Helene Böhlau
Kristine
Helene Böhlau

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Fünftes Kapitel

Berlin!

Ein Strolch geht eben durch die Oranienstraße; lang, hager, wettergebräunt, den Hut über dem struppigen Haar tief in die Stirne gedrückt, in armselig schäbigem Rock, ein fadenscheiniges Tuch um die Schultern. Es ist schon spät abends, die Läden und Haustüren geschlossen und ein Dezemberwetter, daß sich Gott erbarm. Der Wind heult um die Straßenecken und fegt auf dem Steg die Eisnadeln wirbelnd vor sich her. Die Gaslaternen, dick mit Schnee belegt, flackern und drohen zu verlöschen. Wer bei solchem Wetter über die Straße muß, hat sich vorsorglich von oben bis unten zugeknöpft, den Hals bis über die Ohren eingewickelt und hält den Schirm gegen den eisigen Wind dicht vor das Gesicht.

Der Strolch geht langsam, zögernd, unsicher weiter, er sucht offenbar die Nummern an den Häusern zu enträtseln und die verschneiten Firmenschilder zu lesen.

Jetzt scheint er das Gesuchte gefunden zu haben, denn er bleibt stehen und späht vor dem verschlossenen Laden nach einem durchschimmernden Lichtstrahl. Er streicht sich durch die nassen Haare und klopft zaghaft an.

Über dem Laden steht mit großen, goldenen Buchstaben:

»P. Fuhks. Sortiments-Buchhandlung und Leihbibliothek.«

Ein Schutzmann, der auf dem Nachhauseweg noch einmal die Straße abpatrouilliert, hat den verdächtigen Gesellen alsbald aufs Korn genommen; verdächtig ohne Zweifel und auf verdächtigen Wegen, weil er in zerrissenen Schuhen prangt und ein sparriges Bündel sorgfältig zu schützen oder – wer weiß – zu verbergen sucht. Im Schutzmann schwillt das Pflichtgefühl. Er wendet die Schritte gegen sein Opfer. Schon will er den steifgefrorenen Arm mobil machen, um 250 seinem Fang mit dem gehörigen Nachdruck in den Nacken zu fahren – da treibt ihm ein kräftiger Windstoß eine volle Ladung nassen Schnees in den Nacken und übt sichtlich eine abkühlende Wirkung auf seinen Diensteifer. Er stülpt sich mit den dicken Handschuhen die Pickelhaube fester auf den Kopf, macht unwillig kehrt und läßt Gauner – Gauner sein. Es gibt ihrer so viele.

Indessen dieses im Hundewetter draußen vorgeht, sitzt hinter dem geschlossenen Laden der Buchhändler Peter Fuhks mit seinem jungen Weibe am Ofen und denkt an nichts Böses.

Der weite Raum ist durch ein paar große, schwarzlackierte Bücherregale geteilt. Vorn, nach der Straße zu, sind die Schränke von oben bis unten voll von wunderschönen Büchern. Jetzt ist diese Pracht in tiefes Dunkel gehüllt. Im Rücken der Schränke steht auf einfachen Brettern die vielbegehrte, die sehr unansehnliche, sehr zerschlissene und vergilbte Lumpengesellschaft der Leihbibliothek; dazu Haufen von Makulatur, leere und unausgepackte Kisten und frischduftende Bücherstöße durcheinander, und noch weiter im Hintergrunde da blinkt das einzige Fenster des Raumes, das aus den Zeiten, als der Hof noch nicht ausgebaut war, eine schwache Erinnerung an Sonnenschein und Tageslicht bewahrt hat.

Um dieses Fenster nun ist eine ganz gemütliche Ecke hergerichtet, ein grün überzogenes Sofa, ein Tisch, darauf ein Petroleumlämpchen von milchweißem Glas, vier Stühle, ein Schrank, eine Kommode, alles nagelneu und blitzblank – und endlich ein eisernes Öfchen, das ist ganz rot vor Anstrengung, den weiten Raum und all die Herrlichkeit zu erwärmen.

Da sitzt nun Peter Fuhks und hat die Beine übereinandergeschlagen und schaukelt unermüdlich den rotgeblümten 251 Pantoffel. Er hat die Buchhandlung noch nicht allzulange, hat noch seine Illusionen und baut sich gewiß noch Luftschlösser aus den Mengen von »Skalpjägern« und »Robinsons« und den allermodernsten Prachtwerken, die er zu Weihnachten, und aus den Andachts- und Schulbüchern, die er zu Ostern absetzen will. Aber es gehen ihm auch andere Gedanken durch den Kopf: Wie lange ist es jetzt her, daß er von »ihm« nichts gehört hat!

