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Ausklang

Der Konfirmationsunterricht gefiel mir anfänglich ganz gut, man wurde freundlicher behandelt als in der Schule, weniger gefragt und brauchte keine schriftlichen Arbeiten zu machen. Alles Mündliche erwies sich als leicht, wenn man in der Stunde einen guten Platz innehatte, weil der Pfarrer gewöhnlich nur die Knaben fragte, die ihm grade gegenüber saßen und die sich meldeten. Besonders das Melden überwältigte ihn, man mußte nur recht mit der Hand flattern, er konnte dann nicht anders, er mußte nachgeben. Später sollten wir dann doch leider allerlei wirklich lernen, das Glaubensbekenntnis und seine Auslegung, die zehn Gebote und was sie bedeuteten.

Meine moralische Einstellung zur Welt erlebte durch diesen Unterricht keinerlei Umwandlung, ich mied die Knaben, die plötzlich fromm wurden, sie erschienen mir unnatürlich, dunkel und deutlich hochmütig, obgleich sie sich sehr demütig gebärdeten und ihren Charakter wechselten wie einen Anzug. Um nicht ganz unbeteiligt zu bleiben und das Meine nach besten Kräften zu tun, hielt ich mich an diejenigen Gebote, die zu übertreten mir nicht gegeben war, lernte sie eifrig und befolgte sie treu. Ich begehrte weder meines Nächsten Weib, noch trachtete ich nach seinem Vieh. So erlangte ich ein ausgezeichnetes Gewissen, was mir genügte, denn ich glaubte doch nicht daran, daß ich später jemals bei der Auferstehungsprüfung das Examen machen würde.

Wir sind alle in einer ganz falschen Anschauung von Religiosität, Schönheit oder Heldentum erzogen worden, so daß wir die Wirklichkeit des Lebens als nüchtern verachteten, ohne in den Erscheinungsformen des täglichen Daseins das Licht zu erkennen, aus dem die Fackeln des Heldentums emporblühen. Aber nur solche Einsicht vermag zu trösten, und von ihr her kommen die Helden des Weltgeschehens zu uns und geben uns recht.

Wir machten die Sinnbilder des Erhabenen zu einer fernen, weltfremden Wirklichkeit des Traums und der Erwartung, und niemand lehrte uns, daß der Boden selbst des Göttlichen immer nur ein menschliches Herz zu sein vermag.

So stand uns allen ein weiter Umweg bevor, den die wenigsten gemacht haben, und die Welt zerfiel uns in zwei feindliche Lager, die wir nicht miteinander vereinigen konnten.

Da ich mich beim Konfirmationsunterricht still verhielt, wie anfänglich immer, wenn ich etwas kennenlernen wollte und noch nicht übersah, schloß der Pfarrer mich besonders in sein Herz, so daß ich es leicht hatte. Ich wollte das Bild nicht zerstören, daß er sich von mir gemacht hatte und benahm mich anständig. Da ich die fürchterliche Eigenschaft, rot zu werden, wenn man mich von oben her ansprach, nicht abzulegen vermochte, rührte ich ihn.

Dieser brave Mann kannte die Menschen nicht, er liebte nur die Bilder, die er sich von ihnen erschuf, und verzieh deshalb niemandem, der ihn enttäuschte. Ich fühlte mich aber, wie alle Kinder, mehr zu solchen Erwachsenen hingezogen, die nicht die Tugend schätzten, sondern die gütig waren, wie zum Beispiel Pile Trak, meine Mutter, Mia Stern, oder der fremde Herr mit der Mark.

Um nun diesen gutmütigen und ziemlich beschränkten Pfarrer auf keinen Fall zu kränken, nahm ich meinen Karl-May-Band nicht im Urzustand mit in die Bibelstunde. Ich überklebte den Einband sorgfältig mit schwarzem Papier, sogar die Ränder, und vergoldete den oberen Schnitt mit Goldstaub und Lack, wie man sie zu Weihnachten für Nüsse und Tannenzapfen braucht.

Es sah sehr fromm aus, wenn ich während der Stunde in diesem Buch las, und ich hielt es so, daß der Goldschnitt zum Katheder emporblinkte.

