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Auf den Herzen spielt das Leben wie auf Harfen

Eine junge Mutter, ein Kindchen auf dem Arm, eins am Rock, sank Sibyllen mit einem Aufschrei wie Vogelgezwitscher in die Arme.

Den Willkommenskuß empfing das Baby, das zwischen den zweien nach Kuß und zärtlicher Berührung suchenden jungen Gesichtern zartes Hindernis war.

Seit jener Nacht auf dem Ettersberg, als Isebies voll Schmerz neben der kleinen verstoßenen Sünderin im Herbstnebel hockte und sie mit Liebe ganz einhüllte, waren beide ihre Wege gegangen, Liebes- und Leidenswege.

Lilly, von goldenem Haar umspielt, von Lachen und Weinen wie von einem unsichern Nebel eingehüllt, von dem wilden Kinde umtanzt, vom jauchzenden Baby fast aus dem Gleichgewicht gebracht, glich einem Sonnenregenschauer, war nicht zu fassen, wehte und stürmte in ungemessener Freude über Sibylle hin.

»Isebies! Isebies!« Ein Schrei, eine Seligkeit, ein Bündel tanzender Liebe, etwas Unfaßbares!

Nach Lillys Begrüßung hatte Sibylle sich gesehnt, und nun diese Wolke von Freuden und Sonnenregenschauern und diese mitjubelnden Geschöpfchen! Verdreifacht hatte sich die süße Begrüßungskraft und Wonne!

Ja, das war Lilly! Lilly, nach der man sich sehnen konnte wie nach der lieben Sonne selbst, und wie schön war sie geworden!

»Isebies! Isebies!« klang es wieder.

Jetzt hatte Isebies das Baby im Arm, und Lilly hing ihr um den Hals. »Ja, du bist's, – dein süßes Gesicht ist's! – Du bist's! Du bleibst eine Weile bei mir!«

Sein wanderndes Frauchen! hatte Ottomar gesagt. Sein wanderndes Frauchen, mußte Sibylle sich wiederholen. Sie war ganz betäubt von dem weichen Sturm.

Und jetzt legte er sich, und der Kutscher wurde bezahlt, der Sibylle von der Bahn in das kleine grün eingebettete Nest gefahren hatte, und ihr Koffer wurde von einem Bauernmädchen und einer Frau ein unglaublich enges und steiles Treppchen hinaufgeschleppt, das zu einem winzigen Haus gehörte. Mitten in einem Blumengarten lag es, in dem alles, was nur blühen konnte, blühte und duftete.

In dieses Nest hatte das Schicksal Sibyllen aus schwerem Sturm verschlagen.

Welcher Duft, welche Sonne, welch ein Gezwitscher! Lillys Stimme war heller und zarter als die ihrer Kinder.

»Sie haben die Stimme ihres Vaters,« sagte Lilly selig, als Isebies-Sibylle darüber lächelte, wie die tiefen Kinderstimmen die zarte Stimme der Mutter fast einhüllten.

Nun trat der süße zärtliche Ernst in Lillys Züge, den Sibylle so wohl schon aus ihren Kindertagen kannte.

Das Bauernmädchen bekam das Baby auf den Arm und das große Kind an die Schürze.

»Aber Bärbelchen, Bärbelchen, schon sehr drauf schaun und nicht aus dem Gärtchen hinaus!« Und das Baby wurde geküßt, und das Große wurde ermahnt, und Lilly kochte in einem silbernen Kaffeemaschinchen Kaffee.

»Sein Maschinchen,« sagte sie bewegt, »nur wenn er kommt, brauchen wir's, nur dann, und wenn du kommst, Isebies! Sonst kenne ich niemanden. Er und die Kinder! – Und Er – und Er – und Er! Und ich bin wie die Luft, die sie einatmen, und von der sie leben, – und das Brot, das sie essen, und bin lauter – lauter Liebe von früh bis in die Nacht und von der Nacht bis in die Früh! Weißt du noch, – kennst du mich noch?

Und du bist müde und dein Herz ist schwer? – Aber alles, – alles kommt noch! Ich bin ganz angefüllt von dir! Nur, ich sah so lange niemand, der so ganz zu mir gehört, dem ich von mir sprechen kann. Und was hab' ich erlebt! Meine Kinder geboren – und selbst genährt. – Und eins begraben, – das liebste – das erste! – Weißt du, was das heißt, – ganz dahinfließen in Liebe – und seine Kinder? Seine Kinder sind's. Weißt du, was das heißt? Ich habe erkannt und geglaubt, daß du bist der Mann unter den Männern, der Erste, der Beste, der Einzige! An ihn glauben, heißt lieben –!«

Dabei war Lilly geschäftig, deckte den Tisch, setzte die Täßchen auf das frische Tuch, und der Blumenstrauß auf dem Tisch duftete nach allen ersten Blumen im Gärtchen, Glydra und Feuerlilien, späten Tulpen und Agley.

Während sie geschäftig sich zu tun machte, nickte sie durchs Fenster hinaus in den Garten und klatschte in die Hände, dem Baby zur Lust und Freude, und dem größeren Kind rief sie bald einen Schmeichelnamen zu, bald eine Ermahnung.

»Ach, daß du den fandest,« rief Lilly, »den du liebst, der dir alles auf Erden ist! Als du damals nachts in all der Dunkelheit bei mir vor der Mauer warst, ahntest du nicht, was Liebe ist! Du warst ein Kind. Ich aber, – ich! Meine Kindheit ging in einer mächtigen Flamme auf. Liebe! Liebe!« sagte Lilly zärtlich leise. »Ich bin ganz Liebe! Mein Fleisch und Blut ist Liebe. – Sieh nur mein Haar an!« Sie zog ein paar Nadeln aus dem Haarknoten, und das Haar rollte sich auf und floß um sie her. »Oft, wenn ich abends mich in dem Spiegel sehe, nichts als mein Gesicht und das leuchtende Haar, denke ich: in diesem Haar brennt mein Herz. Es sind Herzensflammen.

Ach, so glücklich bin ich, so glücklich; aber oft, – wenn die Kinder schlafen, sehr einsam – einsam;« ein Schatten zog über ihr Gesicht; »dann schleiche ich an die Betten und höre die Herzen schlagen, Herzen von seinem Herzen!

Wie wundervoll, daß wir aus Liebe werden und aus Zärtlichkeit! – – Er kommt selten, – er kommt selten –,« sagte das zarte Weib leise. »Er hat so viel zu tun, und ich will auch gar nicht immer um ihn sein. Denk dir, so ein berühmter Schriftsteller, wie würden wir ihn stören! Und daß er mich, – mich geheiratet hat! – Verstehst du das? Mich? Einfach mich? Ich wollte es nicht! Ich habe mich gewiß gesträubt mit Leib und Seele. Er sollte ohne Fessel sein. Er sollte frei sein. Schön finde ich es, wenn das Weib seine Liebe königlich gibt, denn nur Liebe hat sie zu geben. Wie eine Händlerin kam ich mir vor, als er mich des Kindes wegen geheiratet hatte, alle königliche Freude war dahin; erst nach und nach erschien sie wieder, als ich alles, gottlob!, was Heirat hieß, vergessen hatte.

Und wir sind auch fast unsre eignen Herrn, mein kleinwinziges Vermögen nährt uns, und schau nur –« Lilly führte sie in ein kleines Nebenstübchen, da lagen allerlei Sächelchen auf dem Tisch, Puppen in liebevoll genähten Kleidern, angestrichene drollige Männchen und Weiblein aus Holz geschnitzt, allerlei Bälle und niedliche kindliche Torheiten, reizvoll und mit viel künstlerischer Eigenart hergestellt. »Das ist meine Werkstatt, da hilft mir die Größere auch schon fleißig dabei; damit ernähren wir uns. Was brauchen wir denn? Du glaubst nicht, wie wenig.«

So plauderte das süße zarte Weib, wie eine Quelle alles hervorsprudelnd.

»Nur schenke mir Gott eine Wiege, die nie leer wird!« rief sie jubelnd aus. »Liebe, die nie endet, immer neuschlagende Herzen, die alles von mir haben und von ihm Leben und Atem und Lebensseligkeit und das süße Erwachen am Morgen. Und du – und du! – Nun weißt auch du, – was Liebe ist! Isebies!«

Sie umschlang Isebies-Sibylle.

Sibylle schaute wie benommen auf. Selig war sie durch ihre Liebe noch nicht geworden, zu schwer, zu verantwortungsvoll war diese Liebe für ihre Schultern. – Tränen traten in Sibyllens Augen, sie verbarg ihr Gesicht mit den Händen, und Lilly sah, daß sie weinte.

»Ich weiß alles von dir,« sagte Lilly ernst. »Tapfere lustige Isebies! Ich weiß, du bist besser, als ich bin, – du vergißt niemanden, der dir zugehört. Ich aber habe nur geliebt, habe die Welt vergessen. Er wurde meine Welt! Durch Liebe starb ich in eine neue Welt. Wenn einer durch den Tod stirbt, hinterläßt er auch Weinende und kann nichts machen. So starb ich in die Liebe hinein. Und gottlob und gottlob! Schuldlos ist nichts auf Erden. Wir sollen Schuld und Seligkeiten tragen, – beides. – – Geh, trinke jetzt Kaffee, und dieser Kuchen! – Breitet die Schürzen aus,« zwitscherte die süße Frau durchs Fenster hinunter in den Garten, und sie warf den Kindern Kuchen hinab; und oben zwitscherte es hell wie Silberglöckchen, und von unten antwortete es derb und voll und tief, sein Lachen, wiedergeboren aus starker Kinderbrust.

 

Einige Wochen lebte Isebies-Sibylle bei Lilly und den Kindern der süßen Frau im Liebestraum. Sie träumte und lachte und arbeitete und spielte und war voller Geist und Lebendigkeit und diente einem unbekannten Gott, einem Gott, den Sibylle nicht kannte, und von dem sie sich kein Bild machen konnte. Er wurde geliebt, behütet, alles atmete für ihn, er wurde angebetet. Herrlich war, was er tat, herrlich war, was er schrieb. Gearbeitet wurde für ihn und geschaffen, um eine Überraschung vorzubereiten. Abends stiegen aus weißen Bettchen Gebete für ihn auf, die eine flammende Liebesseele für die Kinder stammelte.

Dieser Gott hatte eine Welt zu eigen, mit der er zufrieden sein konnte, eine Welt, die nach seinem Willen lebte, ihm diente, ihm traumverloren anhing und sich ein Bild von ihm machte, vor dem er sich selbst verneigen konnte, und dabei war es eine gar lustige Welt, seinen Anordnungen wohlgeneigt, freudvoll Opfer bringend, singend und jubelnd auch in Sehnsucht, arbeitend und betend, die Musterwelt, die sich ein Götterbild nur wünschen konnte.

Sibylle lebte wochenlang in dieser heitern kindlichen Liebeswelt. Von Alexander Dohrn erhielt sie Briefe aus der Heimat seiner Mutter, – aus der fernen südlichen Heimat. Er schrieb voll ruhiger Kraft.

 

»Du warst es, Du,« schrieb er ihr, »die mir sagte, dort in die Heimat meines Bluts, der Sehnsucht meiner Mutter, zu gehen. Wie anders aber dachtest Du es Dir.

Welch eine Welt ist hier! Wie so ganz begreife ich es, daß meine arme Mutter ein Stück Fremde blieb, getrennt von dieser wundervollen Heimat!

Mit Staunen, Seligkeit und tiefer Freude bin ich ganz erfüllt. Du bist mir hier nahe. Wie verstehe ich es jetzt, daß ich Dich meine Heimat, meine Erde nenne! Du gleichst, so scheint es mir, diesen Menschen hier. Ich sehe Dein geliebtes weiches Gesicht, ja ich sehe Dich immer unter ihnen. Du bist mir hier unendlich nahe! Wunderliches Wort, – tiefgeheimnisvoll: – ›Unendlich nahe!‹

Es gibt wundervolle Worte auf Erden!

Fühlst Du's: ich bin zum Leben erwacht! Ich staune voller Freude – und hoffe auf Dich.

Eine tiefe Liebe zu meiner armen Mutter ist in mir erwacht, ein Erbarmen sondergleichen. Worte, die sie einst sprach, die mir in der Erinnerung haften blieben, sind mir heilig geworden, drollige arme Worte von Sehnsucht beladen, über die ich einst ungeduldig war. ›Keine Menschen, – Schornsteinfeger sind hier alle,‹ sagte sie wie ein armes, eigensinniges Kind, das sich nicht wohlfühlt in der kalten Fremde, und ich schämte mich meiner Mutter.

›Eine harte, harte Erde ist bei euch, auch du bist hart,‹ sagte sie. ›Wäre dein Vater einer von uns, wäre deine Stimme weich wie der Wind, der über den Bosporus weht, du würdest so ein liebes Kind sein, mit einem weißen Mützchen und seidenem Halat, und säßest unter einer Platane auf einem kleinen seidnen Teppich, und ein Laternchen würde neben dir brennen, und Zuckerzeug läge im Bündel neben dir, und kluge alte Männer ständen um dich her, und du würdest ihnen vorlesen aus dem Koran, und die Männer würden staunen, wie klug mein kleiner Sohn ist, und ich lauschte und sähe hinter dem Fenstergitter, wie du dich beim Lesen neigtest wie eine Wiege, in der ein Kindchen liegt, und das Kindchen wäre deine Seele, deine liebe Seele, die stark und groß wüchse an den heiligen Worten des Koran, wie das Kind wächst durch die Milch seiner Mutter.

Ramasannacht würde es sein, und vor den Häusern die blumengeschmückten Tischchen mit Speisen und der süße Duft der Zigaretten.‹

So konnte meine Mutter mir erzählen, – eintönig, von Sehnsucht beladen, bis ich's müde wurde und mich darüber ärgerte, daß ich wie eine Wiege mich hin und her neigen sollte. Das war eine dumme Sache für einen Jungen, der deutsch sein wollte und deutsche Kameraden hatte.

Ja, ich schämte mich meiner traurigen, rührenden Mutter. Eine arme verschmachtete Seele.

Mir ist's, als wäre diese Seele mit mir hier, – mir ist's oft, als nähme sie mich an der Hand und sagte: ›Sieh, sieh, das alles war mein eigen. Sieh, sieh die lieben heimischen Holzhäuschen unter Lorbeerbäumen und das blaue Marmarameer und fühl' den Wind, nach dem ich mich sehnte, und sieh die süßen Frauen in bunten Gewändern auf den Mauern Stambuls sitzen, mit zarten weißen Schleiern, und die Engel, die halbwüchsigen Mädchen mit den Sternenschleiern, das alles waren meine Gefährtinnen; und sieh die Kinder, – die Kinder mit den dunkeln mächtigen Augen und den weißen Mützchen und dem seidenen Halat. Ach, das sind Kinder! Ein fremdes Kind wurde mein, – ein Junge, der sich meiner schämt, der nicht zärtlich ist.‹

Sie hatte keine Freude, auch durch mich nicht.

Ich denke an Dich; und ersehne Dich heiß. Gut will ich zu Dir sein, gut.

Wunderbare Wege führt mich die Seele meiner Mutter.

Ich habe hier Verwandte aufgefunden, einen einsamen alten Bruder meiner Mutter, der in einem Holzhaus am Marmarameer wohnt, das an der alten gewaltigen Mauer angebaut ist. Oben auf der zerklüfteten Mauer wächst ein Granatbusch und hohes Lorbeergebüsch, und man blickt hinaus in die blaue Weite des Meeres. Der schneebedeckte Olymp leuchtet, die Prinzeninseln scheinen im Blau und Licht zu schweben. Minaretts und Kuppeln ragen auf, so weit man über die Stadt blicken kann.

Der alte Bruder meiner Mutter sitzt unter dem Lorbeergebüsch auf der breiten sagenhaften Mauer, raucht sein Nargileh, die Welt versank ihm längst, kaum daß er sich seiner Schwester mehr erinnert. Er erinnert sich eines großen Unglücks, daß eine verstoßen und totgesagt wurde, und eines langen, langen Vergessenseins.

Aber wie fand ich diesen Bruder?

Ein Wunder! Stelle Dir vor: eine Stadt wie ein Labyrinth, unendlich ausgebreitet, – Holzhäuser und Gärten und Zypressenhaine, – Hochwälder mitten in der Stadt, riesenhaft über Hügel hingebreitet, eine Stadt ohne Straßennummern, und glaubst Du etwa, daß es ein Adreßbuch oder irgend etwas Ähnliches gibt? Ein Ameisenhaufen. Eine Stadt des Vergessenseins, des Untertauchens. Hier verschwindest Du wie der Tropfen im Meer, so scheint's und ist auch so und doch anders. In jedem Stadtbezirk kennt einer den andern wie in einem Dorf, – so Dorf an Dorf.

So fragte ich bei allen Wanderungen nach dem Namen, den einst meine Mutter trug. Das Wunder war, daß ich gar bald das rechte Mahale fand, und ein Bübchen führte mich zu dem Alten, und weiteres Wunder: dieser Alte ist ein Freund Munif-Paschas, des Kultusministers. Durch den Bruder meiner Mutter lernte ich einen der Gewaltigen hier kennen, einen Menschen, der Dir gefallen wird, ein merkwürdiger Mann, ungefähr sechzig Jahre alt, vornehm, gebildet, einfach in seinen Gewohnheiten, ein ganz bedeutender Mensch, war Gesandter in Paris und Berlin, spricht vortrefflich Französisch und Deutsch, hat viel von Goethe und Heine übersetzt. Wir gefielen einander. Ich bin oft bei ihm. Wir haben Vertrauen zueinander.

Er hat mir Arbeit im Ministerium gegeben. Ich habe ihm von Dir gesprochen, von der Großmut Frau Dohrns, von der Schwierigkeit, eine Scheidung zu erreichen, von dem Widerstreben Deiner Eltern, und er will Wege finden hier, zu helfen.

Sei nicht kleinmütig, erschrick nicht, sei tapfer, sei klug, Du meine geliebte Heimat, Du gutes süßes Herz, Du gute Lebenslust. Gräme Dich nicht. Laß Deinen Blick groß und weit sein. Wisse, daß Du mein Leben bist!«

 

So schrieb Alexander Dohrn.

Neu war Sibylle dieser starke, frohe Ton. Jedes Wort klang wie Erlösung. Der Brief erschütterte sie freudig. Sie trug ihn auf ihrem Herzen und fühlte ihre schwer erlittene, starke Zugehörigkeit zu diesem Manne zum erstenmal wie eine große Seligkeit.

Niemand kannte ihren Aufenthalt. Frau Dohrn nicht und ihre Eltern nicht. Durch Ottomar Rauchfuß aber erhielten Eigenbrodts Briefe von ihr, in denen sie ihnen mit jedem Wort ihre schwere Lage zu erleichtern suchte, indem sie mit bebendem Herzen helfen wollte.

Sie bekam Briefe von daheim, auch durch Ottomar, mit verzweifelten Anklagen, mit Beschwörungen, zurückzukehren, jedes Wort mit tiefstem Leid beladen, jedes Wort Verzweiflung.