Die junge Frau sitzt ihm gegenüber und näht.

»Männchen,« sagt sie, »warum bist du denn heute so still?«

»Mir kommt der ›Ker‹ gar nicht aus dem Sinn«, entgegnet er und schaukelt weiter.

»Der Ker? – Ach so, dein Freund in Rußland?«

»Ja,« sagte er, »der war ein prächtiger Mensch.«

»Erzähl' mir doch, Männchen!«

Das Männchen will antworten, da ertönt aus der Kammer nebenan ein leises Stimmchen, ein Stimmchen, so zart, so unschuldig quäkend, so verlassen und hilfsbedürftig, so wunderbar süß, wie es nur ein Erdenwürmchen von sechs Wochen zustande bringt.

»Äh – Äh – u – u – ä – äh!«

Beim ersten Laut ist die Mutter aufgesprungen und fort.

Fuhks schaukelt weiter; dann steht er auf, tritt an das magere, langbeinige Stehpult, schließt ein Fach auf, stöbert unter alten Papieren, schaut sich ängstlich um und holt einen alten, geschlossenen Brief heraus und zierliche, glänzende Dinge, die man, wenn es nicht gar zu romanhaft wäre, für goldene Haarnadeln halten könnte.

Er wendet den geschlossenen Brief hin und her. Er ist ohne Aufschrift. Er hält ihn gegen das Licht – und darin liegt deutlich das beschriebene Papier – wenige Zeilen.

Das Würmchen dort in der Kammer ist still und die Mutter kommt wieder zurück.

252 Peter Fuhks steckt beides, Brief und Nadeln, etwas hastig und ungeschickt in die Westentasche.

»War er nicht sehr reich?« fragt Luischen.

»Freilich war er reich und dazu ein guter Junge!«

»Wie war's mit ihm, erzähl' doch, Männchen.«

Peter Fuhks will anheben –

»U – äh –« schreit das Würmchen, und schon ist die Mutter wieder fort.

»Ich weiß gar nicht,« sagt sie wiederkommend, »ob es die Berliner Milch ist, daß unser Kind so unruhig schläft. – Aber du wolltest erzählen? erzähl' doch, ich hör' dich so gern erzählen, mein liebes Männchen.«

»Ja, wenn ich's wüßte,« sagt das Männchen, »er ist so lange fort und ich habe nichts, gar nichts erfahren. Unsere ganzen Herrlichkeiten sind ja von ihm«, und er weist auf die blank lackierten Stühle, auf die hohen Bücherschränke und auf die Kisten und Kasten dahinter im Dämmerlicht.

Wer weiß, wo ich jetzt wäre ohne das, was wir von ihm haben – ich hätte mich nicht einrichten können, ich hätte dich nicht und wir hätten unser Kindchen nicht.«

»U – äh« schreit das Kindchen.

»Um Gotteswillen«, sagt die junge Mutter und volle Besorgnis malt sich in ihren Zügen. »Wir werden ausziehen müssen, weil das Kind so sehr schreit. Der Hauswirt wird uns kündigen. Wo sollen wir nur hin? – Ja, mein Püppchen, ich komme schon.«

Und nach einiger Zeit aus der Kammer:

»Ich leg' mich gleich zu Bett, Männchen! Das Kind hat es so kalt, du kommst doch bald, Männchen?«

Draußen pocht es ganz vernehmlich am Laden, aber Peter Fuhks hört es nicht, denn das Schreckbild der Kündigung ist auch ihm in die Glieder gefahren.

»Ausziehen! – um Gottes willen, wenn wir hier 253 fortmüßten – das wäre ja schrecklich. Jetzt, wo sich endlich ein paar Kunden eingewöhnt haben. – Ich glaube, es pocht am Laden. Irgendein Betrunkener. Laß ihn pochen. – Und zu Ostern wird die höhere Töchterschule auch hierher verlegt – die Oranienstraße hat so viel für sich. – Es ist wirklich menschenunwürdig, daß unser ganzes Los von einem Hausherrn abhängt. – Es ist ganz entsetzlich! – wenn ich noch einmal von vorne anfangen müßte – darüber gehen wir zugrunde! – – Es hört nicht auf zu klopfen, ich muß nachsehen.«

Er steigt zwischen den Kisten hindurch in das dämmerige Verkaufslokal und nimmt sich unterwegs vor, den nächtlichen Ruhestörer gehörig, das heißt, so gut es der zahme Peter Fuhks kann, anzufahren. Er schiebt den Riegel von der Tür zurück, schließt auf und öffnet vorsichtig.

