Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.
Pakete

Anni sagte: »Paß auf: Wenn wir ein hübsches kleines Paket an einem Zwirnfaden aus Tante Eukaresties Fenster auf die Straße hinunterlassen, so wird es jemand finden und aufheben. Jetzt denk nach.«

Ich dachte nach und flammte vor Entzücken auf.

»Was tun wir hinein?«

»Nichts«, sagte Anni, »das fehlte noch, höchstens Zeitungspapier, nur eine seidene Schleife muß daran sein, und es soll wertvoll aussehen, wie aus einem vornehmen Laden, bunt und großartig. Es darf nicht zu schwer sein, sonst reißt der Faden, denn auch wenn es einer in die Tasche steckt, soll es wieder herausgezogen werden können. Du wirst sehen, was die Leute machen. Ältere Damen, über zwanzig, schreien bestimmt, das wird himmlisch.«

Das Leben erschien mir prachtvoll, und wir machten das Paket, als Tante Eukarestie in die Stadt gegangen war. Das tat sie zweimal wöchentlich zwischen vier und sechs Uhr, weil sie ihren Tee mit Kuchen in einem kleinen Café in der Prüne zu sich nahm, in dem mehrere Damen sich um einen runden Tisch am Fenster versammelten, um alles zu besprechen, was geschehen war. Auch sprachen sie über das, was eventuell geschehen könnte, wenn sich vielleicht etwas zutragen sollte, das im Begriff war zu geschehen. Es mußte sehr viel in unserer Stadt passieren, denn sie sprachen ununterbrochen von vier bis sechs Uhr, immer alle zu gleicher Zeit und lebhaft. Ich wußte es, weil ich der Tante einmal Nachricht dort hingebracht hatte, als der Vogel Anton an Verstopfung litt. »Macht er etwas, so komm gleich und beruhige mich«, bat sie, und da ich wußte, daß solche Nachrichten mit einem Zehner belohnt wurden, genas Anton, und ich sah den Cafétisch.

Das Paket war fertig, da lag es und wartete. Die eine Seite von Tante Eukaresties Haus grenzte hart an die Straße, der Eingang führte seitlich durch den Garten, wir mußten vom Schlafzimmer aus arbeiten. Es war eine stille, ziemlich abgelegene Straße, durch die um diese Stunde nur wenig Passanten kamen, so daß wir mit Ruhe ans Werk gehen konnten und nicht zu fürchten brauchten, daß die Opfer einander beistanden oder daß eines uns an das andere verriet. Trotzdem mußten wir vorsichtig sein, und Anni wollte, daß das Fenster nicht ganz geöffnet würde, sondern daß wir nur durch einen Spalt hinausschauten, und die Gardine sollte vorgezogen bleiben.

»Wer wird denn gleich nach oben schauen«, widersprach ich ihr, aber ich tat es nicht angestrengt, denn ich wußte, daß wir uns doch beide hinausbeugen würden, wenn jemand unser Paket aufhob, es war zu wichtig.

Als der Gehsteig leer und niemand in der Nähe zu sehen war, warfen wir es hinunter. Es lag rosig und lebhaft dicht am Rinnstein und sah so echt aus, daß man den Verlierer bedauern mußte. Es lockte das Auge und die Sinne, wie eine erste Frühlingsblume am Wiesenrain, und ich war eine Weile geradezu erbost, daß es kein echtes Verlustpaket bedeutete und daß ich es nicht mit Vorteil und Gewinn finden konnte. Den Faden ließen wir so weit hinab, daß er über den Weg fiel und erst an der Hausmauer emporführte, damit niemand sich darin verwickeln konnte. Unmöglich würde jemand diesen Faden erblicken oder beachten, Anni hatte mit Geschicklichkeit einen Zwirn aus Tante Eukaresties Beständen gewählt, dessen Farbe sich am wenigsten vom Pflaster unterschied.

Nun kam jemand den Weg herauf, unsere Herzen dröhnten wie Weihnachtsglocken, nur viel rascher.

»Wenn was Schlimmes passiert, laß einfach den Faden los«, riet mir Anni. Sie kniff mich und strampelte. Die Gestalt unten kam langsam näher.

Es war ein älterer Herr mit einem zylinderartigen Hut und mit einem Spazierstock, den er bei jedem Schritt hörbar auf den Boden stieß, so daß seine Annäherung an Wichtigkeit gewann. Er trug trotz des Sommertags einen gelbbraunen Überzieher und hatte einen Vollbart ähnlich wie Onkel Theodor, nur stärker ergraut und nicht gefranst, sondern scharf abgeschnitten.

»Was Vornehmes!« sagte Anni.

