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Ein Kreisschulrath.

In Waldhofen ist eine alte katholische Sitte am Leben geblieben, »das Verscheidläuten« an Freitagen.

Was ist das Verscheidläuten?

Die Frage ist natürlich. Seit die Kirche polizeilich gehetzt, bureaukratisch eingedämmt und durch staatliche Oberhoheit gezwungen wird, sich modisch zu betragen, werden die segensreichen Einflüsse dieser göttlichen Macht immer weniger. Das Angelusläuten besteht zwar noch, bis es der Kammerherrschaft gefällt, zur Schonung der Glocken es abzuschaffen. Dreimal des Tages erinnert der Angelus an die Menschwerdung Gottes, an die Würde des Christen und an die Bestimmung des Menschen. Aber das Verscheidläuten an Freitagen erinnert nur noch vereinzelt an die blutige und schauervolle Thatsache auf Golgatha, an den Tod des Erlösers.

Läuten in Waldhofen die Freitagsglocken Verscheidung, dann bleibt kein Herz unbewegt, kein Hut auf dem Kopf, und jede Hand schlägt andächtig das Kreuz. Die Pflüge auf den Feldern gehen nicht weiter, das Geklapper der Windmühlen schweigt, die Taktschläge der Dreschflegel verstummen, sämmtliche Spinnräder schnurren nicht fort, Alles feiert und betet:

»Unser Heiland hängt am Kreuz
Mit angespannten Armen,
Mit verschränkten Füßen,
Will all' unsere Sünden abbüßen.«

Drei Vaterunser schließen die Andacht. Aber die Einbildungskraft arbeitet bei sinnenden Gemüthern fort. Unter Glockenschall treten sie auf den Kalvarienberg, betrachten den angenagelten Herrn, die schmerzvolle Mutter, die weinenden Frauen, die höhnenden Juden, die blutigen Kriegsknechte, den ganzen Verlauf der Kreuzigung. Viele behaupten sogar, die Glocken klängen ganz eigen beim Verscheidläuten, nicht freudig, wie zur Hochzeit, oder feierlich, wie zum Hochamt, oder traurig, wie beim Begräbniß, sondern Mark und Bein erschütternd; denn sie läuten das Verscheiden des Herrn. Und die empfindsamen Kenner der Glockenstimmen hören noch ganz andere Dinge. Sie vernehmen die Worte vom Kreuze gesprochen, vorzüglich die letzten: »Es ist vollbracht! Vater, in Deine Hände empfehle ich meinen Geist!« Dann hören sie die Felsen krachend zerspringen und fühlen die Erde wanken. Sie sehen die Sonne bluthroth und glanzlos am Himmel, und in hereinbrechender Finsterniß die Gräber geöffnet, aus denen luftige Gestalten aufsteigen. Sie hören den erschütterten Hauptmann in die Schrecken der bebenden Natur hereinsprechen: »Wahrhaftig, Dieser war Gottes Sohn!« Und dann wieder das dorngekrönte Haupt auf die Brust herabgesunken, den Leib blutüberronnen, die Glieder straff angespannt, die Wunden weitklaffend. Sie sehen die Mutter von Schmerz zerrissen, die Frauen händeringend, und auch ihnen treibt die lebhafte Betrachtung Thränen aus den Augen.

So greift das Verscheidläuten tief hinein in die gläubige Seele und Keiner, selbst der Härteste, entzieht sich ganz den Eindrücken. Darum ist Allen das Verscheidläuten heilig und ehrwürdig. – So weiß die katholische Kirche den Menschen zu packen, ihn zu überraschen im Alltäglichen, ihn über die Zeitlichkeit hinauszuheben und an jenen Punkt zu stellen, um den sich die Geschichte der ganzen Menschheit dreht: – an den Fuß des Kreuzes.

Vor dem Ochsen hielt ein Chaise. Eine Hand griff von Innen nach dem Schlage und öffnete. Heraus stieg ein ernst blickender Herr, hochgewachsen, hager, elegant gekleidet, von dem Ochsenwirth unter Bücklingen empfangen.