Da steht draußen im Schnee ein Kerl, lang, hager, wie er selbst, mit struppigem Bart und Haar, mit großen, glänzenden Augen im braunen, abgemagerten Gesicht.

»Was soll's?« will Fuhks ausrufen, aber die Worte bleiben ihm in der Kehle stecken; er tritt unwillkürlich einen Schritt zurück und starrt den Fremden sprachlos an –.

»Erkennst du mich nicht?« fragt der.

»Herr Gott im Himmel!« ruft Peter Fuhks und taumelt rücklings an den Ladentisch.

»Ker! Ker! um Gottes willen, wo kommst du her?«

Erst als der Fremde eingetreten ist und die Ladentür sorgsam hinter sich geschlossen hat, ermannt sich Peter Fuhks und ruft:

»Komm herein, komm herein. Es ist ja eine schreckliche Kälte draußen. – Wart' nur, ich will Licht holen.«

»Ich sehe schon.«

»Bitte, geh mir nach, es ist sehr dunkel, stoß dich nicht.«

Und er führt den Gast sorgsam um den Ladentisch, durch 254 die grüne Gardine, zwischen den herrlichen Bücherschränken, an den hochaufgestapelten Kisten vorbei, bis zum hellen Fleckchen am Ofen und sieht sich fortwährend um und wiederholt immer:

»Stoß dich nicht, Ker – stoß dich nicht.«

Sein Gast stellt sich stumm an den Ofen.

Peter Fuhks steigt unruhig hin und her, rückt an den blanken Stühlen, klopft den Freund auf die Schultern und scheint sich gar nicht fassen zu können.

»Ich kann dir gar nichts Gutes sagen, mein lieber Ker – gar nichts – wir haben verloren. Wir haben unsern Prozeß verloren – in beiden Instanzen. Der Senat hat die Revision zurückgewiesen. – Der Minister hat gar nichts getan – er hat gegen uns gehalten – nicht für uns. Es ist gar nichts zu machen, mein lieber Ker.«

»Gut, gut.«

»Wie kannst du das nur sagen, mein lieber Ker? Es ist ja die scheußlichste Ungerechtigkeit.«

Nach einer Weile spricht Fuhks weiter: »Sztipann Sztipannowitsch ist tot; das weißt du wohl?«

»Ich weiß von nichts.«

»Er ist seit einem Jahre tot, und deine Schwester Anna Alexándrowna hat wieder geheiratet, einen Generaladjutanten des Zaren. – Es ist gar nichts zu machen. –

Jermák ist auch tot – gehenkt, weißt du. – Er hat einen Brief an dich geschrieben – willst du ihn lesen?

Die deutsche Kindermuhme ist nicht aufzufinden – sie wird wohl auch tot sein – freilich, wenn wir die gefunden hätten. – Unmöglich ist's nicht, daß wir sie noch finden. – Nein, nicht unmöglich.

Es ist wirklich nichts zu machen. Es ist alles verloren –«

Ker schweigt, und Peter Fuhks schweigt auch und rückt leise an seinem Stuhl. Als er aber einen Blick auf die 255 Jammergestalt seines Freundes wirft, der noch immer unbeweglich an der Wand lehnt, durchkältet, abgemagert, mit eingefallenen Wangen, in Kleidern, daß sich Gott erbarm, ein Bild des Elendes, derselbe, den er in voller Jugendkraft, im Übermaß von Glück und Reichtum gekannt hat, da rückt er den Stuhl hastig beiseite, tritt eilig stolpernd auf ihn zu, legt ihm beide Hände auf die Schultern und sagt innig:

»Mein lieber Ker, wir wollen uns durchhelfen, du bleibst bei uns. Es ist ja ohnehin alles dein, alle die Herrlichkeiten hier! Kann ich nicht etwas für dich tun? Willst du nicht Tee?«

»Es ist sehr kalt hier«, sagt Ker und steht dicht am Ofen.

Peter Fuhks schüttet den ganzen Vorrat Kohlen in den Ofen, vergißt Weib und Kind in der Kammer nebenan, vergißt auch den bösen Hausherrn und rüttelt am Ofenschieber, daß es durchs ganze Haus dröhnt.

