Helene Böhlau
Kristine
Helene Böhlau

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Erstes Kapitel

Über dem Strande bei Wiborg liegt dichter Nebel. Milchweiß, nach kräftigem Meeresodem und frischem Birkenlaub und blühendem Grase duftend, verdeckt er die Dächer und Giebel, den Hafen, die alten Mauern und Türme, die Landhäuser inmitten ihrer Gärten, die Irrblöcke und Birkengebüsche, die vollen Wiesen und leichten Hügel des nordischen Städtchens.

Es ist frühester Morgen, die Luft, jeder Ton, jede Lebensregung steht still. Der feuchte, schwere Nebel hält alles im Bann und quillt und wogt.

In einem Hause, das dieser Nebel wie alles für alle Welt verborgen hat und so versteckt hält, als stände es auf Meeresgrund, schläft noch alles!

In dem hohen, weitläufigen Vorraum tickt eine Uhr in ihrem geschnitzten, von der Diele bis zur Decke reichenden Gehäuse.

Altersbraune, kunstvoll geschnitzte Schränke stehen an den Wänden, ehrwürdige Gestalten, an denen unsere wanderlustige Zeit vorübergezogen ist, ohne daß sie dieselben von der Stelle bewegt hätte.

Eine breite, schön geschwungene Treppe, mit sammetweichem Läufer belegt, führt in den oberen Stock, ein schweres Geländer aus derben, birkenen Säulen gibt dieser Treppe Wucht und Kraft.

Neben der Treppe zu ebener Erde führt eine Flügeltür, ein 66 altes Kunstwerk an Einlage und Schnitzarbeit, in ein Zimmer.

Es ist ein hoher Raum. An die Fenster legt sich der Nebel, der draußen alles verhüllt, undurchsichtig an, wie eine Milchglasscheibe.

In den vier Ecken des Zimmers stehen in großen Kübeln frische Fichten mit hellgrünen Trieben, in der Mitte des Zimmers ein geöffneter Flügel.

Von der Decke herab, gerade über dem Flügel, hängt das Modell eines weißen, schlanken Bootes mit Flagge und Segeln, ein langer, blauer Wimpel an dem Maste.

Zierliche Möbel aus schwarzpoliertem Holze mit feinen Kanten und Linien aus Perlmutter eingelegt.

Eine schöne Kopie der Madonna della Sedia. Das Zimmer ist liebevoll gepflegt.

Eine Glastür führt hinaus auf die Veranda. Und an der breiten, nur von der Eingangstür unterbrochenen Wand steht ein zierliches Bett, ein wahres Schmuckkästchen. Wie die übrigen Möbel ist es reich mit Perlmutter ausgelegt. Vier hohe Pfeiler tragen einen Himmel, von dem ein weiches zartfarbiges Gewebe niederfällt. Das junge Geschöpf, das hier im Morgenschlummer liegt, steckt im Bettchen wohlig eingehüllt, die dicken Zöpfe schmiegen sich ihr an Arm und Hals, goldig schimmernd. Die Hände liegen schlafesmatt auf der Decke, ein wenig geballt zu weichen, runden Fäusten, bräunlich von Luft und Sonne gefärbt, Wetterhände, die ein noch kindisches Treiben draußen am Meeresstrand, in Garten und Wald verraten.

Sie hat sich bewegt, der Kopf ist ihr jetzt ganz zurückgesunken.

So liegt es sich nicht gut, so kommen böse Träume, auch am hellen Morgen!

Und richtig, da gräbt sich eine Falte zwischen den Brauen, 67 die Stirn wird kraus, die Lippen öffnen sich, Unruhe zieht über das schlafende Gesicht – ein angstvoller Atemzug, ein zuckendes Auffahren!

Sie ist jetzt wach, mit klopfendem Herzen.

Es war ihr, als wäre sie die breite Treppe im Hause herabgefallen – so schnell – so tief. – Nein, die Treppe war es nicht, es war etwas anderes gewesen, endlos, dunkel und unbekannt.

Es ist schon heller Morgen.

