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Erstes Kapitel.
Anton und die Goldfische

Meine Schwester Anni spielte im Nebenraum Klavier, es war in der Adventszeit. Ich machte im Eßzimmer, nach Meinung meiner lieben Mutter, meine Schulaufgaben, und Winnetou, der große Häuptling der Apachen, hielt jedesmal in seinem Kampf mit einem lasterhaften Gegner inne, wenn Anni bis »O Tan...« gekommen war. Ich drückte gegen den Tisch und nickte aufmunternd oder zustimmend, dann endlich kam: »...nebaum.« Bis die Blätter dieses Baumes späterhin als grün gepriesen wurden, konnte ich ohne Störung ein gutes Stück weiterlesen, ein feindlicher Häuptling erlag und wurde skalpiert. Das Talent meiner Schwester, das schon jetzt deutlich hervortrat, kam erst später zu seiner vollen Entfaltung. Wenn sie mit Veronika Meise vierhändig spielte, wurde sie jedesmal zuerst fertig. Als sie sich verlobte, setzte es wieder aus.

Damals war sie elf oder zwölf Jahre alt, es kann aber auch sein, daß sie erst zehn Jahre alt war, wie ich denn heute, wo ich mich gesammelten Geistes mit Erinnerungen an meine Kindheit beschäftige, zu meinem Kummer feststellen muß, daß ich sie keinesfalls in der zeitlich richtigen Reihenfolge zu ordnen vermag. Die Bilder und Gestalten dieser Jahre werden mir nicht im rechten Zusammenhang mit dem eigenen Wachstum und der eigenen Entwicklung deutlich, sondern sie stehen wie ein Blumenstrauß vor mir, von dem niemand mehr zu sagen vermag, wo die einzelnen Blüten auf Wiesen und an Waldrändern gestanden haben und welche er zuerst gefunden hat.

So ist es gut. Unser Erinnerungsvermögen kümmert sich selten darum, welche Erlebnisse nach unserer Meinung oder nach der unserer Eltern oder Erzieher von Bedeutung für unsere Entwicklung gewesen sind, sondern es unterliegt ganz anderen, heimlichen Gesetzen von Entstehung, Verbleib und Aufbau der Erfahrung. Unser Unterscheidungsvermögen und unsere Einsicht stehen noch nicht im Einklang mit unserer Empfindungskraft, und was diese aufnimmt, verwerfen jene, oder umgekehrt.

Die neue Generation ist der Meinung, daß sie freier lebt als die alte, das ist ein Irrtum. Wir bekamen unsere Prügel von den Eltern, die Jungen beziehen sie direkt vom Leben, das ist der ganze Unterschied. Echte und starke Naturen verschaffen sich zu jeder Zeit die Freiheit, die sie zu ihrer Entwicklung brauchen, diese Freiheit tritt verschieden in die Erscheinung, aber niemals die echte Natur, es sei denn in den Augen derer, die weder echte Natur noch echte Freiheit kennen.

Aus meiner frühesten Kindheit habe ich nur Ereignisse von solcher Geringfügigkeit und Nichtigkeit im Gedächtnis, daß es sich nicht lohnen würde, sie niederzuschreiben, da nur die Atmosphäre ihres Daseins entscheidende Wesenhaftigkeit besitzt und die Tatsachen, ähnlich wie bei Träumen, selten ohne diese Atmosphäre Anteil zu erwecken vermögen. Manches Ereignis, das ich mit Bestimmtheit in mein neuntes oder zehntes Jahr verlegte, erwies sich später durch die Begleiterscheinungen und Berichte meiner Eltern als ein Geschehnis aus meinem sechsten oder siebenten Lebensjahr.

Jedenfalls entsinne ich mich deutlich, daß die Lektüre an jenem Nachmittag, die von Annis musikalischen Übungen begleitet wurde, in mir den Hang nach gefüllter Tafelschokolade auslöste, so daß ich zu unsrer Marie, die Hausmädchen und Köchin in einem war, in die Küche ging, um zehn Pfennige für ein Schreibheft anzufordern. Sie gab es mit Gebrumm und Güte. Das große Küchenfenster führte auf den Hof hinaus, es war sauber und still in der nachmittäglichen Küche und Sonnenlicht im Raum. Der Geruch von Speisetöpfen, feuchtem Tischholz und Maries Seife tat mir wohl, diese Atmosphäre verbreitete Wohlstand und Heimlichkeit, ein Gefühl von letzter Zuflucht. Auch war bald Weihnachten.

