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Zweites Kapitel.
Onkel Theodor

Onkel Theodor spielte eine gewisse Rolle in unserer Kindheit, er behauptete sich in meiner Erlebniswelt sonderbar gewichtig an der Grenze der schlechten Geheimnisse. Ich finde kein anderes Wort für die zugleich bedrängende und aufreizende Wirkung, die er auf mich ausübte, obgleich ich ihn verachtete. Es war einfach die Atmosphäre eines Menschen, der sich zwischen unechter Moralität und echter Lüsternheit in der Mitte hielt, und zwar zugleich aufrecht und mit schlechtem Gewissen.

Ich wußte damals nicht mehr, als daß ich ihn nicht leiden konnte, aber solche Menschen prägen sich dem Gedächtnis und der Erinnerung weit tiefer ein als Leute, die mit gleichmütiger Sympathie aufgenommen werden. Er lebte in einem kleinen Landstädtchen, wo er einen Holz- und Kohlenhandel betrieb, Vorstand des Vereins christlicher junger Männer war und im Tierschutzverein. Er hielt Brieftauben, von denen er nur Sonntags welche aß.

»Man sollte«, sagte er, »eigentlich nur die Brieftauben verzehren, welche unzuverlässig sind, ihre Pflicht verabsäumen und nicht wiederkehren. Aber wie soll man das bewerkstelligen, wenn sie nicht wiederkommen?«

Über solche und ähnliche Witze, die er selbst ausdachte, lachte er laut und längere Zeit, hielt dabei den Vollbart mit der Faust fest, als könnte sein Geheul ihn mit fortreißen, und zeigte Zähne von dunkler Färbung. Sein Gelächter stimmte mich sofort auf Abwehr und Ernst, was mir den Vorwurf der Respektlosigkeit eintrug. »Versteckt ist der Junge«, sagte er einmal zu meinem Vater, »versteckt!« Mein Vater ließ ihn reden.

Ich suchte bei Anni Verständnis, aber sie sagte nur: »Er riecht schlecht.«

Wenn der Onkel in der Stadt zu tun hatte, was häufig vorkam, wohnte er bei uns. Er hatte die jüngste Kusine meines Vaters zur Frau, war also keinesfalls ehrlich mit uns verwandt, was meine Mutter zuweilen betonte, wenn wir Besuch hatten und er zugegen war. Er kam stets zu Fuß von der Bahn, trug seinen Koffer selbst und brachte uns kleine Geschenke mit. Wir fühlten aber, daß er sie nur gab, weil er das Hotel sparte, es waren auch immer Dinge, mit denen man nichts anfangen konnte. Einmal bekam ich ein Tonschwein mit Rückenschlitz, das als Spartopf Dienste tun sollte, und auf dem Doktor Martin Luther abgebildet war. Er wußte nicht einmal, daß ich mein Geld besser unterbringen konnte als in diesem Tonschwein.

Ein anderes Mal schenkte er Anni, völlig außerhalb seiner Verpflichtungsgaben, ein Fünfpfennigstück, nachdem er lange in seinem dicken klirrenden Portemonnaie gewühlt und gesucht hatte, um ihre Erwartung zu spannen. Abends ließ sie es sich von ihm wechseln, damit er sehen konnte, wieviel er gespendet hatte. Noch heute sehe ich ihr dankbares Lächeln und die bescheidene Neigung des blonden Köpfchens. Sie war viel klüger und reifer als ich, obgleich sie ein Jahr jünger war; ihre Unverschämtheit zeigte sich in süßester Grazie, und ihre Frechheiten waren lieblich. Der Onkel murmelte.

Diesmal traf sein Besuch in unsere Ferien, als die Eltern abwesend waren, und Marie mußte das Fremdenzimmer richten. Ich sah ihr zu, weil es regnete, und erkannte an der Art, wie sie die Leinentücher warf und das Kopfkissen klopfte, daß ihr der Besuch des Onkels unwillkommen war und daß sie ihn nicht leiden konnte. In solchen Dingen verstanden wir uns immer, sprachen aber selten darüber.