Als die anderen, nach beendeter Stunde, eines Tages aufbrachen, bemerkte ich es nicht gleich, weil Old Shatterhand mit geschlossenen Augen, im Liegen und ohne die Büchse in Anschlag zu bringen, einen feindlichen Indianerhäuptling im dichtesten Gebüsch des Urwalds mit einem Kopfschuß niederstreckte. So erschrak ich sehr, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.

Im ersten Augenblick glaubte ich, Old Shatterhand habe mich getroffen, so heiß fuhr ich zusammen. Ich schlug rasch das Buch zu und erhob mich, denn unser Pfarrer stand hinter mir, schwarz und grade. Ich konnte noch beobachten, wie sein Ausdruck von Ergriffenheit, Zustimmung und Teilnahme sich in bleichen Widerspruch verkehrte, er mußte über meine Schultern in das Buch hineingeschaut haben. Jetzt nahm er es mir fort und betrachtete den Titel, schlug es mit schwerem, langsamem Kopfschütteln um, drehte es, betrachtete den kohlschwarzen Einband, den Goldschnitt und wieder den Titel. Dann traf mich sein entsagender Blick so schmerzlich empört, daß ich völlig vergaß, wie gut ich es mit ihm gemeint hatte.

Man kann in solchem Fall nicht viel sagen, und so schwieg ich. Der Pfarrer behielt das Buch und schickte mich wortlos, nur mit dem Finger, nach Hause. Er streckte diesen Finger an angestrengter Hand lang und grade aus, so weit von sich ab, als wollte er ihn für immer loswerden. Meine Einsegnung wurde auf ein Jahr verschoben. Meine Mutter hatte den Besuch des Pfarrers herausgefangen, so daß mein Vater nichts von dieser Geschichte erfuhr. Ich erzählte sie ihm erst einige Jahre später, als er alt genug war, um sie zu verstehen.

Meine Mutter machte mir keine Vorwürfe, wohl rief sie mich zu sich und sprach mit mir über diese Sache, jedoch freundlich und ohne Groll, so daß ich fühlte, sie litt nicht so arg darunter, wie es vielleicht angebracht gewesen wäre. Auf alles was »angebracht« war, ließ meine liebe Mutter sich selten ein. Wenn sie an ein Herz glaubte, so war ihre Sorge, daß es auch in der Welt bestehen möchte, blühen und leuchten, und sie wußte, daß dazu Kräfte gehören, die ihre Wurzeln im Erdreich haben. Sie haßte das Niedrige, aber sie verwechselte es niemals mit der unbewachten Tat des Natürlich-Bösen, dem Felsenland für Gottes wilde Blumen. So brauchte ich die Priester nicht, wie alle, die unter der Fürsprache der Mutter selber stehen.

»Geh morgen früh zu Tante Eukarestie«, sagte sie ein paar Tage später zu mir, »sie ist krank und wird sich über deinen Besuch freuen.«

»Und die Schule?«

»Laß nur. Geh zu ihr, so oft sie will.«

Ich weiß heute, daß Tante Eukarestie mich sehr geliebt haben muß, aber was macht sich schon ein Kind daraus, das einen Apfel mit derselben Gelassenheit einschiebt wie ein altes Herz. Ich ging nicht mehr in die Schule, sondern zu ihr, es fiel nicht weiter auf, da ohnehin die Herbstferien vor der Tür standen.

Wirklich, Tante Eukarestie war in der letzten Zeit sehr müde geworden, jedoch nur körperlich, was sie aussprach, war klar und von großer Helligkeit. So erblickte ich denn, wie sie langsam starb, wußte es aber nur undeutlich und ohne Angst. Sie tat es gewissermaßen unauffällig und ganz einfach, sie blieb in ihrem Bett und wurde immer stiller. Zuweilen kam mein Vater, hielt sich aber immer nur kurze Zeit auf und machte seine gütigen Scherze mit ihr, die Tante Eukarestie mit ruhigen Augen hinnahm.

»Ja«, sagte er dann etwa zu mir, »bleib nur hier, mein Junge, das ist doch mal etwas, was du kannst.«

Es blieb unbestimmt, was er meinte.