»Wohnt in der Nähe der Bürgermeister?«

»Ja, – dort in jenem Haus mit den grünen Läden.«

Der Fremde griff leicht an den seidenen Cylinder und ging nach dem bezeichneten Hause, unter neugierigem Augengeleite des Wirthes. Der Kutscher löste die Zugstränge, der Gasthausbesitzer leistete Beistand.

»Sie kommen aus der Stadt?«

»Jawohl!«

»Schöne Pferde, – ein vornehmer Herr, – gewiß ein Kreisoberamtmann?«

»Doch nicht, – aber Kreisschulrath, Mayer Hirsch.«

»Ah, – ah!« machte der Wirth gedehnt, und vor die Augen des Rothen trat unverweilt der Schulstreit und sein ganzes Gefolge.

Mayer Hirsch, der Kreisschulrath, ein geborener Jude, führte die Oberaufsicht über sämmtliche Schulen aller Confessionen des ganzen Kreises. Da Herr Mayer Hirsch religiöse Bekenntnisse zu den überwundenen Standpunkten zählte, und den Glauben mit den Fortschritten der Bildung nicht vereinbaren konnte, so betrachtete er religiöse Stoffe in den Schulen als nothwendige Uebel, die zwar noch zu dulden, aber möglichst zu beschränken seien. Für die Schöpfung des unsterblichen Herrn Knies hatte er ein klares Verständniß. In weiterer Entwickelung sah er das Schulwesen gänzlich befreit von abergläubischen Einflüssen, die Menschen losgeschält vom Joche des Gekreuzigten. Schlug zuweilen in des Neujuden innerster Herzenskammer helles Lachen auf über die hinsinkende christliche Bildung, so klang dieses Lachen merkwürdig zusammen mit dem Hohne seiner Ahnen unter dem Kreuze Bekanntlich ist nach dem badischen Schulgesetz das Amt der Kreisschulräthe an keine Confession gebunden..

Der Kreisschulrath hatte sich dem Bürgermeister vorgestellt und auf Herrn Knapper einen erhebenden Eindruck gemacht.

»So isch's recht, daß Sie zu uns kommen, Herr Kreisschulrath! Setzen Sie sich. – Greth, – Greth, hol' en Schoppe!« rief er durch die Thüre.

»Danke, – danke schön, Herr Bürgermeister! Später dürfte ich von Ihrer Gastfreundschaft Gebrauch machen. – Vorerst möchte ich Sie über Einiges befragen und dann die Schulen visitiren.«

»Ja, – aber es isch schon halb neun, und um neun Uhr geht die Schul' aus.«

»Ich bitte, lassen Sie den Lehrern sagen, sie möchten die Kinder ausnahmsweise auf heute Nachmittag zwei Uhr bestellen. Auch den Ortsschulrath wollen Sie zu dieser Visitation zusammenrufen lassen.«

Knapper eilte dienstfertig hinaus. Der Jude warf prüfende Blicke durch das Zimmer und ärgerte sich über die religiösen Bilder an den Wänden. Diese hingen so sicher und sorglos, als gäbe es keine neue Aera in Baden; denn sie standen unter dem Schutze der Frau Knapper, einer entschiedenen Dame, welche nur eine Herrschaft duldete im Hause, nämlich die ihrige.

»Wie geht es hier?« frug Mayer Hirsch den zurückkehrenden Bürgermeister. »Findet die Schulreform keinen Wiederstand?«

»Ganz gut geht's jetzt, Herr Kreisschulrath! Die Schwarzen ducken sich, seitdem der Schröterfritz gescheidt worden isch und nachläßt.«

Der Beamte forderte eine Erklärung des Undeutlichen. Knapper gab sie weitläufig, nicht ohne kräftige Hervorhebung persönlicher Verdienste.

