Helene Böhlau
Kristine
Helene Böhlau

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Zweites Kapitel.

In der Villa war nach schweren Krankheitstagen und Wochen endlich wieder Genesung eingekehrt. Der Eindruck, daß der Tod nahe daran gewesen war, über die polierte, teppichbelegte Treppe zu schreiten, begann sich schon wieder zu verwischen. Das Leben blühte zart in der eleganten Kinderstube, wo im zierlichsten Behälter unter Spitzen und federleichten Bettchen ein winziges, warmes Körperchen lag, das den hellen, reichen Raum, der unbewußte Tage behütete, mit jenem süßen, warmen Dufte zart erfüllte, den ein reiner, wohlgepflegter Säugling ausströmt.

Dies winzige Dingelchen, so winzig es war, beherrschte schon das Haus. Sein Stimmchen war Befehl für alle Welt, setzte die dicke Amme in Trab, ließ alle, vom geheiligten Studierzimmer des Schriftstellers aus und vom Boudoir der jungen Mutter, von der Küche und vom Keller aus aufhorchen. Wie von einem Zaubermantel durch die Luft getragen war die Großmutter Ahrensee beim allerersten Laute immer schon zur Stelle, wenn man sie straßenweit vom Hause glaubte. Sie hatte dem Enkelkindchen längst schon vergeben, daß es ihrem eigenen Kinde so schwere Not gebracht hatte. Ihr Gesicht war von einer mütterlich-großmütterlichen Zärtlichkeit wahrhaft verklärt, wenn man ihr das zarte Ding ein wenig ließ, das weiße Bündel mit dem wunderweichen, warmpulsierenden Köpfchen, dem feuchten, kleinen Maul, den taufrischen, flinken Augen.

Es gelang immerhin für Frau Ahrensees sehnsüchtiges Herz selten genug, das kleine Geschöpf zu erhaschen, denn da war die Kinderfrau, eine ungeheuer würdige Person, ein wahrer Feldherr von Kinderfrau, gegen die Frau Ahrensee mit ihrer langsamen Sprechweise nichts ausrichten konnte, ja es gar nicht versuchte; sie hielt es nach ihrer Art von 142 vornherein für unmöglich. Und da war die Amme, die Perle von einer Amme, die in der Villa ein Leben führte, halb wie eine Prinzeß und halb wie ein Mastschwein, und durch diese Verbindung zweier gedeihlicher Lebensweisen auf alle Art ins Fett schoß.

Herr und Frau Professor Henneberg hielten sie beide für unbezahlbar, denn das Kleine gedieh an ihrer Brust, wie man es sich nicht besser wünschen konnte.

Die Amme nahm alle Liebenswürdigkeit kühl entgegen, das Kuhhafte ihrer hübschen drallen Persönlichkeit ließ nicht mehr Gefühlsäußerung zutage treten als ein gnädiges Gebrumme.

Auf Frau Ahrensee lag es zu manchen Stunden schwer, ihr schien es oft, als befände sich ihr Mann weniger gut als daheim, er sah leidend aus und gealtert, kam selten, die letzte Zeit fast nie in die Villa. Er wollte Ruhe haben. Er gefiel ihr gar nicht, sie hatte sich den Erfolg der Reise, die Behandlung der berühmten Ärzte ganz anders gedacht. Von dem Ergebnis der ersten Konsultation wußte sie nichts. Es war ihr wie allen auf den ausdrücklichen Wunsch Ahrensees verschwiegen worden.

In Professor Henneberg regte sich jetzt das Gefühl, daß es an der Zeit sei, einige Diners und Soupers zu geben, gewissermaßen als Dankopfer für die Teilnahme, die man ihm und seiner Frau in letzter Zeit entgegengebracht hatte.

Die Reihe dieser Festlichkeiten eröffnete die Tauffeier, die Professor Henneberg in großem Stil gehalten haben wollte. Er hielt dies allerdings für etwas altväterisch, aber gut in den Rahmen des Städtchens passend.

Bei dem Taufakt, der unter Palmen und exotischen Gewächsen aus dem Treibhaus des Botanischen Gartens stattfand, in dem von Blumen durchdufteten, mit allen Weihen umgebenen Saal waren die Professor Majunkes und 143 Mathilde Swensen ganz am Platz; holten, als alle Gäste sich versammelt hatten, mit dem Hausherrn den Pastor auf der Treppe ein und geleiteten ihn mit unnachahmlich feierlicher Miene, genau mit dem dazu passenden Ausdruck in das geschmückte Zimmer bis an das Taufbecken, und als die Rede begann, die Gebete gesprochen wurden, während der ganzen heiligen Handlung, da hatten unsere drei die Sache so im Griff, vom Händehalten bis zum Umherreichen des Täuflings, vom Niederschlagen der Augen bis zu jedem Schritt und Tritt, daß die Sache ohne die Majunkes und Mathilde Swensen, trotz allen Prunkes und allen Reichtums, höchst dilettantisch ausgefallen wäre.