Ich konnte nicht antworten, weil alles, was ein Knabe in sich hat, mir im Halse saß. Ich flimmerte vor Glück und Erwartung und bereute zugleich, mich in diese gefährliche Sache eingelassen zu haben. Anni, kühl und listig, zeigte gemessene Achtsamkeit und liebliche Tücke.

Unten sah man nur noch das Dach und den Rand des Zylinders, Schultern und ein Stiefelpaar, etwas Bauchrand glich das Bild ins Wohlwollende aus. Der Herr war vor dem Paket stehengeblieben, und Anni und ich hingen aus dem Fenster wie zwei Fahnen und gaben einander mit wildem Flüstern den Rat zurückzutreten.

Der Herr unten stieß mit der Stockspitze an unser Päckchen, so daß es ein kleines Stück zur Seite rutschte, räusperte sich und sah sich um. Auf der anderen Seite der Straße näherte sich eine Frau in der gleichen Richtung, rasch, mit großen Schritten. Der Herr trat an den Rand des Bürgersteigs und stellte sich so auf, daß man von drüben das Paket am Boden nicht sehen konnte, er machte jetzt keinen Lärm mehr mit seinem Stock, sondern schwenkte ihn im Kreis und betrachtete drüben die Gärten der Brauerei, die sehr schön waren. Er hielt dabei den Kopf etwas schräg und zurückgebeugt, so daß jedermann erkennen konnte, wie arglos er sich gab, und daß seine Gedanken eher irgendwo in ferner Höhe weilten, in den Baumwipfeln etwa, keinesfalls aber am Boden. Wer dachte an irgendein Paket? Niemand!

Die Frau drüben war vorüber. Der Herr zog nun sein Taschentuch, schneuzte sich sanft und ließ es fallen. Es sank dicht neben unser Paket, und als er sein Tuch aufhob, war auch das Paket am Boden verschwunden, und beide wanderten nebeneinander in die Seitentasche des Überrocks. Wo sonst unsere Herzen schlugen, flackerte ein Stück Fegefeuer. Anni kniff mich schrecklich.

Jetzt setzte der Herr sich langsam in Bewegung und schritt weiter, nachdem er zuvor die Fenster des Hauses flüchtig mit einem Blick gestreift hatte, aber nur parterre. Ich zog den Faden kräftig an, man sah, wie der Mantel sich seitlich von der Tasche her hob, und sein Träger blieb stehen, als ob der Boden ihn festgesaugt hätte. Er krümmte sich langsam seitlich nieder, so daß er wie ein Flitzbogen dastand, den erstarrten Blick auf seine Tasche gerichtet und dabei den Kopf auf langem Hals ab- und emporgereckt. Sehr hoch kam er mit dem Kopf; man sah, es grauste ihn fürchterlich, und er konnte noch nicht richtig nachdenken.

»Zieh!« flüsterte Anni, »vielleicht springt er. Dann laß locker, damit das Paket auf die Erde fällt.«

Ich machte im Rausch von Qual und Entzücken einen kurzen Ruck, und unser Päckchen schnellte aus der Rocktasche des Entsetzten und rollte ihm vor die Füße. Er sprang zurück, hob seinen Stock gewaltig und hieb kräftig zu, sichtlich mehr aus Angst und Schreck, als etwa um zu vernichten oder zu töten. Er war deutlich ganz außer sich geraten und konnte nicht so rasch die Aufklärung finden.

Sein Stock hatte nicht getroffen, es knallte nur hell auf den Steinen, und ein dumpfer Laut voller Zorn und Widerwillen unterrichtete uns über den Zustand seines Gemüts. Wir hatten uns jetzt doch zurückgezogen und schauten durch den Spalt des Ladens, vorsichtig, zitternd und ganz heiß vor Vergnügen. Unser Opfer nahm Abstand von dem Paket, etwa drei Schritte, starrte es an und wartete, den Stock fest in der Hand und etwa in der Aufstellung, die man vor einer geöffneten Rattenfalle einnimmt, wenn man dem Ausbruch des Tiers entgegensieht. Es lag so still und arglos da, das Päckchen.

»Pst ...«, machte Anni, das hieß, daß ich nichts tun sollte, und ich tat nichts.

Da erschollen Schritte, und aus der anderen Richtung kam eine ältere Dame langsam den Bürgersteig entlang, so daß sie unserem Herrn und dem Paket begegnen mußte. Sie trippelte fürsorglich und lebensvorsichtig und trug am Arm neben ihrer Tasche einen braunen Puff, ein dickes, rundes Kissen, das sie brauchte, um überall weich zu sitzen, wo sie sich niederließ. Mehr konnte ich nicht feststellen, wir fühlten oben beide, daß wir in eine Notlage geraten waren, denn bestimmt würden jetzt gleich zwei Leute vor dem Paket stehen und bald viele, mit besseren Augen, darunter womöglich ein Schutzmann. Trotzdem verharrten wir gebannt an unserm Posten.