»Aber beinah' hätten wir umgeworfen! Hätt' der Schröterfritz so fortgemacht und die Schwarzen aufgehetzt, dann wär's schlimm worden. Jetzt aber sind wir Herr. Die Schwarzen mucksen sich nimmer. Sie kommen so nach und nach zu uns herüber und haben gegen das neue Schulgesetz nix mehr einzuwenden.«

»Sehr löblich! Jedenfalls trugen Ihre Bemühungen zur gedeihlichen Entwickelung Vieles bei, Herr Bürgermeister!«

»Da haben Sie recht! So ein Borjemeetschter steht viel aus. Aber wissen Sie,« fuhr er schlau blinzelnd fort, »man muß nur gescheidt sein, nit nachlassen, gute Worte geben, tüchtig ausholen, – dann geht's. Es isch ungefähr gerad', wie mit einem geladenen Wagen, der im Dreck stecken bleibt. Die Gäul' wollen nimmer anziehen. Man gibt zuerst gute Worte. Nutzt das nix, dann kommen die Donnerwetter. Hilft auch das nix, dann kömmt die Peitsch'. Jetzt geht's. So isch's mit dem Wagen, auf dem das neue Schulgesetz in die Gemeind' isch gefahren worden. Aber ich sag' Ihnen, keine guten Worte, keine Donnerwetter und keine Peitschenhiebe hätten geholfen, wär' nit der Schröterfritz gescheidt worden. Hätt' der so fortgemacht, Revolution hätt's abgesetzt hier gegen das Schulgesetz.«

»Wie verhält sich die Geistlichkeit?«

»So ziemlich! Unser alter Pfarrer isch ein guter Mann von jeher, läßt Sieben g'rad sein. Aber der Cooperator wollt' anfangs Alles durcheinander machen. Da hab' ich ihn tüchtig gezwiebelt, ihm gehörig den Kopf gewaschen. Jetzt thut er gut. Ich glaub' aber nit, daß wir ihn lang' behalten; denn bekehrt isch er nit, der Cooperator, man hört's an seinen Predigten. Weil er aber sieht, daß er nix ausrichtet, d'rum frißt er den Zorn in sich hinein, und der Zorn wird ihn bald umbringen.«

»Und die Lehrer?«

»Der Stephan isch ein tüchtiger Mann, nur etwas oben d'raus. Aber ich bin Borjemeeschter und Präsident und werd' fertig mit ihm. Der Jester isch ein alter Esel, tappt auf dem alten Weg fort, thut aber doch, was man ihn heißt.«

Nach genauer Erforschung der Ortsverhältnisse erhob sich der Beamte.

»Ja, – aber, – Herr Kreisschulrath, Sie werden doch bei uns zu Mittag essen? Dampfnudeln gibt's zwar heut', weil Freitag isch, – aber meine Frau versteht's.«

»Danke sehr, – habe bei Herrn Blendung bereits zugesagt. – Also, mein lieber Herr Bürgermeister, auf Wiedersehen um zwei Uhr in der Schule.«

Mit erstaunlicher Schnelligkeit war die Kunde vom Kreisschulrath durch den Ort gelaufen. Die Bauern dachten sich unter »Kreisschulrath« ein Collegium hoher Beamten, zahlreicher und glänzender, als das Collegium des Ortsschulrathes. Nun staunten sie, den ganzen Kreisschulrath in einer Person vereinigt zu sehen. Von der Macht dieses Einen empfingen sie wunderbare Begriffe, zumal schon der Präsident des Ortsschulrathes einen so starken Arm besaß, daß er dem Herrchen eine gesetzliche Ohrfeige nach der andern geben, und die Schule gründlich reformiren durfte.

Als nun Herr Mayer Hirsch durch das Dorf nach der Villa wandelte, grüßten ihn die Rothen mit stolzem Frohlocken, die Schwarzen mit scheuer Ehrerbietung. Nur Christoph Mühsam, ein Fahnenträger der Schwarzen, machte von allgemeiner Scheu eine furchtlose Ausnahme. Mit verschränkten Armen stand er vor seinem Hofthore und erwartete den angemeldeten Kreisschulrath. Die Straße hinabsehend, erkannte er an dem Verhalten der Leute, daß der Gewaltige nahe. Christoph Mühsam stellte sich fester, spreizte die Beine auseinander und schob den Hut etwas über die Stirne zurück. Endlich tauchte der Ersehnte auf, und Mühsam heftete fest seine Augen an die elegante Erscheinung. Je näher der Kreisschulrath kam, desto größer wurden Christophs Augen, und allgemach zogen die Linien der Verwunderung über sein Gesicht. Die Musterung war streng! Herr Mayer Hirsch wurde niemals in seinem Leben schärfer betrachtet, und niemals erregte sein orientalischer Typus solches Erstaunen. Bis auf wenige Schritte war er dem Schwarzen nahe gekommen. Plötzlich fuhren die verschränkten Arme Mühsams heftig auseinander, der Hut wurde ebenso heftig nach dem Nacken gestoßen und ruhig dort sitzen gelassen, als die Größe vorüberschritt. Der Schwarze aber brummte zornig: »Himmel – Herrgott, das ist ja ein Jud'! Ein Jud' Herr und Meister in christlichen Schulen? Das wird schön!«

Der entrüstete Mann verschwand und warf die Hofthüre heftig in das Schloß.