»Männchen!« erschallt es ganz schläfrig durch die geschlossene Tür aus der Kammer, »Männchen, was hast du denn heute? Du kommst ja gar nicht!«

»Luischen!« ruft Peter Fuhks mit freudiger Stimme und weicht nicht von seinem Freund, »Luischen, steh schnell auf und komm' her. Unser Ker ist da! Der Ker ist zu uns gekommen!«

Ker steht mit gekreuzten Armen und starrt vor sich hin. Peter Fuhks sitzt wieder auf der Seitenlehne des Sofas und läßt den Freund nicht aus den Augen. Der Ofen faucht, als wollte er zerspringen, und draußen im engen Hof fängt sich der Sturm wie in einer Esse und drückt gegen das verschneite Fenster.

Richtig, es dauert auch gar nicht lange, da wird die Kammertür etwas zaghaft geöffnet, und Luischen erscheint im Häubchen und niedlichen Morgenkleid; im Arm, zärtlich an den vollen Busen der Mutter gedrückt, das Kindchen, ganz 256 in weiße Wolle gewickelt, das Mützchen schief und mit großen, wachen Augen.

Sie tritt auf Ker zu und sagt, ein glückliches Lächeln im Gesicht: »Seien Sie uns willkommen!« und dann mit dem ganzen Stolz einer jungen Mutter: »Und dies hier, das ist unser Kindchen!«

Ker grüßt ganz ernsthaft, tritt dann etwas vor, streicht mit den braunen, magern Fingern über die weichen, runden Wängelchen des Kindchens und – wendet sich ab, bleich wie der Tod.

Peter Fuhks muß das Kind halten. Er stellt sich sehr ungeschickt dazu an und geht ängstlich trippelnd und tänzelnd auf und ab; aber siehe da, das Kind schläft sofort.

Die Mutter hat auf einem kleinen Tisch in der Ecke die breiten Flammen des Petroleumkochers angezündet, hat das Wasser zum Tee gesetzt, und es brodelt schon ganz behaglich.

»Hast du nicht Kognak?« fragt sie ihren Mann ganz ernsthaft, »oder Rum?«

»Ich? Rum? Wo soll ich Rum haben?« antwortet Fuhks kleinlaut.

»Nun, das tut nichts«, sagt Luischen und braut weiter.

Das Kind ist zu Bett gelegt, Fuhks sitzt wieder auf der Sofalehne, der Tisch wird gedeckt und der Tee aufgetragen.

Ker hat endlich seinen Hut abgenommen. Der Ofen hat wirklich sein möglichstes getan. Es ist ihm auch ums Herz wärmer geworden. Er hat den ersten Eindruck verwunden und fängt an zu sprechen. Er erzählt lebendig und tief erregt, was er gelitten, wie er gefangen war und von aller Verbindung abgeschnitten – am Ende der Welt, am Amur! Lange Jahre.

Peter Fuhks ist ganz Auge und Ohr, möchte immer eifrig dreinreden und schweigt doch still.

257 Das Kindchen in der Kammer schreit mit solch wütender Energie, daß die besorgte Mutter eilig Abschied nimmt und in der Kammer verschwindet.

Die beiden Freunde sind wieder allein.

»Bitte, gib mir den Brief von Jermák«, sagt Ker. Da liest er:

»Ruhm sei Dir, o Gott!
Geliebter Herr Dmitri Alexándrowitsch!

Morgen in der Früh, wenn die liebe Sonne aufgeht, da werde ich gehenkt. Darum haben sie mir erlaubt, daß ich Dir schreibe, geliebter Herr Dmitri Alexándrowitsch. Aber so dumm bin ich nicht, daß ich ihnen den Brief aushändige, ich weiß schon meine Wege, wie er an Dich kommen soll, wenn Du noch lebst, Dmitri Alexándrowitsch.

Drumm dumm! Horch einmal, so hämmern sie an dem Galgen auf dem Festungshof, als ob sie mir bangemachen wollten.

Sie haben uns alle nach Sankt Petersburg gebracht. Vierzehn Mann.

Alle in Ketten, als ob wir wilde Tiere wären. Unsere Weiber sind mit uns gelaufen; viel Volk war da.