Ihr Herz kam aus Leidensnot kaum zu sich. Nie schlug es ruhig, der unruhige, bange Schlag verscheuchte den Schlaf. Es klopfte und klopfte in Schuld und Not.

Ottomar schrieb an Lilly, die ihn gebeten hatte, die Briefe eine Zeitlang nicht zu schicken, da sie für Isebies fürchte.

 

»Sie muß wissen,« schrieb Ottomar, »was sie tut. Ich habe sie zu schützen versucht, soviel ich konnte, ich habe sie vor dem Dämon Frau Dohrns behütet, – ich habe sie bei Dir versteckt, – ich habe die schwere Rolle auf mich genommen, unberechtigt ihren Wohnort vor den Eltern zu verheimlichen. Ich habe die große Verantwortung auf mich genommen. Der Schmerz dieser Menschen um ihr Kind und seine Tat ist erschütternd. Sie muß ihn wissen. Sibylle muß wissen, welches Leid sie bringt, ihre Handlung muß klar sein.«

 

Ja, und sie wußte jedes Leid, sie lebte es mit, sie beugte sich unter der Last.

Frau Dohrn aber war ihr wie ein Schemen.

Sie wollte ihretwegen leiden, wollte ihretwegen sich in Schuld verzehren; aber wie unter den Händen entglitt ihr das Bild der Frau, als hätte sie dieselbe nie gekannt.

Sie versuchte, sich die Nahgekannte zurückzurufen, sie schloß die Augen, hielt den Atem an, umsonst, das Bild der Frau war wie zerronnen.

Wer war Frau Dohrn? Die alte Frage, die sie so oft in Angst und Not getan.

Nur eine große, gestaltlose Bangigkeit stieg in Sibyllens Seele auf, kein Bild, kein Eindruck.

»Gott sei mir gnädig!« betete Sibylle.

Lillys süße, zärtliche Nähe milderte und sänftigte.

»Könnte ich dir mein Wesen geben, Liebe hat für mich große, weite Flügel, die mich über alles tragen, du mußt lieben lernen! Du mußt Liebe ganz begreifen!«

»Ich bin zu schwer,« antwortete Sibylle, »an mir hängt das Leid der andern.«

Sie arbeitete fleißig, während Lilly an ihrem drolligen Spielzeug hämmerte, schnitzte und pinselte.

 

Es kam ein Brief von Alexander Dohrn: »Meine Heimat! meine liebe Erde! Nun komm! Nun ist alles bereit. Durch unsern Freund Munif-Pascha sind Unmöglichkeiten möglich geworden. Du wirst mein Weib sein. Hier ist Scheidung am leichtesten erreicht worden. Frau Dohrn ist es zufrieden. Frau Dohrn ist einverstanden. Sei gut und tapfer. Ich hab' für Dich hier eine Welt geschaffen. Lache nicht, mein Herz, das sagt ein Mann so gern in der Freude seines Herzens.

Ich möchte Dir sagen: Ich habe das blaue Marmarameer für Dich hingebreitet und die uralte Mauer getürmt, die herrlichen Zypressenwälder, unter denen die Toten ruhen, die Riesenplatanen, die dunkeln, weit schattenden Lorbeerbäume gepflanzt, – für Dich! Und ich habe es geschaffen, daß Du wie eine junge Königin hier empfangen wirst. Und das habe ich wirklich geschaffen! Komm, und Du wirst alles sehen! – In dem lieblichen Landhaus unseres Freundes Munif-Pascha wirst Du vor unserer Trauung wohnen wie eine Prinzessin aus Tausendundeine Nacht, Du wirst so wohl behütet sein wie im Hause Deiner Eltern.

Nun aber komm! Es geschah, was geschehen konnte, meine Erde! meine Heimat! – Daß ich kein anderes Liebeswort für Dich finde! Das macht, daß diese Worte eingegraben sind in mein Herz. Du wirst Dich doch bei mir nicht langweilen, ich bin ein so einfacher Mensch.

Auch mein Werk wird unendlich einfach sein.

Mein Gott, ich erschrecke oft, daß ich ein langweiliger Kerl bin! Deinetwegen erschrecke ich! Ich selbst fühle mich wohl dabei.

Du bist jung und kennst wenig vom Leben und hast so Schweres getragen.

Ich lege Dir einen Brief bei, und Gott segne Dich, geliebte Seele, und aller Schutz, den ich für Dich erhoffe, umgebe Dich.

Es ist Friede, mein geliebtes Herz, laß uns ihr und den Kindern das Leben so erleichtern, wie es in unserer Kraft steht.

Hier gibt es Arbeit die Fülle für mich und Aussichten und Erfüllungen.«

Der Brief war von Frau Dohrn:

»Du schreibst mir, daß ich frei sei. Nun wohl. Du schreibst mir, daß die Scheidung nur eine Formalität ist. Unsere Ehe war jahrelang nur eine Formalität. Wenn alles so ist, wie Du schreibst, können Eigenbrodts nichts machen.«

 

Lilly war über die Briefe Alexander Dohrns selig. »Man spürt seinen freien Atem. Er gefällt mir. Sein Wesen ist lebendig und gut, – und etwas Großes, Weites liegt in ihm.«

 

Schwer war Lillys Abschied von Isebies-Sibylle, verweinter und schluchzender als damals am dunkeln Oktoberabend auf dem Ettersberg, als Lilly ihr erstes Kindchen unter dem Herzen trug.

»Isebies,« sagte sie, »die Abende sind so bang, jetzt spür' ich's erst, seit du da warst. Wie werde ich dich vermissen!

Abends auf das Klopfen der kleinen Herzen lauschen und süße Dinge denken und auf ihn hoffen und Spielwerk schnitzeln und anmalen und ein Liedchen summen und im Spiegel sehen, daß um das sehnsüchtige Gesicht das Haar in Herzensflammen brennt!

Isebies, weißt du noch, wie ich dir sagte: Er liebt mich! Und seine Herzen sind's, an denen ich abends in Sehnsucht lausche, und wenn er wiederkommt, wird bald ein neues Herzel in mir schlagen, – so ein süßes Menschenherzchen, der Sonne entgegen!

Und stell' dir vor, wie wundervoll für ihn, – dieses Liebesnest! Seine Kinder! sein Weib! Keine Not hat er von uns, nichts Überlästiges sind wir ihm. Seine heilige Arbeit wird nicht gestört durch uns. Nur Liebes, nur Seligkeiten hat er von uns.

Ich habe ihn doch glücklich gemacht!

Muß er uns nicht lieben? Muß er nicht beglückt sein? Ich will nichts! – Seine Freiheit ist mir heilig!

Aber es ist auch in mir kein Zweifel. Um Gottes willen, – ein Zweifel!« schrie das zarte Weib fast auf. »So etwas gibt's doch nicht, Isebies? Für so viel Liebe? – Denk' dir,« sagte Lilly mit großen Augen, »darauf wäre ich nicht vorbereitet.«

»Wie sollt' er dich nicht lieben,« antwortete Isebies-Sibylle bang. Hilflos erschien ihr das liebe Geschöpf in seinem einsamen, ekstatischen Liebesdienst, in seiner zarten, heiteren Entichung, in seiner süßen Entsagung, – diese arme Welt!

Wenn man ihren Gott ihr nehmen würde! Die Geschöpfe, hervorgerufen durch Liebe und Anbetung, würden ihre Bedeutung verlieren.

Sibylle verstand Ottomars Sorge um das flammende Weiblein.

 

Isebies-Sibylle an Lilly: »Lilly, Du Frauchen, Du guter, lieber Engel. Auf meiner ganzen langen Reise sah ich Dich oft vor mir. Du wechseltest mit vielen Bildern, die mich bedrängten; aber das Häuschen und der Blumengarten, die Kinder, das Mütterchen, das Spielzeug, aus dem Ihr lachenden Geschöpfe Eures Lebens Unterhalt wie Bienen aus Honigkelchen zieht, das war alles so ruhevoll, eine kleine Welt, die ein lieber Engel geschaffen aus ein wenig Weltenstoff, den er dem Herrn der Welten gestohlen. Was der große geheimnisvolle Herr seinen Welten an Weh und Not und Tod und Jammer beigemischt, – das hat lächelnd der liebe Engel fortgelassen. Sein Erdchen ist so wunderschön und dreht sich wie die andern Welten. Man hört nur Lachen, nur Liebesworte; nur Hingebung sieht man. Glückliche Kinder, eine sonnige, strahlende Mutter, die vor Liebe überfließt. Kuchen und harmlose Speisen, kein armes Tier nährt mit ein paar Pfündlein seines mühseligen Fleisches die lachenden Geschöpfe.

Du lieber Engel, Du hast Gottes Rezept zu seinem schweren Erdenstoff lächelnd verändert. Ach, er soll Deine kleine Erde gnädig tanzen lassen unter all den schweren, leidbeladenen Welten, er soll sein heiliges Auge zudrücken, wenn die kleine selige Kugel im Tanz der Gestirne an ihm vorüberzieht.

Gott behüte Euch.

Einen schweren, schweren Brief schrieb ich heute, drum ist mir's so ein Aufatmen, an Dich zu denken.

Du weißt und weißt auch nicht, welch eine Welt mich umgibt. In dem Augenblick, als mein Freund Alexander Dohrn mir auf dem Schiff entgegenkam in all dem Fremdartigen, dem Blinken der Wellen, in all dem Überwältigenden um mich her, dem Schreien und Toben auf dem Schiff und in den Booten, erkannte ich ihn nicht, so gebräunt und froh sah er aus. Er trug einen Fes wie alle fast, die ich um mich sah, und schön erschien er mir und überaus angenehm. Er sah aus, als fühle er sich wohl und glücklich.

Nie hatte ich ihn so gesehen.

Als wir in Munif-Paschas Kaik, einem langen, flachen, reich vergoldeten Boot, das von sechs Männern in weiten, rot und blau gestreiften seidenen Hemden gerudert wurde, pfeilschnell dahinflogen auf dem sonnenglänzenden, blauen Wasser, über die hüpfenden Wellchen, da wurde es mir zum ersten Male leicht zumute seit Jahren, und mir war's, als schliefe ich aus schwerem Wachsein zu süßem Traume ein. Wir fuhren an den Riesenschiffen entlang, und die Möwen flogen wie Schneegestöber, und wie Schnee lagen sie auf dem Wasser. Die fremdartige Stadt ragte auf den Hügeln auf, und mein Freund saß vertraulich und heimatsicher neben mir.

Und so ist's geblieben – ein Traum.

Munif-Paschas Töchter Ferdös und Fidned, der wundervolle Garten, das halb orientalische, halb europäische Haus – und meine Geborgenheit in all der Fremde und die Nähe des teuersten Menschen.

Was ich fühle, ist unmöglich zu beschreiben, und was ich sehe ebensowenig. Ich wohne neben Ferdös und Fidned und höre sie lachen und plaudern. Es klingt, als zwitscherten fremde Vögel neben mir mit süßen, zarten Stimmen. Eine Frau hat Munif-Pascha nicht, eine Französin erzieht die Mädchen. Die Mutter der beiden Mädchen starb vor Jahren. Ferdös, Paradies, heißt das älteste Kind, geht daheim in europäischem Bubenanzug, in Bluse und Hose.

Welch ein Durcheinander schreibe ich! Aber was soll ich tun? Wo soll ich beginnen? Das Wundervolle um mich her ist unbeschreiblich, eine Schönheit sondergleichen; aber ich kann mich nicht fassen, – ich habe nicht die Seelenruhe, auszusprechen, was ich sehe und empfinde.

Unsere erste Abendmahlzeit:

Seine Exzellenz erschien und begrüßte mich mit vornehmer Güte. Ich dankte ihm für seine unbeschreibliche Liebenswürdigkeit, mich in seinem Hause aufzunehmen, die ganz Fremde.

›Nicht Fremde,‹ sagte er. ›Wir sind Freunde, Ihr künftiger Gemahl und ich, wir verstehen einander, es ist selbstverständlich, daß Sie hier in meinem Hause wohnen.‹

Er sprach Deutsch und wechselte mit Französisch. Er spricht ein wundervolles Französisch, unterhält sich bei Tisch auch mit den Kindern Französisch.

Der Raum, in dem gespeist wurde, hat tiefgoldleuchtende Strohmatten auf dem Boden, darüber wundervolle Teppiche, eine europäische Tafel; das Licht, noch Tageslicht, kommt von oben, die Decke wird von geschnitzten Pfosten getragen; oben an der Wand, an die Decke grenzend, ist ringsum ein breiter Streifen, der von Weinlaub und dunkeln Trauben, von blühenden Rosen und Lorbeer auf eine wundervolle Weise überwachsen ist.

Nie sah ich ein herrlicheres Zimmer, wie eine Laube ist es, und doch geschützt gegen Sonne und Regen und wohnlich. Die Wände bedeckt von herrlichen Schnitzereien und Geweben. Hinter jedem Stuhl ein Diener mit goldgetriebener Schale und einem Krug voll duftenden Wassers und einem Handtuch mit köstlicher Goldstickerei.

Die ganze Art zu speisen hatte etwas Feierlich-Schönheitsvolles.

Die Unterhaltung war heiter. Munif-Pascha scherzte mit den Kindern, richtete Fragen über den Verlauf des Tages an die Erzieherin. Er und mein lieber Freund hatten Wohlgefallen aneinander. Und welches Wunder: – der unruhige Alexander Dohrn, der nervös von einem Gespräch absprang, um ein neues zu beginnen, was ihn mehr anzog oder weniger langweilte, war ruhig und heimisch.

Mit Staunen hörte ich zu.

Ja, das Blut deiner Mutter, dachte ich, hat dich zurückgeführt, ihre Sehnsucht ist in dir gestillt worden.

Du hast wohl die Heimat deines Wesens gefunden.

Munif-Pascha wendete sich an mich: ›Nicht wahr, wüßten wir gegenseitig mehr voneinander, würden sich, bin ich überzeugt, Ihre Verwandten bald beruhigen, daß ihre Tochter nicht ist auf einem französischen oder einem deutschen Standesamt getraut worden, sondern auf einem hier bei uns. Soviel ich glaube, wird es unser aller Gott recht sein, und er wird lächeln über ein so große Unglück.

Im Hause von meinem Neffen ist Ihre Trauung, denn ich muß sein etwas vorsichtig. – Durch meine Stellung.‹ – er lächelte, ›bin ich exponiert. – Die Gesandtschaften. – Wie nennt man mich, Mademoiselle?‹ wendete er sich langsam und bedächtig an die Erzieherin.

›Exzellenz verzeihen, wenn ich nicht irre, Frank-Pascha.‹

›Das ist fränkischer, europäischer Pascha,‹ erklärte er, › et encore?‹ fragte er.

Die Französin lächelte. ›Malepi-Pascha, Exzellenz, wenn ich nicht irre.‹

›Ach, Sie irren nicht, sie nennen mich hier Malepi-Pascha, jawohl, – den Gelee-Pascha, – das ist kein sicherer Pascha, kein Pascha nach der alten Schule, – so ein Gelee bewegt sich, so – und so. Einem Malepi-Pascha sieht man auf die Finger.

O, er würde sich noch mehr bewegen,‹ sagte er lebendig, ›aber noch ist nicht die Zeit. Geduldig muß die Gelee sein.‹

Munif-Pascha und Munif-Paschas Haus und seine schönen, übermütigen Töchterchen, denen er alle Freiheit läßt, weil sie sie verlieren müssen, wie er sagt, sind etwas Einziges.

›Schreiben Sie an Ihre Eltern,‹ sagte er an diesem ersten Abend zu mir. ›Der Kultusminister Munif-Pascha läßt ihnen sagen, sie sollen gnädig sein, auch für sich selbst. Religion ist eine Sache, die mit unsere Unwissenheit zusammenhängt. Sie ist bei allen Völkern der Schleier, der vor das große Geheimnis gezogen ist. Jedes Volk hat sein Schleier mit einem andern Muster, dasselbe Geheimnis aber haben wir alle.

In Europa würde ein Kultusminister sich ganz anders ausdrücken. Wir Gebildeten hier sind einfach und lassen uns von einer goldgestickten Ministeruniform nicht imponieren.

Und nicht ist es nötig,‹ sagte Munif-Pascha, liebenswürdig lächelnd, als er sich langsam von seinem Stuhl erhob, ›daß Sie einen fremden Schleier nehmen. Eine Frau behält immer ihr eignen Schleier.‹

Isebies, Eure Isebies.«

 

An einem wundervollen Spätsommertag wurde Alexander Dohrns und Sibyllens Trauung im Hause von Munif-Paschas Neffen vollzogen, in einem echt türkischen Hause.

Sibylle, im einfachen, weißen Sommerkleid, war bei der jungen Frau des Hauses, die nur Türkisch sprach. Sie hatte Sibyllen ein Schleierchen, mit goldenen Fäden durchwirkt, im Haar befestigt und liebkoste sie, wie man eine Katze liebkost. Reizend tat sie das wie ein Kind.

Aber Sibylle war unendlich beängstigt davon.

Dies spielerische, zärtliche Wesen nahm ihr den Atem, – ließ ihr das Herz heftig klopfen.

Welche Einsamkeit, Verlassenheit und Fremde.

Draußen vor den hohen, holzvergitterten Bogenfenstern der Bosporus, dessen Wassermassen sich mächtig vorüberwälzten. Über Zypressen und Pinien und hohe Lorbeerbäume blickte man bis zum Ufer hinab über den terrassenförmigen Garten hin. Ein nahes Minarett hob sich schlank empor, durch das Zimmer huschten neugierige Dienerinnen, zwei wunderschöne Bübchen von vier und fünf Jahren in weißen, gehäkelten Käppchen, weißseidenen Kittelchen mit goldenen Gürteln brachten Sibylle Blumen, begrüßten sie würdig mit rührendem Ernst, hoben die runden Händchen an die Stirn und machten ihren Salam.

Sibylle sah in dunkle, ernste Sonnenaugen und gedachte der sehnsüchtigen Beschreibung türkischer Kinder, die Alexander Dohrns Mutter ihrem Sohn einst gemacht hatte.

Ja, das waren keine ungezogenen deutschen Jungen, diese beiden süßen wundervollen kleinen Ehrenmänner, die sich würdig zu Füßen ihrer Mutter auf ein Pölsterchen niederließen, das waren vornehme Leute, die aussahen, als hätten sie kurze, feste Engelsflügel unter ihren seidenen Kittelchen verborgen.

Sibyllens Gedanken zogen schweren Fluges in das geliebte Haus unter den hohen Bäumen. Sie suchten jeden einzelnen darin auf, flogen um alle daheim wie große, weiße, bange Vögel mit lautlosem Flügelschlag.

Im Zimmer des Hausherrn im Selamlik, das wie jenes der Frau den wundervollen Blick durch hohe Bogenfenster auf den Bosporus hatte, waren die Trauzeugen versammelt: Munif-Pascha, Iskender Kabuli, ein wunderlicher Mensch, den Sibylle schon kennen gelernt hatte, der ein Afghane, Schwager vom Emir von Afghanistan, und als Gastfreund Munif-Paschas hier war, ein Mensch, der alle Sprachen sprach, alle Literaturen kannte, am Petersburger Hof erzogen worden war und in Berlin und Paris studiert hatte, und ein junger Deutsch-Ungar, der Direktor der großen Gewerbeschule in Konstantinopel.

