Helene Böhlau
Kristine
Helene Böhlau

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Erstes Kapitel

Nach einem milden Vorfrühling, der schon alle Knospen und Keime berührt hatte, daß sie feucht in jenem lebendigen rötlichen Braun schimmerten, war ein harter Nachwinter hereingebrochen. Der Märzenwind, der schon so lind gewesen, daß er in kleinen Blumenhäuptchen gespielt, daß er den zarten, weichen Veilchenduft von den Hecken hergeweht hatte, war umgeschlagen, und die Härte und Schärfe, die auch versteckt in seinem wärmsten Hauche liegt, hatte die Oberhand gewonnen und Regen- und Schneewolken vor sich hergetrieben.

Auf die ungeduldigen Keime, die die Knospen sprengen wollten, war Schnee gefallen, und ihr Eifer wurde abgekühlt; die Veilchen, die sich unter der kalten Decke zusammenduckten, hatten ihren Duft verloren. Die Stare pfiffen kläglich auf höchsten Baumgipfeln ihr Abendlied im Schnee – und dem ersehnten Frühling war ein kurzer Einhalt getan.

Auf einen Waldweg, der unter jungen Buchen hinführte, war in glitzernden Kristallen der hartkrustige Schnee gefallen, der sich wie ein Eisüberzug um die Zweige gelegt hatte. Die Sonne hatte ihn erweicht und zum Schmelzen gebracht. Dann war wieder mit Sonnenuntergang der eisige Märzwind gekommen, und so war er wieder erhärtet. Nun um die Mittagsstunde sprang er von den Zweigen ab und rieselte auf das gefrorene, dürre Laub, das leicht mit Schnee gemischt war, und auf den schmalen Weg.

190 Seit Stunden mochte niemand diesen Weg beschritten haben, keine Fußspur war in das zarte Eisgeflimmer eingedrückt. Es war ein rechter Märzentag, scharf und frisch, für einen sorglosen Menschen ganz angenehm; aber für Tausende und aber Tausende, die das Leben bedrückt und geschädigt hat, schwerer erträglich als eine ehrliche Winterkälte. Die schrägfallenden, scharfen, blendenden Sonnenstrahlen, der beißende Wind, die grelle Beleuchtung, alles erregend und durchdringend.

Der Weg führt durch Täler und über Hügel, Ausläufer des Thüringer Waldes, durch eine freundliche lichte Gegend.

Jungholz, schlanke Buchenstämme, an die sich hin und wieder Fichtenunterholz schmiegt. Leichtes Auf und Nieder der Wege und Pfade, drüben auf dem Hügel dichter Fichtenwald. Auf dem Wege unter den jungen Buchen hin geht das menschliche Wesen, das dem unberührten Pfad die ersten Fußspuren aufdrückt, ein junges Weib in einen warmen Pelz gehüllt, eine Reisetasche und ein kleines, fest zusammengeschnürtes Bündel in der Hand. Sie geht langsam. Ihre Gestalt und ihr Gang verraten, wie mühselig ihr das lange Wandern fällt, jetzt, so vereinsamt im eisigen Märzwind, bergauf und ab.

Wohin? Das ist die Frage für ungezählte Unglückliche. Wohin? Da würden sie uns mit ihren trüben, gleichgültigen Augen ansehen, wie aus einem schweren Traum aufgeweckt. Wohin? Ja wohin? Wohin? Wohin? Wir wissen's nicht. – Wohin? – In die Vereinsamung, die für die Elenden und Verlassenen immer bereit ist. Gott weiß wohin! Fragt das dürre Laub, das der wilde Herbststurm vor sich hertreibt, wohin es will.

Vom letzten Zufluchtsort hat sie ein frecher Blick vertrieben, eine freche Frage, die Todesangst, entdeckt zu werden, 191 ihrem Schwager überliefert zu werden, diese Angst, die ihr Tag und Nacht nicht Ruhe läßt, die sie immer wieder antreibt, aufjagt.

Sie will den Ihren nicht in die Hände fallen!

Fort – fort – fort – immer wieder fort!

So war sie jetzt wieder auf und davon, wie im Fieberwahn.

Sie wollte nach Blankenhain, einem kleinen Ort, von dem sie nicht mehr als den Namen wußte; nur nicht bleiben, wo sie war! – nur das nicht!