Professor Henneberg hatte im Taufzimmer ein kleines silbernes Räucherwerk aufgestellt, das seine zarten Düfte zwischen den kostbaren Palmwedeln verbreitete. Das war Frau Professor Majunke ein Dorn im Auge und hatte ihr, wie sie später aussprach, die ganze Handlung verbittert. Frau Majunke war eine fanatische Feindin alles Katholischen, und dies kleine Räucherwerk hatte so etwas an sich, was ihre protestantische Nase irritierte, trotzdem Professor Henneberg nicht Weihrauch, sondern ein zartes Veilchenparfüm zu seiner Räucherung verwendete.

Im übrigen war Frau Majunke von der Tauffeier sehr befriedigt. Die Einsegnung der Mutter mit dem Kinde nach der Taufe war ihr ein ganz besonders lieber Augenblick gewesen. Die junge Frau hatte sich so ganz scharmant benommen, bescheiden und doch vornehm, ganz von religiösem Gefühl durchdrungen und dabei so vollkommen comme il faut – gerade so viel Rührung, wie sich zu diesem Akt gehört, nicht mehr, nicht weniger. Sie schwärmten beide, Frau Majunke und Mathilde Swensen, für Herrn und Frau Professor Henneberg.

Während der Tauffeier und des ganzen Festes war aber 144 außer der jungen Mutter, dem Säugling, der Amme und dem Pastor samt seiner Predigt noch eine Person, über die sich reden ließ, Kristine. Es war heute zum erstenmal, daß sie in Jena in größere Gesellschaft kam, und Professor Henneberg konnte mit seiner kleinen Schwägerin vollkommen zufrieden sein; sie machte seinem Hause alle Ehre. Alt und jung war entzückt von ihr. Die jungen Leute, die man zur Taufe mitgebeten hatte, waren durch das blonde, schöne Mädchen im weißen Kleid und dichten Rosenkranz in eine ganz unvermutet begeisterte Stimmung geraten. In Kristine trat ihnen eine so frische rosige Schönheit entgegen, ein warmes, ruhiges Benehmen – kinderhaft gleichmäßig, nie verlegen und zaghaft und auch nicht übermütig und vorlaut. Es war so eine ruhige klare Art, die ihr Benehmen auszeichnete, und es stand ihr alles, was sie sprach und tat.

Professor Henneberg sagte zu seiner Schwiegermutter:

»Wirklich, Eure Kristine ist ein ganz herrliches Mädchen geworden, so ein reines Nordlandskind.«

Was sich Professor Henneberg gerade unter diesem Ausspruch vorstellte, war nicht recht klar; aber er sagte es in liebenswürdiger Weinstimmung.

Frau Ahrensee nickte zu dem, was ihr Schwiegersohn bemerkte: »Ja,« meinte sie, »sie ist noch ein Kind, noch ein Kind im Herzen, und das ist's, was sie so liebenswürdig macht. Es kommt kein unwahres Wort über ihre Lippen.« –

Während der Tafel wurde viel getoastet. Auf den kleinen Weltbürger, auf die junge Mutter, auf den Vater des Kindes, auf den Geistlichen, auf die Paten, und Professor Henneberg gedachte in einer wohlgesetzten, kleinen Rede seines teuern Schwiegervaters, der leider durch Unwohlsein, das schon einige Zeit andaure, an der Mitfeier dieses Tages verhindert sei – und er forderte die Anwesenden auf, mit ihm auf 145 das Wohl und die baldige Wiederherstellung dieses vortrefflichen Mannes anzustoßen.

Dieser Aufforderung wurde auf das bereitwilligste und verbindlichste nachgekommen. Man erhob sich allgemein und es begann ein Wandeln und Strömen und Kleiderrauschen den Plätzen der Familienglieder zu. Zuletzt fand man sich bei Kristine ein und sprach ihr allgemein das Bedauern aus, daß der Herr Papa gerade heute leidend sein müsse, und gab die gang und gäben Trostworte, von vorzüglicher Wirkung der Luft, baldiger Besserung.

Die jungen Leute legten in ihre Fragen und Äußerungen besonders viel Anteil und Aufmerksamkeit.

Kristine beantwortete alle Fragen ruhig und liebenswürdig; zuletzt aber zitterte ihre Stimme und sie hob die Augen nicht mehr. Als sich alle wieder gesetzt und das gewöhnliche an- und abschwellende Murmeln der Stimmen, das wie ein fließender Strom über einer größeren Gesellschaft liegt, wieder gleichmäßig in Gang gekommen war, da traf Frau Ahrensee ein langer fragender Blick ihres Kindes. Frau Ahrensee winkte Kristine zu sich heran, und die flüsterte ihr ins Ohr, daß sie zum Vater möchte.