Der Onkel war herrischer als sonst, prüfte das Essen genau und trat viel lauter auf als früher, in Gegenwart meines Vaters. Bei Tisch nahm er sich meiner an und sagte, ich äße zu viel. »Du schlingst«, rief er und schwenkte die Gabel, »das kann man nicht mehr essen nennen!«

Ich schwieg, weil er mir leid tat, stellte aber fest, daß ich kaum soviel gegessen hatte, als ihm vom Brot, der Suppe und den Bohnen im Bart hängengeblieben war. Ich sage nichts Falsches, wenn ich aus deutlicher Erinnerung niederschreibe, daß er mir leid tat, ich hätte es damals niemandem erklären können, und heute will ich es nicht mehr. In diesen beiden Einstellungen liegt die Nachsicht des Lebens, die die Anmaßung der Mittelmäßigen fast überall erfährt und in der sie gedeiht und wuchert.

Als er einmal nachmittags, ziemlich früh, von seinen Stadtgängen zurückkam, langweilte er sich, man sah es daran, daß er mit den Händen in den Hosentaschen im Wohnzimmer umherging und alle Gegenstände betrachtete, die er längst kannte.

»Was hast du heute nachmittag getan?« fragte er mich.

»Nichts«, sagte ich. Das ist zunächst immer das beste.

»Du solltest dich sinnvoll beschäftigen«, fuhr er fort und gähnte dröhnend. »Meine kleine Tochter, deine Kusine Veronika, solltest du sehen! Das ist ein Kind nach dem Herzen Gottes. Immer munter, immer beschäftigt. Neulich sagte ich zu ihr ...«, und nun folgte eine lange Geschichte, aus der die Weisheit, die Anmut und die seelische Feinheit dieser Veronika hervorging. Ich wußte schon, daß andere Kinder Tugenden hatten, und gähnte auch.

»Du bist unerzogen«, unterbrach sich der Onkel. »Veronika würde nicht gähnen, wenn ich ihr etwas Interessantes erzählte.« Dann musterte er mich, so daß ich glaubte, ein Knopf stünde unten bei mir auf, und fragte:

»Lebst du eigentlich keusch?«

Ich antwortete zunächst, wie stets in zweifelhaften und undurchsichtigen Fällen:

»Nein.«

Der Onkel fuhr herum: »Wieso?! Was tust du?«

»Nichts«, sagte ich und dachte nach, was er meinen könnte.

Er starrte mich eine Weile forschend und drohend an, aber unsicher, so daß ich merkte, daß er keine Beweise hatte. So beschloß ich zu leugnen, was immer aufgeklärt werden sollte, aber der Onkel schwenkte ab und betrachtete wieder Möbel, dabei lächelte er ziemlich dünn vor sich nieder. Endlich entfernte er sich, deutlich von einem Entschluß getrieben. Mich schien er vergessen zu haben.

Ich mußte hinter diese Sache kommen und besprach sie mit Anni. Anni nahm eine Puppe aus, weil ich Sägemehl für meine Käfige angefordert hatte, jetzt hielt sie inne und dachte nach:

»Keusch«, sagte sie, »das hat etwas damit zu tun, wenn Meerschweinchen Junge kriegen, oder vorher. Dann hat es auch mit dem Klosett zu tun, genau weiß ich es nicht. Man darf sich zum Beispiel nicht ausziehen, wenn jemand dabei ist. Aber ich glaube, nur Mädchen.«

»Also, was will der Onkel?«

»Wenn er einmal mich fragt, so werde ich es herausbringen«, versprach Anni mir. Dann mußte ich das Sägemehl prüfen, das aus der Puppe rann, die langsam mager wurde und nach hinten absank. Darüber vergaß ich die Sorgen des Onkels für eine Weile, aber es blieb ein Geheimnis über diesem Wort, das mich beschäftigte, es waltete etwas Finsteres, mit einem gefährlichen trüben Licht darin, das lockte. So schickte ich Anni auf Vorposten und ließ sie eines Tages beim frühen Nachtmahl auf der Veranda gegen den Onkel vorstoßen.