Sie hatte sich erst einen Wagen nehmen wollen – aber das kostete zuviel, das war so beschwerlich einzurichten.

Und niemand sollte wissen, wohin sie gegangen, keine Menschenseele.

Und es sollte nicht weit sein. Sie wollte langsam hingehen – immer wie im Fieber – immer in Angst wie ein verfolgtes Wild.

Sie ist jetzt in hohen Fichtenwald getreten.

Da rauschen die Baumwipfel, da ist das Licht nicht so grell, da ist tiefe Einsamkeit wie in einer leeren, kalten Kirche.

Das Grün der alten Bäume nach all dem hellen Licht!

Da sinkt das arme Geschöpf in Verzweiflung hin, als wäre hier ihr Ziel.

Sie kann nicht mehr weiter! Ein Gefühl, das sie erstarren läßt, das ihr das Herz stillstehen läßt, ist über sie gekommen.

Sie liegt unter einem Baum, den Kopf auf dem Arm.

In ihren Zügen Verzweiflung und Angst.

Herr Gott – wäre sie nicht gegangen!

Da war es – das Bange – Angstvolle – das Schreckliche.

»Mamachen! Mamachen!« schreit sie auf, als wäre ihr ein Todesstoß gegeben.

Aber die verzweifelte, einsame Stimme verklingt, die alten 192 Fichten rauschen vor sich hin, wie in tiefen Gedanken. Die Erde ist kalt und hart, die Luft scharf und durchdringend. – Sie ist allein und hilflos.

Und »Ker!« und »Ker!« jammert die unglückliche Kreatur.

Das Rauschen im Walde wird dumpfer, verhaucht, schwillt wieder an. Ein Vogel pfeift in der kalten Luft sein Lied: dü – dü – dü –

Da unter ihm auf dem grünen Moos trägt ein junges Weib ein gewaltig Stück des Leidens dieser Welt, das große Leiden des Weibes, und wird wie von einem Meer von Qualen hin und her geworfen, von Qualen zerrissen und von Herzensjammer gepackt. Stunden vergehen, langsam, langsam, langsam, wie Ewigkeiten.

Die Qual steigt und steigt, wird unerhört. Das geheimnisvolle Ereignis des Lebens schreitet erbarmungslos über das arme Geschöpf, als wollte es sie zermalmen und vernichten. Der gemarterte Körper zuckt und ringt. Sie hört ihre eigene Stimme und graust sich vor dieser Stimme – dieser jämmerlichen, gemarterten Stimme.

Die Abendsonne scheint jetzt rosig auf die Fichtenstämme, die Schatten werden länger.

Während sie mit Schmerz und Angst kämpft, zieht durch ihre Seele eine Flut von Bildern – ihr ganzes Leben – ruhige, heitere Bilder aus ihrer Heimat, Erlebnisse mit ihren Eltern, alles so behaglich, so reich, so liebevoll. – Wie diese Bilder weh tun! Wie vergiftet sie sind! Und dann die schrecklichen Stimmen und Blicke, die sie strafen, die sie in die fremde Welt hinausgejagt haben, die sie noch immer jagen.

Sie sieht im Geist die wohlgepflegte Hand ihres Schwagers, die glänzende Manschette und fühlt den Schlag auf ihrer Wange, diesen Schlag, den sie bis ans Lebensende fühlen wird.

Da schreit sie wild auf.

193 Es ist kein Traum.

Sie hat alles erlebt!

Sie faßt die Möglichkeit der Gegenwart nicht mehr.

Die Gedanken verwirren sich ihr. Sie leidet gräßlich.

»Wie ein Tier! – Wie ein Tier!«

Ihr Gesicht ist verzerrt.

– Und die Abendsonnenschatten werden immer länger – das Rauschen der Tannenwipfel wie schlaftrunken. –

Das leise Piepen der Vögel.

Alles neigt sich der Nacht zu.

Die geheimnisvolle Abendstille sinkt auf den Wald nieder und bringt jenes Schweigen, jenen urweltlichen Frieden, der im dichten Nadelwald zur Dämmerstunde wie ein Traum aus der uralten Erde aufsteigt. Und die Bäume rauschen die gewaltige Melodie dazu.

