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Zehntes Kapitel.
Der Endesunterfertigte

Da wieder Sommer geworden war, vergaß ich alles Bedrückende, und so auch mich. Der Schritt der Zeit, von Uhren und Menschenbefehl gemessen, erklang nicht mehr, und die Bedrängnis zerging im Himmelsblau, wie eine Wolke, die der Sonne entgegenzieht. War nicht diejenige Zeit meiner Kindheit die glücklichste, von der ich nichts mehr weiß? Alle Erinnerung, auch die schönste, ist heimlich an das Leid gebunden.

Diesmal besaß ich sogar etwas Geld für die Ferienwochen, eine für mich recht beträchtliche Summe, da ich viele von Tante Eukaresties alten Briefmarken an Benno Stern geliefert und mein Taubenpaar mehrere Male günstig verkauft hatte. Diese Tiere kamen immer wieder zu ihrem alten Besitzer zurück, wenn man dem neuen mitteilte, daß er nach zwei Tagen unbesorgt seinen Taubenschlag öffnen könnte. Es war aus diesem Grund möglich, einen niedrigen Preis anzusetzen, der raschen Absatz ermöglichte, es kamen immer wieder Knaben vor, die Tauben haben wollten und deren Eigenschaften noch nicht kannten.

Erst als ich meine Tauben unserem Schuster überließ, um den Betrag für ein Paar neugesohlte Stiefel für mich behalten zu können, blieben sie aus, und der Alte lächelte ziemlich sonderbar, als ich nach vier oder fünf Tagen kam und die armen Tiere bedauerte, die er eingesperrt hielt. Später hat er sie sich braten lassen; man findet im Volk nur selten Verständnis für die Eigenschaften und den Wert der Rassetiere.

Immerhin, ich war mit Geld versehen, und mein Gewissen schlug leicht, weil ich jetzt den früheren Käufern meinen Taubenschlag öffnen konnte und zeigen, daß er leer war. Das Herz ging kühl und rein, und ich schaute die Mißtrauischen mit stillen, traurigen Augen an, so daß sie mir die Hand schüttelten. Nach einem erlittenen Verlust ist man immer um einen Grad ehrenwerter als nach einem eingestrichenen Gewinn. Ich schrieb an Onkel Theodor um neue Brieftauben, weil er doch bei uns wohnen konnte, wenn er in die Stadt kam, das erwähnte ich, aber er antwortete mir nicht mehr, seit Veronika bei uns zu Gast gewesen war.

Ja, so boten sich die Kieselsteine auf dem Weg oder die Kohlweißlinge an den Tagesblumen der kleinen Erlebnisse dar, mit denen das Dasein im Helldunkel dieser Zeit dahin und voran trieb. Was sich aus dem lieben dämmrigen Wirrwarr dieser Tage emporhebt und mir deutlich sichtbar geblieben ist, was dieser Zeit ihr Gepräge gibt, ihre Atmosphäre und ihr Lebensrund, ist Friedel Domdegen. Es muß zu Beginn dieses Sommers gewesen sein, daß er seinen Verkehr mit mir begann, und stets wenn eine Seele deutlich wird, so erhellt sich auch das Umland, durch das sie geschritten ist, die Räume, die sie mit uns bewohnt, und das Stück Leben, das sie mit uns durchmessen hat.

Friedel Domdegen hatte sich meiner bemächtigt, weil er mich beneiden, lieben oder kränken wollte. Er war ein rundlicher, nicht sehr großer und schweigsamer Junge, von zäher Beharrlichkeit allem gegenüber, das ihm erstrebenswert erschien. Ich mochte ihn nicht besonders, denn er war alles andere als schön, jedoch ließ ich mir seine offenkundige Anteilnahme gefallen. Wirklich lieben konnte ich damals nur Menschen, deren Schönheit mich überwältigte, auf Charakter legte ich nicht den geringsten Wert. Es war eine Art Neugier, die mich zu Friedel Domdegen hinzog, der Hang, ihn zu beobachten, und vielleicht auch die erregende Tatsache, daß ich im Spiegel seiner Augen und Handlungen mir selbst in einem neuen Licht entgegentrat.