»Onkel«, sagte sie traurig und auf jene stille, liebe Art, hinter der sie ihre Frechheit wundervoll zu verbergen wußte, »Onkel, ich lebe nicht keusch.«

Der Onkel erstarrte. Seine ohnehin vorquellenden Augen, rot und rund, saßen jetzt auf Stielen. Aber dann lächelte er sehr fürsorglich auf Anni hin und schrie mich an:

»Hinaus mit dir!«

Nun, nun. Die Heftigkeit fiel mir auf, ich entfernte mich und schlug die Tür zum Eßzimmer hinter mir zu, öffnete sie aber sofort wieder, so daß ich sehen und hören konnte. Der Onkel war ganz auf Anni aus und achtete nicht auf die Tür.

»Kind«, sagte er nur, »Kind, Kind!«

Es wurde hierauf still und voller Erwartung auf der Veranda, aber es war nichts aufgeklärt. Anni schob den Onkel von sich fort und sagte:

»Was ist eigentlich keusch?«

Sie fragte jetzt laut und geradeheraus, denn sie fühlte am Verhalten des Onkels, daß sie sich in Gefahr gebracht hatte.

»Komm einmal zu mir«, sagte der Onkel mit verschleierter Stimme. Seine Hände zitterten.

Anni sah sich nach der Tür um, und als sie mich entdeckte, antwortete sie ruhig:

»Nein, Onkel Theo. Aber sage mir doch, was keusch ist.«

Der Onkel faßte sich, erlebte deutlich irgendeine fremdartige Rückkehr zu sich selbst, die verdrießlich sein mußte, und schien sich zu besinnen. Er dachte angestrengt nach und schüttelte dann den Kopf mit einem Lächeln, das niemand in der Welt verziehen hätte. Arme Anni. Ich beschloß künftighin selbst Vorstöße zu machen. Er sagte nur, ziemlich armselig und deutlich mit abseitigen Vorstellungen:

»Darüber kann ich jetzt noch nicht mit dir sprechen, du bist noch zu jung.« Und dann, sichtlich ein wenig freier und entschlossener: »Darüber schweigt man besser.«

Es war deutlich, der Onkel wußte es selbst nicht. Er wirkte sonderbar feige auf mich, als habe er aus Ängstlichkeit ein Wort oder eine Tat vermieden, zu denen es ihn drängte. Es blieb rätselhaft und dunkel um diese Frage. Mit solcher Erfahrung ließ ich den Gegenstand vorläufig fallen. Vielleicht konnte Pile Trak mir Auskunft geben.

Nachmittags kam zuweilen Tante Eukarestie, um im Haushalt nach dem Rechten zu sehen, darum hatte meine Mutter sie gebeten; freilich entstand diese Bitte nur aus Nachsicht und Entgegenkommen, denn Tante Eukarestie wäre auf jeden Fall erschienen, und meiner Mutter war es eigentlich nicht recht. Die lebhafte Fürsorge der Tante für unser aller Ergehen vermischte sich sehr stark mit Widerspruch gegen unsere Lebensart, und sie benutzte die Abwesenheit meiner Eltern, um ihre wirtschaftlichen und pädagogischen Reformen zur Geltung zu bringen. Meinen Vater hielt sie für einen großen Verschwender, obgleich sie ihn einzig wegen seiner noblen Eigenschaften liebte.