Unten erklang eine zarte helle Stimme: »Ihr Paket, mein Herr. Sie haben ein Päckchen verloren.«

»Nichts da«, stieß ein rauher Baß gegen sie vor, »wieso Päckchen? Ich besitze kein Päckchen und habe keins besessen, niemals.«

»Aber da liegt es doch, und Sie stehen davor.«

»Es wird wohl noch erlaubt sein, vor einem Paketchen zu stehen!«

»Gewiß doch ... So hat es wohl ein anderer verloren. Legen Sie Wert darauf?«

»Wie käme ich dazu? Ich bitte zu bemerken, daß ich keinerlei Wert auf das Eigentum anderer lege.«

»Man könnte ja einmal hineinsehen«, sagte die Dame zögernd, nach einem etwas erstaunten Blick in das gereizte Gesicht des Herrn, der immer noch seinen Stock fest umklammert hielt und eine Abwehrstellung innehatte.

»Ich warne Sie ...«

»Aber wieso denn?« meinte die ältere Dame lächelnd. »Ist es ein Gegenstand von Wert, so kann man ihn ja abliefern.«

Sie bückte sich ruhig, löste die blaue Seidenschleife, ohne etwas von dem Faden zu bemerken, und zögerte nur noch einen Augenblick, als der Herr auffällig rasch zurücktrat.

»Was ist denn? Sie sehen ja, Papier ... nichts als das.« Sie ließ die Fetzen zu Boden flattern und sah ihnen prüfend nach, dann raffte sie sich plötzlich, wie nach einem jähen Einfall, ziemlich brüsk auf, musterte den Herrn eindringlich und sagte in einer höheren Stimmlage als bisher:

»Sie haben sich einen unpassenden Scherz mit einer Dame erlaubt, mein Herr.«

Anni flüsterte: »Laß los! Laß den Faden los.«

Sie zog mich zurück und schloß leise das Fenster. Von unten herauf hallten noch eine Weile die erregten Stimmen, dann hörte man hastige und kurze Schritte, die nach zwei Seiten hin verklangen, ein derber, mit Stockbegleitung, und ein zarterer ohne.

»Gott sei Dank!« stieß ich hervor. Anni meinte: »Schade um das Paket, wir müssen ein neues machen, aber vorher will ich den Faden unten und das Papier holen.« Sie war schon draußen.

Wenn man Annis und meine Auffassung zusammentat, gab es gewöhnlich ein Bild des Ganzen. Galt es, jemandem etwas am Zeug zu flicken oder jemandem einen Streich zu spielen, so war sie sachlich wie eine Nähnadel, tat das Erforderliche mit kalter Entschlossenheit und tröstete zum Schluß gar noch den Geschädigten mit Wärme. Sie war bereits ein Charakter, während sich bei mir noch keinerlei Ansätze zu einer Entwicklung in dieser Richtung zeigten. Ähnlich ist es geblieben.

»Der Faden war durchgerissen«, teilte Anni mit, als sie zurückkam, »vielleicht vom Stock oder als das Paket aus der Tasche sprang. Deshalb haben sie nichts gemerkt. Schön ...«

Das neue Päckchen war rasch vollendet; als sich unten die Straße leer zeigte, warfen wir es an einem neuen Faden hinab.

»Herrlich liegt es, aber kneif nicht wieder.«

»Ich hab nicht gekniffen«, antwortete Anni.

Natürlich nicht! Ich mußte ihr jetzt erst die blauen Flecke an meinem Arm zeigen, damit kein Streit ausbrach, und streifte den Ärmel hoch. Leider ließ sich nur ein kleiner roter Fleck auftreiben, und Anni sah kaum hin. Am oberen Bein, mehr hinten, wollte ich den Beweis nicht antreten, obgleich dort die schweren Verletzungen vorlagen. Wir waren auch jetzt beide ruhiger geworden, die erste Erregung hatte sich gelegt und größerer Besonnenheit Platz gemacht, dem Willen unserer Beschäftigung mit Achtsamkeit nachzukommen.

Diesmal kam eine jüngere Dame den Weg entlang, hübsch hell gekleidet und von heiterem Aussehen. Sie sah unser Paket, bückte sich unbefangen und hob es auf, ziemlich dicht bis vor ihre Augen, wahrscheinlich war sie kurzsichtig. Ich zog, und das Paket sprang ihr aus der Hand. Die Dame stieß einen Schrei aus und lief davon, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Sie wollte dies Paketchen nicht und lief so rasch, daß man kaum die Bewegungen ihrer Beine verfolgen konnte; es sah aus, als ob sie rollte, ganz steil und blitzschnell. An der nächsten Straßenecke verschwand sie, so jäh, daß ich glaubte, sie müßte bei der Kurve umschlagen.