»Gut, mein Kind, geh',« sagte Frau Ahrensee leise – »es ist mir auch lieb, wenn du's tust, und er wird nicht bös sein, denke ich, trotzdem er sagte, ich sollte dich nicht früher fortlassen, als die andern gehen. Es ist ihm ja auch heute so viel, viel besser – viel besser. Grüß' ihn und sag' ihm, daß ich ihn sehr hierher wünsche. – Geh' mein gutes Kind.«

Frau Ahrensee sprach wie sich selbst beschwichtigend, wie jemand, dessen Herz zwei Herren dienen muß und nicht weiß, welchem es sich zuwenden soll. Kristine ging leise, unbemerkt fort. Draußen war es schon dunkel, scharfer Herbstduft lag in der feuchten Atmosphäre, Nebel zogen über die Saale hin und verbreiteten sich auf den tiefgelegenen Wiesen. Die 146 fahlen Blätter hingen feucht und schwer an den Bäumen, der Mond schimmerte durch eine weiße Wolkendecke, und farblos, hinsterbend, müde neigte alles, was noch lebte von Blatt und Kraut, Gras und Frucht, sich der Erde zu. Alles, was im Sommer grün und frisch gen Himmel gestrebt hatte, lag nun, eine modernde Decke, aus erloschenem Leben gebildet.

Kristine war unbemerkt gegangen, was ihr auch leicht gelingen konnte, da alle im Hause vollauf beschäftigt waren.

Über ihren Rosenkranz hatte sie ein leichtes Tuch geworfen und ihre Gestalt umhüllte ein weicher Mantel. So ging sie langsam und wie ermattet den stillen, herbstfeuchten Weg, der von der Villa zur Stadt führte.

Da hielt sie ihre Hände mit einem Male festzusammengefaltet an das Kinn gepreßt, eine Bewegung, die tiefes Weh – ratloses Angstgefühl ausdrückte. Wäre jemand Kristine begegnet, so hätte der nimmermehr geglaubt, daß dieses in sich versunkene Mädchen aus jenem hell erleuchteten Haus komme, daß sie die um alle freundlich besorgte, aufmerksame Tochter des Hauses sei, an deren stiller Anmut aller Augen gehangen.

Mit einem Male blieb sie stehen, hob den Kopf, und ihre junge Gestalt richtete sich fest auf.

»Herr, mein Gott. Ich tue, was ich kann!« sagte sie. »Ich tue, was ich versprach! Auch weiter – auch länger,« flüsterte sie mit unterdrückter Stimme und blickte hinauf nach dem bleichen Himmel – als müßte von da aus ein guter Freund, der die Hände über sie breitete, ihr antworten, ein Freund, der ihren Kummer, ihre Sehnsucht, ihre angstvollen, dunkeln Gedanken kannte. Und diesen Freund suchte sie mit großen, weit offenen Augen über sich und über den kalten, bleichen Herbstnebeln.

Müde ging sie weiter.

Jetzt war sie an dem alten hochgiebeligen Hause 147 angelangt, in dem sie und ihr Vater nun schon viele Wochen wohnten, und ging die Treppe hinauf. Bei Professor Majunkes schien ein gewaltiges Durcheinander zu herrschen, ähnlich wie vor kurzem bei den Feuerwehrübungen, nur mit dem Unterschiede, daß der Feuerwehrlärm unter dem Einfluß hoher Autorität eingeübt wurde, und daß der heutige Spektakel ein nicht ordnungsgemäßer Spektakel war.

Kristine blieb einen Augenblick zögernd stehen. Sie entschloß sich aber und zog an der Schelle; man öffnete nicht. Sie konnten im Zimmer vor lauter Lärm und Geschrei nichts hören. Kristine unterschied genau Bimm Bimms tiefe Stimme. Man schien ihn auf irgendeine Weise unangenehm zu bearbeiten. Außerdem aber unterschied Kristine noch verschiedene stöhnende, jammernde Stimmen und Stampfen, Pusten und Keuchen. – »Du Verdammter, Verfluchter, Vermaledeiter!« klang eine scharfe, überschnappende Knabenstimme aus dem Chaos deutlich heraus.

Kristine überfiel eine schwere Angst, die sich mit ihren eigenen, dunklen, bangen Gefühlen – ihrer Sehnsucht – ihrer Seeleneinsamkeit zu etwas Herz- und Sinnebedrückendem verband.

Das Geschrei der Majunkeschen Kinder klang ihr erschütternd, kam ihr so elend und so bejammernswert vor. Sie hatte draußen vor der Tür genau den Eindruck des häßlichen, unfreundlichen Raumes, in dem die Kinder steckten, und daß irgendein besonderes Unglück hereingebrochen wäre.

Sie schellte heftiger – und noch einmal – und noch einmal. Endlich hatten sie gehört. Sie stürzten heraus, und als sie Kristine erblickten im Rosenkranz und weißen Kleid, schrien sie durcheinander:

»Wir spielen – wir spielen Jüngstes Gericht. Ein Engel! – Komm nur, wir brauchen gerade einen Engel! Wir spielen wunderschön!«

148 Sie zogen Kristine stürmisch mit sich – und sie befand sich mit einem Male in einem wahren Wirbelwind von Geschrei aller Art.