Sein Vater verdiente sich den Lebensunterhalt als Tierarzt, und seine Mutter betrieb ein Milchgeschäft in der Hafengegend. Der Tierarzt machte nur geringen Eindruck auf mich, weil mein eigener Vater Arzt war, jedoch das Milchgeschäft gefiel mir, es war ein weiß ausgekachelter Kellerraum, sauber und blank und voll nahrhaften Duftes. Friedel erzählte mir eines Tages in der Schule von diesem Geschäft, er machte mir damit nach seiner Meinung das Geständnis eines schmachvollen Geheimnisses, es wußten aber alle in der Klasse, und Friedel tat auch nicht so, als ob es ihm schmerzlich sei:

»Hast du eine Ahnung, was heute mit Milch zu verdienen ist!«

Nein, ich hatte diese Ahnung nicht, bestätigte ihm aber fröhlich solche Möglichkeit, zu Reichtümern zu gelangen, denn es drückte Friedel offenbar wie ein Makel, daß seine rothaarige Mutter Milch verkaufte. Er nahm mich nach großem Entschluß und deutlich beklommen und voll heimlicher Warnung eines Tages mit in den Milchkeller, als habe ich dort die letzte Prüfung meiner Gesinnung zu bestehen. Seine Mutter empfing mich ohne solchen Seelendruck und freundlich, offenbar schätzte sie den Milchhandel. Sie schenkte mir zwei Harzer Käse, die ich leider für lange in meiner Tasche vergaß.

Friedel hatte die roten Haare seiner Mutter geerbt, die kleinen grauen Äuglein saßen tiefeingebettet unter der runden Stirn, und sein Kinn zeigte bereits Flaum, der sich um den Hals herum zog und im Nacken wucherte. Da er stark war, genoß er etwas Achtung in der Klasse, jedoch im allgemeinen sah man auf ihn herab, und er mußte sein geringes Ansehen ununterbrochen behaupten und wiederherstellen, was er verbissen tat. Sein gestoßenes Herz klopfte zwischen Rangstreit, Mißgunst, Anmaßung und tiefer Niedergeschlagenheit, und wenn ihm Zufall oder Umstände, vielleicht gar eine besondere Leistung, einen Lebensvorteil oder eine Auszeichnung verschafften, so pochte er darauf wie ein Specht.

Merkwürdig, immer wenn es mir schlecht erging, wenn ich gefährdet, unerwiesen oder von den Lehrern verfolgt dahinlebte, zeigte er sich als mein Freund und Helfer, er wich dann nicht von meiner Seite und brachte erstaunliche Opfer, die die Grenze der völligen Selbstentäußerung erreichten; ging es mir aber gut und hatte ich auf irgendeinem Gebiet Erfolg, so verwandelte er sich völlig, änderte seine Haltung entschlossen und befehdete mich grausam, ein Wechsel der Einstellung, wie ich ihn in meinem späteren Dasein nur noch bei meinen Kritikern beobachtet habe. Leider waren nicht sie es, die ertranken, sondern Friedel Domdegen.

Es ist sonderbar deutlich gewesen: er war vom Anfang unserer Beziehung an vom Tode verfolgt. Wir hatten im Hof seiner Mutter eine Schaukel eingerichtet, die von uns an einer schweren Eisenstange befestigt worden war. Diese Stange hoben wir auf die Dachränder zweier kleiner Schuppen, sie war so kurz, daß sie die Dachrinne zur Rechten und Linken nur eben erreichte und keine zwei Finger breit darauf ruhte, so daß sie gewöhnlich schon beim Anschwingen mit der Schaukel herunterkam. Einmal schlug sie Friedel Domdegen die Mütze ab, so hart an der Stirn, daß er taumelte, er lachte befangen und sah mich eine Weile leeren Blicks mit großen Augen an, als müsse er die Welt neu begreifen. Wir ließen diesen Sport und erkannten erst jetzt, wie gefährlich er sich erwies, denn die Eisenstange war armdick.