Meine guten Eltern wollten dieses Weihnachtsfest bei ihren dänischen Verwandten verbringen, wir Kinder waren für diese weite Reise im Winter zu jung, so hieß es. Wie will ein Junge die Weisheit der elterlichen Verfügungen auf ihren Gehalt und ihre Wahrheit hin ergründen? Es war gut so. Anni begrüßte diese Nachricht mit einem bübischen Zwinkern, das ich sofort verstand: sie wurde sich darüber klar, daß wir mithin durch den Raum einer Ferienzeit von acht Tagen einander selbst überlassen blieben. Dies erleichterte den Abschied.

Meine Mutter überdachte unseren schlecht verhüllten Frohsinn bei der Trennung mit einer leichten Sorgenfalte, mein Vater nannte uns tapfer, was ich mir als Urteil über meinen Charakter zu eigen machte. Ich lobte zum erstenmal heimlich eine Welt der Auffassung, in der mir erlaubt war, der Freiheitlichkeit zur Untugend einen wertvollen Namen zu geben, der stärkte.

Wir sollten den Christabend bei Tante Eukarestie verbringen, sie kam selbst und sagte es:

»Es ist ein heiliges Fest, ihr Kinder, wahrscheinlich überhaupt das heiligste – es sind wieder Mäuse in meiner Wohnung, nicht viele, aber eine ziemlich große Sorte, graue ...«

»Ich werde sie fangen, Tante.«

»Um Weihnachten? Weihnachten ist ein Fest des Friedens, vielleicht das heiligste.«

»Wir töten sie erst am sechsundzwanzigsten, Tante.«

Meine Tante trug eine Pelerine, die ihr Glockenform verlieh, ihr Hut wies eine Straußenfeder auf, die ererbt war und sich mit den Jahren aufgerichtet hatte, weil ihre langen Härchen verlorengegangen waren. Sie sah jetzt wie eine Reiherfeder aus und galt dafür. Die derben Stiefeletten der Tante legten Zeugnis von einem graden Sinn und der moralischen Festigkeit ihres Charakters ab. Alles, was sie trug, war nicht besonders elegant, jedoch wäre es falsch gewesen, daraus zu schließen, daß sie etwa in beschränkten Verhältnissen gelebt hätte, im Gegenteil, sie hatte eine auskömmliche Rente und schöne Möbel, weil sie niemals verheiratet gewesen war.

Was dies Gebiet betraf, so erinnere ich mich aus der Zeit, in der sie noch auf dem Lande lebte, eines Vorfalls, der mir damals viel zu denken gab. Sie sagte ihrem alten Hauswart und Gärtner, daß sie Hühner halten wollte, nicht allein der Eier wegen, sondern weil sie sich einsam fühlte. Er legte einen Stall an und beschaffte ihr sechs ausgezeichnete Hennen im besten Lebensalter und einen Hahn. Meine Tante betrachtete das Treiben der Tiere sorgenvoll. Endlich rief sie den Alten:

»So geht das nicht. Ich habe Beobachtungen angestellt, über die ich mich nicht in Einzelheiten auslassen werde. Ich werde es nicht tun! Aber es müssen sofort noch fünf Hähne angeschafft werden. Jede Henne erhält ihren Gatten.«

Der Alte erstarrte.

»Aber gnädiges Fräulein ...«, begann er.

»Nichts Fräulein! Am wenigsten jetzt! Wo haben Sie um alles in der Welt diesen Hahn her?«

»Aus Eutin«, sagte der Alte, ohne noch Hoffnung zu zeigen.

»Nehmen Sie einen aus Neumünster, oder besser gleich vom Lande, wählen Sie einen abgelegenen stilleren Ort, irgendein Dorf an der Küste.«

»Es wird immer das gleiche sein, gnädiges Fräulein«, sagte der Alte, »es liegt so in der Natur dieser Geschöpfe. Gehen Sie auf Bauernhöfe ...«

»Ich werde nicht auf Bauernhöfe gehen. Was soll ich auf Bauernhöfen? Wie ist es mit Tauben?«

»Ähnlich.«

»So nehme ich Goldfische.«

Tante Eukaresties Goldfische, die sie später mit in die Stadt nahm, erregten meine Teilnahme, weil sie behauptete, sie könnte sie voneinander unterscheiden und die Tierchen liebten sie.

»Gehe ich in die Nähe des Aquariums«, sagte sie und lächelte großmütig, »so kommen sie herbei.«

Was hieß das »herbei«? Was sollten sie in diesem engen, runden Bassin, in dem sie gedankenlos kreisten, und das durchaus kein Aquarium war, anderes tun als »herbeikommen«? Behauptet jemand, einer besonderen Tierliebe teilhaftig geworden zu sein, so regt sich, namentlich bei der Jugend, Widerspruch, der Ehrgeiz erwacht, der Hang zum Rangstreit, die Sorge, übersehen oder unterschätzt zu werden.

