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Das Haus der kindlich Starken, in dem die neue Generation nach dem Leben greift

Der lustige Zwilling Biwi erwischte den Vater eines Tages, als er zu seiner Frau sagte: »Was meinst du, haben wir die Pflicht, irgendwie uns danach umzuschauen, daß sich unsere Kinder verheiraten?«

»Nein,« antwortete Marie Sibylle, »Gott bewahre.«

»So viel ich weiß,« meinte Heinrich Eigenbrodt, »tun das manche Eltern und halten es für ihre Pflicht.«

»Mag es tun, wer da will, ich finde es ungehörig. Wenn Gott es ihnen bestimmt, werden sie auch ohne unser Zutun glücklich.«

»Ja, und außerdem habe ich meine Töchter nicht für fremde Leute erzogen. Wenn sie klug sind, bleiben sie überhaupt bei uns.«

»Das will ich nicht sagen,« antwortete die Frau; »aber keinesfalls haben wir die Pflicht, in dieser Weise, wie du sagst,« – nie hätte Marie Sibylle ausgesprochen, um was es sich handelte – »für sie zu sorgen.«

»Gottlob!« meinte Heinrich Eigenbrodt. »Denn beim eigenen Unglück behilflich sein, ist viel verlangt.«

Marie Sibylle lächelte.

Heinrich Eigenbrodts teuerstes Gut, seine drei Töchter, war ihm so wenig sicher, wie es dies jedem braven Vater dieser Erde ist. In seiner guten Harmlosigkeit bemerkte er zwar nicht, wie trotz aller gegenseitigen Liebe sein Bestes unaufhaltsam von ihm fast unbewußt fortstrebte.

Die Mädchen hatten ihre Verehrer, die Heinrich Eigenbrodt vollkommen scherzhaft nahm; da war keiner, den er wert hielt, daß eine seiner Töchter ernstlich sich nach ihm umsah, eine seiner lieben, hübschen, guten Töchter nach so einem dummen Kerl!

Sie waren alle drei, jede in ihrer Art, natürliche, frische Geschöpfe und verkehrten mit jungen Männern wie mit Brüdern, besonders die Zwillinge.

Viel junges Volk ging bei Eigenbrodts ein und aus, Mädchen und junge Männer, und von diesen war jeder sicher, vom Hausherrn nicht für voll angesehen zu werden.

Fest aber war beschlossen, daß keine der drei Töchter einen gewissen Vetter Eigenbrodt heiraten dürfte, der Leutnant in Weimar war. Das wurde allen drei Mädchen einfach gesagt, und damit war die Sache erledigt.

Ja, als die Eltern verreisten, wurde Frau Mutter und der ungefährliche Vetter als Wächter des Hauses eingesetzt, außerdem der Sohn eines Eigenbrodtschen Freundes, der drüben im Geschäftshaus tätig war. Diese drei teilten sich gewissenhaft in den Wächterposten.

Es war in dieser Zeit Sommermitte, die Gemüter leicht und heiter, das Laub dicht und dunkel, die Rosen im Garten standen in voller Blüte.

Die Mahlzeiten konnte man in der großen Laube einnehmen.

Frau Mutter präsidierte, der Vetter und die drei Cousinen saßen und plauderten und lachten, und zur Abendmahlzeit kam Friedrich Merk noch aus dem Geschäftshaus herüber, um nach dem Rechten zu sehen. Eine Freundin der Frau Mutter erschien auch aus diesem Grunde, eine alte heitere Frau, die mit Vorliebe, wenn sie eintrat, sagte: »So sind wir wieder, gottlob, alle beisammen, young and elderly people,« und heut sagte sie noch: »Da sitzt ihr ja mit euren Vätern! Deshalb muß ich der Frau Mutter Gesellschaft leisten, denn so viel Jugend, da fühlt sich ein einzelnes altes Leut' ganz verlassen.«

Frau Mutter aber hatte mit Freuden ihre junge Tafelrunde überblickt. Gewöhnlich erschien auch noch ein Jurist, Hans Zerzog, der sich in Biwi gründlich verschaut hatte, ein fideler, witziger Mensch; sein Vater war ein großer Herr im Ländchen. Hans Zerzog aber war das wunderlichste Gemisch von allen möglichen Eigenschaften, hatte ein großzügiges, gutgeschnittenes Gesicht, eine kleine, äußerst lebendige Gestalt, humoristische Bewegungen und drollige Rokokohände, die zu seinem Renaissancegesicht nicht recht paßten, war schlagfertig, witzig, gewandt, mit einemmal fast unbeholfen.

