Helene Böhlau
Kristine
Helene Böhlau

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Zweiter Gesang
Sulamiths Inniggeliebter

                    »Wer ist es, der herabsteigt von den Höhen
Und eilt über die zerklüfteten Berge,
Der Gazelle gleich springend,
Und wie ein Hirsch setzt
Über Felsenklüfte?«
*
Sulamith:
  Siehe, es ist der Geliebte!
Ach, unter Tausenden einer!
Wie die Zypresse sein Wuchs,
Dunkelgelockt sein Haupt
Und seiner Augen Blicke voll Feuer.
Herrlich ist alles an ihm!
Bildnerwerk von reinem Golde!
Das ist mein Lieber!
Das ist mein Teurer!

  Erwache, o Nord, erhebe dich, Süd!
Auf, durchwehet meinen Garten,
Daß mit Wohlgerüchen sich fülle
Und daß Balsam atme die Luft!
Daß den Geliebten umfließe
Ein Meer von würzigem Dufte! 278
Das ist mein Lieber,
Das ist mein Teurer!
Schon naht er meinem Zelte
Und steht an meiner Hütten,
Er beginnt und redet zu mir!

 
Der Hirt:
  Auf, du meine Liebe, du meine Schöne, und komm!
Sieh, der Winter ist vorüber,
Hingegangen ist der Regen, ist dahin.
Blumen sprossen aus der Erde,
Volle Blütenknospen brechen,
Und es naht die Zeit der Lieder.
Schon erweicht die Feige ihre Früchte,
Und die Reben hauchen Blütendüfte,
Turteltauben girren auf den Feldern.
Auf, du meine Liebe, du meine Schöne, und komm!
Sieh, es naht die Zeit der Liebe:
Laß dein Antlitz mich schauen,
Laß deine Stimme mich hören,
Süß ist dein Laut und köstlich deine Wohlgestalt!
 
Sulamith:
  Mein bist du, Geliebter, bist mein!
Wie die Zypresse ragt über dem Gipfel,
Also ragst du über die Brüder,
Und alles ist herrlich an dir –
Ich selbst bin nur eine Lilie
Zu deinen Füßen im Tal.
 
Der Hirt:
  Wie unter Dornenbüschen die Rose,
So meine Teure unter den Mädchen! 279
Du hast, o Traute, mich ins Herz getroffen
Mit den Blicken deiner Taubenaugen,
Mit den dunkeln Purpurlocken.
Wie entzückt, o Braut, mich deine Liebe,
Sie erhebt mich zu Jehovas Eden!
Deine Augen – Taubenaugen
Unter dichtem Lockengeringel;
Deine Lippen wie Korallenbecher,
Der von Honig reichlich überfließt.
Deine Wangen sind ein Paradies,
Wo Granaten unter Edelfrüchten,
Wo bei Aloen die Myrrhe blüht,
Bei der Myrrhe jeder Hochgeruch.
Und die Gewande umwehen dich,
Und die Locken umfließen dich,
Wie die Bäche klare Quellen
Hoch vom Libanon ergießen.
Wahrlich schön bist du wie die Rose,
Und alles ist Reiz an dir!
Auf, du meine Liebe, du meine Schöne, und komm!
Dort sind Zedern unseres Hauses Decke,
Und die Säulen unserer Hütte sind Zypressen,
Duftige Blumen unser Lager . . .
 
Sulamith:
  Zur Abendstunde –
Wenn der Tag sich neigt
Und die Schatten herab sich senken –
Dort, wo die Blumen sprossen im Tal,
Im Lenzesschmuck die Granate prangt,
Wo Myrrhenbüsche Düfte ergießen . . . .
Leg' deine Linke mir unter das Haupt
Und deine Rechte umfasse mich. 280
 
Der Hirt:
  Zu mir, zu mir! du meine Schwester, du meine Braut!
 
Sulamith:
  Auf, mein Geliebter, und flieh!
Es ertönt in der Ferne!
Eine Schar zieht heran!
Auf, Geliebter, und flieh!
Flieh wie ein Hirsch über die Berge
Und wie die Gazelle im duftenden Tal!
*
            Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems,
          Bei den Blumen und den Hindinnen unserer Fluren,
          Wenn ihr ihn schaut – den Inniggeliebten,
          Sagt ihm, wie glücklich ich sei. 281

 


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