diebstahl, Mord! Fremdes Pack hat's gebracht, und das Gold ist der Satan. Drum, wer's nimmt, sei verflucht, verflucht!«

Ursula suchte sich zu erheben, aber sie konnte kein Glied rühren. Sie hörte noch, wie das Schreien und Ringen im Gaden wieder anfing, dann schwanden ihr die Sinne.

Als sie wieder aufwachte, fand sie sich auf dem Heusack mit verbundenem Kopfe. Am Boden gerann eine Blutlache.

Im Gaden standen die Männer und legten die Leichen in die rohgezimmerten Särge. Eine blieb übrig: die des Großätti. Man hatte ihn leblos unter zwei Toten gefunden, die, wie es schien, bei dem Ringen von den Stühlen herabgeworfen worden waren. Wie er unter sie kam, ob er sich dort verkrochen, um seinen Schatz zu bergen, ob ihn die Anni hingeworfen hatte, man erfuhr es nie. Da lag er nun. Sein Mund war weit geöffnet, der Tag schien hinein und zeigte weit hinten das lederne Säcklein und einen hellen Glanz. Er war am Gold erstickt. Niemand zog es heraus, es schauderte alle davor, er sollte im Tode haben, was er im Leben so sehr begehrt hatte.

Von jenem Tage an hörte man die Berganni nicht mehr fluchen. Leute sahen sie aus Schneiters Hütte stürzen und den Weg nach dem Creux de Champ einschlagen. Der Sturz der Leichen hatte sie wohl erschreckt und davon gejagt. Nun wollte sie den Jäger aufsuchen, vermutlich um ihn zu strafen, fand ihn aber nicht zu Hause, er war schon am Abend zuvor nicht mehr dagewesen, als die Männer ihm Hut und Lohn bringen wollten.

Da kletterte sie den Berg hinan, wie vom Sturm getrieben, den Flühen und Felsen zu, wo Claude zu jagen pflegte. Seither hat man sie und ihn nicht wieder gesehen. Später, viel später fand man am Fuße einer Felswand zwei Menschengerippe, das eine noch locker an das andere geklammert, und man meinte, es könnten der beiden Gebeine sein.

Als Ursula wieder zu Kräften gekommen war, wandte sie Ormunt, wo sie so glückliche und so traurige Tage erlebt hatte, den Rücken und zog nach Gsteig hinüber in ihres Vaters Haus. Auf den Armen trug sie ihren Hansli und mit ihm die Sehnsucht nach dem Berg. Denn er wurde Bergführer und so seine Söhne und Enkel. Ihn selber und noch mehr als einen aus seinem Hause hat der Berg erschlagen. Das blieb das Schicksal seines Geschlechts.

* * *

So ließ ich mir einst in Gsteig vom alten Bergführer Schneiter erzählen. Es ist die Geschichte seiner Urahne, wie sie in der Familie bis zum heutigen Tage weiterlebt.

Hat sich Bergannis Fluch an Ormunt erfüllt? Hatte sie recht, gegen das Gold und alles Fremde zu wettern? War das Tal einst so glücklich, wie die Alten berichteten? Oder ist die Sage vom entschwundenen Ormunt nur der Glückstraum langer schwarzer Winternächte? Wer soll es entscheiden, nun alles anders geworden ist und alle Zeugen gegangen sind?

Wer jetzt in Ormunt einkehrt, findet oben im Tal, da wo sich das Creux de Champ zu runden anfängt, ein großes weißes Haus mit glänzenden Fenstern und weiten, einladenden Türen. Drin sind hundert Leute oder mehr, sie kommen aus allen Ländern, sprechen alle Zungen, kleiden sich in alle Trachten und sind da dem Berge zu lieb. Das sind jetzt die Könige von Ormunt. Der aber, dem das große weiße Haus gehört, ist ihr Diener und Knecht. Er verbeugt sich und lächelt nach links und lächelt nach rechts und rühmt den Berg und die Luft, sein Haus und die Küche drin und den Keller darunter. Andächtig steht er da, neigt den Kopf, um besser zu hören, was die Könige etwa wünschen, und läßt auch ihren Tadel sanftmütig an sich herabfließen. Er lächelt und schmunzelt an einem Tage mehr, als die alten Ormunter in einem Jahre lächelten. Dafür aber füllen ihm die Könige die Hände und die Taschen mit Gold, mit dem Zoll und Gold des Berges.

Und in dem Hause sind noch andere Leute, Mädchen mit weißen Schürzen und Hauben und Männer mit schwarzem Frack und sauber rasierten Backen und Lippen. Die laufen hin und her und lassen sich jagen und schimpfen und krümmen den Rücken. Und verläßt einer der Könige das Haus, so halten sie ihm die hohle Hand hin und fangen darin ein Fetzchen auf, ein Fetzchen des Goldes vom Berg.

Und wenn man talabwärts geht, findet man links und rechts vom Wege große und kleine Häuser, braune und weiße; in allen befehlen die Fremden, und was einheimisch ist, dient und knechtet.

Droben auf den Weiden gehen noch die Sennen. Sie kleiden sich nicht mehr in Ziegenhäute, und ihre Füße stecken in starkem Schuhwerk. Sie können schreiben und lesen und so gut Geld zählen wie melken. Täglich tragen sie Milch und Butter und Käse in das weiße Haus hinab und wechseln ihre Ware gegen klingende Münze aus. Sind sie glücklicher dabei als die alten Ormunter? Fragt sie! Sie rühmen die Zeiten nicht: »Zu wenig Geld, zu wenig Geld! Wird's einmal besser werden?«

Ich glaube nicht an die Kraft des Fluches, eher an die des Segens; fest aber glaube ich an das: »Aus Gold soll man keinen Kompaß für das Leben schmieden, der Mensch wird nicht gut, der Mensch wird nicht froh vom Golde.«


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