Verschlafene, noch ganz verwirrte Augen richten sich nach den Fenstern, an denen der undurchdringliche Nebel noch feucht anliegt.

Da zieht es lebendig über das Gesicht; das Mädchen schlüpft aus dem Bett, wankt noch schlafbefangen, öffnet das Fenster – und der Nebel zieht ein, legt sich ihr kühl und feucht an die warmen Wangen, durchdringt das leichte Nachthemd. Wie sie schaut! Nichts zu sehen!

Die alte, schwachbelaubte Birke, die so nahe steht, daß ihre Zweige auf dem Dach ruhen, sieht sie nicht – nichts – alles Nebel!

Kein Ton. Augenblicklich nicht. Die Vögel schlafen noch oder wagen sich in der weißleuchtenden Dämmerung nicht hervor.

Und doch! – Jetzt ruft ein Kuckuck – und wieder einer, und wieder einer, fern und nah. Sie rufen wie aus Wolken heraus.

Das klingt geheimnisvoll und fremdartig! Nur Kuckucke, sonst nichts.

Langsam geht das junge Mädchen zu ihrem Bett zurück, sinkt davor auf die Knie nieder, legt das rosige Gesicht in die Kissen, faltet die Hände und blickt friedlich vor sich hin.

»Lieber, guter Gott«, sagt sie, und spricht in ruhiger Gewohnheit leise ihr Morgengebet.

68 »Lieber, guter Gott, behüt uns alle – Amen«

Dann schlüpft sie im Nu in ihre Kleider, so eilig, so flink, als wäre ihr ein guter Gedanke gekommen.

Die Zöpfe steckt sie hastig um den Kopf, und zwar tut sie dies mit goldenen Haarnadeln, die sie auf dem Tisch vor ihrem Bette eifrig zusammensucht. Ein Kommodenfach schiebt sie auf und entnimmt diesem ein weißes, zusammengefaltetes Tuch, hängt es sich über den Arm und öffnet so ausgerüstet vorsichtig die Tür ihres Zimmers, hält erst Umschau, ehe sie den Fuß über die Schwelle setzt.

Es ist noch still, sie schlafen alle noch. Die Uhr tickt gleichmäßig mit vollem Pendelschlag, gerad' über ihrem Zimmer schläft der Vater. Sie schlüpft hinaus, bleibt vor seiner Tür stehen und streicht wie liebkosend darüber hin, dann wendet sie sich wieder, schleicht wieder herunter, ganz leise, aber die alten Treppenstufen knarren doch.

Die Haustür ist noch geschlossen.

Sie versucht ein paarmal fester auf die Klinke zu drücken, das ändert aber nichts. Die Tür gibt nicht nach.

Jetzt hält sie Umschau.

»Annuschka!« ruft sie mit gedämpfter Stimme. »Annuschka! da liegt sie ja!«

Sie schleicht ein paar Schritt vorwärts auf ein unentwirrbares Bündel von Kleidern, Lappen und Decken zu, das in einem Verschlag, den einer der alten Schränke mit einem Mauervorsprung bildet, liegt.

»Annuschka, Annuschka!« flüstert sie, als sie vor dem Bündel steht und zwischen den Kleidern und Lappen etwas zu rütteln versucht, um es zu wecken.

»Annuschka, Annuschka!«

Ein Grunzen und Dehnen gibt Antwort.

Die Kleider und Decken bewegen sich, und der Kopf eines 69 schwarzhaarigen Frauenzimmers arbeitet sich daraus hervor und schaut verblüfft um sich.

»Wo ist denn der Schlüssel, Annuschka?« ruft sie und wiederholt es, als keine Antwort kommt.

»Ecke hängt.«

Kristine schaut um sich.

»Wo denn?«

»Ecke hängt.«

Annuschka gähnt wieder.

»In welcher Ecke, Annuschka?«

»Wo immer hängt.«

Kristine bleibt nichts übrig, als die Ecke, wo Annuschka den Schlüssel untergebracht hat, zu suchen.

Annuschka bleibt währenddem in einer beobachtenden Stellung kauern.