 

In der Waldesdämmerung liegt ein zermartertes, zerrissenes, blutendes Tier mit irrem, wildem Blick – und wie es sich hilft, was es tut, tut es in dumpfer Raserei.

 

Mein Kindchen! – – – Mein Kindchen – – – Mein armes, armes Kindchen!«

Das ist eine Stimme, eine so unsäglich rührende Stimme, wie aus einer andern Welt; so übermenschlich gut, so hinsterbend.

Das heißeste erste Liebeswort ist kalt dagegen.

Und das zerrissene, verlassene Geschöpf drückt etwas an ihre Brust, warm angeschmiegt, unter ihrem Pelz ganz eingehüllt – und die armen, zitternden, schwachen Hände halten es, so bang, als sollte es ihr genommen werden.

Sie denkt nicht an die Nacht, die hereinbrechen wird – an nichts – an nichts auf der Welt – nicht, was sie tun 194 soll – nicht, was sie tun kann, nicht, was ihrer in der kalten, dunkeln, einsamen Nacht wartet – nicht an den Tod – an nichts. – Eine unsägliche Schwäche ist über sie gekommen, eine Todesmattigkeit – nichts weiß und sieht sie mehr – wie ein weißer Dunst ist es über sie gefallen, nur das winzige Wesen an ihrer Brust empfindet sie – wärmt sie – jede, auch die leiseste Bewegung von ihm durchströmt sie wie etwas Ungeahntes, Unwahrscheinliches – und sie sinkt tiefer, tiefer in den weißen Nebel, der über sie gefallen ist – – – und ist so matt, so unaussprechlich matt. Es liegt so schwer auf ihren Augen. Die Augen fallen ihr zu. Aber sie will nicht einschlafen, sie will wachen.

Da liegt sie in der Nacht, der schrecklichen, heiligen Nacht. Da hört sie eben Kers Stimme. – Sie sieht ihn noch nicht – aber sie hört die Stimme! – Sie ist froh, die Stimme zu hören, und jetzt fühlt sie das leise Sichregen an ihrer Brust – da denkt sie – träumt sie. – – Sie weiß, was sie im Arm hält – weiß es nicht – sie hält es auch noch ein wenig fester, es soll ganz warm an der Brust liegen. – Sie hört einen ganz feinen, feinen Atem unter ihrem weichen Pelz. Aber die leuchtende Nacht liegt auf ihren Augen – und das ferne Meeresrauschen hört sie auch. Über sich? Liegt sie denn auf dem Meeresgrund? Sind die Wellen so weiß und leuchtend, die über sie hingehen? – Und wie sie sie einschläfern! – so wie nichts auf der Welt – und wie sie ihr schwer auf die Augen drücken. – Und jetzt hört sie wieder Kers Stimme – und sie denkt, daß sie ihm alles – alles – alles erzählen will – alles – alles – alles. – – –

Sie hört seine Schritte – nun wird sie ihn sehen – bald. – Sie möchte aufstehen. – Sie will zu ihm gehen. – Sie kann aber nicht. – Ihre Hand hält den Pelz auf der Brust zusammen, damit das Kleine nicht von der kalten Luft getroffen werden kann. – Es bewegt sich jetzt ganz leise. – 195 Sie fühlt so ein winziges Händchen oder ein Füßchen ganz deutlich. – Das durchschauert sie, und wieder wogt es über sie und legt sich ihr zentnerschwer auf das Herz. Sie hört Schritte, ihr sind es Kers Schritte. – Da war es ihr, als wenn sie selbst gerufen hätte – so wie ein Schmerzensschrei war es gewesen. – Sie wollte nach Ker rufen; aber es ging nicht. – Sie rief nicht. – Sie konnte den Namen nicht rufen, die Zunge war ihr so schwer.

Aber die Schritte – die Schritte – immer die Schritte, und jetzt raschelt es um sie herum.

Da hält sie ihr Kindchen enger an sich – und kämpft, sie will die schwere, wogende Decke von den Augen haben – und sie stöhnt dabei leise – das hört sie, als stöhnte eine andere – und endlich – endlich bringt sie die verwirrten Augen auf. – Wie schwer das war! Da sieht sie tiefe Dämmerung um sich her. Den ersten Augenblick scheint es ihr ganz dunkel zu sein, aber nach und nach erkennt sie alles um sich her. Da steht eine Gestalt vor ihr, ein altes Weib mit einem Reisigbündel auf dem Rücken, die Arme eingestemmt. Wie kam denn die her? Und das alte Weib schaut so auf sie hin, so wie auf etwas, was sie gefunden und was sie betrachtet, so wie auf ein Wild etwa. Da fährt es Kristine angstvoll durch den Kopf, daß das Weib wohl wieder gehen könne.