Friedel sagte: »Siehst du, was ich für ein Glück habe?!«

Als ich ihm mein Terrarium zeigte und ihm mitteilte, daß ich heimlich Kreuzottern darin hielt, lachte er ungläubig und hob den Glasdeckel auf, bevor ich es zu hindern vermochte. Ich sehe noch heute, wie sich das schönfarbige feuchte Knäuel aus dem Moos- und Laubwinkel hervor schreckhaft regte, und der wildäugige Kopf, wie auf einem aufzuckenden Strahl, Friedels Hand antickte, sanft und rasch, als sei es nur eine übereilte Erkundung. Er wurde in die Hand gestochen und mußte ins Krankenhaus, aber dort erzählte er, daß ihn das Unglück im Meimersdorfer Moor betroffen habe, er verriet mich nicht, niemals würde er mich in dieser Lage preisgegeben haben. Der Eindruck, den ich ihm mit solchen Gefangenen und ihrer Pflege machte, die Tatsache, daß ich selbst niemals von einer Otter gebissen worden war, verpflichtete ihn zu einer Bewunderung, die er nicht durch einen Verrat zerstört oder entwertet hätte, weil er allein es war, der davon wußte, und ich der Schlangen wegen sonst von niemandem anerkannt wurde. Als ich ihn im Krankenhaus besuchte, hob er mit der linken Hand den geschwollenen und verbundenen Arm, zeigte ihn mir stolz und lächelte aus seiner Genesung heraus siegesgewiß und triumphierend:

»Was ich für ein Glück habe, jeder andere wäre abgekratzt, auch du!«

Im Spätsommer dagegen, als ich einen Preis beim Schwimmen errang, machte er die Aussage, ich habe die letzte Boje nicht umschwommen und so den Wasserweg zum Ziel abgekürzt. Es ist möglich, daß es sich so verhielt, wie soll ich das heute noch wissen, aber es war nicht Rechtlichkeit bei Friedel Domdegen, sondern Neid. Das Richterkollegium glaubte ihm nicht, weil er rote Haare hatte. Ich selbst sagte nichts, das kränkte ihn am meisten, denn er wartete, bleich vor Erregung, den ganzen Heimweg hindurch auf meine Wut. Ich steckte ihm den Preis, die kleine Kupfermedaille, auf der ein Neptun abgebildet war, heimlich in die Tasche. Hätte ich das doch nicht getan. Es wäre besser gewesen, ich hätte ihn beschimpft. Es gibt eine ganz scheußliche Art von Anständigkeit, man nannte sie damals in den Kreisen unserer Erzieher »Edelmut«. Der Teufel soll ihn holen. Ein wahrhaft edelmütiger Mensch hätte einfach »Schwein« gesagt.

Friedel interessierte sich nicht ehrlich für die Dinge meines Daseins, sondern nur dafür, wie ich sie erlebte. Tiere mochte er nicht leiden, und an meinen Streifzügen ins Moor, in die Wälder oder am Strand der See dahin, nahm er nur teil, weil er mit mir zusammen sein wollte und die Hoffnung nicht aufgab, ich möchte doch noch lernen, mich, als für ein wahres Lebensgebiet, für die Güter der neuzeitlichen Zivilisation zu entscheiden. Er schätzte sie sehr, man sah es daran, vor welchen Läden er stehenblieb. Möbelgeschäfte und Herrenschneider mit Auslage fesselten ihn am meisten, auch lederne Reisekoffer mit Messingverschlüssen und alle Arten von Schmuckgegenständen.

Vor einem Juwelengeschäft konnte er die Schulstunden versäumen, rechnete sich die Werte der Gold- und Silbergeräte mit den Fingern an der Scheibe aus, addierte aufgeregt, geriet in Schweiß und stöhnte heftig. Um alles in der Welt hätte er gern einen Ring besessen.

Ich sagte es meiner Mutter, die gerne anhörte, was die Knaben anging, die mit mir verkehrten, und sie schenkte ihm einen Ring aus ihren Beständen, es war ein kleines Schmuckstück mit Granaten aus ihrer Mädchenzeit. Friedel taumelte und verneigte sich wie ein Behexter, so daß ich ihn schrecklich verachtete.

Er liebte meine Mutter sehr, ich sah es daran, daß er ihre hohe und immer maßvoll bewegte Gestalt oft in das Blickfeld seiner Augen nahm wie eine Heilige, so daß wieder ich ihn anstarren mußte, aber es gefiel mir nicht. Ich glaube, er verehrte sie hauptsächlich deshalb, weil sie keine Milch verkaufte. Er schrieb ihr einen Dankesbrief auf rosa Papier, das mit bunten Blumen bedruckt war, ein Dokument, das meine Mutter mit so sonderbarem Gesichtsausdruck in ihrem Nähtischchen barg, daß ich nicht erkannte, ob sie darüber lachen oder weinen mußte. So verschaffte ich mir diesen Dankesbrief, in dem er sie mit »Hochtrabende gnädige Frau!« anredete, und sich selbst »der Endesunterfertigte« nannte, ohne seinen Namen preiszugeben. –