»Dumm sein!« brummt sie, als Kristine die Ecke und den Schlüssel durchaus nicht finden kann, erhebt sich endlich, langt hinter den Schrank, an dem sie schlief, und nimmt den riesigen Schlüssel daselbst hervor.

Kristine will ungeduldig danach greifen.

Annuschka aber läßt das nicht zu, macht sich selbst auf die Beine, um aufzuschließen.

Die kleine, untersetzte, struppige Annuschka geht wie auf Stummeln, als wären ihr die Füße abgeschnitten, und dieser sonderbare Gang soll offenbar eine Art auf den Fußspitzen schleichen vorstellen.

Annuschka ist rücksichtsvoll und will ihre Herrschaft nicht zu frühzeitig wecken.

»Weshalb heraus? Weshalb Leute wecken?« fragt sie unzufrieden. »Haus schläft.«

Jetzt öffnet Annuschka die Haustür, der Nebel wogt dicht und weich und lau. Man tritt wie auf den Boden des Meeres hinaus.

70 »Immer dumm Zeig!« sagt Annuschka.

Kristine ist mitten im Nebel drin. Die Tür schließt sich hinter ihr.

Da steht sie, umgeben von gleichmäßig weißem Dunst, durch den, wie sie es vorhin vom Fenster aus hörte, die Kuckucke rufen von nah und fern.

Kristine bleibt eine Weile ruhig, da rasselt etwas, klirrt, klappert, bewegt sich, da kommt etwas angesprungen, da schimmert es dunkel. Sie erschrickt, da rennt es haarig, naß, mit lustigem Stoß an sie an. Das ist der Kettenhund, der große Schlingel.

Sein mächtiger Kopf, seine nasse Nase schnüffelt und stößt. Er hebt die braune Pfote, sein Schwanz, seine Hinterbeine wirtschaften im Nebel, und so begrüßt er die junge Herrin, die beinah befangen und beklommen in dem Dunste steht.

Jetzt geht sie langsam weiter.

Wie fremd erscheint ihr alles! Der bleiche, feine Seesand, der die Wege bedeckt, ist in seiner oberen Schicht feucht und fester geworden, bei jedem Schritt aber quillt es hervor, trocken und hell. Es hat nicht geregnet, und alles ist nur vom Nebel feucht durchsogen.

Jetzt ragt der mächtige, grün bemooste Granitblock vor ihr auf, um den dichte Wacholderbüsche stehen, einer jener erratischen Blöcke, die zu Tausenden über das Land verstreut liegen, von der finnländischen Küste an bis tief hinein in das Herz Deutschlands.

Er erscheint ihr so mächtig, so unbekannt.

Einsam fühlt sie sich, die ganze Welt versunken, in Nebel gehüllt nur der Felsen und tropfender, starrer Wacholder.

Wenn jetzt ein Wolf käme! fährt es ihr durch den Kopf, wenn der so auftauchte wie vorhin der Hund. Ja wenn es Winter wäre, da kommt es schon vor, daß die Wölfe sich bis hierher wagen. Von der Gartenmauer aus hatten die 71 Wiborger Vettern noch letzten Winter auf Wölfe geschossen – aber jetzt im Sommer!

Es war wohl auch anderes, das sie fürchtete, das sie beklommen machte, Unbestimmtes, Rätselhaftes. Auf die Länge wirkte das unsichere Wandeln in dem gleichmäßigen Nebel bedrückend gespenstisch, und der unaufhörlich wiederholte Ruf der Kuckucke aus der Ferne machte ihr das Herz klopfen.

Im Hause schläft noch alles.

Wenn doch der Vater, geht es ihr wieder durch den Kopf, eines Tages ganz gesund aufwachen möchte!

Weshalb denn nicht? – Alles kann geschehen.

Das Mädchen geht, nachdem der Schauer, das ungewohnte Gefühl der Vereinsamung, des Abgeschiedenseins über ihre Seele hingezogen ist, in frischer Lebenslust weiter; sie läuft jetzt in den Nebel hinein.