 

Kristine hatte die Augen jetzt weit offen – aber sie war so sinnlos, daß sie sich nicht fassen konnte. Sie wollte etwas sagen; aber sie konnte nicht.

Da schlug sie ein ganz klein wenig den Pelz auseinander, und aus der kleinen Lücke im Pelz da zappelten winzige Fingerchen hervor.

Da schüttelte das Weib mürrisch den Kopf und brnmmte etwas und stand und schaute immer noch, ganz so, als hätte 196 sie ein Wild gefunden, so betrachtend, als wäre, was sie gefunden, nicht ihresgleichen – und Kristine fielen die Augen wieder zu.

Das alte Weib sprach zu sich selbst: »Die müssen wir nun schon mitnehmen – jo – jo – jo – das müssen wir – das müssen wir mitnehmen. Jo – und schlafen – das wär mer jetzt das Rechte.« Damit rüttelte sie Kristine ein wenig. – »Ja schlafen! Jo – jo – jo!«

Jetzt setzte sie das Reisigbündel ab.

»Gehen Se her –« murmelte das Weib und griff nach dem Bündelchen, das neben Kristinen aufgeknüpft lag.

»Windelchen! Windeln, o je!« Da kicherte das alte Weib ganz eigen, ganz sonderbar, als hätte sie bei einem jungen Rehkalb Windeln gefunden – und mit ungeschickten Fingern hielt sie Kristine allerlei aus dem Bündel hin.

»Nun geht's schon – nun geht's schon, das wickeln wir ums Kind – dann geht's schon, dann geht's schon.« –

Kristine tat, wie die Frau sagte, mit übermenschlicher Anstrengung; ganz schwindelnd, im Traum tat sie's, aber ohne daß das Kleine aus dem warmen Pelz herausgeschaut hätte. Dann wollte die Alte Kristinen das Kind abnehmen.

Da kam einer. Ein Holzhauer war's, der heimging. Kristine hörte die Alte mit ihm murmeln – dann fühlte sie sich emporgehoben und getragen.

»Ist noch nicht wieder bei Verstand«, erläuterte sich die Alte selbst. »Aber daß alles so abgelaufen ist, wie's abgelaufen ist – jo – jo, wenn eins verzweifelt is – jo – jo – jo – war scho efters do.

Nur immer Achtchen geben – tut sich schon – gleich sin mer da, nur immer langsam – langsam– langsam – sachtchen – nur immer sachtchen.

So, da hätten wir wieder e Wickelkind mehr auf Erden« – murmelte die Alte – »mir is recht, wenn's ihm auch 197 recht is. – Nur immer zu. – Unsereins würde sich besinnen, noch einmal zu kommen. – Nicht um ein paar hundert Mark tät's unsereins.

Is mer erscht unterm Rasen, da weiß mer, was mer hat – jo – jo.«

Die Alte nickte vor sich hin und murmelte:

»Sachtchen – sachtchen – nur immer sachtchen«, und murmelte weiter.

»Und gar so unter die vornehmen Leite neingeraten,« meinte der Holzhacker, »wenn's einen nich wollen – uh je! – uh je! Ja, wenn s'es wegblasen kennten! – dann schon – dann schon!

Was wird denn Rotplätz aber sagen?«

Die Alte blieb stehen. – »Jetzt is er schon daheim, der wird gucke – ei du mein Gott – wird der gucke! Gelle ja?

Mein Bett trägt er mir gleich in die Kammer. – In der Küche, das is nichts, die Hühner – das is nichts.« –

So summte und brummte die Alte ihre Gedanken laut weiter, wußte es selbst nicht, und Kristine hörte und sah nichts.

»Langsam – ganz langsam. – Sachtchen, nur sachtchen,« brummte die Alte zum Holzhauer hin – »immer sachtchen, sachtchen!

Tee, den mach' ich ihr, solang der Rotplätz das Bett aufstellt – Erdbeerblatt-Tee – das wär'sch. – Die kann lache – Erdbeerblatt-Tee – der wird's schmecke.