Da ich spielen mußte, konnte ich nicht immer bei Tante Eukarestie sein, kam ich, so nahm sie meine Hand und hielt sie, bis die ihren wieder wärmer wurden. Dann vermochte sie eines Tages auch das nicht mehr, Hier verschleiern sich mir die Bilder meiner Erinnerung, es kamen andere Leute und wachten bei ihr, eine gebeugte Krankenschwester, die aussah wie ein Pferd in eine preußische Fahne gehüllt, und ein zweiter Arzt, ziemlich dick, der mich freundlich fortschickte. Bis wir die Tante auf ihrem Totenbett wiedersahen, um Abschied von ihr zu nehmen.

Als sie noch lebte, hatten wir sie mit unserem lauten Getrampel oft geärgert, jetzt wo sie tot war und nicht mehr hören konnte, gingen wir auf den Fußspitzen. Sie lächelte so sonderbar aus ihrem spitzen Kinn heraus und von schmalen Lippen her, die fast verschwunden waren. Die Lider lagen tief über die ganzen Augen gedeckt, sie sah nichts mehr, und man merkte, sie wollte auch nicht. Sie lächelte friedlich und doch voll sanften Hohns, als habe sie zu Lebzeiten ihr Spiel mit uns getrieben und gebe es jetzt versöhnt und listig zu.

Man mußte fast das halbe Haus ausräumen, als der Sarg kam, und Prediger saß unzufrieden zwischen den Trümmern. Ich versuchte, ihn mit zu uns zu nehmen, das wollte er nicht. Da er Kummer gewöhnt war, suchte er sich zum Liegen wenigstens den Sonnenfleck auf dem Teppich aus, wo noch die spärliche Wärme des Oktoberlichts strahlte. Dort trauerte er.

Die Stille im Raum und Haus legte sich beklemmend um unser Gemüt, und ich lauschte aufmerksam, um zu erfahren, was sie barg. Dann ging ich Hand in Hand mit Anni fort, das war alles, denn wir konnten noch nicht so recht trauern.

Wir durften mit auf den Kirchhof, als Tante Eukarestie begraben wurde. Man merkte erst dort, wieviele Freunde und Bekannte sie gehabt hatte, es war eine ganze Prozession dunkler Gestalten, die sich in einer ziemlich unordentlichen Gruppe um das offene Grab aufstellten. Ich erschrak etwas, als ich unseren Pfarrer von der Konfirmationsstunde wiedererkannte, fühlte ihn aber entrückt und als gefahrlos, da er seinen Ornat trug und mich weiter nicht beachtete.

Auch die Damen von der Teestube aus der Prüne waren da, hielten die Taschentücher in Bereitschaft und sahen in ihren Pelerinen wie schwarze Glocken aus. Meine Mutter stand abseits, aber ich wollte gern ganz vorne stehen.

Als die Feierlichkeit mich zu drücken begann, sah ich auf Anni, das tröstete mich. Sie schaute so klug und freundlich drein, wie meistens Leute, die nicht um ihre Wirkung auf andere besorgt sind, sondern die andere auf sich wirken lassen. Ihre braunen, lebhaften Augen musterten, gewissermaßen langsam, alles was geschah, und man erkannte deutlich, daß sie nicht willens war, sich irgendwo entscheidend einzulassen. Ich folgte dem Weg der kleinen, sicheren Seele und horchte jetzt auch auf die Worte des Predigers.

Er sagte eben in seiner Rede aus, daß die Tante friedfertig gewesen sei, so daß Anni und ich uns anschauten, wie auf einen Befehl hin, freilich ohne zu lachen, das ging jetzt nicht an. Tante Eukarestie friedfertig?! So lange sie lebte, hatte sie gestritten, wo irgend sich eine Gelegenheit dazu herbeiführen ließ. Dann sprach der Geistliche von ihrer Wohltätigkeit. Wohltätig war sie auch nicht gewesen, sondern schrecklich geizig. Er rief aus, sie habe keine Kinder geboren und träte deshalb rein vor Gottes Thron hin. Ich weiß noch gut, daß ich einen Augenblick darüber nachdachte, ob demnach alle Frauen, die Kinder geboren hätten, unrein wären, und entsetzte mich, unruhig und gequält, über das wehmütige Geheul, das dieser große Mann über der offenen Grube ausstieß.