»Ruhig –« sagte sie immer wieder, »ruhig. – Seid doch ruhig. –« Das half aber nichts. Sie war umringt und wie von einem Polypen festgehalten. Einige fuhren mit spitzen Fingern in ihre Kleidertasche: »Mitgebracht – was mitgebracht?« schrie das ganze Knäuel. – »Nein, jetzt nicht,« sagte Kristine, »aber ihr bekommt etwas. Morgen bekommt ihr alles mögliche.«

»Hui!« schrie es in den verschiedensten Tonarten – »morgen. Komm nur, du mußt mitspielen!« Sie schaute sich um, sie schaute die Majunkeschen Kinder an, in die sie hineingeraten war, wie in ein dichtes Dornengestrüpp, aus dem sie sich nicht freimachen konnte. Hatte sie einen Zipfel los bekommen, hingen sie an einem andern doppelt fest und verwickelt.

Es war alles trüb und trostlos hier, ungepflegt, unzureichend an allen Enden. Und sie spielten Jüngstes Gericht zwischen den herausgerissenen, zerstampften Betten und unter der trüben, dampfenden Hängelampe. Die unsauberen, ewig feuchten Dielen, die beschmierten Tapeten, der unangenehme Dunst im Zimmer – alles armselig und verbraucht.

»Zacharias!« riefen sie, und zwei von ihnen gaben Zacharias Rippenstöße. »Zacharias ist der Teufel, der sitzt oben auf dem Schrank!«

»Also eins, zwei, drei! auf den Schrank!«

Zacharias kroch wie eine langbeinige Spinne vom Stuhl auf den Tisch, vom Tisch auf den Schrank.

Als er oben saß, rief er in das Gewusel unter ihm: »Du Verdammter! Verfluchter! Vermaledeiter! Wer ist denn jetzt dran?«

149 »Zuerst die Wolken!« rief Bimm Bimm.

»Ja so,« sagte Zacharias auf dem Schrank, und sie stopften ihm mit Hallo ein paar Kopfkissen unter.

»Jetzt geht's los!«

»Bimm Bimm ist wieder dran!« schrien einige, und schon war Bimm Bimm gepackt und vor den Schrank geschleift und gezerrt, wobei die, die ihn zerrten, die Zähne fletschten, sprudelten, pusteten, Krallen machten und sich ganz fürchterlich gebärdeten.

»Was hat er getan, den ihr da herbringt, meine Teufel?«

»Er hat die Suppe mit Willen umgegossen und hineingespuckt.«

»Hast du das getan, du Verdammter, Verfluchter, Vermaledeiter?« frug der Teufel vom Schrank herab aus den Wolken.

»Ja,« wollte Bimm Bimm rufen, aber er brachte nur einen gurgelnden Laut zustande, weil ein Teufel gerade Bimm Bimms Bauch mit den Füßen behandelte.

»Du hast es also getan! – dann wirst du verbrannt – und zwar gleich. – Teufel! verbrennt ihn – aber rasch, daß wieder ein anderer drankommen kann.«

»Wo ist denn der fromme Mann hin, der hier am Schrank stehen muß?«

»Den brauchen wir nicht,« antworteten einige, die sich darüber hermachten, Bimm Bimm zu verbrennen. Es wurden Holzstücke unter ihn geschoben. »Den will keiner machen!« schrie Johannes. »Jawohl, so dastehen und die Hände falten und die Augen verdrehen! Wir wollen alle Teufel sein!«

Jetzt sprangen sie wütend um Bimm Bimm herum, der sich die Augen zuhielt. Sie fackelten mit den Armen in der Luft, schlugen mit den Beinen aus, steckten die Zunge heraus, zischten und spuckten und waren Flammen und Teufel 150 zugleich, die Bimm Bimm verbrannten, und taten es mit solcher Hingebung, daß sie nichts mehr hörten und sahen. Der Teufel rief vom Schrank herab: »Stoßt ihn! Reißt ihm die Augen aus! Werft ihn tiefer ins Feuer!«

»So – lustig darauf los! – Die Zunge herausreißen!« – Dabei strampelte der oben auf dem Schrank mit den Füßen an die Schranktür, und alle johlten und hohnlachten, bis es Bimm Bimm wirklich zuviel des Guten wurde.

Wie kommen sie denn auf solche Greuel, diese Kinder? Vielleicht hatten sie schon ihre bösen Erfahrungen gemacht; vielleicht waren sie im Herzen wütend über dies und jenes, vielleicht fühlten sie einen ingrimmigen Ekel vor den schmutzigen Betten, der alten ekelhaften Diele, dem alten Kaffeetopf und den hochtrabenden Reden, den tintengefleckten, zerwürgten Schulbüchern, dem ewigen Arbeiten und Überbürdetsein, dem Strafen und Zanken. Vielleicht wollten sie es anders.

Kristine stand mit zusammengefalteten Händen und angstvollen Augen da.

Die Teufel hatten schon längst auf alle Weise einen Verdammten nach dem andern auf den Befehl vom Schranke herab verbrannt, zerstampft, zerstückt, geschlachtet, gespießt, und hatten ein bewunderungswertes Talent entwickelt, diese Dinge anschaulich zu machen. Bimm Bimm mochte etwas sehr Wichtiges zu tun haben, konnte nicht gleich abkommen und rief aus der Nebenstube fortwährend: »Ich komme gleich, ich bin der ärgste Teufel!« Und darauf kam er angetobt, glühend rot vor Eifer, und stürzte auf den augenblicklich Verdammten los.