Die Kleie in der Kammer, die tut kei Menschen was, die soll der Rotplätz mir ja liege lasse – der Tausendsakermenter –, das Fenster soll er aber verstopfe, und feuern – einfeuern tu ich – das macht das Mannsvolk ewig nich recht – das bringt man dem Mannsvolk nich bei – Rotplätzen schon gar nich. Zahlen tut sie mir schon – mein' schon.« – Die Alte sah prüfend auf Kristine.

198 »Fürs Kleine da nehmen wir den alten Waschkorb, und Heu find't sich auch. –

Sie wird mich schon zahle. –

Zudecken kann sie sich gleich mit ihrem Pelz.

Na, da wären wir ja – – richtig, Rotplätz hat schon Licht – das schon – dann is er auch daheim – na, der muß mir gleich daran, der wird den Kinnern jetzt das Abendbrot koche.«

In der tiefen Dämmerung, keine fünfzig Schritt von dem Fleck, auf dem die Alte das Mädchen gefunden, sah man ein einstöckiges, einsames Haus mit hohem Dach und hohen Fenstern, auf das sie zugingen, ein ganz einsames Haus, es mochte ein alter Landsitz sein; aber selbst in der Dämmerung machte es einen verlassenen, verfallenen Eindruck; ganz am Waldrand stand es, und ein breiter Weg, mit uralten Kirschbäumen bepflanzt, führte auf das Haus zu, und im Erdgeschoß war ein erleuchtetes Fenster zu sehen; die Hälfte der Scheiben war aber mit Brettern vernagelt. Der Holzhacker legte seine Last in der Küche auf die Bank am Ofen, um Gottes Lohn.

Und wie die Alte vor sich hingemurmelt hatte, so geschah alles. Rotplätz wunderte sich – Rotplätz trug das Bett aus der Küche in die Kammer, in der die Kleie lag.

Rotplätz war ein langer, knochiger Mensch in einer kurzen Jacke und lehmfarbigen Hosen. Er hatte ein freundliches Gesicht und schob den Kopf vor wie eine Schildkröte und machte keine Bewegung, ohne daß zwei kleine Buben hinter ihm drein waren.

Kristine lag mit dem Kindchen in der kleinen lauen Küche auf der Bank am Ofen, ohne sich zu regen, ganz stumpf; und um sie her wirtschafteten die Alte und Rotplätz.

In der Nebenstube arbeiteten sie an einem eisernen 199 Öfchen, man hörte sie pusten und blasen und murmeln und hörte das Feuer prasseln, und Wasser setzten sie auf.

Und nicht lange dauerte es, da lag Kristine in dem Bett der Alten in einer Stube, die nach Kleie roch; der kleine Ofen glühte; Rotplätz hatte auch ein Nachtlicht, das in einem zerbrochenen Kaffeekännchen still brannte, hingesetzt; »aus der Fabrik« hatte er gesagt und auf das Kännchen gewiesen.

Kristine hatte auch Erdbeerblatt-Tee bekommen – und jetzt lag sie ruhig. Die Wände des Zimmers, das einmal bessere Tage vor langer Zeit gesehen hatte, waren sonderbar bemalt. An einer Wand ein sehr zerkratzter und verschabter, feuerspeiender Berg, der mit seinen Funken und Flammen und einer fürchterlichen Dampfwolke die ganze Höhe und Breite der Wand einnahm, die er seit langer Zeit wohl schmücken mochte; und die anderen Wände waren geziert mit lebensgroßen Jägersleuten, die teils die Hände in Muffen hielten, teils nicht, und denen im Lauf der Zeit übel mitgespielt worden war. Sie hatten Nägel in den Nasen, den Augen, Nagellöcher in der Brust, es fehlten ihnen Arme und Beine, manchen fehlte der Leib, manchen der Kopf – aber im großen und ganzen waren sie doch alle noch da und nahmen sich merkwürdig aus.