Der weiche sandige Weg führt abwärts. Hier und da funkelt es in weitester Ferne wie Sonne auf. Die Nebelmassen werden landeinwärts lichter und ballen sich über der See.

Die Baumspitzen schimmern hier und da wie aus weißen, dichten Schleiern. Es leuchtet auf.

Aber auf der See liegt es noch weiß und schwer, nur die ersten glitzernden Wellen, die zu der schöngeschwungenen Bucht lautlos gleiten, blitzen schon von Sonnenlicht auf. Ein weicher Wind läßt das Schilf, das am Strand bis in die seichten Wellen hinein wächst, leise aneinanderstreichen, daß es wispert und scharftönend rauscht. Das Wasser ist hier ohne Salzgehalt, leicht wie das eines Binnensees. Die Wellen haben den feuchten Strand entlang eine dunkle Linie aus Schilfstücken, Muscheln und dunkeln Holzteilen gebildet, die sich ihrem immer wiederkehrenden, leuchtenden Bogen anschmiegt.

72 Scharen kleiner Strandläufer fliegen auf, verschwinden in Nebelschleiern. Andere lassen sich nieder, um sich bald wieder zu erheben und nah am Boden und den flachen Wellen hinzustreichen, bald im Dunst verschwindend, bald auftauchend. Sonnenblitze schießen durch weiße Nebelfetzen. Jetzt kommt das Mädchen dem Strande immer näher.

Sie hat mit Laufen innegehalten, aber ihr Gang läßt sich nicht sogleich beruhigen, er hat etwas Hüpfendes, Elastisches.

Der Weg führt eine Düne hinab.

Da gleitet sie beinahe wie von selbst in dem feinen, nachgiebigen Sande. Das weiße Tuch, das sie über die Schulter gelegt hat, schleift ihr nach.

Ein Brett ist in das Wasser eingebaut, um die Boote bequem zu landen, und einige Boote liegen hier verankert, jedes zweimal, an der Spitze und dem Steuer. Sie steht auf dem Brett und schaut um sich.

Das Schilf wispert, die silberhellen Wellchen glucksen an die eingerammten Pfähle, die Boote schaukeln kaum merklich von einer Seite zur andern, schlupp – schlapp. An eines der Boote stößt sie mit dem Fuß, daß es ins Schaukeln kommt, stößt es an wie einen guten Kameraden.

Kylliki steht vorn auf dem weißen Stern. Es ist ihr Eigentum, sie hat es selbst getauft nach der Heldin des finnischen Epos.

Jetzt nimmt sie das Tuch von der Schulter, geht auf dem Brette zurück, auf einen der Granitblöcke zu, dessen Kuppe von scharfem, dunklem Gras ganz überwachsen ist – dort legt sie ihr Tuch nieder.

Nicht weit von diesem Blocke, in das Wasser hinausgebaut, nahe dem Stege, steht ein kleines Badehaus. Sie schlüpft aber hier aus dem Kleide, zieht Schuh und Strümpfe von den Füßen, schlüpft aus dem Rock, dem Hemd so flink, wie sie vordem hineingekrochen – und steht da am 73 Meeresstrande, umwogt von Nebel wie die uralte Göttin, jung und herrlich.

Ruhig und schlank aufgerichtet, das Haar im Gehen fester um den Kopf windend, wandelt sie dem Wasser zu, die Luft umspielt sie feucht und warm. Sie tritt ins klare Wasser, und ein köstlicher Friede liegt auf dem Gesicht des schönen Geschöpfes.

Sie fühlt sich wohl. Sonne und Nebel kämpfen um sie her. Die volle Jugend ist über sie ausgebreitet, deren ganze Kraft und Frische und Leichtigkeit.

Sie geht weiter und weiter, die klaren Wellen reichen ihr bis an die Brust.

Sie fühlt sich hier sicher wie in ihrem Element, kennt jeden Stein zu ihren Füßen, jede Untiefe ist ihr vertraut. Jetzt läßt sie die Füße sich vom Grunde erheben und schwebt leicht gelassen über die Tiefe.