Da lief Kristine mitten in das tolle, wütende, schnaufende Knäuel hinein, breitete die Arme aus und schob die wütenden Kinder kräftig auseinander.

»Gott ist gut, ihr Kinder«, rief sie erregt. »So etwas müßt ihr nicht spielen!«

151 Der Teufel aber vergaß seine Rolle und streckte ihr die Zunge heraus.

»Feiges Mädchenvolk« rief er, »vor jedem Dreck fürchten sie sich!«

Er kam aber herunter.

»Da,« rief er und zeigte auf einen alten Kupferstich an der Wand, der das Jüngste Gericht darstellte, »wenn einer so was malen könnte, tät er's schon auch, aber gute Leute, die still stehen, sind eben leichter zu malen als Teufel, die springen . . . Frag' Vatern, Vater sagt: So wird's einmal. Mutter sagt's auch. Hör' mal, wenn du dich jetzt schon so gefürchtet hast, möcht' ich doch wissen, wie du's aushältst, wenn sie einmal über dich kommen. Du, was denkst du denn, du? Dir kann's auch passieren, in die Hölle kann ein jeder kommen im Umsehen.«

»Freilich!« sagte einer. »Wenn es mit dem Lernen bei uns allen nicht besser wird, kann von uns allein eine ganze Fuhre hineinkommen. Meinetwegen,« setzte er resigniert dazu, »mir ist schon alles gleich.«

Kristine streichelte den dünnen, spärlichen Jungen, dessen trübsinnige Philosophie ihr ans Herz griff.

»Wißt ihr,« sagte sie, um in dieser Kinderstube etwas Frohes zu sagen: »Morgen wird's gewiß ein schöner Tag, da sollt ihr auf die Berge gehen, wir geben euch etwas Gutes zum Naschen mit.«

»Wird nichts!« sagte einer von ihnen. »Drei müssen morgen von uns nachsitzen, wissen's schon, morgen kommen die lateinischen Aufgaben zurück, da setzt's allemal was.«

»Dann soll euch Annuschka heut' gleich von meiner Schwester einen rechten Haufen Kuchen holen!«

Da erscholl ein durchdringendes, wütendes Freudengeheul und Bimm Bimm biß Kristine vor Wonne in die Hand.

152 Sie bat die Kinder, jetzt ruhig zu sein, ließ sie die schlimmste Wüstenei etwas ordnen, fand unter einem Bett ein Taschentüchelchen und putzte Bimm Bimm die Nase, erkundigte sich, wo das Dienstmädchen geblieben sei, und ob sie bald wegen des Abendbrots komme. Als sie darüber leidlich Auskunft erhalten, versprach sie noch einmal auf allgemeines, dringendes Erinnern, Annuschka nach dem Kuchen zu schicken, und wurde unter stürmischen Umarmungen und Liebkosungen von Bimm Bimm entlassen.

Die größeren riefen ihr noch nach: »Aber heute bist du fein, Kristine! Wunderschön!«

Als sie oben angelangt war und Annuschka ihr geöffnet hatte, mußte sie eine Weile stehenbleiben, nach Atem ringen. Sie war unsäglich bedrückt. Die Majunkeschen Kinder hatten sie durch ihr Spiel erschüttert. Alles sah sie fremd und unheimlich an und sie fühlte sich nicht wohl, nicht frei, nicht so wie sonst, so anders wie sonst, matt und schwer. Und jetzt gerade kamen die dunkeln, dumpfen Angstgefühle wieder, die sie auf dem Wege überfallen hatten, die sie mit rührender Gewalt von sich abgehalten, die sie nicht kennen, nicht ahnen wollte! Und diese dunklen Gefühle ruhten nicht, ließen sich nicht abweisen und wollten Gestalt annehmen, kamen immer wieder seit geraumer Zeit, zu allen Tag- und Nachtstunden, und raubten den Schlaf und jeden Frieden.

Und es mochte etwas Ungeheures für sie sein, was so auf Schritt und Tritt trotz allen Kampfes und aller Gegenwehr, aller Selbstbeherrschung sich ihr jetzt in das Bewußtsein drängen wollte.

Und wieder richtete sie sich fest und frei auf, wie sonst, wenn sie im Garten am Strande stand und der Wind ihr ins Haar fuhr und ihr die Gestalt umwehte, und sie sich so frei, so eins mit allem Frischen, Lebensvollen fühlte, so stark und leicht zugleich, als könnte sie fliegen.

153 Sie dachte leidenschaftlich an jene heimatlichen Gefühle, während sie fest und jugendkräftig jetzt im dunkeln Vorzimmer stand, und sie dachte, daß sie ja dieselbe Kristine noch sei, ganz, ganz dieselbe, und das ließ sie aufatmen!

Aber auch diesmal sanken diese mutigen, jungen Arme matt herab, und Kristine ging langsam nach ihres Vaters Zimmer, öffnete die nur angelehnte Tür. Das Zimmer war dunkel und sie sah im Mondlicht ihren Vater, der ihr leises Kommen nicht gehört hatte, am Fenster sitzen, ganz in sich versunken, unsäglich einsam. Im hellen Mondlicht sah sein Gesicht so eingefallen aus, die ganze Gestalt zusammengesunken. Das graue Haar hatte er sich wirr gewühlt. Er hielt auch noch die eine Hand darin vergraben und stützte den Kopf auf den Arm.