›Was, ihr Verworfenen, ihr habt euern Gutsherrn erschlagen! Euern Wohltäter! Ihr Ungläubigen! Ihr Heiden!‹

›Was fluchst du uns, Mütterchen? Wir haben es tun müssen!‹

›Vierundzwanzig Stunden hat er noch gelebt!‹

Da sage ich: ›Vierundzwanzig Stunden? Was sind wohl vierundzwanzig Stunden? Vierundzwanzig Jahre hat er uns gequält!‹

Einer hat gerufen: ›Recht so, schlagt sie alle tot! Es muß alles anders werden!‹ Aber die meisten waren mildtätig und haben uns Geld gegeben, ganze Säcke voll Kupfergeld. Die mögen wohl gedacht haben: ›Das sind Gerichtete und in Ketten, Unglückliche sind es, aber nicht schlechte Menschen.‹

258 Vor dem Richter, da wurde es mir leid. Da demütigte ich mich und warf mich vor ihm auf die Knie und küßte vor ihm den Boden.

›Ich bin schuldig,‹ sagte ich, ›ich bin schuldig, Herr. Verzeih' mir, gnädiger Herr, verzeih' mir! Wir sind allzumal Sünder. Wir Menschen sind alle Sünder und sollen einander verzeihen.‹

Sie haben uns eingesperrt, alle einzeln. Und haben uns hungern und dursten lassen.

›Wie heißt du?‹

›So und so, Herr.‹

›Wo bist du her?‹

›Aus dem Kijewschen Gouvernement, Herr.‹

›Wie alt bist du?‹

Und weil er mich so dumm durch die Brillen angeschaut hat, da sagte ich ihm:

›Älter als du, Herr‹, sagte ich.

Da hättest Du mal sehen sollen, wie der aufgefahren ist; als ob er mich fressen wollte. – Aber ich wußte schon, was mir geschehen würde. –

Ich soll die ganze Sache erzählen.

Gut. – Wer hat auf Erden recht? Gott oder die Menschen? Gott!

Die Menschen sind Tiere. Schlimmer wie die Tiere; denn der Hund ist treu. Bei Gott ist die Gerechtigkeit, nicht bei den Menschen.

Er hat uns geschunden, er betrügt seinen Schwager, unseren Herrn. Er betrügt uns alle, alt und jung, Männer und Weiber. Er ist ein ungerechter Mensch. Ungerechte Menschen muß man vertilgen.

›Wir wollen ihn in St. Petersburg verklagen‹, sagt einer.

›Sieh mal her,‹ sag' ich, ›weißt du, was das hier ist?‹ und zeige ein Scheit Birkenholz.

259 ›Ja,‹ sagt er, ›das ist ein Scheit Holz.‹

›Gut,‹ sag' ich, ›das Scheit Holz ist klüger wie du. Die Frösche sollen wohl bei den Enten klagen?‹

›Wir wollen ihn beim Zaren verklagen‹, sagt er.

›Ja, wir wollen ihn beim Zaren verklagen‹, sagen alle.

›Eh! Ihr Milchbärte, Säuglinge ihr! Weise mir einer den Weg! Zum Zaren führt keine Brücke!‹

Sagt da ein anderer: ›Wir wollen den deutschen Verwalter erschlagen!‹

›Nein,‹ sage ich, ›wir wollen ihn selbst erschlagen! Sztipann Sztipannowitsch wollen wir erschlagen.‹

›Ja,‹ sagen alle, ›wir wollen ihn erschlagen!‹

›Heute ist er da, wer weiß, wann er wiederkommt.‹

Da bekreuzigten wir uns alle und gingen.

Unterwegs, da spielten die Kinder auf der Wiese. Was für ein herrliches Wetter! Die Sonne scheint einem in die Seele, und die Vögel pfeifen.

Da kommt mein jüngstes Enkelchen gelaufen, faßt mich am Finger und hält mich fest.

›Großvater,‹ sagt sie, ›ich will auch mit.‹

›Mein Täubchen,‹ sagte ich, ›spiel' auf der Wiese, da gibt es Blumen.‹

Da weinte sie.

›Gut,‹ sage ich, ›komm mit, du sollst es mit ansehen‹, und nehme sie auf den Arm.

Vor dem Schloß, da war es ganz leer, kein herrschaftlicher Diener hielt uns auf. Alles wie ausgestorben, obgleich doch sonst Petersburger Schlingel genug da waren. Alles fort, wie die Tauben vor dem Habicht. Sie merkten alle, was da vorging.

Sztipann Sztipannowitsch sitzt im blauseidenen Schlafrock vor dem Teetisch, liest Zeitungen und füttert seinen Kanarienvogel mit Zucker. Alle Fenster sind auf, und die Sonne scheint herein.