Die Alte brömmelte in der Küche vor sich hin, klapperte und wirtschaftete. Sie hatten auch das Kindchen in einem alten Backtrog gebadet. Jetzt schaute die Alte zur Tür herein und sah nach Kristinen, und wie sie die so still fand, da schloß sie leise die Tür. Kristine sah noch eine Weile vor sich hin – und neben ihr aus dem Waschkorb, aus dem Heu, da drang ein feines, feines, frühlinghaftes, wunderzartes, kleines Stimmchen, und diese Laute drängten sich ihr ans Herz und durchschauerten ihr Seele und Körper. Die ganze Welt – alles – alles versank, nichts hielt diesen kaum vernehmbaren winzigen Lauten stand. – Alles Leid nicht, alle 200 Todesqual nicht, keine Erinnerung, und bald schlief auch Kristine neben dem Kindchen tief und ruhig.

 

Zur Stunde, als Kristine und das Kind gebettet waren, das eiserne Öfchen fauchte, die Wipfel der Tannen vor dem alten, verlassenen Landhause nächtlich rauschten, das Nachtlicht in der zerbrochenen Kaffeekanne flackerte, das Kleine so ruhig und fein in seinem Heubett fiebte und Kristine in tiefen Schlaf gesunken war, der Duft des Erdbeerblätter-Tees noch zart die kleine schwarze Küche durchzog und im Zimmer sich mit dem Kleiegeruch verband, lebten sie in Jena im ungewissen über Kristinens Schicksal.

Mathilde Swensen und Frau Professor Majunke waren Frau Ahrensee unerbittlich zur Seite.

Die arme, aus dem Glück vertriebene, rosige Frau stand ratlos zwischen ihnen und ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter Olga und wußte nicht ein und nicht aus. Sie war wie ein Vogel, den der Sturmwind aus dem Nest geschleudert hatte. Wohin er sie geschleudert, das war ihr so fremd, so unbegreiflich. Sie hatte nur ihr Nest gekannt, von der ganzen weiten Welt nichts als ihr Nest – und alle, die darin ein und aus flogen, hatte sie sehr geliebt und war so glücklich mit ihnen gewesen. Und nun alles fort – lauter fremde Leute! – Olga – da war auch so etwas Fremdes dabei, und was sie zuerst im Glücke bewundert, Olgas Sicherheit in allen Dingen, die Fehlerlosigkeit im Hausstande, die Eleganz, die Vollkommenheit in allen Dingen, bei all dem wurde ihr jetzt so bitter weh, es legte sich ihr alles so fremd wie ein eisiger Reif ums Herz. Ihr Heim, ihr guter Mann, ihr armes Kind, von dem sie nicht wußte, wohin es sich gewendet – das war ihre Welt, in der sie scheu in Erinnerung und in Angst und Bangen lebte.

201 Die ruhige, glückliche Frau Ahrensee, die ihr Lebtag keinen Kummer kannte, die ihrem Hauswesen friedlich und frei und stolz vorgestanden hatte, die nichts Schöneres, nichts Besseres wußte als ihre Familie, die hatte etwas Verängstigtes bekommen, ihre hohe, weiche Gestalt hielt sich nachlässig vorgebeugt, ihr immer hübsch frisiertes blondes, welliges Haar war nur so zur Not gleichgültig ein wenig zusammengesteckt. Sie erschrak bei jedem Türgehen, bei jedem Geräusch, errötete wie schuldbewußt, wenn ihr Schwiegersohn sie anredete, grübelte vor sich hin, ohne zu wagen, mit irgendeiner Seele offen zu reden und sich auszusprechen, und führte in allem Behagen ein jämmerliches Leben seit dem Tode ihres Mannes und seit dem Tode – Kristinens. Sie wagte selbst nicht anders von ihr zu sprechen, wenn sie mit ihrem Schwiegersohn und Professor Majunkes und Mathilde zusammen war, als von einer Toten – sie wagte es nicht anders; mit fremden Leuten aber mußte sie ganz gleichgültig von ihr sprechen, von einer Reise, von einer Verwandten, so etwas, sie wußte selbst nicht recht was. Es mußte so sein. In ihrem armen Kopf sah es verwirrt aus, und das Herz wollte ihr vor Jammer oft brechen.