Er zählte lauter Eigenschaften auf, von denen die Tote nicht eine einzige besessen hatte, nur ihr schönes Gut, das liebe Herz, erwähnte er nicht, wahrscheinlich bewertete er es gering. Er legte einen Gottesorden der Tugend nach dem andern auf die arme Brust, bis ihr Licht erloschen war, und die Verwandten am Grabe hoben und wölbten dafür ihre Brüste.

Dann verflogen mir die Gedanken wieder, es war ein so schöner Tag. Es standen ein paar Birken in der Nähe, nur spärlich belaubt, und kleine Vögel mit langen Schwingen flogen von Baum zu Baum, in sonderbarem Flug. Sie hoben sich in die Luft empor und legten die Flügel an, sanken ab und breiteten sie wieder aus, so daß sie in merkwürdig geschwungenen Kurven, auf und nieder, ihren Weg an den blauen Himmel zeichneten. Immer blieben sie in kleinen Scharen beisammen, und das Laub verfärbte sich auch schon.

Jetzt begann das Vaterunser, nun, das kannte man. Ein Onkel zwinkerte mir wütend zu, daß ich mitbeten sollte, und ich kam auch noch herein, dicht hinter den Schuldigern. Die Erde raschelte auf den Blumen, und die Gruppe löste sich langsam auf. Am Ausgang des Gartens durfte ich mit in den Wagen von Onkel Theodor, aber ich riß mich fassungslos von seiner Hand und lief zur Pforte zurück:

Tante Eukarestie war ja nicht mehr dabei ...

*

Mit Tante Eukarestie versinkt ein wichtiger Abschnitt meiner Kindheit, ich glaube sogar meine Kindheit selbst, und ich habe erst viel später erkannt, wie notwendig der Schlag dieses alten Herzens in den Märztagen meines Daseins gewesen ist. Sie war die Zuflucht der Nöte und Freuden, ohne daß ich es wußte, und der Widerhall von Klage und Jubel, das Echo, auf das wir nicht hörten. Täglich werfen wir einen Blick in den Spiegel, um uns zu vergewissern, daß alles so in Ordnung ist, jedoch niemand dankt der lichten, stillen Fläche, die uns zu schauen gibt, was wir wissen müssen. So ähnlich ist es mit ihr und uns gewesen.

Die Tage und Jahre, die Tante Eukaresties Tod folgten, liegen für mich in dämmrigem Schleier von Wunsch und Erleiden, von frühem, unverstandenem Kampf, von Ratlosigkeit und Torheit. Ich weiß nur eines, daß ich viel zu lange viel zu jung gewesen bin, und daß meine Erzieher und Helfer kaum Macht über mich hatten. Ich lief dann auch bald von Hause fort und suchte den Aufgang, noch ohne Sinn für Sinken oder Steigen. Die Zeit hatte größere Geschwindigkeit als ich, und ich wußte noch nicht, daß ich langsam gehen mußte, wenn ich sie einholen wollte.

Meine Kindheit hindurch wurde mir von allen anderen, außer von Tante Eukarestie und meiner Mutter, am stärksten mit dem »Ernst des Lebens« zugesetzt. Offenbar nahm man an, daß diejenigen den Kampf des Lebens am besten zu bestehen vermögen, die die meiste Angst vor ihm haben. Es war das aber so bei mir, daß ich den »Ernst des Lebens« als leer und sinnlos empfand und nahm, und meine Spiele ernst.

Ermißt man dies unbefangenen Gemüts, so trifft es auf die Wesensart bestimmter Menschen für immer zu: Das Bleibende entsteht in der Freiheit und Seligkeit eines göttlichen Spiels, und der unfreie Ernst der Spiel-Entwöhnten herrscht eine Weile am nützlichen Tag, sinkt aber rasch in die Nacht des Ewig-Unsichtbaren.

*


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