Als Sibylle eintrat, vom Hausherrn geleitet, blickte sie mit einem langen Blick auf Alexander Dohrn, – der trat zu ihr und sagte leise: »Meine Heimat, meine Erde –« Er gab ihr nicht die Hand, – das durfte nicht sein. Der alte Iman, der die standesamtliche Trauung vornahm, stand bereit, die Unterschrift von Alexander Dohrn und Sibylle zu empfangen. Ein Knabe hielt das türkisblaue winzige Tintenfäßchen.

Alexander Dohrn wurde gefragt, was er bei einer etwaigen Scheidung seiner Frau auszusetzen gedenke. Iskender Kabuli nannte in seinem Namen der Form wegen eine Summe. Alexander und Sibylle unterschrieben, die Zeugen unterschrieben alle, der alte Iman machte seinen Salam, empfahl sich, und die Ehe zwischen zwei Menschen, die einander liebten, war geschlossen.

Munif-Pascha reichte Sibylle die Hand und sagte: »Seien Sie froh, daß Ihnen die Feier einer Hochzeit hier erspart bleibt. – Iskender Kabuli soll Sie beide in das Kloster Akserail begleiten, in das Kloster seiner Landsleute. Der Scheich wird Sie zum Tee empfangen, – seien Sie meine Gäste, so oft Sie wünschen, – auf gute Freundschaft.« Er reichte beiden die Hand und sagte noch im Weggehen: »Ich habe es mit Iskender Kabuli besprochen, er wird Ihr Hausgenosse für einige Zeit sein. – Er wird Ihnen helfen, – kümmern Sie sich um gar nichts. Er wird alles versorgen. Sie werden in ihm ein Stück Orient kennen lernen, von dem sich in Europa niemand etwas träumen läßt.«

Man hörte Munif-Paschas Wagen vorfahren, hörte die reitenden Kawassen. Sibylle nahm stummen Abschied im Harem von der jungen zärtlichen Frau. Sie küßten sich, und Sibylle ließ sich von ihr liebkosen, und die Bübchen mit den dunkeln Sonnenaugen grüßten würdig und entzückend ehrbar.

Dann geleitete Iskender Kabuli Alexander und Sibylle zu Munif-Paschas Kaik durch den Garten, und die sechs Ruderer fuhren sie zum Kloster Akserail.

Iskender Kabuli sagte: »Aber ich bitte nicht Arm in Arm zu gehen. Hier kennt ein Ehepaar sich nicht auf der Straße. Scheich ül Reis ist unterrichtet. Wir werden uns dort mit meinen Freunden unterhalten. Sie werden etwas Schönes zu sehen bekommen. Munif-Pascha hat das so angeordnet.«

Das Kaik flog wie ein Pfeil dahin und legte an einem grünen Winkel zwischen Mauern und Lorbeerbäumen an, und ein Sträßchen zwischen Gärten und niedern silbergrünen heimischen Holzhäusern führte steil aufwärts, einer Dorfstraße gleich mit stillen, grünumwachsenen Häusern. Schön geschnitzte grüne Türen, feingearbeitete hölzerne Fenstergitter, von Sonne und Regen entfärbt, Klopfer an den Türen, gelbe, friedliche, schakalartige Hunde. Rosen nickten über alle Mauern und breitgelagerte Feigenbüsche mit ihren vollen, runden Wipfeln.

Eine Schönheit sondergleichen.

An einem niedern, breiten Holzhaus, an dem ein hölzernes Minarett wie ein spitzes Vogelnäpfchen an einem Vogelbauer hing, klopfte Iskender Kabuli. Der Klopfer war eine schöne Frauenhand aus Bronce, und dieTür war grün und das niedere Haus verwittertes silberfarbenes Holzwerk und der Lorbeer, der Haus und Minarett überragte, so tieffarben und herb duftend. Ein mächtiger Garten mochte hinter dem Hause liegen.

Die grüne, abgebleichte Pforte tat sich auf. Sie waren erwartet. Iskender Kabuli wurde warm begrüßt von einem wunderschönen, in ein fließendes weißes Gewand gekleideten jungen Mann. Aus dem elfenbeinhellen Gesicht leuchteten dunkle Augen, und langes dunkles Haar fiel ihm zu beiden Seiten der Schläfen in dichter Fülle bis zum Ansatz des Halses. Sein Gewand war fleckenlos und fiel in weiten, weichen Falten bis zur Erde.

Sie traten ein in einen großen niedern Raum, mit goldfarbenen Binsenmatten bedeckt, die Fenster standen weit offen, und der Gartenfrieden grüßte herein. In diesem Raum standen an den Wänden steinerne Sarkophage wie Betten und waren mit wunderbaren indischen Schals überdeckt, mit einer Fülle von weichen Falten und Farben.

Weiße Mönche gingen in dem großen Raum hin und her und schneeweiße langhaarige Katzen.

Der Mönch, der ihnen die Türe geöffnet, führte sie durch lichte Gänge in den Garten, durch eine Wildnis von Lorbeer, Granatbüschen und Zypressen; Marmorgrabsteine leuchteten.

Iskender Kabuli zeigte auf niedre silbergraue Holzhäuser, die in terrassenförmigen Gärten sich aufbauten; die ganze nächste Umgebung schien zum Kloster zu gehören.

»Hier in diesen Häusern wohnen die Familien der Mönche,« sagte er. »Es sind alles verheiratete Männer, die mit Frau und Kindern hier leben und einen großen Teil des Tages im Kloster verbringen, Gott dienen und sich mit alter Weisheit beschäftigen.

Ein reiches, vornehmes Kloster. Nur indische Mohammedaner.

Sie sind Munif-Paschas ganz besondere Freunde, große Grübler und Philosophen, sehr gelehrte Männer. Er ist oft hier, der Scheich ist sein Freund.«

 

Der Scheich empfing seine Gäste in einem Raum von größter Einfachheit und Schönheit. Von Rosen und Wein übersponnene Fenster gaben dem ganz mit Matten ausgelegten Zimmer ihr mildes Licht. Mit schönen Teppichen belegte Sofapolster rings um die Wände, elfenbeineingelegte Tischchen an den Eckplätzen, Bücher und türkisblaue Tintenfäßchen und Rohrfederhalter auf den Sitzpolstern. Man sah, hier wurde viel geschrieben und gelesen.

Der Scheich bewirtete seine Gäste mit Tee, und auf einer silbernen Schale reichte ein weißer schöner Mönch goldene Papiertütchen mit Konfekt.

Der Scheich mochte ein Jugendfreund Munif-Paschas sein.

Sein Gesicht ganz durchgeistigt, von großer Zartheit. Iskender Kabuli machte den Dolmetscher. Man sprach von Munif-Pascha. Der Scheich sagte, daß er von Munif-Pascha über alles unterrichtet sei, und wendete sich an Alexander Dohrn.

»Der Freund Munif-Paschas soll mir willkommen sein. Ich freue mich, daß Sie einer der Unsern sind. Sie sollen hier bleiben. Für Munif-Pascha ist es gut, wenn neue Kräfte zu ihm stehn. Er ist ein Mann, der Gutes und Großes will; aber die Hände sind ihm noch gebunden, – und wenige verstehen ihn. Manche kommen zu früh, manche wieder zu spät in die Zeiten. Er ist ein zu früh Gekommener. Hart war sein Leben. Später wird das, was er mit großen Anstrengungen vorbereitete, leicht wie von einem Windhauch getan werden. Al tanna ssuchiah, das Zusammenfließen der Seelen,« sagte der Scheich, zu Alexander Dohrn gewendet, »das Zusammenfließen der Seelen führt die Menschen zueinander.«

»Das Zusammenfließen der Seelen?« Alexander Dohrn fragte den Scheich, wie er zu diesem wundervollen Ausdruck käme.

Und der Scheich sagte ihm, durch Iskender Kabuli:

»Es war einmal ein armseliger Hirtenbub aus Schamalgan bei Bassorah, der wurde eines schönen Tages vor den Toren Bagdads gehenkt. – Warum wohl? – Nun, er zweifelte daran, daß die Sonne um die Erde kreise. Umgekehrt, sagte er, unsre Erde ginge um die Sonne, und der Mond, das heilige Symbol, – sei nur ein mitlaufender Sklave der Erde, was alles doch augenscheinlicher Unsinn war. Und noch mehr; er wagte es auszusprechen, daß die unendliche Welt nur Allahs zersplitterte Seele sei, und daß einzig das Zusammenfließen irdischer Seelen – al tanna ssuchiah – zum Frieden auf Erden und zum Tore des Paradieses führe. Dies sei Wahrheit, und alles andere sei Lüge.

Ist nun ein solcher Hirtenbub nicht mehr wert als ein ganzes Regiment von Doktoren der Philosophie samt allen Unteroffizieren und Generälen und noch manchen Geheimräten und Exzellenzen dazu? – Die Menschheit fürchtet die Wahrheit, – haßt die Wahrheit, – und Mahmud Schamalgani wurde von Rechts wegen gehenkt. Im Jahre der Flucht 322.«

Es strömte Frieden von diesem Scheich aus und mehr als das, – Menschenhoheit.

» Al tanna ssuchiah sei euch beschieden,« sagte der Scheich durch Iskender Kabuli, »das höchste Glück auf Erden.«

Der Scheich entließ seine Gäste in die Moschee, die mit dem behaglichen Raum, in dem man sich aufgehalten hatte, durch einen schmalen Gang verbunden war.

»Munif-Pascha hat euch einen schönen Eindruck geben wollen,« sagte Iskender Kabuli. »Es ist ein Juwel, dies Kloster. Zu ergründen ist es nicht fürs erste. Lernen Sie es kennen. Munif hat gewiß noch keinen Europäer hierher geschickt. Er muß Ihnen sehr zugetan sein,« wendete er sich an Alexander Dohrn. »Sie wissen, ich kenne Berlin, und besser, als Sie glauben, und Paris und Petersburg; aber ein solches Kloster Akserail habt Ihr nicht.« Iskender Kabuli lächelte. – »Ein Traum, – diese wundervolle Ländlichkeit, – haben Sie bemerkt?« fragte er Sibyllen. »Und diese Kultur! Haben Sie die Schönheit und Vornehmheit dieser Menschen und ihre Bewegungen gesehen? – Und wenn Sie den Frieden kennen würden – und die hohe Weisheit, die süßen Frauen und Kinder dieser Männer, und das Heim jedes einzelnen. Hier gibt es keinen Tod mehr, keinen Gram, sie haben den Frieden der Seele. Bei euch sind die Mönche unverheiratet, die Sinne gepeinigt. – Ich liebe die Weisheit meiner Leute. Ich brauche gar nicht mit ihnen zu reden, klopfe mit der schönen bronzenen Frauenhand an die verblichene grüne Tür und gehe durch den Garten zwischen den Sarkophagen – und sitze still bei den weisen Mönchen, wenn sie lesen und studieren, und plaudere ein paar Worte, und dann kann mich auf Stunden nichts Schlimmes treffen, – man muß nur verstehen.«

Iskender sprach ein fast vollkommenes Deutsch, ebenso Französisch und Russisch. Er trug sich europäisch wie Munif, aber vernachlässigt. Er war ein Mensch ohne Alter, sein sonderbar eingekniffenes rundes Gesicht hatte den bräunlichen Elfenbeinton der Mönche von Akserail, nur etwas gebräunter, und auch er hatte die schönen schmalen Sonnenaugen seiner Landsleute; aber die verschobene und verdrückte Umgebung ließ sie nicht zur Geltung kommen.

»Sie gefallen den Mönchen beide sehr,« sagte er zu Sibylle. »Man hat es mir gesagt.«

Sibylle lächelte verträumt.

 

Das Kaik flog bald wieder von den sechs geschulten Ruderern geführt über die hüpfenden Wellen der mächtigen Strömung und landete in der Nähe vom alten Serail. Von da führte ein Wagen die drei Gefährten in die Wohnung, die Alexander Dohrn für sich und Sibylle gefunden. Iskender Kabuli hatte für das Notwendigste gesorgt.

Wer in der schmalen Straße ging, in welcher der Wagen bald hielt, ahnte nichts von der Herrlichkeit, die hinter den Häusern, die auf der alten zerklüfteten Stadtmauer erbaut waren, sich ausbreitete.

Sibylle war ganz Staunen, als Alexander Dohrn sie durch ein graues Tor führte, durch einen schmalen Hof in ein stilles, fast leeres Haus. Durch einen Vorraum traten sie in ein großes Zimmer mit hohen Bogenfenstern, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, – das Zimmer war in weitem Bogen hinausgebaut. Von allen Seiten überströmte Schönheit den Eintretenden. Das blaue schäumende Meer und sein Rauschen, Skutari leuchtete und seine Zypressenwälder dunkelten, fern der schneebedeckte Olymp, die Prinzeninseln schwammen in Abendsonne, die zerklüftete, mächtige tausendjährige Mauer zog sich in weitem Bogen dem Marmarameer entlang. Auf ihr ruhte auch dieses Haus, und das Meer brandete an ihre gewaltigen Fels- und Trümmersteine.

Zwei Menschen standen ganz versunken und hielten sich an den Händen.

»Sieh,« sagte Alexander Dohrn, »was Iskender zusammentrug, um es uns behaglich zu machen.«

Polster und Decken und ein paar Tischchen, die ganze Einrichtung, die ein Orientale braucht. Er zeigte ihr die großen Wandschränke und einen schönen Teppich von Munif-Pascha.

Auf einem kleinen Tisch war eine Mahlzeit gerichtet. Ein Teekesselchen, Früchte, ein gebratenes Huhn, Wein und Blumen und ein schönes weißes Brot.

Iskender Kabuli trat ein. »Ist es recht so?« fragte er.

»Haben Sie uns das alles hergerichtet?« wollte Sibylle wissen. »Wie geschickt Sie sind.«

»Sie werden sehen, daß Sie mich brauchen können,« sagte Iskender lächelnd.

»Aber wie kommen Sie dazu? Wie ist das möglich?« fragte Sibylle verwirrt.

»Betrachten Sie mich ganz als Ihren Diener,« sagte Iskender. Er machte seinen Salam und empfahl sich.

»Wo bleibt er?« sagte Sibylle.

»Er schläft in einem Zimmer hier im Hause, mein Herz, beunruhige dich über ihn nicht, der hat sich eine Matratze gekauft und sich häuslich eingerichtet.«

»Dieser gebildete, vornehme Mensch, wenn er auch recht verschlumpt aussieht! Ist das nicht ungemütlich?«

»Das ist seine Sorge.«

Die letzten Strahlen der Abendsonne schienen über das blaue Meer. Glühende Farben brannten, und die Wogen rauschten. Es war, als erzitterte das leichte Holzhaus leise von der Brandung an die Felsenmauer.

Boote mit leuchtenden Segeln glitten vorüber, beladen mit Getreide und Früchten. Ganze Ladungen von Melonen. Mächtige Schiffe segelten, Dampfer zogen ihre dunkeln Rauchfahnen hinter sich her.

Unter den Fenstern eine Veranda, zur Hälfte mit Lorbeerzweigen gegen die Sonne gedeckt.

Hand in Hand traten beide durch eine Glastür hinaus ins Freie.

Auf dem weiten Bogen der Mauer Holzhaus an Holzhaus mit großen Balkons, die hinaus ins Meer gebaut waren.

Lorbeerbäume und Zypressen drängten durch jede Lücke, und Büsche des Granatapfels, mit Früchten beladen.

»Laß uns miteinander gehen,« sagte Sybille.

Dann wandelten sie in der stillen Straße auf und nieder, einer Märchenstraße. Schlafende Häuser, ein weißes, schlankes Minarett, eine mächtige Platane, in deren hohlem Stamm ein Schuster wohnte. – Er saß und arbeitete noch. An einem langen Zweig hingen die fertigen Pantöffelchen. Der Wind rauschte in der gewaltigen Krone, und der Schuster hämmerte und klopfte.

An einem verfallenen Haus mit wundervollem, verwilderten Garten gingen sie vorüber, die von Sonne und Wetter fahlen Holzgitter sahen trübselig aus. Es ist, als quölle der Staub, den Jahre aufgehäuft, aus den Ritzen des Hauses, durch die von der Hitze wie trockenes Papier aufgequollene Holzverkleidung. In einem weiten, dämmerigen Winkel, den das Haus mit einem anderen bildet, die herrlichsten Palmen und Tropenpflanzen. Das Glasdach, das sie überdeckte, zertrümmert; ein alter vergoldeter Kronleuchter hängt an dem Dachgerippe herab. Ein Kamelienbaum hat das Dach überwachsen. Dieser verlassene Treibhausgarten grünt schon manchen milden Winter hindurch. Möwen in Schwärmen umflattern ihn. Er hat sich ungeschützt herrlich entfaltet, während der einstige Besitzer verbannt, verstorben oder verkommen ist. Niemand hat der köstlichen Ecke mehr acht, Tauben und Dohlen nisten darin, ein Gassenjunge hält wohl einmal ein Schläfchen unter den breiten Fächern der Palme. Bis ein scharfer Winter der Herrlichkeit ein Ende macht.

Der Mond stieg auf.

Sibylle faßte Alexander Dohrns Hand. »Welche Fremde, – welche Fremde,« sagte sie. »Mir ist's so bang.«

»Du bist bei mir,« sagte er, »wir sind beieinander.«

Sie gingen noch hinunter an das Meer und setzten sich auf einen der gewaltigen Steintrümmer, die sich von der Mauer durch die Zeit und durch Erdbeben gelöst hatten, und sahen auf die goldene, zitternde Runenschrift, die der Mond auf das bewegte Meer schrieb.

Grell beleuchtete er das Stück Mauer, auf das ihr leichtes Haus gebaut war.

Sie sahen ein uraltes, geheimnisvolles Bogenfenster gerade unter ihrem Hause und unter diesem Bogenfenster zwei marmorne ineinander verschränkte Hände.

»Sieh,« sagte Sibylle. »Sieh!«

Da hielten sie einander umschlungen und sahen einander in die Augen, und er küßte sie, wie man das Liebste küßt, das man auf Erden hat.

»Wer mögen die gewesen sein, die ihre Hände unter das uralte Fenster einmeißeln ließen? Vor uralten Zeiten?« fragte Sibylle leise.

»Wir waren es – wir, Sibylle,« sagte er bewegt.

Ein Schauer durchbebte sie, die Tränen überwältigten sie. »Wie ist nur alles möglich, du Lieber. Werden wir nicht erwachen?«

Die mondbeschienenen Wellen klangen fast metallisch, wenn sie sich an der Mauer brachen.

Alexander und Sibylle Dohrn gingen durch das Pförtchen zurück in das stille Haus, in das der Mond durch das hohe Bogenfenster schien und das Rauschen des Meeres hineinklang.