Besonders wenn schlechte Laune oder Betrübnis Friedel plagten, kam ich mir ihm gegenüber schuldig vor und suchte dann gewöhnlich Streit, damit er auch in Schuld geriet. Mitleid befiel mich selten und immer nur dort, wo niemand es erwartete, auch ich nicht. Sonst haßte ich alle Menschen, die ihre Bedürftigkeit oder ihren Kummer an den Tag legten oder zur Schau trugen, und scheute weder Lüge noch Betrug, wenn es galt, einen eigenen Notstand zu verbergen. Meine Mutter wußte das; wenn Anni es wußte, prügelte ich sie. Ihr Herz hat ihr in dieser Zeit meines Lebens mehr Püffe eingetragen als ihre Untugenden.

Es ist wahr, ich bin nie zärtlich gegen sie gewesen, das kam daher, daß ich sie liebte. So hoch und wertbewahrend wirkte in mir meine Liebe, daß ich nicht glaubte, es könnte ein Mensch betrübt oder bedürftig sein, der sie besaß. Ich schenkte Anni nie etwas und hätte doch nichts nennen können, das ich ihr nicht gegeben hätte. Mein Leben? Sofort! Aber es bot sich keine rechte Gelegenheit dazu. Auch dafür bekam sie Prügel.

Friedel hatte hierfür kein Verständnis, trotzdem nahm ich seine Liebe an, nicht um sie zu besitzen oder zu benutzen, sondern weil ich ihn darüber als freier und glücklicher empfand. Später nannte er mich eines Tages falsch. Das muß sich der Stärkere gefallen lassen, und er tut es. War ich denn der Stärkere? Es gibt so viele Welten als Regionen des Seins, der Wirkung und des Erleidens, auch damals gab es sie schon. Endlich schließt jemand sie für uns Ratlose zu einem stillen Bild zusammen, ich lernte diesen Fremden durch Friedel Domdegen zum erstenmal kennen.

Es war Winter geworden, und die Freuden des Lebens begannen, wenn mich des Morgens in der Frühe der Schneegeruch an der Haustür empfing. Alles lag in weißlicher Dämmerung, hier und da auf der Straße brannten noch Laternen, und Anni, mit der ich ein Stück Schulweg gemeinsam hatte, trug einen Mantelkragen und eine Pelzkappe, so daß sie wie eine kleine Dame aussah. Das machte mich stolz.

Die Volksschüler warteten mit Schneebällen an den Straßenecken, und in der Pause begannen die Schlachten auf dem Schulhof. Die Obertertia wurde zu einer Horde von Verruchten, unsere Untertertianer waren Helden, die Quarta stand zu uns, die Quintaner, Verräter von Geburt und Abstammung her, hielten zur Obertertia. Zuweilen mischte sich die Untersekunda, in einzelnen noch jung gebliebenen Exemplaren ein, die einen Stoßtrupp führten, wenn die eingeschlossene, bedrängte Armee nicht mehr aus dem Hofwinkel herauskam und in Gefahr war, vernichtet zu werden. Die Greise der Prima schauten uns in Gruppen zu und lächelten die Lehrer verständnisvoll an, grau und scheußlich.

Ich hatte Friedel Domdegen darüber unterrichtet, wie man es anstellte, mitten aus dem Schlachtgetümmel heraus, einen Schneeball so zu werfen, daß er einen mißliebigen Lehrer traf, ein verirrtes Geschoß. Aber Friedel konnte nicht treffen, so lag diese Last allein auf mir. Es war sein Verhängnis, daß er alles ohne Geschicklichkeit versuchte und durchführte, sein stumpfer Tatendrang stand niemals in der Spannung eines fröhlichen Glaubens, und seine Bedächtigkeit trat ohne Vorsicht auf den Plan. So befand er sich immer zu seinem Nachteil an der Spitze und zu seinem Verdruß im Hintergrund. Die Mitte, in die er gehörte, verachtete er, und da ich selbst nichts so eifrig mied als jene Mitte, die sein Bereich war, verdrängte ich ihn aus seiner einzigen Sicherheit. Wenn ich jemals einen Menschen schuldlos auf dem Gewissen gehabt habe, so ist es Friedel Domdegen gewesen; ich bin auch schuldig an seinem Tod, aber nicht anders, als dein Lachen schuld am Kummer eines Menschen ist, der nicht fröhlich zu sein vermag.