In der stillen Bucht ist die obere Wasserschicht warm, wie lauer Tee so weich, und tiefer ist das Wasser herzhaft frisch.

Wieder völlige Stille und Einsamkeit am Strande, die Boote schluppen langsam von einer Seite zur andern, die Strandläufer schwärmen ungestört. Die junge Göttin, die hier dem Wasser zuwandelte, in den klaren Wellen hinsank, ist weit hinaus ins Meer, und dichte Nebelschleier liegen über ihr.

 

Indessen wandert durch den Garten eine zweite Gestalt, noch jugendlich stramm, eine hübsche Person in einem staubfarbenen, prall anschließenden Kleid. Sie hat einen festen energischen Schritt.

Das ist Mathilde Swensen, eine Verwandte aus Deutschland, die hier zu Besuch ist. Sie hält wenig Umschau und geht einem bestimmten Ziele zu.

74 Mehr und mehr ist der Nebel gesunken, Birken, nichts als Birken, wohin man sieht, und hohes blühendes Gras.

Der Garten mochte in einem Birkengehölz angelegt worden sein.

Bequeme breite Wege, auch wohl ein Kieferchen, eine Fichtengruppe, Eichengebüsch, breite Rasenflächen.

Um die Findlingsblöcke, die der See zu in großer Zahl liegen, ist Wacholder gewuchert und das feste straffe Gras.

Ein paar Beete mit Blumen vor dem Hause abgerechnet, ist der parkartige Garten sich ziemlich selbst überlassen geblieben, wie die Natur ihn geschaffen, nur die Wege sind sorgfältig instand gehalten.

»Tina!« ruft Mathilde Swensen. »Tina! Um Gottes willen, Tina!«

»Was für ein Geschrei!« murmeln zwei feuchte Lippen ärgerlich während des Schwimmens, und in dem goldfunkelnden Wasserstreif nach dem Strande taucht ein blonder Kopf auf, glänzende Schultern, eine rosige junge Brust.

»Tina! Tina!« ruft Mathilde Swensen wieder.

»Kristine heiß' ich«, antwortete es ärgerlich aus dem Wasser heraus.

Jetzt sind sie sich beide einander gegenüber, die Staubfarbene und der rosige Fisch, der im seichten Wasser auf dem seidenweichen Sand liegt, mit den Armen aufgestützt. An die runden Schultern plätschern die durchleuchteten Wellchen an.

»Aber Tina!« sagt Mathilde, »so früh zu baden!«

»Kristine heiß' ich, hörst du denn nicht? Wirst du dir's endlich merken? Gib mir mein Badetuch.«

Mathilde geht, um es zu holen. Als sie damit zurückkehrt, steht Kristine nur mit einem Fuße noch im Wasser und streckt die Hände gelassen nach dem Tuche aus.

»Mein Gott, wie bist du schön!« sagt Mathilde Swensen in einem eigentümlichen Ton.

75 »Das geht keinen Menschen etwas an, wie ich bin.«

»Meinetwegen geht's keinen Menschen etwas an, wie du bist, ausgenommen deinen Zukünftigen!«

Da trifft sie ein erstaunter Blick aus zwei klaren, blauen Augen.

»Man muß so nicht sprechen«, sagt die feuchte Kreatur auf eine unbeholfene Weise.

Mathilde Swensen lacht.

»Ach, Kristine, was bist du für ein Kind, ihr seid hier alle hundert Jahr zurück.«

»Oho!« sagt Kristine. »Ganz etwas Neues! Übrigens weiß mein Vater, daß ich ihn nie und nimmer verlasse – mein Vater glaubt an mich – und Mama ebenso –.«

Mathilde lächelt. »Und nie und nimmer verlasse! – Das sagen alle Mädchen. – Also immer Fräulein Tina?«

Kristine ist inzwischen in ihren Rock geschlüpft und wirft das Kleid über.

»Kristine!« ruft sie ungeduldig.