Geheimnisvolle Stimmen tauchten auf, starben hin, und wie ein Glockenton klang aus der Ferne das Bellen der gelben, schakalartigen Hunde, die nachts geheimnisvoll durch die Straßen der unermeßlichen Stadt wie Schatten gleiten, durch die Stadt, die wie ein Palast von Marmor und uraltem Zierat strotzend im Mondschein ausgebreitet liegt, zerschellt und zerfallen, mit allerlei Gerümpel ausgeflickt, ein ungeheurer, wundervoller Trümmerhaufen, der eine Unzahl wohnlicher Ecken birgt und Prunksäle in alter Pracht und heimische Holzhütten. Edler Marmor, köstliche Skulpturarbeit schimmert unter Disteln, Feigengestrüpp und Efeu. Verblaßte edle Teppiche leuchten durch zerfallene Fenster verlassener Moscheen. Daneben marmorschimmernde Moscheen und Minaretts in aller Pracht und Herrlichkeit, und alles überwachsen von Pinien und Zypressen, Platanen und Lorbeer, und die uralte Mauer, die wie ein Felsengürtel am Meer in die Höhe starrt, durchwühlt und durchhorstet, in jedem Felsloche eine Heimstätte, ein Arbeitsnest, in dem Teppiche gewebt und köstliche Geräte getrieben werden oder Zigeunerinnen Tücher malen und drucken. Keine Mauerfelsenritze, in der nicht Dohlen, Tauben, Falken, Adler nisten.

O du, durch Jahrtausende belebte Stadt, du Stadt aller Religionen, aller Rassen, aller Zeiten, du Heimstätte aller Gebräuche, du vergoldeter Schrein uralter Heiligtümer und Reliquien und Erinnerungen versunkener Zeiten, versunkener Völker, du Wunder aller Städte auf Erden! –

 

Welche Tage im stillen Haus an der Märchenstraße! Aufatmen in Wundern und tausend Zaubern. Des Meeres Rauschen zu jeder Stunde, und zu jeder Stunde Staunen und Entzücken, und Iskender Kabuli diente wie ein Hausgeist. Man wußte nicht, wie die Dinge geschahen. Auf einem Kohlenfeuerchen im Hofe kochte er kleine, zierliche Speisen, das hohe, weite Zimmer fanden sie gefegt, wenn sie nach einem Morgenspaziergang zurückkehrten, den Teetisch gedeckt. Iskender aber selbst kam ihnen wenig nahe, belästigte nie. Abends aber saßen sie mit ihm auf der Terrasse.

»Gering sein und Armut,« sagte er am ersten Abend lächelnd, als er sich eine Zigarette anbrannte und Kaffee kochte in dem messingenen türkischen Kännchen, »ist ausruhender für Leib und Seele als Reichtum und Ehre. Ich kenne die Welt. Lassen Sie sich von Ihrem Mann sagen, wer ich einst war, mit dem jüngeren Bruder des russischen Thronfolgers erzogen. Pferde, Equipagen und so weiter. Haben Sie die blinden Bettler an den Moscheen gesehen, haben Sie sie singen hören: ›Gläubige, ich tat die Augen zu, um die Welt nicht zu sehen. Schließt eure Augen! Hört mich, Gläubige! Besser, du verlierst das Augenlicht, als du siehst die Verlockung der Welt und liebst sie. Ich selbst kann das Angesicht nicht mehr gen Mekka richten, doch nahet sich ein guter Mensch, leitet er mich, daß ich des Heils nicht entbehre. Gläubige, gebt dem Blinden eine Gabe.‹

Was meinen Sie, – unter diesen Bettlern sind manche einst Reiche und Mächtige. Ja, wir verstehen es, die Bürde dieser Erde von uns zu werfen, wir wissen, was Freiheit ist. – Buddha, der Königssohn, den kennen Sie doch; – und so dich dein Auge ärgert, reiße es aus und wirf es von dir, – das predigt Ihr! Wir aber tun es, – wir auch sprachen es aus! Wir sind die Augenherausreißer, – wir sind die Trunkenen ohne Wein, – wir sind die Seher ohne Blick, wir sind die Seligen ohne Seligkeiten, die Gottsucher – und die Weltflieher.

Schande und Armseligkeit: – Unterschlupf für Müde, – ein Asyl –,« sagte Iskender Kabuli, sich behaglich zurechthockend. »O Freude! O Schande! O Schande! O Freude! Und denken Sie, man hält unsereinen hier nicht für verrückt. Sie haben gesehen, wie Munif-Pascha zum Beispiel mich empfängt, er weiß, daß am russischen Hof ein junger vornehmer Afghane, wie ich damals war, sich sehr gut steht. – Afghanistan und Rußland! – Er verliert aber auch kein Wort, daß ich mich in alten zerrissenen Kleidern herumtreibe, daß ich bettle, wenn es mir paßt. Lehrer, Diener, alles ist mir recht, bald dies, bald jenes, wie es mir gefällt; aber die Augen sollen mir bleiben! Allah erhalte mir die Augen, so dumm bin ich nicht.«

 

Iskender Kabuli war auf der Post gewesen, – eine Reise vom Hause auf der alten Mauer aus! Er hatte Briefe mitgebracht.

»Ein Brief von zu Hause –,« sagte Sibylle fast lautlos.

Alexander Dohrn nahm den Brief.

Die Abendsonne strahlte über das blaue Meer. »Komm, wir wollen den Brief miteinander im Freien lesen, komm, mein Herz. Wir wollen gehen. Wir wollen zuerst miteinander reden.«

»Laß ihn mich lesen,« bat Sibylle.

»Noch nicht.«

Sie gingen. Es war zur goldenen Stunde. Alles leuchtete und atmete in goldenem, mildem Licht. Die Farben glühten tief und groß.

Der Schuster klopfte im Stamme der Platane, deren Riesenstamm hohl, vermodert und ausgebrannt. Wie er klopft, der Schuster, vor seiner Türe, die Schuhe leuchten in der Abendsonne wie Rubinen. Er hat eine Türe in seinem Stamm, er hat ein Fensterchen, ein Heim, ein heiliges, unbestrittenes Heim. Er ist Herr und Meister.

»Er ist daheim,« sagte Sibylle.

»Wir sind beieinander,« antwortete ihr eine weiche, gute Stimme. »Du mußt dir klar sein. Wir können jetzt frohe, ruhige Menschen werden, wir können ebenso gehetzte, verzweifelte, zerrissene Menschen sein. In unsere Hände ist die Wahl gelegt. Entscheide.«

»Die ich liebe, sind dir fremd,« sagte Sibylle.

»Ja,« sagte er; »aber Liebe und Zugehörigkeit ist mir nicht fremd. Wie sollte ich dich nicht verstehen. Sei alles, wie es sei. Wir haben jetzt zu wählen: Ruhe oder Unruhe, Genügen oder Ungenügen. Wir haben zu wählen, ob wir in uns selbst ruhen wollen, oder ob wir uns zerreißen lassen wollen, das heißt, wir haben Tod oder Leben zu wählen. Mein Leben wurzelt in deinem Frieden. Willst du mir Leben schenken? Hast du den Mut, den Brief der Deinen ungelesen zu zerreißen? Wir lassen ihn zerrissen ins Meer hinaus fliegen, dir wie ihnen wäre damit wohlgetan. Es ist nie gut, brieflich zu kämpfen, und gibt nur Verwirrung.«

»Nein,« sagte Sibylle. »Leiden sie, will auch ich leiden, – und sie leiden. – Nun wissen sie alles.«

»Du sollst nicht leiden,« sagte er. »Du sollst alle Kräfte zu neuem Leben brauchen. Wir müssen kraftvoll sein.«

»Dem Leid ist nicht auszuweichen,« antwortete sie.

»Doch! Nur wenn du stark bist, bringst du – du! – allen Frieden. – Geh deinen Weg stolz und ruhig.«

»Ich will alles wissen.«

»Wüßten wir alles, überschauten alles, wer hätte die Kraft zu leben?«

»Lieber,« sagte Sibylle. »Deine Art zu leben, ist für dich die rechte.«

»Dein und mein Leben?« antwortete er. »Unser Leben! – Wer kann da mehr trennen?«

Sie gingen über den nahen Büchermarkt, der unter schönen Feigenbäumen, Pinien, uralten Platanen sich ausbreitet. In kleinen Buden und auf langen Tischen lagen rätselhaft aussehende Bücher in türkischer und arabischer Sprache. In die aufgeschlagenen Buchseiten wehte der Abendwind.

Jetzt traten sie durch das schöngeschwungene Tor einer köstlichen Moschee. Der Vorhof grün beschattet von einer einzigen Platane, die wie eine grüne Kuppel sich wölbt. Bude reiht sich an Bude im grünen Blätterdämmer. Hier bietet man vielgestaltete Näschereien aus, dort Ketten aus Perlen, Bernstein, Zypressenholz, aus gepreßten Rosenblättern, aus Kristall; als Schutz gegen schwere Gedanken lassen die Menschen hier die kühlen Perlen durch die heißen Finger gleiten. Welch ein Duft, fremd und berückend, nach Gewürzen, Ölen und Essenzen, nach arabischem Konfekt, nach getrockneten Rosen und Jasminblättern, nach Räucherwerk.

Blaue Tauben fliegen unter dem alles überwölbenden Dom der herrlichen, silberstämmigen Platane.

Alexander Dohrn kauft Sibylle eine Kette aus kühlen, blauen Perlen. Sie ist so glatt und schimmert in einem träumerischen Blau, es ist gut darauf zu blicken und gut, sie in den Händen zu haben.

»Sie soll gesegnet sein, sie soll dir wohltun,« sagte er.

Sibylle fühlte die große Liebe und Sorge in jedem Wort; aber auch die innere Erregung. Er hatte gekämpft, er hatte über seine Natur hinaus gerungen, ein neues Leben zu schaffen. Sie empfand seine Angst: Wird sie stark oder schwach sein? Wird sie einreißen oder aufbauen? Was wird sie tun?

Als sie aus dem Vorhof wieder durch das herrliche Tor auf den Platz des Büchermarkts traten, war das Licht noch golden, und es schien, als wäre die Luft lebendig geworden und hätte Tausende von Flügeln bekommen. Blaue Tauben kamen zur Moschee heim und umflatterten sie, erwarteten Futter und Ruhe.

Sie wanderten weiter. – Nahe der Moschee ragte ein Zypressenhochwald auf, mitten in der Stadt, von stillen, träumerischen Straßen umgeben mit friedlichen, niedern silbergrauen Hütten und Häusern und immergrünen Gärten, aus denen die reifenden Granatäpfel leuchteten und der Lorbeer stark und herb duftete. – Die Sonne ließ die Zypressen tief dunkel, fast grünschwarz und doch durchleuchtet in den Abendhimmel ragen. Tiefes Schweigen. Weiße Grabsteine glänzen. – Alte Steine liegen hingesunken und sind von Gestrüpp überwachsen. Auf den Grabsteinen der Frauen der tragende Weinstock, der blühende Rosenbusch, auf denen der Männer der Fes oder Turban.

In den Zypressen rauscht der Wind. Adler fliegen hoch in der Luft. Eine wundervolle Stille und Einsamkeit hier, – von fern geheimnisvolle Töne, Hundegebell wie undeutliches Glockengeläut. Das Rufen der Verkäufer in den Gassen, Musik von allen Enden, – aber leise, nur hin und wieder mit einem Tone auftauchend, dort aus dem Sträßchen schwermütig eine Harfe. Ein Zug kommt geschritten mit monotonem Gesang, voran ein griechischer Geistlicher. Ein offener Sarg wird an den beiden stillen Wanderern vorübergetragen, – ein bleiches, starres Jünglingsgesicht, das dunkle lockige Haar weit aus der Stirn gekämmt, das Gesicht voll Hoheit. Der Meereswind weht über die starren Züge, Rosenblätter flattern auf und fliegen zur Erde. Geheimnisvoll – starr – wissend – ewig schweigend diese schönen Züge.

Sibylle erschauert, faßt die Hand ihres Mannes. »Bleib bei mir,« sagt sie leise. – »Geh du nicht fort, – verlaß du mich nicht.«

Trännen rinnen ihr über die Wangen, und wie ein Schatten, der über sie fällt, ist ihr, als wären die schweren Lider des Toten über Ottomars Augen geschlossen, – dann, als trüge der Tote nacheinander die Züge aller, die sie liebt.

Ein Rosenblatt, das der Wind vom Sarge mit sich führte, legte sich ihr aufs Herz, und das Herz schlägt wild und bang und krank. Sie hält sich schwer auf den Füßen. Sie erbebt und drängt sich eng an ihren Freund an.

»Verlaß mich nicht, bleib bei mir,« flüstert sie wieder leise. »Ich glaube an dich, – ich kenne dich! Wir wollen wundervoll leben.«

»Ja,« sagt er, »sei gläubig, glaub' an uns beide. Wenn wir zusammenhalten, ist alles, alles gut – und wird gut. Sei mutig. Komm, ich zeige dir etwas, noch ein paar Schritte.«

Mitten in dem rauschenden Hochwald, der die stillen, schimmernden, uralten Grabsteine schirmt, lag ein wunderliches Gerümpel bald vor ihnen, wohl selbst ein Grabmal: ein paar Mauern, eng aneinandergerückt, denen das Dach fehlt, das durch einige verrostete Blechtafeln, eine Matte, eine breitgetretene Gießkanne und ein paar Schindeln ersetzt ist.

Um dies Hüttchen hatte der Besitzer einen Garten angelegt, der Stolz, der Reichtum und die Tat eines armen Menschen.

Ein Stück Land, so groß wie eine Stube, mit einer niedern Mauer umgeben aus jenen Blechkästen, in denen das kaukasische Petroleum nach Konstantinopel kommt. Die Kästen mit Erde gefüllt und einen auf den anderen gebaut, doch so, daß jeder ein wenig offen blieb und der Sonne sein Erdreich bot. Da hatte der arme fröhliche Mann Mohn in die Erdritzen gesäet, und so war ein Blütenflor aufgegangen. Hunderte von roten und rosa Mohnhäuptern glühten in der Sonne, und die Blechkästen blitzten. Über einen Teil des Gärtchens waren Reben gezogen, und die blauen Trauben prangten.

»Sieh,« sagte Alexander Dohrn, »der hat aus seinem Leben etwas gemacht. Das Schönste trug er zusammen, aus nichts schuf er Wunder. Ein großer Lebenskünstler. Den wollen wir nicht vergessen. Der baute sich sein Paradies.«

Mitten in seinem Reich hatte er ein kleines Sandsteinbecken, worin er Wasser hielt. In diesem Teich schwammen zwei Enten, eine weiße und eine bunte. Wo sich ein Platz finden ließ, war ein buntbemalter Pfahl eingerammt, der ein Laternchen, das mit farbigem Öl gefüllt war, trug. In jedes lockere Stückchen Erde war Mohn gesäet, der überschwenglich blühte.

In die Mauerritzen seines Kaffeehauses hatte der Kavedschin Sträuße roten Mohns gesteckt.

Niedrige strohgeflochtene Schemel stehen um den kleinen Teich unter dem Rebendach, und ein rundes weißes Marmortischchen, drei Spannen hoch, ist die Krone des Besitztums.

Der aber, der dieses alles sich baute und schmückte, ist ein alter, noch kräftiger Mann in weißem Turban und weißem Haar, mit ehrfurchtgebietendem Barte, einer mächtigen Gestalt und der Würde eines Herrschers.

Sibylle und ihr Freund sahen miteinander dem Alten zu, wie er auf dem schmalen Weg seines Gärtchens mit winzigen Kaffeetäßchen seine Gäste bediente.

Die Turteltauben in den Zypressen gurrten, die Falken kreisten hoch in der Luft, und über dem Kaved lag würdigste Ruhe und Zufriedenheit.

Alexander Dohrn hielt den Brief aus Sibyllens Vaterhaus in der Hand.

Sie nahmen unter einer mächtigen Zypresse Platz.

»Komm, mein Herz, mein liebes, gutes Herz,« sagte er.

Und sie lasen miteinander und hielten sich an den Händen so fest und innig wie die zwei unzertrennlichen Hände unter dem uralten Bogenfenster in der felsenhaften Mauer.

Sie lasen von schwerem Unheil, schwerem Unglück, das sie gebracht, sie lasen davon, daß ihre Ehe von den Ihren als nicht geschehen betrachtet wurde, sie lasen von dunkler schwerer Sorge um die Tochter, von Leid und Not, und sie lasen, daß Frau Dohrn die Ärmsten bedrängte und ängstigte. – Frau Dohrn!

»Unmöglich,« sagte der Mann, unmöglich.

Sibylle aber sah die edelsteinharten Augen vor sich – und sagte: »Sie vergibt den Meinen nie, daß sie zurückgewiesen wurde, daß niemand sie verstand.

Sibylle erhob sich, strich sich über die Stirn, verbarg ihr Gesicht in den Händen und blieb so regungslos.

»Sibylle!« rief er erregt.

Sie bewegte sich nicht.

Als sie nach einer Weile die Hände von ihren Augen nahm, blickte sie den Mann, den sie liebte, ruhig an und sagte: »Du sollst dich nicht in mir getäuscht haben. Unser Leben wird ein ruhiges und wundervolles sein. Wir werden stark sein. Friede wird in uns sein, was auch geschieht.«

Da küßte er die Hand seiner Frau – und konnte kaum sprechen vor Erschütterung.

»Sibylle – Sibylle – meine liebe Erde! Du.«

Sie gingen miteinander in tiefer Dämmerung durch dunkle Gassen ihrem Heime zu.

Sibylle hielt sich fest an ihn. Das Rauschen des Meeres führte sie. Es hatte sich ein starker Wind erhoben. Eine Zeitlang schritten sie drei Frauen nach, die rote Papierlaternen trugen, und so kamen sie vor ihr Tor und wurden von Iskender Kabuli empfangen.

Er zündete ihnen das Licht an. Das Meer brandete, und die Kämme der Wogen leuchteten wie Feuer. – Stumm schauten sie durch die offenen, hohen Bogenfenster diesem großen Schauspiel zu. Ein brennendes, durchglühtes Meer. Die leuchtenden Wellen kamen auf ihr Haus zu. Sie standen wie in einem Feuermeer.

Iskender nahm das Abendessen heute nicht mit ihnen ein.

Oftmals schon hatte Sibylle das Zartgefühl dieses geheimnisvollen Menschen bewundert. Er kam und ging mitempfindend, ohne daß er ein Wort über die Angelegenheiten seiner Freunde und Dienstherrschaft verlor. Er mochte heute an den Brief denken, den er gebracht, und wollte sie wohl auch dem großen Eindruck überlassen, das leuchtende Meer vor den Fenstern ausgebreitet zu sehn.

Er hatte schon vor Tagen gesagt, daß sie bald etwas Einziges erleben würden. »Dann stehen die Häuser auf der alten Mauer im Zeichen des Zaubers.«

Sie rückten den kleinen Tisch mit ihrer Abendmahlzeit ganz an die Fenster. Die Sternenwelten schwebten im dunkeln, klaren, unermeßlichen Raum leuchtend und flimmernd, und unter dem Himmelsglanz der glänzende Wellenschaum des unermeßlichen Meeres.

So saß das Paar Hand in Hand.

Unter ihren Fenstern das uralte Bogenfenster des uralten Palastes, der einst hier aufragte mit den marmornen verschränkten liebenden Händen.

Sie standen beide unter der Erschütterung, die der Brief gebracht hatte.