Es wurde ein so strenger Winter, daß der Hafen zufror, was nicht oft vorkam. Wir machten auf Holzschlittschuhen mit niedrigen Eisenleisten rasche Ausflüge am Ufer entlang und oft weit auf das Gebiet des Kriegshafens hinaus, jedoch die große, wilde und schreckliche Freude dieser Tage bestand in etwas ganz anderem.

Um die Ein- und Ausfahrt der Schiffe zu ermöglichen, die das offene Meer oder den Handelshafen erreichen wollten, brach ein schwerer Dampfer oder ein Kriegsschiff in der Morgenfrühe das Eis auf, so daß eine breite Fahrrinne entstand. In dieser Wasserstraße schwammen, in größere und kleinere Eisinseln zerbrochen, die grauen Schollen der zerstörten Decke, und es galt unter uns Knaben aller Volksschichten als der vornehmste und kühnste Sport, über diese schwimmenden Schollen dahinspringend, von einem Eisufer zum anderen zu gelangen. Es war streng verboten, und die Hafenpolizei wachte mit Sorgfalt und grausamen Eingriffen, jedoch sie vermochte bei der Weite des Gebiets, und besonders in der Abenddämmerung, nicht zu hindern, daß die zu Taten Entschlossenen ihr tollkühnes und althergebrachtes Sportrecht ausübten.

Wir hatten uns mit langen Stangen ausgerüstet, die nicht auffielen und unsere Absichten nicht verrieten, da sie, mit Spitzhaken versehen, auch dem Antrieb der niedrigen Schlitten dienten, auf denen man, stehend, mit weitausholenden Stößen, dahinsauste. Diese Stangen brauchten wir beim Überqueren der Wasserstraße zum Heranziehen und Anordnen der Schollen, soweit dies möglich war, wie auch als letzte Rettung im Fall eines Abgleitens von einer Scholle, oder falls einmal eine Eisinsel sich als zu dünn oder schwach erwies, um zu tragen. Auch geschah es, daß eine Eisecke abbrach.

Die nicht große Schar der Helden, die hier mit unerhörter Kühnheit und knabenstolzer Todesverachtung voranging und vorbildlich wirkte, setzte sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammen, jeder Unterschied der Stände verwischte sich völlig, das Alter spielte keine Rolle mehr, und der Ruhm der Besten verbreitete sich in allen Knabenschulen. Man stand füreinander ein, schützte und half sich, lockte die Hafenpolizisten von den Verfolgten ab, und vergaß Schule, Gott und Vaterland über der süßen und grausigen Leidenschaft, immer dicht vor dem Tode her, zehn Meter drüben, wieder das Leben zu erhaschen.

Das schwarzgrüne, eiskalte Meerwasser schreckte das Auge nicht, die ausgewählte oder zurechtgerückte Inselstraße der Schollen zwang dämonisch lockend zum ersten Satz auf die erste Scholle. Ein Zurück gab es nicht mehr, denn die Eisstücke trugen nicht länger, als der rasche Aufschlag des flüchtigen Fußes brauchte, um Schwung für den nächsten Halt zu erlangen, und wehe, wenn ein Stückchen Eisboden sich als zu schwach erwies, als in der Entfernung falsch bemessen, oder wenn der Fuß ausglitt.

Friedel Domdegen wollte mitmachen. Mürrisch entschlossen und von Neid geplagt sah er uns, fiebernd vor Ehrgeiz, zu. Ich prüfte, wie ihm die plumpen Stiefel am Fuß saßen, stellte fest, daß er lange Hosen trug, wie ungelenk geborgen er in seinem Mantel dastand, und riet ihm ab. Hätte ich ihn aufgefordert mitzumachen, so wäre er zurückgewichen, aber nun entflammte sein karger, verbissener Stolz. Er blickte mich höhnisch an und lachte verächtlich.

Es war diesen Nachmittag schon ziemlich spät geworden, die meisten hatten sich davongemacht, und die verhangene Sonne schimmerte wintergelblich über den riesenhaften Dockbauten der Werft. Wir waren weit draußen, der kalte Ostwind wehte aus den Schieferfarben der Meerdämmerung, und man sah nur noch wenig Gestalten auf dem Eis, klein und schwarz, bewegt, als würden sie träge geschoben.