»In diese Straße hat sie gar nicht gewollt«, meinte Anni, »sie hat nur Angst gehabt, das Paket liefe ihr nach. Schön.«

Unten hallten wieder Schritte, ach, das war ein Tag nach dem Herzen Gottes! Wir verhielten uns beide, als der Herannahende deutlich in unser Blickfeld geriet, ziemlich ruhig und etwas betroffen, denn diese Erscheinung wirkte ganz anders auf uns als die vorangegangenen, und ich dachte schon daran, das Paket lieber rasch heraufzuziehen. Das konnte uns niemand verbieten, einen Gegenstand an einem Faden zum Fenster heraufzuziehen, nur so ... einfach, weil wir grade einen Faden hatten – aber ich tat es nicht und ließ dem Schicksal seinen Lauf, obgleich Anni nachdenkliche Beachtung der Lage zeigte und etwas wie heimliche Besorgnis.

»Nur Mut«, flüsterte sie, aber sie sagte es deutlich auch sich selbst.

Inzwischen hatte sich der Herr unten genähert, wir zogen uns so weit als möglich zurück, Anni kniff diesmal nicht. Wir sahen einen weichen, eigentlich netten Hut, darunter hätte ein junger Pfarrer Platz gehabt, aber es war kein Pfarrer, denn die Züge zeigten sich heiter und glücklich. Das Alter dieses Mannes ließ sich schwer bestimmen, sein Gesicht, glatt rasiert und fein, gefiel uns wohl. Die Hände ruhten auf dem Rücken, er spazierte ohne Eile und ging ein klein wenig gebeugt.

Jetzt sah er unser Paket, und das Schreckliche geschah: Er berührte es weder mit dem Fuß noch hob er es auf, sondern er blieb stehen, wandte sich langsam nach oben, schaute uns an und lachte.

Das war furchtbar, und wir hingen beide am Fenster, wie geblendet durch diese klaren, klugen und eindringlichen Augen; keiner von uns brachte die Kraft auf, zurückzuspringen, es kam zu unerwartet und plötzlich.

Für eine arme Seele, die in den Kurzschluß eines jähen Ereignisses gerät, ist ein Eisenbahnunglück anfänglich nicht schlimmer als das Stolpern über eine Teppichfalte, und der donnernde Ausbruch des Vesuvs, der Städte verschüttet, ist zunächst nicht grauenhafter als ein kleiner unterirdischer Leibeston, der in Gegenwart ehrengeachteter Persönlichkeiten besser lautloser vonstatten gegangen wäre.

Und nun geschah das Wunder, daß unten das Lachen anhielt, so daß ich plötzlich das Gefühl hatte, ein sehr netter Junge zu sein. Anni funkelte hinab wie ein kleines, helles Tier, sonderbar aufmerksam und wach. Der Herr war etwas vom Haus zurückgetreten, um unbeschwerter zu uns beiden hinaufschauen zu können, und hatte jetzt unser Paket in der Hand. Mit der andern griff er in seine Westentasche, holte etwas hervor, das blinkte, schob es in die Spalte des Päckchens, er faltete es sorgfältig in das Papier ein, dann hob er es uns entgegen und rief:

»Jetzt zieht!«

Ehe wir es wagten, setzte er sich wieder in Bewegung, winkte zuvor gütig zu uns empor, wobei er sogar seinen Hut ein wenig lüftete und ihn leicht und fröhlich schwenkte. Er schritt ungemein freundlich davon. So freundlich habe ich im Leben niemals wieder jemanden davongehen sehen.

Wie das Paket wieder zu uns emporgekommen ist, weiß ich nicht mehr, nur, daß es sehr rasch geschah. Wir schonten es oben eigentlich nicht besonders, und aus seiner Hülle sprang ein Markstück hervor, hüpfte klingend über den Boden und legte sich am runden Fuß von Tante Eukaresties Wäscheschrank nieder, blank, still und tatsächlich.

Anni holte es, und wir beschlossen, es zu teilen, wie einst Pile Trak und Kluge ihre Beute geteilt hatten.

»Siehst du!« rief Anni.

Ich verstand sie sofort, die Welt war herrlich, und in Annis hellbraunen Augen unter dem blonden Haar stand strahlend die Zuversicht, daß nichts im Leben sich besser auszahlt als das Glück.


 << zurück weiter >>