Beiden mochte die stahlharte, zierliche Frau mit den Edelsteinaugen vor der Seele stehen, die Frau, in deren Wesen alle Mächte stritten, die Frau, die nicht von der Natur gebraut war, wie Frauen sonst gebraut werden.

»Was hat sie vor?« fragte Sibylle. »Weshalb quält und ängstigt sie die Meinen und ist mit dir und uns im Einverständnis, hieß alles recht und gut, was du tatest, gab dir Schutz und Sicherheit?

Weshalb handelte sie nicht, als es Zeit war? Weshalb diese unheimliche Verworrenheit?

Du mußt sie kennen. Du bist voll Vertrauen. Was ist zu erwarten?«

»Sie hat Reue,« sagte Alexander Dohrn.

»Reue jetzt! Weshalb nicht früher Einsehen?«

»Sie wird zu sich kommen,« sagte er.

»Wenn sie Erfolg hat im Leben, ja,« antwortete Sibylle. »Aber wenn es ihr nicht gelingt, wenn das Leben sie nicht aus der Stille in die Höhe kommen läßt –«

»Wiederhole den Deinen wieder und wieder: Es geschah alles mit Frau Dohrns Einwilligung. Sie wissen es selbst aus eigener Erfahrung. Scheidung und Ehe sind gesichert. Niemand kann dagegen Einspruch erheben, – sie sollen sich an den Kultusminister Munif-Pascha wenden, wenn unsere Versicherungen ihnen nicht genügen. Sie sollen sich von Frau Dohrn nicht quälen lassen. Sie sollen das um ihrer Ruhe willen nicht tun. Wir haben nichts zu verstecken und zu verschweigen. Sie sollen uns trauen.

Schreib das und bleibe deinem wundervollen, gesegneten Entschluß treu, daß du unserem Leben Frieden geben willst.«

»Das will ich,« sagte Sibylle fest und ehrlich im Ausdruck.

»Dann kann uns nichts geschehen,« sagte er, »dann fürchte ich nichts.«

Während sie so ernst und ehrlich aus tiefstem Herzen miteinander sprachen, klang draußen von der Straße wunderliches Rufen, und das ferne Hundegebell wurde zu einem dröhnenden, schwingenden, mächtigen Ton.

»Was ist denn? Was ist denn?« fragte Sibylle ängstlich. »Es ist so erregend, so bang!«

»Mir klingt es,« sagte er, »als müßte es Feuer sein, erschrick nicht.«

»Aber du läufst nicht hin und läßt mich allein,« sagte Sibylle angstvoll.

»Nein, nein!« lächelte er. »Wir gehen beide.«

» Jangün warr! Es ist Feuer!« sagte Iskender Kabuli, der vor der Haustür stand, – »da, – das rote Licht auf dem Seraskier Turm! Nah bei uns ist das Feuer, in der Vlanka.«

Dumpfe Kanonenschüsse klangen vom Bosporus her und verhallten rollend auf der weiten, leuchtenden Fläche des Marmarameeres.

»Feuer am Himmel, auf Wasser und auf Erden!« sagte Iskender Kabuli und lehnte behaglich am Türpfosten.

Geheimnisvoll aus der Nacht herauf tönt der Ruf: » Jangün warr! Jangün warr!« Der Ruf kommt näher und näher, zugleich auch aus weitester Ferne; aus jedem Winkel, aus jeder Gasse braust und wälzt sich's über die ganze gewaltige Stadt.

An der Haustür vorüber huscht eine Gestalt im roten Hemd und singt dröhnend, Mark und Bein erschütternd: » Jangün warr!«

Wie ein Gespenst ist sie verschwunden in der Dunkelheit. Die Hunde heulen und winseln; noch sieht man keinen Feuerschein.

»Da!« sagt Iskender Kabuli. Mitten im Gewirr der hölzernen, von der Sonne ausgedörrten Häuser brennt es. Riesige Feuergarben steigen gen Himmel.

» Jangün warr! Jangün warr!« schallt es von allen Seiten. Da kommt etwas von weitem unhörbar die steile Straße herauf. Laternen leuchten, und in ihrem unsichern Schein huschen, fliegen, kaum den Boden berührend, halbnackte Männer, die im Sturmschritt auf ihren Schultern die Feuerspritze tragen; sie werden von acht andern abgelöst, und diese acht wieder von acht andern, ohne daß auch nur einen Moment ihr Laufen und Rennen dadurch unterbrochen würde; lautlos wie sie gekommen, sind sie verschwunden, schemenartig mit nackten Füßen, – hinter ihnen der Troß von Maultieren, mit Wasserschläuchen beladen, und die Wasserträger.

Der Schekerdschi, der Zuckerwarenverkäufer, der überall dabei sein muß, geht zu allerletzt hinterdrein, das schwankende Brett auf dem Kopf tragend, das Zuckerwerk auf diesem Brett zu einer kleinen Pyramide getürmt, mitten darin ein brennendes Laternchen, so daß alle Zuckerkringel wie Edelsteine glänzen. Alles weicht ihm aus, wie etwa der Feuerspritze selbst.

»Fürchtest du dich,« fragte Alexander Dohrn, »wenn wir dem Schekerdschi nachgehen?«

»Nein,« sagte Sibylle. Iskender machte sich auch mit auf den Weg.

Welch ein Schauspiel! An dunkeln Gemüsegärten und Feigenbüschen vorüber eine enge, steile Straße, in der das Feuer wütet. Die tapferen Männer klettern wie Affen. Die Neugierigen drängen sich nicht vor, trotzdem nirgends Polizei zu sehen ist. Ruhe herrscht mitten in der Verwirrung. Halbnackte starke Burschen, die aus dem brennenden Haus mit Riesenbündeln geretteter Sachen kommen, rufen unter ihrer Last, unter der sie selbst völlig verschwinden, auf das höflichste, daß man ihnen aus dem Weg gehen solle. Mitten im Rauschen der Flammen, mitten in erstickender Glut geht alles fast liebenswürdig und klar vor sich – und ohne Polizei.

»Sieh nur,« sagte Alexander Dohrn zu Sibylle, »welch ein Volk! Und hast du gesehen, wie eben der Schekerdschi dem braven Feuerwehrmann eine kleine Zuckerstange in die Hand drückte und wie vornehm der dankte, trotzdem er keuchte und schnaufte unter seiner Last –? Was sieht man hier auf Schritt und Tritt für Liebenswürdigkeit. Wer ahnt das bei uns? Und wie der Schekerdschi sein Tischchen mitten im Gedränge stehen hat, und sie gönnen ihm seinen Verdienst und tun ihm nichts.«

Das Feuer lohte und wirbelte und tobte in dem ausgetrockneten Holzwerk. Sie blickten von dem freien Platz aus in die Gasse, in der man vor Qualm und Glut kaum atmen konnte.

In einer winzigen Hütte, die nicht unbedroht vom Feuer war, sahen sie beim Flammenschein im Gärtchen davor eine kleine Frau stehen in europäischer Kleidung mit einer schreienden Gans im Arm.

Ein großer älterer Mann schleppte, was er schleppen konnte, um sein Hab und Gut zu retten. Das Frauchen hatte mit der Gans zu tun und rief: »Sei ruhig, Engelchen! Sei ruhig, Engelchen! und weinte und schluchzte.

»Das ist ja,« sagte Iskender Kabuli, »der Nuri mit seiner Mimmifrau.«

Wie drollig das aus Iskenders Mund klang. Sibylle mußte lachen.

Iskender aber war im Nu im Gärtchen und half dem Manne, und Alexander Dohrn ebenso. Sibylle ging langsam nach und stand neben der kleinen schluchzenden Frau, die die schreiende Gans in den Armen hielt.

In dem Häuschen sah es wie in einer altmodischen Hutschachtel aus. Das kleine winzige Zimmer war über und über mit einer weißen Tapete mit Rosenknöspchen tapeziert. Es war ein rührendes Räumchen.

Iskender Kabuli sagte zu Sibylle: »Den beiden müssen Sie heute nacht bei uns Gastfreundschaft gewähren, sonst stirbt die Mimmifrau und ihre Gans vor Angst.«

Wie es im Traum geschieht, geschah es hier, so schnell und unvermittelt.

Was das mit Rosenknöspchen austapezierte saubere Häuschen an rührender Armut barg, schwankte in Bündeln, von ein paar Burschen und Nuri und Iskender getragen, durch die Dunkelheit. Alexander Dohrn, Sibylle, die schluchzende Mimmifrau mit der Gans Engelchen zogen hinterdrein. So hatte das Haus auf der alten Mauer neue Einwohner bekommen.

Als Alexander Dohrn und Sibylle ihr feierliches Zimmer mit den hohen Bogenfenstern wieder betraten, rollte das Meer noch immer seine feurigen Wogen dem stillen Hause zu.

Heute, trotz aller Erregung, die der Brief gebracht hatte, senkte sich der Schlaf bald auf die beiden Müden.

Sibylle lag auf ihrem türkischen Bett auf der Erde, eingehüllt in weiche türkische Tücher und Decken, sah noch eine Weile die leuchtenden Wogen auf sich zurollen, hörte schon halb im Traum die Gans Engelchen schnattern und gedachte der Ihren mit einem tiefen, tiefen, wehen Seufzer und sank in schweren Schlaf.

 

Alexander Dohrn ging jeden Vormittag in das Ministerium und arbeitete mit Munif-Pascha, der große Pläne mit seinem neuen Freunde vorhatte. Fürs erste war für ihn eine Stellung geschaffen worden, die ihn in Munif-Paschas Nähe hielt.

Gute Fortschritte machte er in der türkischen und arabischen Sprache. Munif-Pascha war oft mit ihm im Kloster Akserail zusammen, und Alexander Dohrn war ganz erfüllt von der wundervollen Weltauffassung des Scheichs ül Reis. Er lebte auf. Seine Liebenswürdigkeit war die kindliche Liebenswürdigkeit eines glücklichen Menschen.

Wie sehr mußt du deiner Mutter gleichen, sagte Sibylle oft zu ihm. »Wie fremd warst du im Grund in unsern gewohnten Verhältnissen. – Sie hatte dir ihre Sehnsucht vermacht.

Das Leben in dem Haus auf der alten Mauer, das ursprüngliche freie Dasein behagte ihm.

Sie kauften sich miteinander ihre Fische auf dem kleinen Markt in der Nähe des Hauses, handelten ihr Obst ein.

Mit Iskender Kabuli ließ es sich köstlich plaudern. Er hatte einen großen Blick für alle europäischen Verhältnisse und war mit Leib und Seele Orientale.

Prächtige Hausgenossen hatten sie an Nuri und seiner Mimmifrau und der Gans Engelchen gewonnen. Nuri, zu deutsch Licht, war ein wunderlicher Heiliger. Er erinnerte Sibylle ein wenig an Cäsar Rauchfuß, ein lachender Riese, ein Mensch voller Geradheit und Ehrlichkeit, dem es seit langen Jahren in der herrlichen Stadt wohl war. Niemand wußte seinen früheren Namen. Er war ein braver Thüringer, und die türkische Sprache blieb ihm ein Buch mit sieben Siegeln; karg hatte er sich durchgearbeitet mit seinen paar türkischen Brocken. Seine grundehrlichen guten Augen aber hatten ihm doch Freunde gewonnen, die ihm zu einer kleinen Stelle bei der Tabaksregie verholfen hatten. Wie er sich zurechtfand, war allen ein Rätsel. Wie ein Taubstummer. Er war Mohammedaner geworden, liebte die Orientalen, kannte hier alles, wußte alles. Auf der Straße wurde er gegrüßt von jung und alt, – die Hunde im Viertel kannten ihn, die Bettler kannten ihn, die Händler kannten ihn, alle Welt kannte ihn, den großen, blonden, stummen, freundlichen Riesen. Jeder hatte Vertrauen zu ihm. Seine kleine, winzige, blonde Frau liebte ihn über alles. Er war ihre Welt in dieser Fremde. Sie war auch eine Thüringerin, und die Gans Engelchen hatte Weihnachtsbraten vor drei Jahren sein sollen. Von einem Ganshändler war sie Nuri geschenkt worden. Sie hatte damals beide Beine gebrochen. Nuri aber hatte sie geheilt, statt sie zu schlachten. Sie ging jetzt steif auf beiden Beinen wie auf Krücken, war aber sonst gesund und heiter und zahm und wachsam wie ein Hund.

Die altmodische Hutschachtel mit der Rosenknospentapete war in jener Feuersnacht aufgeflammt. So blieben die Abgebrannten im Haus auf der alten Mauer wohnen. – Mit ihren Betten, ihren Sächelchen, die in ihren Augen Heiligtümer von großem Wert waren, hatten sie eins der vielen Zimmer gemütlich ausstaffiert, und sie besaßen einen Petroleumofen, – ein wirkliches Wertstück, nicht nur für sie.

Im Haus am Marmarameer war das Geld seinen Einwohnern sanft durch die Finger geglitten. Viel war es nicht gewesen, was sie besessen hatten. Sie waren damit zu Ende gekommen. »Auf ganz natürliche Weise,« sagte Alexander Dohrn. Er wollte Munif-Pascha an das Gehalt nicht erinnern.

Nuri sagte auch: »Eine Stellung bekommt man hier bei uns, wenn auch nicht gerade bei Munif-Pascha im Ministerium; aberscht – aberscht mit der Bezahlung! Da hapert's, – und da is eins auch gar nich lieb Kind, wenn's sich melden tut. Abwarten! – Es kommt schon.«

Nun erzählte er von Beamten in hoher Stellung, die nicht wußten, wovon leben. Er tröstete, daß die Bezahlung schließlich immer käme. »Aber wann, wann, heiliger Strohsack.«

So war der Petroleumofen von Nuri und der Mimmifrau eine große Sache, denn Iskenders Kocherei war für diese Verhältnisse zu kostspielig geworden.

 

Die Sonnentage, das wundervolle, rauschende und brandende Meer, die Schiffe, die nah am Hause vorüberzogen, die Boote, beladen mit goldenem Getreide, die Delphine, die dicht vor den Fenstern spielten, – alles voller Schönheit, solch eine Klarheit und Freudigkeit in der Luft. Niemand nahm es ernst, daß die Geldangelegenheit recht karg zu werden versprach, ja daß bereits nur noch ein Sümmchen für ganz besondre Fälle vorhanden war.

Iskender Kabuli sagte: »Für die Fahrten ins Ministerium muß Geld da sein. Für das Leben und die Wirtschaft darf nichts mehr angewendet werden. Sie werden sehen, – keine Sorge.«

Es machte sich auch niemand Sorge. Sibylle schrieb an einer Arbeit, und Alexander Dohrn war voller Mut und arbeitete mit Munif.

Am andern Morgen nach diesen Ergebnissen putzte die Mimmifrau ihren Petroleumofen, stellte Wasser auf. Dann setzten sich Nuri, die Mimmifrau, Iskender Kabuli und die Gans Engelchen vor der Haustüre auf die kleinen hölzernen nieder Hocker mit den strohgeflochtenen Sitzen.

Die Verkäufer zogen um diese Stunde vorüber, die Gemüseverkäufer kamen mit ihren Tragkörben um die ein dicker Kranz von Mohn oder Rosen gewunden war. So herrlich geschmückt und rufend kamen sie daher wie zu einem Fest, unternehmend, schön und stark und voll köstlicher Laune. Nuri winkte sich einen der schönsten heran, und Iskender Kabuli verhandelte mit ihm und sagte, daß die Herrschaft im Konak (im Schloß) für eine Zeitlang kein Geld habe, – daß es aber eine gute Herrschaft sei, – eine Herrschaft, die Wohl wisse, daß, was man hier auf Erden nicht bezahle, im Jenseits siebenfach zurückerstatten müsse.

Das fand der gute Bursche einen ganz geordneten Zustand, langte einen viereckigen Holzstab aus seinem Korb, ein Kerbholz, holte unter dem dichten Blumenkranz die frischesten Salatköpfe und Zwiebeln hervor und die süßen Kartoffeln. Nuri machte unbeschreibliche Zeichen und strengte sich gewaltig an, ihm auf gut Thüringisch zu sagen, daß er morgen wiederkommen müsse, daß er froh sein solle, solche Kunden bekommen zu haben. Iskender Kabuli lächelte, und die Gans Engelchen stand gedankenvoll dabei.

Feierlich lehnte man das Kerbholz in den großen Vorraum des leeren Hauses.

So machten es die beiden braven Hausverwalter und Gäste mit dem Fleischer, mit dem Eiermann, mit dem Käsehändler, der seine Käse unter Rosenblättern verborgen hielt, mit dem Wasserträger. Es war ein Handeln und Gestikulieren, ein Beteuern mit tausend Feierlichkeiten vor der Türe, ein Ernst und eine Wichtigkeit sondergleichen.

Die Kerbhölzer mehrten sich und die Rechnungen an der Haustüre. Der Milchmann der mit seiner Ziegenherde vorüberzog, molk einen Topf voll Milch und machte seinen Kreidestrich an die Türe und malte ein Ding, das einem Euter glich, vor seine Striche. Der Jugurtmann, der Sauermilchmann, machte es ebenso, nur malte er vor seinen Strichen einen Halbkreis, der ein Milchschälchen bedeutete. So trieben sie es jeden Morgen, in aller Gottesfrühe saßen die Braven schon vor der Türe und handelten. Sie handelten auch noch wie die Verzweifelten bei ihrer Borgerei, mit einer Anstrengung sondergleichen, und die Mimmifrau kochte auf ihrem Petroleumofen und kochte gut, es duftete köstlich. So lebte man in ganz geregelten Verhältnissen.

Die Kerbhölzer erhielten mehr und mehr Kerbe, an der Haustüre wuchsen die Rechnungen.

Jedes Mahl wurde zum Fest. – Jeder schaute im Vorübergehen in den Topf auf dem Petroleumofen, und die Mittagstafel war der Zahl der Gäste nach erweitert worden, zwei leere Weinfaßchen trugen eine ausgehobene Türe, und über diesem Tisch lag ein schönes Tischtuch, das Iskender Kabuli als Geschenk gebracht hatte.

Die Mimmifrau hatte gesegnete Hände, sie wusch und fegte und arbeitete und lachte. Es war ihr gar wohl zumute.

Sibylle arbeitete voller Eifer den ganzen Vormittag. Iskender Kabuli hatte ihr aus einem alten Leierkastendeckel, den er im Bodenraum gefunden, einen Schreibtisch hergestellt.

Iskender, im tiefen Verständnis für den Mißstand im Konak, gab russischen und französischen Unterricht bei den Armeniern, um die Geldumstände seiner Herrschaft aufzubessern.

Nach jeder Stunde brachte er etwas mit heim, ein paar Teller, einige Gläser, Messer und Gabeln, sein Honorar für den Unterricht, eines schönen Tages eine silberne Platte mit wundervollen Artischocken in Öl und einen Gruß aus dem nächsten Konak, – aus dem Nachbarhaus.

Längst waren die Bewohner des Hauses, das über dem Fenster der liebenden Hände erbaut war, ihren Nachbarn interessant geworden, und die silberne königliche Platte mit dem herrlichen Gericht gab dieser begreiflichen Neugier Ausdruck.