Seine Natur schien nicht besonders fleißig ineinander gerührt zu sein. Großväter, Großmütter, Mütter, Väter, Urgroßmütter und Urgroßväter, die Frau Mutter alle gekannt hatte, lagen bei ihm, zeitweilig wenigstens, in heftiger Unterhaltung.

Wenn er etwas besonders Witziges sagte, meinte Frau Mutter: »Das war der alte Haase, das ist ein geistreicher, drolliger Mann gewesen;« beklagte sich ihre Enkelin, daß Hans Zerzog wieder einmal ungezogen und hanebüchen war, meinte sie: »Das war einfach der alten Häsin ihre Mutter, da kann er nichts dafür.« Erzählte jemand: der junge Zerzog sei doch ein witziger, immer amüsanter junger Mann, meinte die Frau Mutter: »Das hat er von dem Franzosen, der in die Familie einheiratete;« wurde er im allgemeinen gelobt, meinte die Frau Mutter wieder: »Ja, so ist sein Großvater mütterlicher Seite gewesen, ein Prachtmensch, und ich hoffe nur, der junge Zerzog nimmt sich den ganz besonders zu Herzen und läßt ihm die Oberhand.«

Der junge Zerzog und das Hanswürstchen Biwi standen sich vortrefflich, zankten sich, versöhnten sich wieder, waren immer zum Gaudium der übrigen miteinander beschäftigt. Sie gaben ein drolliges Liebespaar ab und waren heute wieder einmal, wie schon oft, beim Abendessen ins Streiten gekommen; die kleine prächtige Person hatte der Tischgesellschaft auseinandergesetzt, daß sie nur einen Mann heiraten würde, der genau wie ihr Vater sein müßte, von früh bis abends tadellos gekleidet, in jeder Gewohnheit vornehm, groß und nobel in allen Dingen, und der sich Eau de Cologne ins Waschwasser gösse. Darauf sagte Hans Zerzog: »Gäb's Durchleuchtungen für solche Hirnchen, würde man im reizenden Hirnchen von Fräulein Biwi natürlich alles mögliche Entzückende finden, aber viel, sehr viel – Hirngespinste – und große Rosinen.« Er war hübsch zornig auf den Geschmack seiner Angebeteten, denn alles, was sie an ihrem Vater gerühmt, waren nicht gerade seine eigenen hervorragenden Eigenschaften. Er hatte einen gewissen Zug zum Kleinbürgerlichen, den er sehr achtungsvoll behandelte. Die Lacher aber bekam er durch seine witzige Antwort auf seine Seite.

Die kleine Weltdame aber bemerkte, zu dem verbotenen Vetter gewendet: »Wenn die Eltern sich nicht beeilen mit dem Wiederkommen, stehe ich nicht dafür, daß sie die beiden Streitböcke als verlobtes Paar wiederfinden.« Der verbotene Vetter seufzte, denn sein Vateramt hier im Hause war kein leichtes, wenn man bedenkt, daß die kleine Weltdame das reizendste Geschöpfchen war, das einem Vetter je vor die Nase gesetzt wurde.

Wem eigentlich Friedrich Merk von den drei Mädchen sein Herz zugewendet hatte, wußte niemand so recht, Frau Mutter ausgenommen, der er manchmal klagte, daß es Fräulein Sibylle so merkwürdig verstünde, einem unter den Händen zu verschwinden.

Ja, das verstand Isebies aus dem Fundament: mit Liebenswürdigkeit zu überschütten und dann, hast du nicht gesehen, so wirst du sehen – fort.

Ach, und was den andern wie ein Taschenspielerkunststück erschien, das Sichunsichtbarmachen, war eine gar schwere Kunst. Sie war so bemüht, jedem, der ein Recht auf sie hatte, zu geben, was sie geben konnte, und lebte wie in verborgener Ekstase. Sie wollte alles tun, alles leisten, was man von ihr verlangte; aber in kürzeste Zeit gedrängt, denn sie kam sich vor wie eine Katze, die ein Nest mit Jungen hat, das sie niemandem verraten will.