260 ›Sztipann Sztipannowitsch,‹ sage ich, ›gnädiger Herr!‹ und bücke mich. Aber die Kleine auf meinem Arm fürchtet sich und weint.

›Was willst du?‹ sagt Sztipann Sztipannowitsch, ›geh nur, wie du gekommen bist‹, und zündet sich so ein Zigarettlein an.

›Sztipann Sztipannowitsch,‹ sage ich, ›gnädiger Herr! Verzeih' mir, aber wir sind gekommen, dich zu erschlagen.‹

›Was,‹ sagt er, ›du bist wohl besoffen? Hinaus mit dir!‹

›Nein,‹ sage ich, ›das ist wahrhaftig Wahrheit!‹

›He! Nikita!‹ ruft Sztipann Sztipannowitsch seinen Diener, aber der war gleich fort, so wie er uns kommen sah.

›Hinaus mit dir, du versoffener Teufel! Fort! Hund, du verrückter! Fort! – Nikita!‹ und wurde ganz grün vor Ärger.

Aber es regte sich gar nichts.

›Jungens,‹ sagte ich zur Tür hinaus, ›kommt doch herein und nehmt mir das Kind ab, es weint.‹

Da wurde er ganz wachsbleich und wollte hinaus, und stieß den Tisch um, aber ich packte ihn.

›Zu Hilfe!‹ schrie er. ›Nikita!‹

›Spaß,‹ sagte ich, ›was schreist du? Es hilft dir doch nichts. Und wenn du der erste nach dem Zaren wärst.‹ Und hielt ihn fest und ließ ihn nicht los.

Ei, da wurde er gesprächig, der stolze Sztipann Sztipannowitsch.

›Jermák,‹ sagte er zu mir, ›lieber Jermák, Batjuschka, Väterchen, was willst du? Ich hab' dir ja gar nichts zuleide getan!‹

›Mir nicht, aber du hast die andern geschunden.‹

›Jermák, Väterchen! Tue es nicht; warum tust du dies?‹

›Das tun wir für unsere Kinder, nicht für uns.‹

›Väterchen,‹ sagt er, ›laß mich einen Augenblick los. Ich 261 gebe dir, was du willst – mein ganzes Vermögen – mein ganzes Vermögen!‹

›Es ist nicht dein,‹ sage ich, ›du hast alles gestohlen, du Räuber! Du hast es Dmitri Alexándrowitsch gestohlen!‹

›Zu Hilfe! Zu Hilfe!‹

›Wohin hast du deinen Schwager geschafft? – Dmitri Alexándrowitsch? – Unsern Gutsherrn, unsern wahren Herrn! Wohin? Gesteh es, du Mörder!‹

›Zu Hilfe! Zu Hilfe!‹

›Wohin? gesteh's! Nach Sibirien? du Auswurf? Was? Zum Amur? – Gemordet hast du ihn, du Antichrist! Unsern Liebling!‹

›Väterchen Jermák . . . wenn du mich . . . tötest . . . wird es dir das Leben kosten!‹

›Das weiß ich. – Das weiß ich –‹

›Mein Gott! Mein Gott! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Nikita! . . .‹

Da waren alle zusammengelaufen. Erst Anna Alexándrowna, deine Schwester. Aber die fiel gleich um wie tot. Dann, Gott weiß wer: der französische Haushofmeister im Frack, die Gouvernante und die Kinder, und die Amme mit dem Jüngsten auf dem Arm, die fährt mir gleich in den Bart und schreit: Räuber! und der Junge schlägt mit beiden Fäusten auf mich ein. Alle weinen und schreien, und der Kanarienvogel schmettert, daß einem ganz dumpf im Kopf wird.

›Kinder,‹ rief ich, ›haltet mir doch einmal die Amme vom Leib und nehmt den Jungen, daß ich ihm nicht weh tu'!‹

Sztipann Sztipannowitsch schlägt um sich wie ein Besessener, ich aber halte ihn mit beiden Fäusten fest. Das Beil, das scharfgeschliffene, steckte mir hinten im Gürtel. ›Mischa,‹ rufe ich, ›Täubchen, gib mir mal das Beil aus dem Gürtel, das scharfgeschliffene.‹

Da quollen ihm die Augen aus dem Kopf vor Angst.

262 Zu was noch zaudern! Er sagt uns doch nicht, wohin er Dmitri Alexándrowitsch geschafft hat . . .

Tschuk! – Da saß ihm das Beil im Schädel fest, wie in einer harzigen Wurzel, und das rote Blut lief ihm ein wenig über den seidenen Schlafrock.