»Gut, also Fräulein Kristine.«

»Freisel Kristine.«

»Was ist denn das?«

»Freisel Kristine«, wiederholte das junge Mädchen ruhig. »Verstehst du, ›Freisel‹ heißt's, ›Freiseel‹ müßt' es eigentlich heißen, für die dummen Leute, daß sie's verstehn – aber sie brauchen's nicht zu verstehn. Frei-Seele heißt es, weißt du, in zwei Worten; aber im Gebrauch ist's ›Freisel‹ Kristine.«

»Und was soll's denn damit?«

»Na, was soll's damit?«

»Was du für Ideen hast?«

Mathilde Swensen will Kristinen aus dem Buche vorlesen, das sie auf ihrem Morgenspaziergang begleitet hat. Dantes göttliche Komödie; aber Kristine wünscht das nicht. Sie meint, daß es dazu viel zu früh jetzt sei.

76 »Du mußt sie lieben lernen,« ruft Mathilde nach einer Weile, »das ist wahre Philosophie!«

»Geh,« sagt Kristine, »ich habe hineingesehen. Solche Bücher machen die Menschen bös und dumm; wenn die Menschen lesen, daß Gott so grausam und bös ist – so werden sie denken: Weshalb sollen wir besser als er sein?«

»Das schlimmste ist,« sagt sie nach einer Weile, »wenn das Dumme und Böse prachtvoll gesagt ist.«

Kristine geht vor Mathilden her, dem Garten wieder zu.

Als sie unter die Birken tritt, bleibt sie stehen, wendet sich um und blickt ruhig hinaus auf das jetzt klar leuchtende Meer.

Ein Dampfschiff zieht in der Ferne über die spiegelglatte Fläche und läßt einen langen, schmalen Rauchstreifen hinter sich.

»Ich glaube,« sagt Kristine, »es ist das Schiff aus Petersburg.«

Jetzt gehen sie dem Hause zu.

Ihnen entgegen kommt ein leicht gebeugt gehender Mann.

»Papachen!« ruft Kristine, wirft Mathilden das Badetuch zu und läuft.

»Guten Morgen, mein Herz, guten Morgen«, sagt er, als er sie in den Armen aufgefangen hat.

Sein Haar ist ergraut, das hagere Gesicht macht einen leidenden Eindruck.

»Gut geschlafen? Sag' mir, wie es dir geht?« fragt sie; »aber sage es auch«, fragt sie dringlich, als er nicht augenblicklich auf ihr stürmisches Fragen antwortet.

»Ja, mein Herz, recht gut.«

Er begrüßt sich mit Mathilden.

Kristine aber bleibt währenddem ruhig an seinem Halse hängen.

Ihr Kopf lehnt an des Vaters Brust, der ihre Zärtlichkeit mit dem sicheren Gefühl, das die Gewohnheit gibt, duldet.

77 »Ich bin heute gehörig weit hinausgeschwommen, Papachen«, sagt sie.

»Sei vorsichtig, nicht gedankenlos, dann ist's schon gut.«

Mathilde Swensen schüttelte den Kopf darüber, daß der Vater es nicht für angemessen hält, ihr das Baden in offener See zu untersagen.

»Habt ihr denn schon Tee getrunken?«

»Gott bewahre!«

»Also geht, ich komme mit euch.«

»Dir ist es also besser«, sagt Kristine und schmiegt sich enger an den Vater an, legt den Arm, während sie gehen, um ihn.

»Dir ist's gut?« Ihre Fragen haben etwas übersprudelnd Zärtliches.

»Ja«, sagt er mit einem leichten, wehmütigen Lächeln.

»Also, ja!« ruft Kristine, und beginnt, am Arm ihres Vaters hängend, in die blaue Luft hinauszusingen, dabei tritt sie, im Takt wie ein junges Füllen stampfend, auf und singt:

»Haus und Feld und reiche Herden,
Unermeßlich weite Wälder
Gibt mein Vater mir zur Mitgift.
Ich bin reich und schön und acht' mich
Einer Königstochter gleich!
Ebenbürtig will ich meinen Gatten!«

»Laß deine Kylliki in Ruh'!« sagt Heinrich Ahrensee, »frühstück' erst.« 78

 


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