Jeden Tag brachte Iskender jetzt auf dieser Platte ein neues Gericht, jeden Tag erschienen Überraschungen, und es erschienen die Herren dieser Überraschungen selbst und kamen recht oft in nie gestillter Neugier, ein jüngeres Paar, eine kleinere Tochter und eine Reihe von Söhnen. Machten sie ihren Besuch von der Straßenseite aus, kamen sie in feinsten Toiletten, aus Paris bezogen; erschienen sie aber von der Seeseite, das heißt nahmen sie ihren Weg über die Treppchen, die zu jedem Haus vom Meere aus führten, gewissermaßen inkognito, beliebten die Herren in langen weißen Gewändern aufzutreten, einer Art Hemden, die Damen in Unterrock und Nachtjacke. Marinka, das junge Mädchen, hatte keinen Bund am Rock, hielt ihn immer vorn zusammen und trug nur einen Pantoffel, und es kam auch nie ein zweiter dazu. Sie verstand es aber reizend, mit beiden Füßen in dem einen Pantöffelchen zu stehen.

Diese Familie wohnte in einem köstlichen Haus. Alexander Dohrn und Sibylle wurden manchmal zu ihnen eingeladen. Es war ein Haus von großer Tiefe, Treppen und Treppchen führten auf und nieder. Mitten in der weiten Vorhalle hatten sie einen Ziehbrunnen mit herrlicher uralter Marmorfassung, einen Ziehbrunnen, von dem sie sagten, daß er bis in den Mittelpunkt der Erde führte.

Welche Geheimnisse bargen diese Häuser auf der alten Mauer! Alte byzantinische Keller, schauerliche Gewölbe, an die zu denken ein Grauen war, wenn man in den schönen sonnendurchleuchteten Zimmern stand.

Im Haus über den liebenden Händen erbaut, hingen in den gewaltigen Gewölben tief in der Mauer – und tief unter dem Spiegel des Meeres Ketten mit Handfesseln, ein trauriger Herd stand da, auf dem für Unglückliche gekocht worden war im düstern Raum, – Zellen mit verrosteten eisernen Türen und jämmerlichen Resten verrosteter Fesseln.

Nuri hatte Sibylle in jene unterirdischen Höhlen geführt, in jene verlassenen Gefängnisse fern von Licht und Luft und fühlenden Menschenherzen.

Das leichte Sonnenhaus war über einen Abgrund von Geheimnissen und uraltem Weh gebaut.

Nachts durfte man nicht daran denken, und tagsüber warf die Sonne goldene Schleier über diese Eindrücke.

O diese Sonne! Und dies leuchtende Meer und diese leichte duftende Luft! Wie mit zarten Händen wurden Sorgen und schwere Gedanken von den Herzen genommen.

Sie waren arm und wußten nicht, wie das Leben sich gestalten würde; aber alles floß ihnen zu wie im Traum. Keine bösen Gläubiger, gute vertrauensvolle Menschengesichter und gute ehrliche Hände, die alles, was sie brachten, mit Lächeln brachten, mit großer menschlicher Freundlichkeit, Geduld und Ermutigung.

Wenn Sibylle sagte: »Noch immer nichts,« da lachte so ein guter Kerl mit dem blumenbekränzten Korb auf dem Rücken, riß den Mund auf mit den blitzenden Zähnen und sagte: »Allah segne es dir.« Wie vornehm waren diese armen Menschen, – wie fern davon, im andern Betrug oder Hintergehen zu wittern. Sie lächelten über die stattliche Anzahl der Kerbhölzer, über die langen Milchrechnungen an der Haustüre, – welch ein gutes Lächeln!

So standen alle im Hause wie unter Gottes Gnade, als sollte kein Weh an sie herankommen. – Alles Erdenleid schien hier milder.

Wie geschützt sie waren in der Fremde, ohne Geld und wie von Mutterhänden versorgt.

Trübe Gedanken, von Sonne und Luft gemildert; – und welch ein Leben zog an ihnen vorüber. Jeder Gang ins Freie ein wundervolles Erlebnis, und fast immer ein Herzenserlebnis; sei es, daß ein Bettler für eine kleine Gabe das Kleid mit Rosenwasser aus einem schöngeformten Kännchen besprengte, sei es, daß er Rosenblätter über die Hand, die ihm etwas gereicht hatte, gleiten ließ.

Ja, auch die freundlichen gelben Hunde, die ihre Leute in der Straße, ja im ganzen Viertel kannten, sie begrüßten, sich freuten, wenn ihre Freunde wieder von einem Ausgang heimkamen, waren gar erfreulicher und tröstlicher Natur. Gewöhnt, von dem Türken, trotzdem die braven wilden Hunde als unrein galten, gar wohl versorgt zu werden, brachten sie ihre Jungen vertrauensvoll an die Haustür, um sie vorzustellen, für sie zu bitten, sie dem Wohlwollen zu empfehlen. Sie bekamen dann für die Kleinen eine grüne Laube aus Zweigen, die der Nachtwächter ihnen zu bauen hatte, und Wasser und Milch.

So eine gute Hündin hatte sich Sibyllen besonders angeschlossen und brachte ihre Kinder, wenn Sibylle abends still und gedankenvoll in der Märchenstraße auf- und abwandelte. Wie von liebevollen, zärtlichen Herzen war sie dann von semmelgelben drolligen Hundekindern umsprungen, – und kaum glaublich, es tat ihr das wohl. Sie wußte, wie man sie verurteilte, was sie den Ihren für Not gebracht.

Ihre Seele fühlte sich tief bedrückt.

Eine Notwendigkeit war es ihr, allein in tiefer Dämmerung auf- und niederzuwandeln und mit denen zu fühlen, denen sie wehgetan. In tiefer Dämmerung mußte das geschehen, ohne Sonne, ohne blaues Meer, ohne Liebesworte und Güte, – und da sprangen die weichen, zärtlichen Tiere um sie her, und die stille verständige Mutter drückte ihren schlanken Kopf zärtlich an Sibylles Knie.

Überall Trost, überall Zartheit und Weichheit von Mensch und Tier und Luft und Wind und Wasser.

Aber die Sorgen waren da, der unsagbare Schmerz, Leid gebracht zu haben. –

Munif-Pascha besuchte sie öfters in ihrem Haus am Marmarameer. Er kam in seinem eleganten Wagen mit zwei reitenden Kawassen und brachte seine beiden Töchterchen mit, Fidned und Ferdös. Dann tranken sie auf der Terrasse Kaffee, den Iskender Kabuli in dem Messingkännchen auf einer Spiritusflamme bereitete.

Munif brachte köstliche Zigaretten mit und hockte auf dem Strohsesselchen und lachte, daß sie ein Fäßchen als Tisch hatten, und freute sich darüber.

Die Armenier, die ganze armenische Nachbarschaft, guckten durch alle Ritzen und Astlöcher der Bretterwand, die ihre Terrasse von der ihrer Nachbarn schied, und trauten ihren Augen nicht, daß der mächtige, geheimnisvolle Mann Munif, der Kultusminister, mit dem fremden Paar so ganz vertraut und freundschaftlich stand.

Munif und Dohrns sprachen dann miteinander von dem wundervollen türkischen Volke, von dessen Kraft, Güte und Vornehmheit.

Wenig würde es den Armeniern behagt haben, wenn sie verstanden hätten, mit welchem Zorn und Gram Munif ihrer gedachte und ihres Einflusses auf das edle Volk.

»Aussauger! Verderber! Verführer!« sagte Munif.

Munif kannte sein Volk, liebte es heiß, kannte wie Iskender Kabuli Europa und war seinem verkannten Volke mit der leidenschaftlichen Kraft eines großen Menschen zugetan.

Ferdös und Fidned spielten nahe der Terrasse zwischen den Steinen und plätscherten im klaren Marmarameerwasser und sahen die drolligen Seepferdchen nahe an sich vorüberziehen und smaragdgrüne durchsichtige Fische, sahen den Delphinen zu, wenn sie Purzelbäume schlugen und Springbrunnen aus ihren Nasen bliesen.

Der Bekdschi, der Nachtwächter, kam herein. Er hatte vor der Tür die Equipage und die berittenen Kawassen gesehen und wollte schauen, was es gäbe. Er machte bescheiden seinen Salam, nahm etwas entfernt vom Fäßchen, um das alle saßen, Platz, schaute mit Ehrfurcht auf Munif-Pascha, schlürfte mit Würde und Grazie seinen Kaffee, den Iskender Kabuli ihm präsentierte, rauchte eine Zigarette, die Munif ihm höflich bot, so höflich wie jedem anderen, nicht kordial oder herablassend. Der Bekdschi wiederum war vornehm und gelassen, nicht einen Hauch verlegen. Er sprach bescheiden und ruhig seine paar Worte. Ein freies, schönes, menschliches Betragen.

Ferdös, das wilde, kleine Geschöpf, war müde geworden, kam die Treppe herauf, setzte sich ihrem Vater auf den Schoß, legte das Köpfchen auf seine Schulter und war im Handumdrehen eingeschlafen. Munif saß ganz geduldig, hielt das zutrauliche Kind wie eine Mutter.

Sibylle nahm sie ihm ab.

»Sie ist schwer,« sagte er, »Sie werden sie nicht tragen können.«

Sibylle aber nahm sie und trug sie vorsichtig auf ihr Bett. Als sie zurückkam, hatte die Schwester Fidned es sich gemütlich in den Armen ihres Vaters gemacht und war dabei, auch einzuschlafen.

Sibylle aber sagte, denn Fidned mochte noch schwerer als Ferdös sein: »Komm mit, ehe du einschläfst.« Sie nahm die Kleine Munif aus den Armen und führte sie zu der schlafenden Ferdös.

»Sie sind bei mir verklatscht worden,« sagte Munif lächelnd zu Alexander Dohrn.

»Was hab' ich verbrochen?«

»Man hat Sie mit Ihrer Frau Arm in Arm gehen sehen.«

»Exzellenz sind selbst mit meiner Frau Arm in Arm gegangen,« antwortete Alexander Dohrn lachend.

»Ich? – Das war ja in Pera,« sagte Munif, »da kann man alle europäischen Dummheiten machen.«

Munif war ihnen beiden wirklich zugetan und wollte sie in seiner Nähe behalten. Für Alexander Dohrn hatte er eine Stellung geschaffen, die diesen weite Einblicke tun ließ.

Munif sah es gern, wenn Sibylle ihren Mann im Bab-ali, im Palast der Hohen Pforte, abholte, dann durfte sie in den Empfangsstunden neben Munif am Schreibtisch sitzen.

Es wurde ihr ein Täßchen Kaffee serviert, und sie sah und hörte zu, wie Munif seine Bittsteller und Beamten empfing.

Was für Gestalten zogen in dem hohen schönen Raum an Munifs Schreibtisch vorüber: Alte würdige Türken und Türkinnen erschienen, mit denen Munif väterlich gütig sprach, Witwen mit ihren Söhnchen, denen sie irgendeinen Vorteil erbitten wollten, alte vornehme Scheichs, die wie Erzväter aus dem Alten Testament einhergeschritten kamen, ein Abgesandter vom Mahdi, ein brauner, intelligent aussehender Mann im grauseidenen Halat, einen mächtigen Zopf um den Kopf gewunden, ein Gelehrter aus dem dunkelsten Afrika, so wunderlich das klingt, der auch stundenlang mit an Munifs Schreibtisch saß mit einem ganzen Pack Büchern, sich besonders für Statistik interessierte und große Pläne hatte und alle möglichen und unmöglichen Fragen von Dohrn beantwortet wissen wollte.

Griechinnen in wundervollen Toiletten kamen, gepudert und geschminkt. Und Munif machte, zu Sibylle gewendet, immer seine Bemerkungen. »Wieviel Pfund Mehl hat die aufs Gesicht?« fragte er lächelnd. Oder er hatte mit einer solchen eleganten Dame auf das höflichste Griechisch und Französisch gesprochen und sie nicht von der Unmöglichkeit der Erfüllung ihres Wunsches überzeugt und bog sich dann zu Sibylle und sagte: »Die Geschichte dauert mir zu lange. Ich werde Türkisch mit ihr reden: Allmas Efendim – allmas,« kam es im tiefen Brustton von seinen Lippen, und die Griechin war im selben Augenblick vollkommen überzeugt und empfahl sich.

Einer von der französischen Botschaft kam, der sich beklagte, die türkische Zensur habe eine Sendung französischer Schulbücher ruiniert, in denen gestanden habe, Mohammed sei ein falscher Prophet. Man habe diese Stelle förmlich herausgekratzt.

»Schafskopf,« sagte Munif auf deutsch vor sich hin. »Wundert Sie das so außerordentlich? Was sagen Sie über die Frechheit dieses Esels?« fragte er Sibylle laut auf deutsch.

»Das müssen wir hier höflich ertragen, – das – und noch mehr. Die Gesandtschaften stecken unserm Volk wie Pflöcke im Fleisch. Wir haben unter anderem den Herren kürzlich bewilligen müssen, daß irgendeinem Kerl die Erlaubnis gegeben wurde, ein Café chantant neben eine Moschee zu bauen. Altes Gesetz bei uns verlangt, daß hundert Schritt von einer Moschee nicht einmal eins von unseren unschuldigen Kaveds eingerichtet werden darf, – – und die Geduld, die von uns, Gott sei's geklagt, gefordert wird, – stinkt zum Himmel.«

Während dieses kräftigen Ausspruchs Munifs saß der französische Attaché elegant und unbeweglich ihm gegenüber. Munif sprach über ihn, wie man etwa über ein Tier in dessen Gegenwart spricht.

Eisig wurde Bescheid gegeben. Munif aber war bleich bis in die Lippen.

So erlebte Sibylle die wunderlichsten Dinge von allen Seiten.

Sie schrieb an einem kleinen Werk, in das sie die ganze Ergriffenheit ihrer Seele ausströmen ließ, und nannte es »Im frischen Wasser«.

Ja, es war ein frisches, quellendes Wasser, was sie hier umgab, – ein Überströmtsein, eine Seligkeit. Ein neues, köstliches Menschentum breitete sich vor ihr aus. Liebenswürdigkeiten, Zartheiten, Schönheiten, die sie wie aus einer anderen Welt berührten, – und es war eine andere Welt mit anderen Gesetzen und Gewohnheiten. Ihr ganzes Herz war erfüllt von dieser schönen, sanften, zarten Welt. Das Leben hatte hier Formen angenommen, die entzücken mußten.

 

Die Ramasannächte kamen, von denen Alexanders Mutter ihrem Sohn erzählt hatte, die Ramasannächte mit ihren Lichterkränzen um die Minaretts, die über der unermeßlichen Stadt wie Sternenreifen schwebten. Jedes der schlanken Minaretts leuchtete in der Dunkelheit wie ein Christbaum über die auf den Hügeln ausgebreiteten Häuser.

Der klare, ausgestirnte Himmel strahlte im Wasser wieder, die Hügel mit ihren Tausenden von erleuchteten Fenstern funkelten wie Wasser und Himmel. Nirgends tote Dunkelheit. Überall schienen leuchtende Welten zu tanzen. Und das Rufen der Gebete aus den Lichtkränzen der Minaretts heraus, welch eine Schönheit, welche Bewegung und Erschütterung der Seele!

Und in den Straßen, in den stillen Straßen am Marmarameer, zwischen den hölzernen Häusern, den tiefdunkeln Zypressenwäldern welch ein Leben, welche Traumgestalten!

Alexander Dohrn und Sibylle gingen nachts oft miteinander, und es war, als wanderten sie durch Träume.

Vor den Häusern niedere Tischchen mit Blumensträußen, an denen die Familien saßen und nach den langen Fastentagen ihre Mahlzeiten festlich einnahmen. Der Schuster unter der Platane saß vor seinem blumengeschmückten Tisch allein und verzehrte sein Abendbrot, in den Gärten hockten Frauen im Schein ihrer Laternen um ausgebreitete bunte Tücher, auf denen ihr Nachtmahl stand, und tafelten, und wie Vogelgezwitscher klang ihr Lachen.

Mädchenkinder in weißen Sternenschleiern gingen in ganzen Ketten Hand in Hand mit ihren Laternchen durch die nächtlichen Straßen. Kein frecher Blick störte ihre süße Kindlichkeit. Welche Sonnenaugen strahlten da, welch unergründlich fremde Schönheit wandelte da! Reiter auf herrlichen arabischen Pferden ritten durch die stillen Straßen, verschleierte Frauen lachten miteinander. Vornehmheit und stille Heiterkeit überall. Bettler und Krüppel, die Spieluhrchen auf dem Herzen unter dem Kleid verborgen trugen und sich zu den Vorübergehenden leise hinneigten, um diese hören zu lassen, daß sie spielende und singende Herzen in der Brust hatten.

Und Alexander und Sibylle begegneten all den Gestalten, die in den sehnsüchtigen Erzählungen seiner Mutter sich bewegt hatten, ja sie sahen auch das Bübchen, das unter einer uralten Platane sich wie eine Wiege neigte und alten würdigen Männern aus dem Koran vorlas. Sie sahen es auf seinem kleinen Teppich sitzen. Sein Laternchen beleuchtete das fromme, volle Gesicht mit den großen, tiefen Augen. Sein weißes Mützchen umschloß keusch und rein die muttergeliebte, bräunliche, freie Stirn, und neben ihm lag das Zuckerwerk im roten Bündelchen, in das ein alter, würdiger Mann ihm einen Kringel steckte.

Voll Zärtlichkeit hörten sie dem lieben Kinde zu.

»Da sitzt du,« sagte Sibylle bewegt zu ihrem Mann. »Wie deine Mutter dich einst gewollt hatte. So träumte sie dich. – Wunderlich, wie ich die Seele deiner Mutter in mir fühle. – Sie ist endlich wieder hier.

Ganz, ganz still soll unser Leben werden – wundervoll. – Was wir erlebten, und wie wir's erlebten, trennt von andern Menschen.

Ich habe dir geschrieben, unsere Liebe würde wie ein Heiligtum sein, dem unerhörte Opfer gebracht wurden, und ich fürchte mich vor solch einem Heiligtum. – Nun ist's geschehen, und es soll schön und gut werden.«

Sibyllen rannen die Tränen über die Wangen.

»Es ist schon wundervoll,« sagte er, »und die Opfer werden aufhören Opfer zu sein.«

Eigen war es Sibylle hier oft zumute, als hätte sie alles schon einmal erlebt, die Sommeraugen der Menschen, die Düfte und Laute, die ganze Fremdartigkeit um sie her.

Als sie durch das eiserne Tor in das mächtige dämmerige Kirchengewölbe des Misr Tschardschi trat, des Gewürzbasars, – da wußte sie es.

Der betäubende, berauschende Duft umfing sie, der seit Jahrhunderten, ja wohl Jahrtausenden hier aufsteigt. Aus den hochgestapelten Warenhaufen strömt er, die in den tiefen, dunkeln, geheimnisvollen Verkaufsräumen liegen, in die man durch vergoldete geschnitzte Tür- und Fensteröffnungen sieht, von deren Gewölben verstaubte Schiffsmodelle, verstaubte, getrocknete Meerungeheuer herabhängen, und die sich auf beiden Seiten des mächtigen Raumes hinziehen wie Beichtstühle.