Meine Schwester Anni wußte Rat:

»Gib ihnen Kognak«, sagte sie, »Tante Eukarestie ist in der Stadt und schaut Läden an. Kaufen wird sie doch nichts. Sie erzählt nur, was es gibt.«

Ich holte das Getränk aus dem Eckschrank und gab den Tieren. Sofort begannen sie zu wirbeln. Wer in jungen Jahren einen Goldfisch wirbeln gesehen hat, wird meine Freude nachfühlen können. Einer der Fische, wahrscheinlich das Weibchen, senkte sich nach einer Weile und landete mit schwerer Schlagseite auf dem Grund des Bassins. Der andere suchte sein Heil an der Oberfläche, so daß ich Gelegenheit fand, ihn noch einmal zu tränken. Er nahm einen Anlauf, ähnlich wie ein Delphin, und schnellte sich aus der Flut empor. Sein Zustand erlaubte ihm nicht, die Tragweite seiner Bewegung richtig zu ermessen, denn er landete auf dem Teppich und schlief ein.

Anni, in einiger Entfernung von dem Fisch, sagte:

»Er ist betrunken. So eine Schande.«

Als ich neues Wasser herbeigeschafft hatte, erholten sich beide Tiere langsam wieder, nachdem sie noch eine Weile, ziemlich schräg, auf der Oberfläche gekreist hatten. Der Goldfisch ist sehr zäh.

Da wir sicher waren, daß die Tiere nichts verraten konnten, erwarteten wir die Rückkehr der Tante mit Unschuld und freuten uns auf das herannahende Fest. Es wäre auch alles gut vonstatten gegangen, wenn Tante Eukaresties Kanarienvogel nicht gewesen wäre. Es war ein Harzer Roller, er hieß Anton und konnte nur im Liegen singen. Meine Tante, die sehr tierliebend war, hatte mir untersagt, die Mäuse, die sich bei ihr zeigten, in der Adventszeit zu verfolgen oder zu fangen, sie dachte eher an die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Nur die Löcher durfte ich verstopfen und im Efeu rascheln, an dem die Mäuse nach ihrer Meinung in ihre Wohnung emporstiegen, wenn es dunkel war.

Ich wollte nicht rascheln. Zudem war die Falle auf ihre erste Anregung hin von mir erbaut worden, eine kunstvolle Artmischung von Guillotine und Schlagbaum, mit einer Fischbeinfeder aus dem Korsett der Köchin, einer Drahtschlinge und einem Speckköder.

Meine Schwester sah die Falle an und sagte:

»Aus dir wird etwas. Ich glaube an dich.«

Sie war selten zärtlich, hielt aber etwas von mir, deshalb liebte ich sie mehr als Tante Eukarestie, bei der es umgekehrt war.

Wir wollten die Falle erproben und wählten Anton.

Anni, die für gewöhnlich mutig war, wenn ich etwas ausführen sollte, zögerte diesmal; damals war ihr Herz noch weicher und besser als meins:

»Wenn etwas mit dem Tier passiert«, meinte sie, »bekommen wir von Tante Eukarestie nichts zu Weihnachten.«

»Was die Eltern zurückgelassen haben, muß sie geben, und der Christbaum steht schon im Keller.«

Das entschied über Antons Schicksal.

Er sah mich mißtrauisch an, als ich die kleine Gittertür öffnete, piepte zweimal und rückte auf der Stange an das entgegengesetzte Gitter heran. Ich zögerte, als er zu flattern begann, war aber zur Tat entschlossen, weil ich ihn nicht leiden konnte und weil die Falle ausprobiert werden mußte. Es lag sicher an Tante Eukaresties Neigung für diesen Harzer Roller. Sie überschätzte seine Eigenschaften und behauptete, daß er an ihr hinge. Man soll solche Dinge nicht in einem Tonfall vorbringen, der von vornherein jeden Widerspruch ausschaltet.

Ich schob den Vogel in die Falle, und Anni schrie mitleidig auf und setzte sie in Betrieb. Es ist erstaunlich, wie präzise und knapp der kleine Apparat arbeitete; man muß bedenken, daß ich noch sehr jung war und auf diesem Gebiet keine Vorbildung genossen hatte.

Anton hockte tot in dieser Falle, und als ich ihn triumphierend befreien wollte, ging die Haustür. Wir lauschten völlig benommen, wie Tante Eukarestie den Schnee von ihren Stiefeletten stampfte. Ich sehe noch heute, wie Anton, ähnlich wie eine Gans, in der Schlinge hing. Sein Hals war länger, als ich es jemals bei einem Harzer Roller beobachtet habe.


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