»Anni«, sagte sie, »sitz grade!«

Diesen Satz vergesse ich nicht, solange ich lebe. Sie sagte ihn manchmal auch, wenn Anni stand, dann hatte er für den Fall Geltung, daß sie sich niederlassen würde. Ob ich selbst mich grade oder krumm hielt, war ihr gleichgültig, weil ich keinen Busen aufzuweisen oder zu erwarten hatte. Es war ihre Meinung, daß die normale und schönheitsgerechte Entwicklung der weiblichen Brust von der steilen Haltung der jungen Mädchen beim Sitzen abhing. Sie sagte es nicht uns, aber ich hörte einmal, wie sie mit Marie darüber sprach. Sah man unter solcher Entwicklungsauffassung Marie an, so wurde deutlich, daß sie sich ihre ganze Kindheit hindurch wie ein Stock gehalten haben mußte.

Recht hatte Tante Eukarestie immer, ich habe niemals im Leben wieder einen Menschen kennengelernt, der so viel Gutartigkeit und rechthaberischen Sinn in einem barg. Da sie es wirklich und wahrhaftig gut meinte, vermochte sie nicht zu begreifen, wie man ihren Ansichten Widerspruch entgegensetzen konnte, sie war der erschütternd deutliche Beweis dafür, daß es durchaus nicht allein auf die Gesinnung eines Menschen ankommt, wie viele behaupten, um ihre Torheit undeutlich zu machen, sondern daß Gesinnung erst in Gemeinschaft mit Vernunft und Einsicht einen Charakter ausmachen kann.

Den Onkel haßte Tante Eukarestie mit einer Leidenschaft, die niemand ihren fünfundsechzig Jahren zugetraut hätte. Dabei behandelte sie ihn ungemein entgegenkommend, mit einer Höflichkeit, von der sie hoffte, daß sie die eisige Kälte ihrer Verachtung wie Schnee und Hagel niederpeitschen ließ. Leider merkte der Onkel den Temperaturgrad ihres Verhaltens nicht, er fühlte sich zumeist sehr geehrt durch Tante Eukaresties Höflichkeit und machte ihr den Hof in der fürchterlichen Ritterlichkeit eines bornierten Heuchlers.

So kam es häufig zu ungewöhnlich höflichen Zänkereien voller Courtoisie und so angestrengter Artigkeit, daß die Bosheit unter dem Deckmantel der Liebe strampelte wie ein Schwein in einem Sack. Tante Eukarestie färbte sich bei solchen Anlässen langsam rot, und ihre lieben alten, zarten Hände zitterten und flogen, während ihr Onkel Theodor wutschnaubend dicke Tabakswolken ins Gesicht blies und heulte:

»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Es wird kein zweites Mal vorkommen!« Und dann blies er wieder eine große Wolke Rauch auf sie. Tante Eukarestie versuchte den Rauch mit Hand und Taschentuch abzuwehren und gleichzeitig die Übeltat des Onkels vollständig zu ignorieren, was Konflikte mit sich brachte. Außerdem hatte der Onkel das Wort »Fräulein« so eigentümlich hervorgehoben, daß es gradezu schnöde klang, so, als ob er damit sagen wollte: Einen Mann haben Sie natürlich nicht bekommen, wie sollten Sie auch.

Ist man unfreundlich aufeinander zu sprechen, so bedarf es keines besonderen Anlasses, um in Streit zu geraten, immer sind Gründe vorhanden, sie liegen umher wie Kieselsteine. So weiß ich noch gut, daß einmal das Gespräch auf eine sehr schöne Schauspielerin kam, die im Sommertheater auftrat, und Onkel Theodor begeisterte sich. Tante Eukarestie kannte nur den schlechten Ruf dieser Künstlerin und behauptete deshalb, daß sie talentlos sei:

»Schon Schiller sagt, glaube ich, irgendwo, daß die Kunst und die Moral Hand in Hand gehen«, rief die Tante, »wie kann da etwas Rechtes an dieser Person sein!«

Onkel Theodor klammerte sich rasch an das »irgendwo«, das der Tante in ihre Sicherheit gerutscht war, und behauptete gedehnt und nachdrücklich:

»Ich entsinne mich nicht, diesen Satz jemals bei Schiller gelesen zu haben.«

Er dachte sehr nach. Sollte man seinem Gesichtsausdruck trauen, so überflog er den ganzen Schiller.