Stille Verkäufer sitzen von den aufsteigenden Düften fast eingeschläfert. Nachtigallen und Lerchen schlagen und schmettern aus der stark duftenden Dunkelheit heraus ekstatisch in ihren engen, einsamen Käfigen.

Draußen vor dem zweiten eisernen, gewaltigen Basartore breitet sich der Blumenmarkt aus. Süße, zarte, lebendige, feuchte Blütendüfte dringen in die trocknen, strengen Gerüche. Draußen Rosen die Fülle.

Schafherden werden durch den hohen, träumerischen Raum getrieben. Goldene Sonnen sind ihnen auf den Rücken gemalt, blaue Ketten um den Hals gelegt, und ihre Hörner sind vergoldet.

Welche Festlichkeit! Welche Lebensfreude! Geheimnisvolle, betäubende köstliche Gerüche sonniger Welten, Nachtigallen- und Lerchenschlag, goldstrotzende Schnitzereien, hohe Gewölbe, vergoldete, perlengeschmückte Herden und Rosenduft. – Vor Sibyllens Seele stand Lewins Sabbatvorabendtisch und die Gewürzbüchse der Seligkeiten des Lebens, an der die dunkeläugige Frau Lewin sie hatte riechen lassen.

Ja, die geheimnisvollen Düfte, die geheimnisvollen Schönheiten hier hatte sie vorerlebt, als sie als Goj den Juden die Lichter anzündete.

 

Schwere Erkrankung Alexander Dohrns war die Ursache, daß sie das Paradies, in das sie sich geflüchtet, verließen und alle Pläne und alle Möglichkeiten, Gewißheiten und Erfüllungen.

Munif-Pascha hatte gesagt: »Ich komme zu Ihnen – ich komme zu Ihnen!«

Eins der mächtigen Schiffe mit der langen dunkeln Rauchfahne, wie sie so oft vorübergezogen waren, führte sie am Haus, das über den liebenden Händen erbaut war, vorbei.

Sibylle stand mit ihrem noch nicht genesenen Manne und schaute wehen Herzens auf das geliebte Haus, sah Tücherwinken und hörte die Gans Engelchen in der Ferne auf der Mauer schnattern.

Es war, als ließen Sibylle und ihr Gefährte Weichheit, Zartheit und Schönheit zurück, zarter Seelen Heimat.

Das gewaltige Schiff strebte dem harten Leben zu, – keine Märchenstraßen mehr, keine Verkäufer und Schenker in einer Person, die voll Frohlocken und Dank waren, als endlich ihr Vertrauen belohnt wurde. Alexander Dohrn hatte seinen Gehalt bekommen, und Sibyllens Arbeit war von einer Zeitschrift angenommen, und Eigenbrodts hatten schweren Herzens ihrem Kinde Hilfe geschickt.

Wie aus weichen Händen wurden sie entlassen, wie aus einem warmen Stübchen traten sie hinaus in die Kälte. – Paradiesaustreibung.

Sie wußten es selbst nicht, welch eine Heimat sie verließen, ein Traumland, ein Land der Unschuld für sie, ein Land unaussprechlicher Seligkeiten, ein Land des Schutzes und des Friedens, – ein geliebtes Land.

Verwirrten Herzens, verwirrten Schicksals waren sie hier wie von Mutterarmen umfangen, in Reinheit untergetaucht und in Schönheit.

»Auf Nimmerwiedersehn – auf Nimmerwiedersehn,« flüsterte Sibylle erschüttert leise vor sich hin.

Die Gnade Gottes, die ihnen hier geworden, kehrte wohl nicht zurück.

Sibylle glaubte an keine Rückkehr.

 

Jahre der Krankheit, Jahre unaussprechlicher Lebensekstasen, Lebensermattungen, Lebensarbeiten und Aufraffungen.

Wenn Sibylle an diese Zeiten zurückdachte, sah sie sich durch dunkle Straßen abends gehen, beflügelten Schrittes mit einer Blume heimkehrend, mit irgendeiner kleinen Freude für ihren Kranken. Mit bebendem Herzen großstädtische Fremde durcheilend, nach dem einen Lichtpunkt ihrer Seele zustrebend, dem all ihr Fühlen, ihr Hoffen, ihr Leben galt, dem einzig leuchtenden Stern auf Erden.

Sie war ganz zu Liebe geworden, ganz erdentrückt, ganz zu Bangen, ganz zu heißem Verlangen, ihn, an den sie glaubte, hier auf Erden zu behalten.

Sie wollte ihn sich erkämpfen trotz aller Krankheit. Sie wollte im Lichte seiner Seele leben. Nur sie kannte ihn. Sie nur wußte, wer er war, niemand kannte ihn, niemand sonst verstand ihn. Ihr Glaube aber an ihn war unerschütterlich.

Sie lebten ein schmerzvoll süßes Leben mitten in Krankheit und Armut, eine wundervolle Zeit voll süßer, starker Geistigkeit, eine bange, selige Zeit, in der die Herzen reiften, die Seelen sich entfalteten.

Sie empfand im Geiste dunkle Stunden, in denen sie sich einsam, krank und matt an seinem Grabe stehen sah, niemand war bei ihr; selbst krank und matt, sah sie sich stumm die Arme ausbreiten, als wollte sie laut rufen: Seht meine Einsamkeit! Seht meinen felsenfesten Glauben an ihn! Ich allein kenne ihn.

Solche Bilder erschütterten sie zu jener Zeit oft.

Damals begann Alexander Dohrn seiner Arbeit, von der er einst geträumt, sich hinzugeben, ein Weltbild zu schaffen, wie er es schaute, ohne Verlangen nach Erfolg, sich leidenschaftlich stark seinem Erkennen ganz zuneigend.

Sie gingen abends miteinander im Zimmer auf und nieder, – weltvergessen.

Sie verstand ihn. Ihre Seele frohlockte, und sie lebten wundervolle Stunden.

»Tausend Jahre ging ich so mit dir,« sagte Sibylle.

Welch eine Zeit! – Das Wesen der Welt lag wie eine wundervolle Offenbarung vor ihrer beiden Augen. Er sprach oft hinreißend, gab mit jedem Wort ihr sein innerstes Wesen, sein eigenstes Schauen.

Am Tage arbeiteten sie beide. Sibylle war es, wenn sie an ihre Kunst dachte, als hätte sie einen wundervollen Garten voll lauter geliebter Blumen und Früchte.

Sie dachte und schrieb, wie man Blumen pflegt, voll Liebe und Freude und Hoffnung.

Ja, sie hatte ganz das Gefühl einer schönen Tätigkeit im Freien, in der Sonne, Gartenfreude, – etwas so Inniges, so Überseliges.

Er tischlerte, wenn er nicht geistig arbeitete, und verkaufte seiner Hände Werk und freute sich an jedem schönen Stück, das vollendet war.

Sie verhielten sich beide ganz, ganz ruhig der Welt gegenüber, ganz frei.

Ein paar gute Freunde fanden sich, wirkliche gute, getreue Freunde, köstliche Naturen. Gott behütete sie vor den Allerweltsmenschen, die nicht zu ihnen gehörten.

Ihre Freunde kamen wie Gottesgeschenke. – Alles still – ganz still.

Draußen war das Leben, das sie nichts anging.

»Unser Kloster Akserail im Märchensträßchen,« sagte Sibylle oft. »So ist's bei uns, – so schön und still, – und solche gute Menschen gehen bei uns ein und aus.«

 

Sie hatte noch niemanden der Ihrigen wiedergesehen. Die liebe Frau Mutter war im hohen Alter still entschlafen. – Die Tränen waren geflossen, die Sehnsucht hatte das Herz wie im Tauwind zerfließen lassen.

Es war alles Weh gelitten. Gute Briefe gingen wieder hin und her, – Friede begann zu blühen, Wunden begannen zu heilen.

Eigenbrodts sanftes, verschleiertes Leben klang in Sibylle wider, – keine Haft, kein allzu heißes Verlangen. – Geduld.

 

Von Frau Dohrn kamen in diesen Jahren wunderliche Briefe. Sie ging ihren Weg. Sie wollte auf ihre Weise erreichen.

Niemand aber wußte recht eigentlich, was sie tat und wollte. Es kamen Briefe voll Verlangen, sie wünschte Alexander und Sibylle wieder zu begegnen. Sie lud sie ein zu kommen, sie kündigte ihr Kommen an. Sie wollte pflegen und helfen.

Mit Entsetzen wies Sibylle jede solche Möglichkeit von sich ab.

»Tod oder Leben,« sagte sie zu Alexander Dohrn. – »Mich oder sie.«

Frau Dohrn schrieb an Alexander. »Ein Engel mit feurigem Schwert steht vor meinem Paradies.« Sie flehte, sie kommen zu lassen.

»Tod oder Leben,« sagte Sibylle unerschütterlich. »Ich oder sie.«

Frau Dohrn kam nicht, und man begegnete einander nicht; – aber aus ihren Briefen stieg etwas auf wie eine dunkle Wolke.

Angstvoll sah Sibylle diese Briefe kommen. Es geht ihr nicht gut, dachte Sibylle. Ihre Seele fand nicht, was sie verlangte.

Eine dunkle, unbestimmte Angst lebte in Sibylle.

 

Sibylle wurde Mutter. An einem Märzenmorgen, in Dunkelheit, war der Tod an ihr vorübergegangen, und sie erwachte aus schwerer Narkose. – Dämmerung. Das Fenster stand offen, – und o Wunder: im engen Stadtgärtchen vor dem Hause, mitten im Häusergewirr, sangen die Amseln ihr süßes Lied vom Tod zum Leben, von Winternacht zu Frühjahrshoffnung. Amseln, viele, viele Amseln. Der dröhnende, anschwellende Amselngesang zerriß die tiefe Dämmerung.

Welche Schauer! Welch weiche, dämmerige Luft, – welch mattes Bewußtsein, – und zwischen den Amselstimmen – ein Stimmchen, – fern – nah – unbegreiflich, – aller Geheimnisse voll. – Ihr Kind! – Eine Welt, die auf Liebe wartete, – eine schon ganz von Liebe umflossene, umhüllte Welt.

 

Und nun welch ein Leben. Wohin mit all dem Leben! Ihr Herz weit genug für alle Liebe, ihre Kraft zu schwach.

Aber sie ging wie auf Wolken. Welche Seligkeiten! Das Kind, – die Liebe zu dem, den sie liebte, zu seiner Arbeit, seiner Art zu sein, ihre eigne Arbeit!

Welch ein Überreichtum!

Es war ihr oft, als müßte sie sich durch blühende, dichte Zweige und Bäume mühevoll den Weg bahnen.

Die alte wundervolle Kraft kam wieder über sie, der nichts zu viel war; und doch, – sie hatte schwer, schwer gelebt von früher Jugend an, allzu schwer.

Sie trug auch jetzt schwer. – Sie liebte zu tief. Sie liebte auch ihre Kunst zu tief.

Und Alexander Dohrn blieb Alexander Dohrn, der Mensch, den man lieben mußte, um ihn begreifen zu können, der Mensch, für den es Zeit und Welt nicht gab, der in sich lebt, für sich, für sein Werk, der jahrelang ringen konnte um die makellose Reinheit eines Ausdrucks, eines Schauens, der sich nie genug tat, der nie hervortrat, dem alles, was man über ihn dachte und sprach, gleichgültig war, der sein Geld mit Tischlerei verdiente wie ein Handwerker, der im Fes ging und in einem ungewöhnlichen Mantel daheim, weil es ihn fror und er so sich behaglich fühlte, der die Menschen an sich herankommen ließ, ganz noch wie früher, so wie ein Kind Frösche fängt und sie wieder gleichgültig springen läßt, wenn die Art Frosch nicht unter ihnen war, die es suchte.

»Verstehfrösche,« sagte Sibylle und lächelte schmerzlich, daß er diese so leicht zu finden glaubte.

Ja, es war ihr oft bitter weh zumute, wenn solch ein unnützer Frosch, der in ihrem wunderschönen, für die Welt verschlossenen Reich dumm dagesessen hatte, bös davonhüpfte und für Alexander Dohrn ein feindseliger Frosch wurde.

Ja, Alexander Dohrn verstand es noch immer, sich Feinde zu machen, trotzdem Sibylle die Hände über ihn breitete, um ihn zu schützen.

Was ihr ein Weh war, berührte ihn gar nicht. Er ging über das Geröll des Lebens hin, wie einer, der die ganze Welt besitzt, und auch wie einer, der nichts besitzt. Beides kann die gleiche Freiheit der Seele geben. – Sibylle mußte oft an Iskender Kabuli denken. Der war derselbe, ob er ihnen diente oder bei Munif als Bruder des Scheichs von Afghanistan geehrt wurde. Ihrem Gefährten Alexander Dohrn hätte sie sich auch als Bettler und Weltüberwinder an der Türe einer Moschee vorstellen können.

Als sein Werk aber fortschritt, fanden sich Versteher, treue, gesegnete Versteher.

Es kam die Zeit, da Sibylle nicht mehr allein stand in ihrem Wissen und Glauben.

Es kamen wundervolle Zeiten!

»Ja,« sagte Sibylle jetzt oft, »wir haben wirklich unser Kloster Akserail!«

Wahrhafte Wisser und Versteher gingen aus und ein. Alexander Dohrn arbeitete sein Werk mitten unter Menschen, die für die Art seines Denkens begeistert eintraten.

Welche Abende und Stunden!

Weltvergessene Menschen saßen in Alexander Dohrns stillem Arbeitszimmer und hörten, was er ihnen vortrug, mutige junge Männer, die mit Begeisterung ihm folgten, die kein Vorteil hergeführt hatte, nur die Kraft und der Zauber von Alexander Dohrns Art zu schauen und zu sprechen. Sie liebten ihn, – sie gaben ihm in seinem schönen großen Arbeitszimmer Feste, in denen sich ihre jugendliche, lebendige Verehrung stark und schön aus sprach.

»Und würdest du nichts erleben als diese Stunden,« sagte Sibylle zu ihm, »– welch glücklicher Mensch bist du. Wer erlebte Ähnliches? Nicht berühmt bist du, nicht reich, ein wunderlicher Mensch, den wenige kennen. – Aber diese wenigen! – Was bist du denen! Was gibst du ihnen! Du erlebst so Reines, so Köstliches.«

Sibylle war nun ein erlöster Mensch. Sie hatte auch ihre Mutter wieder gesprochen und war ihr ans Herz gesunken, und hatte ihren Vater gesehn und die Schwestern, und hatte mit Vater und Mutter rührende Tage erlebt, Tage, die zu den stummen, großen Seligkeiten des Lebens zählen, Tage, die unermeßlich im Empfinden waren, in denen Liebe und Seelenreinheit und Größe und Reife die Herzen erfüllte.

In jener Zeit, als Sibyllens Lebensreichtum schwer auf ihr ruhte, als ihre Liebesekstasen für ihre Liebsten, ihre Kunst und ihre süße, zarte Häuslichkeit, in der sie wie ein Kind sparte und sorgte, ihre Kräfte verzehrten und von neuem belebten, kam ein Brief von Lilly, dem wandernden, einsamen Frauchen, das sich hingegeben hatte wie Nahrung, und an das Sibylle oft in diesen Jahren mit viel Sorgen gedacht hatte.

 

Sibylle las: »Isebies, meine Isebies – Du, an der ich nicht zweifle.

Ich bin Dir nahe!

Kennst du Abtei Schäftlarn an der Isar?

Wie nah ich Dir bin!

Eine Stunde kaum trennt mich von Dir.

Es ist tiefe Dämmerung. Ich komme eben zurück in das alte Klosterwirtshaus, in ein ödes Zimmer, in dem die Wirtin ein Holzfeuerchen angebrannt hat.

Ich hieß es ihr nicht.

Es brennt wie ein lebendiges Herz im totenstillen Raum.

Draußen stürmt der Frühling.

Regenströme. – Ich höre den Sturm in den ächzenden Baumkronen.

Grenzenlose Einsamkeit. Schwer müde bin ich. Stundenlang ging ich in Einsamkeit und Regen den Weg auf und nieder unter hohen Buchenstämmen; über eine goldblühende Wiese blickst Du hin.

Fern rauscht die Isar, – und lockt und lockt, – die einzige Stimme, die lockt.

Alles schweigt sonst –. Alles ging unter. Ich selbst.

Es ging ein Wesen ohne Seele, ohne Liebe, ohne Treue, ohne Hoffnung, ohne Pflicht, ganz durchnäßt den stillen Weg auf und nieder bis zur Ermattung, – ganz todbereit.

Wie soll man leben, Isebies, wenn nichts mehr Leben bringt? Sage – sage!

Wir brennen wie die Flammen und erlöschen wie die Flammen.

Verlorne Liebe ist Tod – Tod, den wir bewußt fühlen, – Tod, den wir erleben, – gnadloses Geschick. – Nicht Schlaf, nicht ewige Ruhe!

Ach, Isebies! Tod wach erleben! Tod trinken und essen, Tod ein- und ausatmen!

Denke! Denke!

Wer sucht dann nicht nach dem lieben, guten Tod, den Tod, in dem man in der Erde ruht wie das Kind im Mutterleib? – Ach, man fällt ihm zu wie ein Müder.

Den ich über alles auf Erden liebte, fühlt keine Liebe, keine Zugehörigkeit mehr für mich! – Verließ mich ganz.

Ein Strom geht von meinem Herzen zu Deinem.

Und ahnst Du, was es heißt, Liebe durch Liebe vergessen wollen, – sich so trösten sollen? – Welch ein Weh! – Welch eine Unsagbarkeit! – Ich habe auch das getrunken und gegessen. Der aber solches tut, der isset und trinket sich selber das Gericht, den Leib und die Hostie der Vergänglichkeit hat er auf der Zunge gespürt.

Die ganze Seele ist ihm zerschmolzen, – jede Hoffnung, – jeder Glaube, – jede Stärke, jede Vergangenheit, jede Zukunft, jede Gegenwart.

Unsinn, Hohn, Lächerlichkeit ist das brennende Opfer seiner Seele und seines Leibes geworden, – ein sehr schlechter Spaß.

Isebies, Isebies! Dieser Weg unter den knospenden Buchen, in denen der Frühling stürmt, der Blick auf die goldblühende Wiese, – das Rauschen und Locken der Isar!

Viele Golgathawege gibt es.

Diesen aber kenne ich.

Leb' wohl – leb' wohl!«

 

Als wiederum Dämmerung einbrach, ging Isebies-Sibylle fliegenden Schrittes den Golgathaweg, der auf die goldblühende Wiese blickt.

Im alten Wirtshaus hatte sie das wandernde Frauchen nicht gefunden.

In Ängsten suchte sie nach ihr. Todesbang.

Sturm und Regen fuhren noch immer in Stößen und Wellen über die knospenden Frühlingsbäume hin.

Sie rief. – Die Isar rauschte.

Einsamkeit – Tiefe Regeneinsamkeit – Keine Seele – Kein Menschenlaut.

Da, – an einer tropfenden Buche ein braunes Bündel, etwas Zusammengekauertes – ein Reh – ein Tuch –. Was war es?

Der Regen troff nieder.

Sibyllen schlug das Herz.