Kristine wagte sich nicht zu regen. Sie fürchtete, ihn zu erschrecken. Ihre Blicke hingen an dem einsamen, kranken Mann, der im Dunkeln seinen Gedanken nachhing. Ihr wollte bei dem Anblick das Herz zerspringen. Sie wäre am liebsten auf ihn zugestürzt und hätte ihr armes Herz an sein armes Herz gelegt, aber sie hielt sich aufrecht, schlich leise zurück und frug Annuschka, weshalb ihr Vater ohne Licht sei.

»Herr wollen nicht haben«, – erhielt sie zur Antwort. Darauf zündete Annuschka die Lampe für ihre junge Herrin an. Kristine nahm sie ihr ab, um sie selbst zu ihrem Vater zu bringen.

Da stellte Annuschka sich vor sie hin.

»Hier nicht gut ist«, sagte sie heftig. »Arme Herr sehr krank. Kind auch nicht gefallt mir, Kind schlaft nicht in Nacht – weiß! Woll'n fort.«

»Bald«, sagte Kristine.

Annuschka ging holpernd und kopfschüttelnd, nachdem sie ihr Herz freigemacht, wieder in ihre Ecke, wo sie sich auf die Erde setzte und bei einem Lichtstümpfchen herumhantierte. 154 Kristine fiel es ein, was sie den Kindern unten versprochen hatte, schrieb in Eile ein paar Worte und hieß Annuschka das Zettelchen forttragen.

Sie rief schon von der Tür, um ihren Vater aus seinen Gedanken zu wecken:

»Ich bin schon da, ich komme zu dir!«

»Du, schon?« rief es aus der dunkeln Stube freundlich erstaunt.

Und wie Kristine eintrat im weißen Kleid, mit dem Rosenkranz und mit der brennenden Lampe in der Hand, blickte der kranke Mann aus seiner Versunkenheit vollends auf. »Meine gute, liebe Sonne kommt!« sagte er.

Kristine setzte die Lampe auf den Tisch, kniete vor ihrem Vater nieder, umschlang ihn, und auch er legte seine Arme um sie. Und so, ohne Hast, ohne Erregung war sie nun bei ihm, ohne ihn erschreckt zu haben, und konnte ihr armes Herz an sein armes Herz legen. Und sie sprachen kein Wort miteinander.

Da war es Kristinen, als würde sie von der dunkeln Angst von ihrem Vater gerissen. Sie stand hastig auf. Röte stieg ihr ins Gesicht, das Herz schlug ihr – sie war in grenzenloser Verwirrung. – Sie, die nie etwas zwischen sich und ihrem Vater empfunden hatte, die immer volle unschuldige Wahrheit hatte zeigen können und nichts als Wahrheit von ihm erfahren hatte, die nicht imstande gewesen wäre, auch nur die kleinste Lüge über die Lippen zu bringen, war jetzt ganz Lüge. – Wie war sie nur hineingekommen in dieses Elend? Es war ja nicht nur das Verschweigen. Daß sie sich froh und harmlos zeigte und im tiefsten Herzen nicht froh und harmlos war, sondern voller Sehnsucht nach einem Menschen, an dem ihr ganzes Herz hing, dem sie mit Leib und Seele angehörte – und an den niemand mehr dachte. Das Verschweigen ihres Leides hätte sie tapfer tragen wollen und 155 trug es tapfer, ohne Klage. Das war es nicht, was zwischen ihr und ihrem Vater stand – das nicht! – etwas anderes, etwas ihr ganz Unfaßliches, Undenkbares lag zwischen ihm und ihr. Eine Ahnung, so dunkel angstvoll – daß der Tod dieser Ahnung gegenüber alle Schrecken verlor, daß sie es nicht länger in ihres Vaters Nähe litt und sie im anderen Zimmer sich zitternd an einen Vorhang schmiegte und ins Dunkle starrte.

Und in solchem Erstarren blieb sie lange am Fenster stehen, während ihr Vater im Nebenzimmer auf und nieder wandelte. Es mochte ihm nicht gut zumute sein.

 

Am Morgen nach der Taufe, als Frau Ahrensee zu ihrem Manne kam, fand sie ihn sehr schwach. Er war zum erstenmal nicht aufgestanden und beschloß, auch liegenzubleiben, bis er sich wieder mehr bei Kraft fühlen würde. Der Arzt kam.

Und auf Frau Ahrensee machte es eine beruhigende Wirkung, daß dieser berühmte Professor das Befinden ihres Mannes als etwas durchaus nicht Überraschendes ansah.