Wie ein furchtbares Urteil, wie ein Todesurteil sah sie es über Kristinen liegen, und kein Mensch konnte dies Urteil ändern; es lag nun einmal unerbittlich auf ihr. Sie brauchte nur die Blicke, unter deren Bann sie lebte, sich zu vergegenwärtigen – da war kein Erbarmen, da war kein Abweichen von dem, was sie wollten, da war alles ehern und unbeugsam. Ja, und all diese Blicke, die das Todesurteil in sich trugen, konnten lächeln, ganz unschuldig und höflich lächeln, mit fremden Menschen lächeln, konnten so harmlos blicken. Kristine war aus dem Kreise der Lebenden gestrichen, war ausgewischt, sie blickten schon über sie hinweg. – Annuschka war nach Finnland zurückgeschickt. Man hatte von ihr 202 befürchtet, daß sie in ihrer wilden Aufregung, in ihrer wütenden Sehnsucht nach Kristine alles verraten könnte.

Sie hatte nachts vor Frau Ahrensees Bett gelegen, und Frau Ahrensee hatte sie heiß schluchzen hören, so in die Kissen hinein, so versteckt, Nacht für Nacht. Sie weinte auch, wie man nur über eine Tote weinen kann.

»Zu Kind müssen Frau gehen; wo sein Kind?« hatte sie Frau Ahrensee in jeder Nacht zugeflüstert. »Bald müssen Frau gehen zu unser armes Kind; mich mitgehen!«

Annuschka hatte Frau Ahrensee tief erregt durch ihr nächtliches Schluchzen und durch jedes Wort, was sie da sprach.

Annuschka hatte an ihr gezerrt wie an einer Pflanze, die sie aus dem Boden reißen wollte. Ja, Annuschka begriff nicht, wie die Menschen ganz wie Pflanzen festgewachsen sind. Sie sah Frau Ahrensee völlig frei umhergehen. Sie brauchte ja nur zu laufen, dann wäre sie da, wo sie sein sollte.

»Warum Frau nicht gehen? Warum Frau nicht gehen?« hatte sie wie zu einer Verrückten Nacht für Nacht gejammert, und hatte ihr die Hände geküßt, und immer wieder geküßt, und hatte den tollen Kopf geschüttelt und wütend geschluchzt, so fassungslos, so unsinnig, daß man sie nicht länger behalten konnte. Sie hätte das ganze Haus rebellisch gemacht.

Und der Abschied von Annuschka war der Frau bitter schwer geworden. Sie erschrak fast vor sich selbst, wie heftig sie an der unsinnigen Annuschka hing, an einem so weit unter ihr stehenden Wesen –; aber es war, wie es war: Annuschka stand ihrer Seele jetzt näher als alle miteinander – und war ihr nun auch genommen. Und als Annuschka stumpf und starr mit ihrer Reisebegleitung, die sich für sie gefunden hatte, fortgeschafft wurde, da schnürte es Frau Ahrensee die Kehle zu. Nur Mathilde jetzt nicht sehen, dachte sie damals, Mathilde, die Annuschka nie leiden 203 konnte, und die es für notwendig gehalten hatte, Annuschka nach Hause zu schicken.

Frau Ahrensee wurde von ihren Angehörigen mit außerordentlicher, gewissermaßen weihevoller Achtung behandelt, so etwa, als hätten sie unter sich eine Märtyrerin und Heilige, aber diese Ehrfurcht vor ihrem großen Schmerz, diese Achtung und diese Weihe beengten ihr das Herz wie dicke Weihrauchnebel. Es legte sich alles wie schwere Fesseln auf sie. Und diese Ordnung, diese vollendete Lebensführung, die Eleganz, die Vortrefflichkeit, Vornehmheit ihrer Umgebung, die mit jedem Opfer erhalten werden mußte – wie sie das alles fürchtete!

 

Und mit der Zeit sickerte ein Gerücht durch, wo man Kristine zu suchen habe, erst ganz ungewiß, unglaublich, doch nahm es mehr und mehr Gestalt an. Und als eine Schickung Gottes konnte man es ansehen, daß dies Gerücht gerade in die Villa sickerte und nirgends anders hin.

Durch die ausgezeichnete Amme kam es auf, die aus der Gegend war, in der sich Kristinens jammervollste Zeit abgespielt hatte.

Frau Ahrensee erfuhr von diesem Gerüchte, seinem Auftauchen, seinem Deutlicherwerden nichts, alles spielte sich zwischen dem Professor, Frau Professor Majunke und Mathilden ab, und es wurde beschlossen, daß diese zu Kristinen reisen sollten. 204

 


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