Die Ortsschulräthe versammelten sich. Unter diesen Mohr, der Thätigste aller Rothen, ein Mensch mit tückischen Blicken und frechen Manieren. Er gehörte zum runden Tische der Herrenstube, hatte den Renan und Eugen Sue gelesen, und deßhalb Berechtigung im Kreise der Gebildeten. In dieser Eigenschaft führte er in Wirthshäusern das große Wort, schimpfte kräftig gegen Volksverdummung, gegen Pfaffenregiment und handhabte die saftigsten Schlagwörter meisterhaft.

Nach ein Uhr verließ der Ortsschulrath das Gemeindehaus und ging, in Feiertagskleidern prangend, nach dem Schulhause, vor dem er auf der Straße einen Kreis bildete. Andere Rothen traten hinzu, der Kreis wurde immer größer, jedoch nicht laut und schreiend, in Erwartung des Hochgestellten. Endlich kam der Jude. Der Kreis öffnete sich, Knapper trat grüßend entgegen und stellte dem Kreisschulrathe sämmtliche Ortsschulräthe vor. Sodann verschwanden die Mächtigen vor den Augen vieler Zuschauer unter dem Eingange des Schulhauses.

Herr Mayer Hirsch besuchte zuerst die obere Schule. Dem Lehrer wurden Lobsprüche und aus dem Munde des Kreisbeamten wiederholt die bedeutsamen Worte vernommen:

»Man sieht auch hier einen Anfang zum Besseren. Die Volksschule wird allmälig jene Stellung einnehmen, die ihr gebührt und jene Leistungen erfüllen, die man im Zeitalter geistigen Fortschrittes und humaner Bildung an sie stellen muß. Wenn die Herren Ortsschulräthe, die Lehrer, nebst allen Einsichtsvollen der Gemeinde zusammen wirken, läßt sich das hohe Ziel im Sturmschritt erreichen.«

Noch sprach Mayer Hirsch. Die Kirchenuhr schlug drei, und mit dem letzten Schlage begannen alle Glocken zu läuten. Der erste Knabe erhob sich rasch, und mit ihm die ganze Schule, zum höchsten Erstaunen des redenden Kreisschulrathes.

»Es läutet Verscheidung,« rief der Knabe.

»Unser Heiland hängt am Kreuz
Mit ausgespannten Armen,
Mit verschränkten Füßen,
Will all' unsere Sünden abbüßen.«

Dabei sahen alle Kinder nach der Stelle an der Wand, wo das Kreuz gehangen, aber von Knapper entfernt worden war.

Hirsch ertrug anfänglich mit Ergebung die ungezogene Unterbrechung seiner Rede. Als jedoch der Knabe das zweite Vaterunser begann, legte der Jude Verwahrung ein.

»Herr Lehrer, was ist denn das? Was hat diese Comödie zu bedeuten?«

Stephan erklärte in gewählter, phrasenreicher Sprache Sinn und Bedeutung des Geläutes. Der Jude schüttelte mißvergnügt den Kopf.

»Das muß aufhören in der Schule,« gebot er. »Diese Unterbrechung an jedem Freitage kann nur höchst nachtheilig auf den Unterricht wirken. Auch das Läuten, hart neben der Schule, ist störend. Ich werde die nöthigen Schritte thun. Vorläufig, Herr Bürgermeister, überwachen Sie die genaue Beachtung meines Verbotes. In keiner Schule darf der Unterricht durch Gebet unterbrochen werden, – mag nun das Gebet einen bedeutungslosen, oder wirklich einen vernünftigen Sinn haben.«

»Ich will's schon besorgen, Herr Kreisschulrath! Dafür bin ich Präsident und Borjemeeschter.«


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