So hatte sie einst nachts auf dem Ettersberg in Sturm und Regen als Kind gewartet in Gespenstergrauen – und war sich selbst gleichsam entgegengekommen.

Ein leichtes Bewegen, ein Zucken im regennassen Bündel, das mit dem braunen Waldboden eins war.

Sibylle flog darauf zu.

Lebensfremde, entrückte Augen schauten auf sie, – tote Augen, Augen, in denen alles erstorben war.

Vom spitzen Kapuzchen rieselte der Regen und tropfte auf das starre Gesicht und rieselte über die Wangen als Tränen, die die Augen nicht mehr weinen konnten.

Vom Regen durchnäßt ein stummes Stück hilfloser Erde.

Sibylle beugte sich nieder, legte stumm den Arm um den nassen, vom Wasser schweren Mantel, fühlte bebende Schultern. Kälte durchrann sie.

Ach, auf dieses arme Stückchen Leben war der Regen stundenlang herabgetroffen, hatte es wie in den Boden hineingewaschen, gleichgemacht wie im Tode mit der stillen Erde.

Kein Wort, keine Silbe wurde laut.

Ohne zu reden nahm Sibylle das arme Geschöpf, hob es und führte es, und es ging mit ihr ohne Willen, – ließ sich vom guten Tod hinwegführen in Unbekanntes hinein.

 

In der alten düstern Stube brannte Feuer im Ofen. Sibylle nahm die nassen Kleider des armen Mütterchens, des armen zertretenen und zermarterten Herzens, das seine Liebe verloren hatte und in die Irre wie ein entsetzter Vogel geflattert war. Sie trocknete das brennende Haar – die Herzensflammen, wie Lilly es genannt – und bettete das wandernde Weibchen wie eine Mutter ihr Kind; – alles lautlos, ohne Zuspruch, ohne Frage.

Und unter ihren Händen schlief die arme Seele ein, schlief, als wäre sie gestorben, Frieden auf den zermarterten Zügen; ihr Atem aber ging, als hätte man sie gepeitscht – schreckvoll, unruhig, ruckweise.

Isebies-Sibylle war ganz Erbarmen, saß am Bette des Lieblings ihrer Kindheit, und ihr eignes Leben zog an ihr vorüber wie mit schwerem, vollem Flügelschlag.

War sie das selbst, was sie im Geiste sah? Ihr eignes Ich? Ihre eigne, tiefe, schwere Liebe? Ihr herrliches Kind? Ihre so geliebte Kunst?

Alles wollte ihre ganze Seele zu sich.

War sie so stark?

Welch eine mächtige Flamme brannte in ihr! – Welch heiße Zaubergebete lebten in ihr!

Meine Erde nannte ihr Mann sie. Ja, und war sie nicht seine Erde? Nachts betete sie: Gib seiner Arbeit Kraft. Gib seiner heiligen Arbeit Leben und Vollendung. Laß ihn das schaffen, was er schaffen muß. Gib ihm Segen. Gib ihm Erfüllung. Und dies Gebet trug die große schöpferische Liebeskraft ihrer Seele zu ihm hin und umhüllte ihn damit.

Dies Gebet allein war eines ganzen Lebens Kraft und Wollen.

Schwer flog ihr Leben dahin mit breitem großen Flügelschlag. Wer lebte noch so wie sie, – so über sich selbst hinaus, – so viele große, starke Leben?

Schlaflose Nächte kannte sie wohl, Nächte, die nicht dunkel, nicht lang genug, nicht still genug waren, um die starken Gewalten ihres Willens, ihrer Liebe, ihrer Arbeit einzuschläfern.

Ja, anders lebte sie wie andere Menschen, – anders. Fremd war sie den Menschen. – Wer ermaß ihre Liebe? – Niemand. Keine Seele auf Erden, – und wer ermaß ihre Dankbarkeit für den, der sie teilnehmen ließ an seinem Wesen, seiner tiefsten Erkenntnis?

Da sah sie auf das zerbrochene, süßschlafende Geschöpf, das unruhig neben ihr atmete.

Zerbrochen ist einer Seele Kraft, nehmt ihr die Liebe; nehmt ihr das heilige Einssein mit dem andern, – und die Welt liegt in Scherben.

Und sie kniete nieder vor dem leidensbebenden Geschöpf wie vor einem Altar der heiligsten Schmerzen und betete um Behütung, um gnädige Vorsehung, um Erbarmen.

Sie betete um die Behütung eines großen Heiligtums. –

Die arme todmatte Seele schlief und schlief Nacht und Tag.

Es war, als söge sie den Schlaf aus der liebenden Seele, die um sie besorgt war.

Das leuchtende Haar belebte sich gleichsam im tiefen Schlaf und stand wieder wie in Herzensflammen um das schöne Gesicht.

 

Als wiederum Dämmerung anbrach, kam Ottomar. Sibylle hatte ihn gerufen. Sie hatte das Zimmer mit einem Blumenstrauß geschmückt, hatte den Tisch gedeckt, leise, wie eine Mutter es nur kann, so leise, mit so viel Wünschen es behaglich und schön zu machen, daß es fast heimatlich wurde.

Als Ottomar eintrat, sah er Sibylle neben der schlafenden Lilly sitzen.

Ströme des Lebens, wie fließt ihr von Herzen zu Herzen! Wäret ihr sichtbar auf Erden, welche Wunder, welche Gewalten würden wir sehen!

Reifer Menschen große, tiefe Liebe und Zuneigung sprang wie eine Sonne hinter dunkeln Bergen auf, reifer Menschen große Liebe und Zueinandergehörigkeit, die durch keine Erfüllung irdisch vergänglich und wandelbar geworden war.

Beider Augen trafen einander so rein und hell und stark. Hand lag in Hand.

So treffen wir wohl unsere Geliebten in fernen Welten wieder, – wortlos, ohne Fragen, ohne Wunsch, geläutert durch große, schwere Leben, die über uns hingingen.

Lilly erwachte. »Ach, ihr seid da!« sagte sie mit einer rührenden, staunenden Stimme. »Wo kommt ihr her?«

Dann blickte sie um sich und sah die Blumen und sah den freundlich gedeckten Tisch.

Und Ottomar beugte sich über ihr Bett und sagte leise: »Deine Kinder, Lilly, hab' ich mir geholt. Ich wollte sie nicht droben bei Rauchfußens lassen. Nicht noch einmal sollten zwei Kinder wie wir dort aufwachsen!«

»Ihr – ihr, seid da! – Ihr!« wiederholte Lilly immer wieder, und Sibylle umschlang sie.

»Laßt mich aufstehen,« sagte Lilly, »und bei euch sein. Kommt in wenigen Minuten und fürchtet euch nicht vor mir. – Hast du immer bei mir gesessen, Isebies?«

»Ja, Lilly.«

»Dann habe ich im Schlaf deine Liebe getrunken. Geht – und kommt dann bald wieder.«

 

Ihrer ersten Jugend Zauber war wie einst auf die drei Getreuen gesunken.

Sie saßen miteinander bei zwei Lichtern um den Tisch im alten Zimmer des Klosterwirtshauses. Jeder seines Lebens Schönheit und Schwere tragend.

Das flackernde Flämmchen, das seine Liebesnahrung verloren und hatte verlöschen wollen, flammte zart auf.

Nahrung floß ihm zu.

Sie retteten sich alle drei in ihre erste Jugend hinein, faßten darin wieder Wurzel, und als sie im alten Erdreich von neuem heimisch waren, fanden sie Kraft, von andern Vergangenheiten zu reden, und sie verstanden einander in jedem Wort, in jeder Andeutung. Sie wuchsen einander zu, flossen ineinander über und sprachen wie mit feurigen Zungen ihres Lebens Beichte, jeder erfüllt vom andern, jeder erfüllt auch von sich selbst. Wie ein Geheimnis, das kein Hauch berührt, schwebten vergangene Opfer und Leiden zwischen Ottomar und Sibylle.

In Ottomars Worten und Blicken lag überwundener Kampf, eine wundervolle Ruhe und Kraft, etwas Unerschütterliches, dem das Leben an Dauer nicht genügte.

Ottomar lebte in Schönwetters stillem Haus, hatte des teuern Mannes Wirkungskreis inne. Sybille und er gedachten miteinander der Heimgegangenen Freunde.

Und Ottomar sagte: »Ich bin ein froher Mann, da zu stehen, wo ich stehe. Ich habe dir einmal gesagt: Ich freue mich, mit Sterbenden zu reden; und welche wundervolle Freude ist es in unserer öden, naseweisen Zeit, den Menschen zu sagen: Ihr kommt von Gott, und ihr geht zu Gott.

Eure Seele soll nach Gott, eurer Heimat, dürsten und schreien wie die Lungen und Poren des Ertrinkenden nach Luft.

Und sie dürsten und schreien nach Gott wie die Lunge des Ertrinkenden nach Luft, – nach Gott, ihrem Ursprung, auch wenn euer grobes Bewußtsein nichts davon ahnt, ihr von Gott Versprengten und Zerstobenen. Ihr glaubt nach Nahrung zu schreien, – und ihr nährt euch von dem Einen, dem all Einen; ihr schreit nach Liebe, – doch ihr schreit nach Befriedigung, ihr schreit nach Bosheit und Lastern wie die Lunge des Ertrinkenden nach Luft; ihr freßt und sauft – und verlangt und verlangt in endlosem, nie gestilltem Verlangen.

Aber nur ein Verlangen in zahllosen Gestalten gibt es auf Erden – alles andere Trug –: Verlangen nach eurem Ursprung Gott; nur ein Schrei, eine Glut nach Wiedereinswerdung –: mit Gott! Alles Verlangen ist Gottverlangen in ewig wechselnder Gestalt.«

»Ottomar!« rief Sibylle erregt, »welche Gleichheit, welches Einssein in dem, was du und Alexander wollt! Du sagst das, was die tiefste Seele seines Werkes ist, du sagst, was er in allen Formen und Gestalten zu durchglühen sucht mit aller Kunst des Ausdrucks, in jeder Auflösung der Gegensätze. Er fand die eherne Form für diesen Gedanken.«

Ottomar antwortete schwer: »Wenn er das will und schaffen muß, und wenn er die eherne Form dazu findet, die mir nicht gegeben ist, – sind wir quitt miteinander, – er und ich.

Ich gab dich ihm. – Ich liebte dich. Ich ließ dich ihm.

Ermiß du es, was ich tat. – Die Tat geschah, – das Leid ist gelitten.

Aber es ist gut, daß ich weiß, weshalb sie geschah. – Du siehst, Sibylle, die grüne Laus hat ihr Schicksal gehabt. Es ist alles geschehen, wie es geschehen mußte, – und überwunden.

Ich bin ein freier, ruhiger, glücklicher Mann.

Schön ist die Stunde, in der wir drei uns hier wiederfanden.« Er reichte Lilly und Sibylle seine Hände. »Wir wollen zueinander halten. Mein Leben ist reich; Lilly wird bei mir gesunden. Sie wird mit mir Gutes, Frohes, Lebendiges tun. Für die ist gesorgt.

Wir, du und ich, Sibylle, wir leben beide ein schönes, starkes Leben. Nicht allzuviele können das von sich sagen. Gott segne dich.«

 

Sibyllens Leben trug Früchte und Blüten. Es war eine wundervolle Lebenszeit. Ihre Kunst trug auch Früchte und Blüten.

Schönes, Tiefbewegendes erlebte sie in diesen gesegneten Jahren. Sie lernte ihre Mutter kennen, so wunderlich das klingt, die zierliche Marie Sibylle Eigenbrodt, die im geliebten Haus unter den hohen Bäumen Zurückgebliebene, die ihren teuren Lebensgefährten verloren hatte.

Ja, sie lernte diese wortlose, klugernste und doch so kindlich heitere Frau jetzt erst kennen, deren Leben sie getrunken hatte, von der sie ein Teil Leibes und der Seele war, die aus dem Exzellenzengarten stammte, aus dem zentifolienfarbnen Haus, in dem man so gut schweigen und so tief lieben konnte, die zarte Frau, die eine andere jetzt war, als sie es zur Zeit ihrer Ehe gewesen. Nicht anders in ihrem Sein, aber in den Äußerungen ihres Wesens; die nur für die Ihrigen gelebt, lebte nun selbst, so schwer es ihr wurde.

Wenn Sibylle ruhige Tage und Wochen bei der Mutter in deren sonnigen Haus wieder daheim war, schien es ihr, daß jeder Winkel im Hause leuchtete wie die klare Seele eines geläuterten, reifen Menschen, als verbreitete sich das helle Wesen ihrer Mutter mehr noch wie sonst über ihre Umgebung. Sibylle, die Mutter, spielte am Abend, wenn sie miteinander allein waren, ihrer Tochter vor. Sie, die einst ihr schönes Können geheim gehalten hatte wie ein Gebet.

Da saß die kleine stille Frau vor ihrem Instrument im Halbdunkel allein.

Sibylle sah durch die Tür die helleuchtende Statue des Medicäers, den Michelangelo für das Grabmal des großen Fürstenhauses geschaffen hatte, den ernsten, gerüsteten Jüngling, der die Finger auf die Lippen legt. – Schweigen. –

Schweigen hat kein Künstler auf Erden so ernst und geheimnisvoll zum Ausdruck gebracht wie Michelangelo in der Gebärde dieses wundervollen Jünglings.

Es war das Kunstwerk, das Sibylle, die Mutter, von je am meisten geliebt hatte.

Schweigen – Schweigen – Schweigen.

Sibylle hörte oft tieferschauernd aus dem stillen, dämmerigen Raum das Spiel ihrer Mutter, Offenbarungen ihres Wesens, zarte, wehmütige Töne, tief traurige und suchende, kindliche Heiterkeiten einer Seele, die in der Kindheit sich erdenwohl gefühlt hatte, und wundervoll schwebende, erdentrückte Klänge, die Sibyllens Herz erschütterten.

Sie hörte große, ganz verschwiegene Kunst, die nie im Leben gesucht hatte sich bemerkbar zu machen, eine rührend-einsame Kunst, die der zarten, stillen Frau so natürlich und selbstverständlich war wie die andern Eigenschaften ihres Wesens.

Diese Stunden brachten Sibylle und die Mutter einander nahe, wie keine Worte es je vermocht hätten, und in der Freude und Bewunderung ihrer Tochter fühlte Sibylle, die Mutter, eine süße lebendige Befriedigung, etwas so Lebensvolles, das sie wohltätig durchdrang, und das sie nicht erhofft hatte.

Ja, es war eine starke, schöne Zeit für Sibylle, Jahre auf der Höhe des Lebens, wohltätige Jahre. Es gab Früchte und Blüten und Arbeit die Fülle, – Ernte und Saat.

 

Eine Seele aber war keine frohen Wege gegangen, hatte sich nicht entwickelt wie die andern zu reifem Frieden, und diese Seele mit ihren großen, friedlosen Kräften stand lange wie ein Gewitter am Himmel der Ruhiggewordenen, der in sich Frohen und Reichen.

Das Dasein hatte Elise Dohrn die Erfüllungen, die sie heiß erstrebte, nicht gebracht. Ihre unbändige Herrschernatur hatte sich nicht entfalten können. Erfolg war ihr fern geblieben. Sie hatte das stille Leben einer Unbemerkten geführt, hatte ihre Kinder tapfer erzogen, war aber voll Lebenshunger geblieben, voll Reue, voll Enttäuschung.

So geschah es, daß sie, alles vergessend und überschreitend, was einst durch sie selbst geschah, daß sie die Ehe Alexander Dohrns und Sibyllens nach langen Jahren des Bestehens als ungültig vor Gericht erklärte und Klage führte.

Ein Gewitterausbruch – ein Donnerschlag. – Vernichtung hatte sie ausschicken wollen.

Aber die stille Welt, die bedroht wurde, war stark und heiter und ganz erfüllt von großen lebendigen Kräften.

Es kamen wohl Qualen und Quälendes, es kam viel unwillkommene Arbeit. Man mußte sich rechtfertigen.

Aber beide, Alexander und Sibylle, sagten: »Gottlob, daß kein Leben bedroht ist, gottlob, daß das Unglück nicht in anderer Form eintrat.«

Niemand verlor den Mut. Ja, in dieser Zeit schien es, als wäre beider Lebensarbeit doppelt gesegnet; die Freunde waren noch einmal so warm und treu, – und ihrer beider geistige Zusammengehörigkeit wuchs.

Sibylle hatte recht, ihr Haus glich dem wundervollen Kloster Akserail, in das Munis sie einst nach ihrer Trauung schickte, wohl um ihnen zu zeigen, daß es auf Erden heilige Nester gibt, in die die Unruhe, der Zwiespalt, die Qual der Welt nicht eindringt.

Als Sibylle gezwungen war, ihr Leben dem Richter darzulegen, tat sie es mit bebendem Herzen, wanderte geistig, als wäre der Jüngste Tag angebrochen, durch ihr ganzes Dasein, Jahr für Jahr durchmaß sie das ganze schwere, schöne, reiche Leben.

Feierlich und ernst war es ihr zumute. Welche Fülle des Lebens!

Geheimnisvoll, – geheimnisvoll lagen die Jahre vor ihrem Schauen wie schaffende Meister, die an der Seele gewoben und gewirkt haben. Schmerzen waren zu Freuden geworden, Vergangenheiten hatten Gegenwart gewirkt, vergossene Tränen waren zu Reichtümern geworden. Wundervoll war alles, was sie betrachtete, bedeutungsvoll, hindeutend auf größere Entwicklungen über die Welt hinaus, – und welch starkes Leben barg ihre Seele!


Auf sie blickten, als sie bebenden Herzens sprach, ein Paar trübe graue Augen, ein Paar Augen, die sie vergessen mußte, um reden zu können, – ein Paar Augen, die einst gefunkelt hatten wie Feldherrn-Edelsteinaugen, die über sie unerhörte Macht besessen hatten, Augen, die sich ihr eingebrannt hatten wie verzehrendes Feuer, Augen, in denen das unruhige, heiße Verlangen der Welt einst gefunkelt, Augen, aus denen eine starke, heiße Seele geschaut hatte, der irgendein Salz, irgendeine Essenz im Laufe der Ungeheuern Entwicklung der Menschwerdung nicht beigemischt worden war, arme Augen, die jetzt voll Haß blickten, die vernichten wollten, und eine Seele, die sich freiwillig dem Ungeheuern Martyrium beugte, hier Hörerin zu sein und Miterleberin. Hatte diese Seele alles vergessen, hatte es sich ihr im Laufe der Jahre umgestaltet?

Noch hatte sie keinen Frieden gefunden, keine stille Heimat, keine Schonung ihrer selbst, diese arme Herrscherseele ohne Reich.

 

Die dunkeln, schweren Wolken zogen vorüber, der erschütternde Prozeß war gewonnen.

Die Saaten des Lebens standen unbeschädigt, die vollen Bäume trugen ihr Laub, die Luft war rein und stark.

Die Seelen hatten auf Erden sühnen dürfen für Leid, das sie gebracht, und trugen die Gnade froh.

Alle hatten treu zusammengehalten. Welch ein tiefes Aufatmen, welch reine Freude aneinander!

Das Leben spielt auf den Seelen wie auf Harfen.


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