Friedel war glücklich hinübergelangt. Wir hatten ihm die Schollen zurechtgerückt, es war ihm einmal gelungen, aber jetzt mußte er zurück. Ich sah ihn am anderen Ufer stehen und rief ihm zu:

»Warte, ich komme hinüber. Wir gehen dann über Ellerbek, um das Horn herum, zu Fuß.«

Das waren zwei Stunden Wegs. Nein, er wollte nicht. Wir berieten noch eine Weile, von Eisufer zu Eisufer, über die beste Schollenstraße, aber meine Stange reichte nicht weit genug hinüber, um ihm drüben die Schollen zurechtzufügen, und er hatte keine. Jetzt bot sich ein deutlicher Zickzackweg, ich wies ihn ihm an, aber mir war plötzlich, als säße mir ein Stück Eis an der Stelle des Herzens in der Brust. Friedel war losgesprungen, jedoch zögernd, suchend, den Weg nicht im Auge, das Gelingen nicht im Körper, das sichere Eisufer vor sich nicht als Glauben im Blick.

Ich fühlte das alles, ohne es klar zu wissen, wie heute, aber ich empfand alles Kommende deutlicher, als mich heute noch ein Gefühl bei Gefahr aufklärt. Friedel kam bis über die Mitte, ich sehe noch heute den plumpen Tanz und die hilflos aufgeworfenen Arme. Dann öffnete sich ein schwarzgrüner breiter Spalt vor ihm, und ich erkannte, wie er zögerte. Zögern ist schon der halbe Tod, denn die Schollen tragen nicht.

»Rechts!« brüllte ich. Aber rechts und links waren für uns nicht dasselbe. Er sprang mit schlechter Körperdrehung auf eine viel zu kleine Scholle links, die sofort nachgab, so daß ich ihn für einen Augenblick mit einem zu kurzen Bein vor mir sah, noch aufrecht, aber schon ohne Kraft, sich erneut Schwung zu geben. Er erreichte noch das nächste große Eisstück, jedoch schon halb im Wasser, grauenhaft langsam und so, wie man todmüde eine zu hohe Stufe ersteigt. Die gewonnene Scholle neigte sich träge, hob sich aber an der anderen Seite nur wenig, da Friedels Fuß auf der kaum geschrägten Fläche abglitt.

Bis hierher ging meine Kraft, deutlich zu beobachten und klar zu unterscheiden, was geschah und wie es sich zutrug. Dann verwischten sich mir die Einzelheiten des Geschehnisses bis auf ein einziges letztes Bild. Friedel muß dicht an dem Eisufer abgesunken sein, an dem ich stand, es ist aber auch möglich, daß ich ihm auf eine große Scholle, die mich trug, entgegengesprungen bin, um ihm zu helfen. Ich muß zuletzt gelegen haben, flach gelegen, denn meine Arme, die ihn nicht mehr erreichten, befanden sich im Wasser, und mein Kinn stützte sich auf das Eis.

Ich erblickte Friedel unter mir in sanften, langsamen, großen Bewegungen im dämmerigen Wasserlicht, ganz vertiert von Hilflosigkeit. Vielleicht sah er meinen Kopf noch über sich, aber ich glaube nicht, obgleich seine Augen weit, weit geöffnet waren, dann auch der Mund, wie ein stumm schreiendes Loch. Hierauf verwischte sich das Ganze, als würde es in grünlichem Glas aufgelöst.

Als ich mich taumelnd und durchnäßt erhob, fand ich mich allein auf der leeren Eisfläche, die anderen waren davongerannt, vielleicht um Hilfe zu holen, die immer zu spät gekommen wäre. Friedel wurde nie mehr gefunden.

Ich lief dann auch, von der Kälte gejagt, weshalb und wohin berührte mein Bewußtsein nicht. Nur eines weiß ich noch, daß ich später, schon am Ufer, bei der Barbarossabrücke haltmachte, das Schloß vor mir, und weiter fern, im westlichen Grau des Winterhimmels, den bleifarbenen Schattenriß der Stadt. Ich sah dies längstgewohnte Bild, als erblickte ich es zum erstenmal und zugleich gewissermaßen im Leid und Zauber eines denkwürdigen Abschieds. Wie war mir denn? Eine neue Zuständigkeit aller Dinge brach an, es schaukelte mich sanft und bedeutend eine erhabene Ahnung, als wäre die Beständigkeit der Dinge nur ein Traum.

Ich war nicht mehr allein. Es begleitete mich einer von jetzt ab und für immer, anfänglich ungewiß und ohne Drohung. Heute schaut er über meinen Stift und lächelt deutbar.


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