»Sie haben außer der ›Glocke‹ überhaupt nichts von Schiller gelesen!« rief die Tante, »und auch die Glocke nur allzu flüchtig, das sieht man sofort. Der Satz steht bei Schiller, ich weiß es bestimmt. Wie käme Eichendorff zu solchem Ausspruch oder Mörike? Ich will nicht in Abrede stellen, daß ich ihn vielleicht bei Gerok fand, den Sie auch nicht gelesen haben.«

Onkel Theodor zitterte vor Verdruß über die Aussichtslosigkeit, jemals überzeugen zu können:

»Wer immer sich zu solchem Satz hat hinreißen lassen«, rief er und wurde rot, was man sogar unter dem Bart sah, »der irrt! Ich, Theodor Meise, behaupte das nachdrücklich. Und um auf den Gegenstand zurückzukommen: Ich behaupte noch mehr: Wäre es mir vergönnt, dieser herrlichen Künstlerin auch nur den Saum ihres Kleides zu lüpfen, so wäre ich dafür bereit, ein Leben lang ihre Kleider zu bügeln!«

Der Satz gefiel ihm, er suchte nach Zuhörern, sah mich an und wiederholte ihn schreiend. Ich erschrak und verstand nur, daß der Onkel bügeln konnte. Tante Eukarestie erhob sich, am ganzen Körper bebend:

»Wie?! Was haben Sie vorgebracht?! Lüpfen wollten Sie! Sie wollten da irgendwo lüpfen! Was immer unsere Größten über Moral gesagt haben mögen, so viel verstehe ich auch davon, daß ich hiermit das Gespräch sofort abbreche.«

So und ähnlich ging es oft. Ein anderesmal rief der Onkel unsere Köchin Marie und betonte dabei ostentativ die erste Silbe ihres Namens, weil er auf seinen Geschäftsreisen zuweilen Bayern berührt hatte. In meiner Heimat würde niemand auf den Gedanken kommen, diesen Namen anders als mit dem Ton auf der letzten Silbe auszusprechen, und zwar betont, gewissermaßen in die Länge gezogen, so daß man das »Ma« nur bei günstigen Verhältnissen und in sehr gebildeten Kreisen deutlich wahrnimmt.

»Sie sprechen dieses Wort aus, als ob es mit zwei r geschrieben würde und kaum ein i enthielte, geschweige denn ein ie, was es doch hat«, sagte Tante Eukarestie, »das ist manieriert, verzeihen Sie, aber natürlich ist es nicht, keinesfalls natürlich ...«

»Es wird einem immer wieder deutlich«, antwortete Onkel Theodor, »daß die Gegensätze zwischen Nord- und Süddeutschland, zwischen Preußen und Bayern, unüberbrückbar sind. Es liegt wohl hauptsächlich an der Kleinlichkeit, oder sagen wir nachsichtiger, an der Pedanterie gewisser Leute.«

Tante Eukarestie dampfte vor Anstrengung, diesen Schlußsatz zu ignorieren oder wenigstens keinesfalls für anzüglich zu erachten. Sie blieb so gelassen, daß wir alle mit angestrammten Muskeln am Tisch saßen und nur atmeten, weil es unerläßlich notwendig war. Nur Anni zeigte sich, wie gewöhnlich, vergnügt und listig angeregt, bereit, sich über Schaden zu freuen, der vielleicht entstehen könnte. Sie war nicht so sensibel wie ich. Mich bewegte diese Atmosphäre bevorstehender Ausbrüche aufs äußerste, vielleicht auch, weil ich Tante Eukarestie heimlich liebte, jedenfalls litt ich empfindlich unter diesen Spannungen, gewöhnlich solange, bis Anni mir durch eine Frechheit oder einen Witz wieder das flachere Gelände der Spottlust eröffnete.