Gottlob, dachte sie bei sich selbst, er macht nichts daraus. Sie, die immer gesunde Frau, hatte für Kranke kein rechtes Verständnis, war an das ewige Kränkeln ihres Mannes gewöhnt und konnte sich trotz ihrer Herzensgüte des Verdachtes nicht erwehren, daß Leute, denen immer etwas fehlt, allerlei Einbildungen haben. Sie machte sich vorderhand nicht übermäßig Sorge, nur hin und wieder kam es ihr dumpf zum Bewußtsein, als wäre ihrem Mann die Reise nicht zum besten angeschlagen. An die Rückreise konnte man nicht eher denken, bis wirklich ein sichtbarer Erfolg durch die Behandlung der berühmten Ärzte eingetreten sei. 156

 

Über die Ahrensees sagte man den Hennebergs überall das Angenehmste und bedauerte unendlich, daß Herr Ahrensee immer leidend war und an der Geselligkeit nicht teilnehmen konnte. Seine Frau und Tochter gewannen alle Herzen. Die blonde Frau Ahrensee in ihrem weichen, regelrechte Benehmen mit der langsamen Art zu sprechen gefiel allen. Sie hatte trotz ihrer kräftigen, vollen Gestalt etwas Hilfloses, Schutzsuchendes im Benehmen, was in der fremden Umgebung deutlicher hervortrat. – Schutz und eine gewisse Bevormundung hatte sie an ihrer Kusine Mathilde Swensen gefunden, und auch Frau Professor Majunke widmete sich der weltfremden Frau, wie sie Frau Ahrensee nannte, eifrig.

Schon während Mathilde Swensens Besuchszeit bei Ahrensees hatte Mathilde ihre Energie tief in den nachgiebigen Charakter ihrer Kusine, die sie aber vorzog Tante zu nennen, eingedrückt. Schon damals war dies Frau Ahrensee nicht ganz bequem gewesen. In Mathildens strammer Gegenwart war es Frau Ahrensee immer, als wäre ihr eigener Geschmack und ihre eigene Meinung gar kein Geschmack und keine Meinung. Sie wagte sich auch nicht damit so recht hervor, hörte lieber gelassen zu, was Mathilde sagte. Trotzdem aber war Mathilde Swensen ihr nicht gerade sympathisch; sie fühlte sich von ihr bedrückt, und nun war sie auch noch unter das Protektorat der Frau Professor Majunke geraten.

Und diese beiden Damen führten die unschuldige Frau Ahrensee in allerlei Dinge ein, um die sie sich sonst nie gekümmert hatte. Auch wegen der Behandlung ihres kranken Mannes erhielt sie strenge Anweisungen.

»Ja, beste Tante,« sagte Mathilde zu ihr, »wenn du aber Onkel Heinrich auch in allen Dingen gewähren läßt, wie kannst du da irgendeinen wirksamen Einfluß der Ärzte erwarten? Hat er Lust, tagelang im Bett zu liegen, gut, du läßt ihn ruhig liegen; hat er Lust, nicht zu essen – du läßt 157 ihn so wenig oder so viel essen, als er will; gefällt es ihm, wie eben jetzt, sich gar nicht mehr zu beschäftigen, du denkst nicht daran, ihn anzuregen. Sage einmal selbst, ob das die rechte Auffassung der Ehe ist!«

Aber zum Wohl Heinrich Ahrensees machte Frau Ahrensee von ihrem aufgerüttelten Selbstbewußtsein keinen Gebrauch. Sie hätte wirklich gar nicht gewußt, wie sie das anfangen sollte.

 

Der Arzt kam in dieser Zeit regelmäßig jeden Tag zu Heinrich Ahrensee, der sich von seiner großen Schwäche nicht erholen konnte. Es waren manche Anzeichen eingetreten, die einem lebenserfahrenen Menschen als beunruhigend aufgefallen sein müßten. Frau Ahrensee aber hatte immer so glücklich gelebt, es war vor ihrer sanften, weichen Person alles Unglück ausgewichen, daß sie dessen Antlitz und Vorboten nicht kennengelernt hatte. Wohl erschreckte sie das Aussehen ihres Mannes hin und wieder, die augenfällige Schwäche, die stille Stimmung, die ungemeine Weichheit in seinen Gefühlsäußerungen; aber, tröstete sie sich, er war ja immer ein so guter Mensch und hatte seine eigenen Gedanken; solche Leute hängen den Kopf leicht, wenn ihnen etwas fehlt.

Der Arzt blieb auch rücksichtsvoll der Weisung Heinrich Ahrensees getreu, der den Seinen den besorgniserregenden Zustand seiner Krankheit verschweigen wollte. Ahrensee fürchtete sich vor der erzwungen heiteren Umgebung, vor den Ausbrüchen von Haltlosigkeit seiner Frau, vor Kristinens traurigen Augen. Nein, er wollte es nicht, sie sollten es nicht erfahren, nicht deutlich ausgesprochen erfahren.