›Och, och, och,‹ stöhnte er, wälzte sich und legte sich hin, um zu sterben, nicht anders als ein geschlagener Stier.

Ich aber wischte mich ab, bekreuzigte mich und sagte zu Anna Alexándrowna, Deiner Schwester:

›Anna Alexándrowna,‹ sagte ich, ›erziehe deine Kinder gut.‹

Dann zogen wir alle miteinander barhaupt in den Tempel, Gott zu loben, und haben dem Bilde der Gottesgebärerin vierzehn Wachslichter geweiht. Es war Sonntag morgen.

So hat sich das alles zugetragen.

›Nihilist‹ sagt der Richter zu seinem Spießgesellen.

Nihilist? Ich bin noch einer von den Alten, ich habe die Leibeigenschaft gekostet, doch da war es besser in Rußland.

›Er hat eingestanden‹, sagte der Richter. ›Das erzählst du so offen, du heilloser Schurke?‹

›Ich hab' es offen getan und sag' es offen! Nicht zu dir, du Franzose! Was stierst du mich an, du mit dem französischen Bart? Augen hat dir Gott gegeben, du aber trägst Brillen! Jetzt rede ich! Du Wolf! Wenn ich gehenkt bin, dann magst du reden und schreiben, was du willst. Schweig! Einen Edelmann nennst du dich? Da hast du recht! Denn du bist ein Schurke aus schurkischem Geschlecht. Du Sohn eines edlen Schurken. Du Enkel eines Schurken, du Schurke selbst! Und wirst Schurken zeugen wie Sand am Meer. Immerzu, je mehr, desto besser! Alle betreßt und mit Orden auf der Brust. Morgen wird dir der Zar einen Orden um den Hals tun und mir einen Strick. Das kommt daher, daß er nicht weiß, wie treu ich ihm gedient habe und wie arg du ihn betrügst.‹

263 Das alles habe ich gesagt und noch mehr, aber es hat nichts geholfen.

Ich habe lange genug gelebt, ich weiß, wie es auf der Welt ist. Alles Trug. Der Heiland rette uns!

So nehme ich von Dir Abschied, geliebter Herr Dmitri Alexándrowitsch. Lieber sterben, als auf dieser Welt, mit den Menschen, wie sie sind, weiterleben. Jeder stiehlt, wo er kann. Und je schlimmer einer ist, desto mehr beruft er sich auf Gott und das Gesetz. Und je besser einer ist, desto eher wird er geknechtet und geschunden, und es ist ein Wunder – wenn ein Schaf unter dieser Herde von Wölfen noch nicht zerrissen ist. Das Gesetz ist nur, um die Schlechten zu schützen. Das Gesetz ist ihr Rückhalt, da stecken sie wie in einer Höhle und fallen aus, uns zu berauben.

Das ist gesetzlich, schreien sie, wenn sie uns schinden.

Was hat Sztipann Sztipannowitsch getan? Alles gesetzlich!

Aber jetzt habe ich vergessen, daß ich morgen in aller Frühe, mit den ersten Strahlen der Sonne, die unser aller Mütterchen ist, hier auf dem Hofe der St. Pauls-Festung in St. Petersburg gehenkt werde. Nun, vielleicht begnadigen sie mich noch unter dem Galgen.

Leb' wohl, geliebter Herr Dmitri Alexándrowitsch. Ich habe Dir Dein Gut nicht retten können. Wer Dich schützen kann, ist Gott allein, denn der Mensch vermag gar nichts.

Jermák
Dein unterwürfiger Diener.«
       

Ker tritt an das verschneite Fenster und drückt die heiße Stirn an die Scheibe.

Peter Fuhks ist ganz Gefühl und Hingebung, doch so tief er auch empfindet, weiß er doch nicht besser zu trösten als andere Leute auch. Er legt dem Freunde die Hand auf die Schulter und sagt nur:

264 »Mein lieber Ker.«

Dieser spricht anscheinend ruhig:

»Unterwegs, auf der See – ich hatte mich hierher als Matrose verdungen – verloren wir einen Mann. Er war über Bord gefallen und wurde erst am andern Morgen vermißt. Bei Nacht über Bord! – Du tauchst wieder auf. – Holla! – jeder Hilferuf verhallt. Blitzschnell wird es dir klar, wie es um dich steht – daß die Kräfte nicht erlahmen, ehe sie das Schiff beilegen – ehe sie das Boot aussetzen! – aber nichts an Bord deutet darauf. – Der dunkle Koloß setzt unbeirrt seinen Weg fort. – Es hat dich niemand bemerkt. – Niemand vermißt dich! Schon verdecken die nächsten Wogenkämme das Schiff. – Was hilft alle Kraft? – Qual ohne Hoffnung! Ein Kampf ohne Sieg! – Noch wenige Minuten und dein Los heißt – untergehen.«

»Ach,« denkt Fuhks, »wo ist denn unser Ker hin, unser energischer, lustiger Ker?« Das denkt er und sagt es unwillkürlich halblaut.

Langsam wendet sich sein Freund vom Fenster und reicht ihm die Hand.

»Mein lieber Ker, weißt du den Morgen – als du von Wiborg abreistest – da auf der Schiffstreppe, Ker – es regnete – großer Gott – damals!

Ker, das war ein Morgen!

Und kein Wort seitdem wieder!«

»Du weißt es jetzt, ich war gefangen – zuerst in höflichster Form, verbindlich, unter allerlei Vorwänden – zuletzt brutal. Ich versuchte jedes Mittel. Der Kommandant machte sich den Spaß und ließ mich wegen Fluchtversuchs und Bedrohung zum Tode verurteilen und führte die Komödie beinahe durch. Dem Generalgouverneur wurde ich in Ketten übergeben. – Ich weiß nicht, warum sie mich nicht kurzerhand umgebracht haben, Gelegenheit dazu war 265 genug da: ich bin viermal wie ein Räuber ausgebrochen. Es gelang mir, wie du siehst, gelang mir doch. Ich habe erst unterwegs schreiben können, habe auch geschrieben, an dich – nach Wiborg. – Daß du hier in Berlin warst, habe ich wie durch ein Wunder erfahren; ich bin vorgestern in Triest gelandet. Ich habe noch eins zu tun. Ich muß Gewißheit haben, ich will weiter.«

Er wendet sich zum Gehen – und zögert.

»Wie spät ist es?«

Er hat noch eine Frage auf dem Herzen, aber er wagt sie nicht über die Lippen zu bringen, er fürchtet die Bestätigung alles dessen, was seit Jahren sein Herz und Hirn zermartert.

»Wie spät ist es? – Bitte sieh nach.« Peter Fuhks fährt heftig in die Tasche und zieht die Uhr hervor – und mit der Uhr den geschlossenen Brief und die goldenen Nadeln. Die fallen leise klirrend auf den Boden zu den Füßen seines Freundes. – Der starrt hin, als könne er es nicht fassen, und der letzte Tropfen Bluts weicht ihm aus dem bleichen Gesicht.

Fuhks ist über und über errötet, bückt sich eilig und hebt Brief und Nadeln auf.

»Ich habe –« stotterte er, »den Brief nicht abgegeben, ich – sie – ich konnte nicht –«

»Lebt sie noch?« fragt Ker, und jedes Wort ringt sich ihm aus der Seele.

»Gewiß! ja! – das heißt, soviel ich weiß – ich hätte es doch erfahren. Aber sie sind von Jena fort – der Vater ist gestorben – nach Italien glaub' ich. – In Jena werden sie es genauer wissen. – Ich habe nichts mehr gehört –«

»Gut, so geh' ich hin – leb' wohl.«

Ker rafft sein Tuch auf – aber der gute Fuhks, der so vieles verschluckt hat, was er noch seinem Freunde an Trost und Hoffnung zu sagen hätte, kann es gar nicht glauben, daß er geht.

266 »Du willst doch nicht fort? Aber so kannst du ja gar nicht.– Du mußt Geld mitnehmen – ich hab' schon welches – lieber Ker, es gehört ja dir –«

Ker schaut seinem Freund in die Augen, schüttelt ihm die Hand.

»Ich danke dir«, sagt er und geht.

»Ker!« ruft Fuhks ganz erstarrt. »Nimm doch wenigstens deinen Mantel, deinen eigenen Mantel, den du mir in Wiborg ließest.« Er wartet gar nicht Kers Antwort ab, hat den Mantel eilig geholt und seinem Freund um die Schultern gelegt.

»Willst du denn wirklich fort?« – Da fährt es ihm durch den Kopf:

»Ker!« ruft er, »du kommst doch wieder, Ker?«

Ker nickt kaum merklich und tritt hinaus. 267

 


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