Tante Eukarestie erlag, sie vermochte nicht so durchschlagend zu ignorieren, als sie hoffte:

»Gewisse Leute«, wiederholte sie, »mögen überall anderswo vorkommen, wer will denn genau wissen, wo Sie verkehren, Herr Meise, Herr Kohlenhändler ...«

»Vorsitzender«, unterbrach und verbesserte sie der Onkel, »ich bin Vorsitzender! Das ist der Titel.«

»Was heißt Vorsitzender? Ich habe mich zeit meines Lebens genau orientiert, ehe ich etwas ohne weiteres, nur dem Klang nach, anerkannte oder gar überschätzte. Es gibt Vorsitzende von Tierschutzvereinen oder Laubenkolonien, wobei ich zu bedenken und festzuhalten bitte, daß ich hiermit nichts gegen den Tierschutz vorgebracht habe. Ich halte selbst Tiere und nehme mich ihrer an, Sie können sich davon überzeugen, falls ich Sie wirklich einmal zu mir einladen sollte ... reizende Tiere. Es ist auch noch lange nicht erwiesen, daß grade die Vorsitzenden der Tierschutzvereine besonderen Sinn für das Leben der Kleinwelt aufweisen, sie pflegen sich auf Zugtiere zu beschränken, bestenfalls schließen sie Hunde in ihre Beachtung ein, Kettenhunde. Ich habe einen Vorsitzenden gekannt, der mit Regenwürmern angelte. Da sehen Sie es! Auf den Haken mit dem lebendigen Tier! Man sagt Mar-i-e, keinesfalls Marri. Marie kommt von Maria, da hören Sie ja selbst deutlich, wie das i lang wird. Sie sollten sich an dieses a des Stammwortes erinnern, das Sie völlig unter den Tisch fallen lassen, wo es nicht mehr gesehen wird. Es wäre vielleicht am besten, man ließe nun dieses Thema.«

Der Onkel schüttelte traurig überlegen den Kopf und lächelte mich aufmunternd an, als ob ich etwas bestätigen sollte. Ich wollte nicht bestätigen, sondern sah fort. Anni trat mich.

Tante Eukarestie begann jetzt Bayern zu verteidigen. Sie hatte schöne Erinnerungen an dieses Land, vor allem Berchtesgaden hob sie hervor, und sie rühmte dessen landschaftliche Schönheiten, besonders die Lage, mit großer Beglücktheit, so daß sie in einen triumphierenden Ton überzugehen vermochte, mit dem sie gegen den Onkel vorstieß. Alle erwarteten, daß er für immer verstummen müßte.

Dieser Sieg beruhigte sie, sie meinte versöhnlich:

»Nein, nein, auf Bayern lasse ich nichts kommen, und es ist kein Grund, Süddeutschland abzulehnen, ob nun der Einheimische oder Reisende mehr Gewicht auf den vorderen oder auf den hinteren Teil von Marie legt. Ich würde mich für die Mitte entscheiden, und wenn auch nur, damit jetzt Ruhe wird.«

Onkel Theodor antwortete auch diesmal nicht. Er schaute verbissen und furchtbar angestrengt gradeaus und dann zu Anni und mir herüber, ohne den Kopf zu drehen.

Ich wunderte mich etwas über den Eifer Tante Eukaresties, denn der Onkel hatte doch im Grunde Bayern nicht angegriffen, sondern nur die Betonung der hinteren Silbe des Namens Marie. Er war eigensinnig und blieb dabei, denn ich sah ein paar Tage später im halbdunklen Korridor, wie er abermals ihre hinteren Silben angriff. Daran war Tante Eukarestie schuld, denn der Onkel war fromm.


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