Wie sah ihn das Mädchen manchmal an! mit so verwirrtem, trübem Blick, als wenn sie lange nicht Ruhe gefunden hätte. Wenn er sie an sich ziehen wollte, schien es ihm, als 158 wiche sie ihm aus. Dabei war sie rührend gut, tat alles, was sie ihm an den Augen absehen konnte, war immer besorgt um alles und jedes. Keine Speise bekam er, deren Bereitung Kristine nicht behutsam überwacht hätte. Wenn er oft tagelang zu Bette lag, war es wunderlich, wie sie jeden seiner Wünsche wie hellsehend erriet. Fühlte er sich unbehaglich, so legte Kristine ihm die Kissen zurecht, ehe er sich selbst recht klar wurde, woran die Unbehaglichkeit lag. Sein Buch reichte sie ihm zum Lesen, gerade wenn es ihm angenehm gewesen wäre zu lesen, und alles tat sie still und friedlich, so ganz versunken, zu helfen und zu erleichtern.

Hätte er sein Kind belauschen können, wie sie nachts in ihrem Bette saß, den Kopf an die kalte Wand gepreßt, mit fest ineinander verschlungenen Händen und einem Ausdruck in dem starren Gesicht, als lauschte sie – als hätte sie etwas Schreckliches nicht recht verstanden! Wenn sie so saß und vor sich hinblickte, fürchtete sie sich vor sich selbst. Wenn ihr Blick an ihrem weißen Nachthemd herabglitt, erschrak sie vor ihrem eigenen Körper – wie er ihr geheimnisvoll erschien, so herzbedrückend geheimnisvoll! Vor ihren Händen selbst erschrak sie, es waren ja dieselben Hände wie früher – ihre Hände – und wie sie sich erinnerte, wie fest diese Hände und Arme beim Schwimmen das Wasser geteilt hatten, wie schön das war! – wie schön alles war! – und wie diese Hände Ker fest um den Hals gelegen hatten, wie sie ihn gehalten, wie sie ihn beschworen hatte, sie nie im Leben zu vergessen – und nun ist sie in dieser Todesangst allein!

Das, was sie bis jetzt quält, ist namenlose Angst und Sorge; aber doch immer noch dumpf, ganz dumpf – das Bewußtsein sträubt sich noch. Es tauchen wohl Bilder auf, die sie bis ins Herz hinein erstarren lassen: aber das Unschuldige, Kinderhafte in ihrem Wesen will nicht verstehen und fassen – – so atmet sie immer wieder einmal auf, und 159 dann mochte sie ihren Lieben mit heißen Tränen um den Hals fallen; aber kaum, daß ein wenig Ruhe ist, kommt es wieder wie über sie hingewogt, das Unglück – die Gewißheit; und Zeit auf Zeit vergeht – ohne Ziel. Was soll denn werden? Nachts fährt sie auf und denkt, sie will gehen, soweit sie die Füße tragen, weiter, immer weiter, nie zurückkehren, und weit, weit von hier tot zusammensinken. – Aber ihr Vater! – in seinem schweren Leiden jetzt! – und die Hennebergs und ihre gute, liebe Mutter und – alle Menschen. Was wird denn geschehen um Gottes willen? – wie ein wilder Tanz ziehen Ereignisse, entsetzte Gesichter, unklare, spöttische, verächtliche Mienen der freundlichen Leute an der armen Seele vorüber.

Sie denkt jener bangen, wunderreichen Nacht, nach welcher sie am frühen Morgen im triefenden Regen stand – bleichgeküßt, todesmatt vor Weh, betroffen und schuldbeladen, so verlassen, so dem Schicksal anheimgegeben.

Wie war denn das Unmögliche möglich geworden? Sie, die Stolze, Freie, Ruhige, das gute Kind ihrer Eltern – so entartet! Wie war denn diese unsägliche Liebe über sie gekommen, über sie, die von Liebe nichts wußte! Und diese Wonne, dieser Überschwall von Glück und Weh?!

Und wie sie dann vor Gott auf den Knien gelegen hatte, und gebetet, daß er sie von der Erinnerung an die schreckvoll heilige, verzweifelte Liebesstunde erlösen möchte! – Und er hatte sie nicht erlöst! Nein – nein – nein – nicht erlöst!

Jetzt noch fühlte sie Kers Küsse, die ganze, große, wilde junge Liebe über sich herstürzen und strömen und fühlte es jauchzend und verzweifelt zugleich.

Fest und stolz mitten in ihrer Angst und Ratlosigkeit, richtete Kristine sich auf und sagte zu sich in ihrem alten, lebendigen Ton: »Nein – nein – nein!« – und darauf 160 stürzte sie in wilden Tränen nieder. – Nach diesen wilden Tränen war ihr's, als zöge es ihr fremd ins Herz, als schlüge es warm und freudig, wenn sie an ihr Kind dachte – ihr Kind und sein Kind – als wollte alle Angst und Verwirrung vor dieser frühlinghaften Vorstellung auftauen; und sie versank in das ahnungsvolle Empfinden des jungen Weibes, das weichen, reinen Herzens dem ersten Mutterglück entgegensieht. Ihr müder Geist trank diesen Frieden ein.

Und wieder ging der wüste Taumel an, Todesangst, Verwirrung und Verzweiflung – und sie stürzte in dieses Atem und Sinn raubende Gewoge, völlig widerstandslos. Was sollte sie denn erkämpfen, was denn? Glück für sich etwa? wo alle andern über sie verzweifeln würden? 161

 


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