Bei ihren Freunden war wirklich Sorge eingekehrt, auch für die junge Sibylle ganz deutlich. Sie arbeiteten gegen ein böses Schicksal, einen Vertrag, den Alexander Dohrn seinerzeit mit der Bank gemacht hatte. Damals jung und unerfahren, hatte er sich mit diesem Vertrag eine Schlinge über den Kopf gezogen, und nun lebte er in dem nervös machenden Bewußtsein, nicht frei zu sein und ohne große Verluste sich nicht frei machen zu können.

Beide Dohrns reisten seit Jahren von Sachverständigen zu Sachverständigen, von Autorität zu Autorität, um einen juristischen Ausweg aus dieser Gefangenschaft zu finden.

Frau Dohrn selbst weihte Sibylle in diese Sorgen ein, und das junge Ding saß wie erstarrt vor solchem Vertrauen.

Es war der erste Lastwagen des Lebens, der ihr aufs Herz fuhr.

Das Vertrauen Frau Dohrns steigerte sich. Die junge Sibylle bekam von ihr zu allen Tageszeiten kleine dreieckige graue Briefchen, die Biwi Isebiesens Mäuse getauft hatte.

Diese Briefe setzten Sibyllens Mitgefühl in Flammen.

 

»Wie ein armes krankes Kind von seiner Mutter hänge ich im Augenblick von Ihnen ab,« schrieb die wunderliche Frau an das Kind, das vom Leben noch nichts wußte. In welcher Erregung und Hilflosigkeit mußte diese Frau sich befinden. »Kommen Sie, kommen Sie, Engelchen, Sie tun so wohl! Isebieschen, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten!

Ach, lassen Sie uns plaudern, lassen Sie uns Herrn Dohrnchen auf andere Gedanken bringen. Verlassen Sie uns nicht.«

Nach schweren, drückenden Stunden, welche die im Innersten geängstigte Isebies mit ihren Freunden verbracht hatte, kam gewöhnlich gleich darauf von Frau Dohrn ein Zettelchen, das ihr wohltun sollte.

»Ich bin wieder oben auf, nachdem wir eine günstigere Auffassung gefunden zu haben glauben. Ohne Sorge. Schlafen Sie wohl! Felischissima notte! Sie sollen die ganze Nacht schlafen! Was sehr Hübsches träumen.

Ihre Elise.«

 

Sibylle war geehrt und glücklich, daß Menschen sie brauchten, sie wirklich notwendig hatten. Nun wußte sie doch auch, weshalb ihr Gott ein so wundervolles Kraftgefühl in die Seele gesenkt hatte. Wie schön das Dasein war! Tagsüber war sie voll Leben und Lebensglut, sie hatte allerhand schöne frohe Arbeitspläne, die ihr das Herz schlagen ließen. Sie sang, sobald sie sich allein fand, war liebenswürdig und froh, und nachts träumte sie wundervolle Träume.

Sie mußte selbst lachen, daß sie noch so jung war, und daß diese schöne eigentümliche Frau sich an ihr hielt, als hätte Sibylle Erfahrung und Geist, um helfen und trösten zu können. Nur eins: Zu Hause war man nicht zufrieden mit ihr. Sie fühlte ganz genau, daß sie nur allzu oft das Behagen störte. Ihr Gewissen war nicht so rein und leicht wie sonst, nicht mehr so zart und unfühlbar wie ein lauer Sommerwind. Unruhe der Seele, entschuldigen, beschwichtigen, auf Gelegenheit passen, davonhuschen, das gehörte eigentlich nicht zu Isebies.

Eines Tages, am Nachmittag, als die Familie plaudernd im Wohnzimmer saß, die jungen Leute zugegen waren, das lustige Pärchen Hans Zerzog und Biwi zum Genuß der andern immer von neuem Streit miteinander suchten, denn ihre gegenseitige Liebe schien noch nicht so recht in Form gekommen zu sein, sagte Heinrich Eigenbrodt zu Isebies: »Heute, mein Kind, dürfen wir uns doch auch einmal wieder an deiner Gegenwart freuen, ohne daß fremde Menschen ihre Hände nach dir ausstrecken. Sie scheinen heute die Gnade zu haben, dich uns zu lassen.«

Isebies schwieg. Nie in ihrem Leben hatte sie ihren guten Vater spöttisch sprechen hören. Es trieb ihr das Blut zum Herzen; wie fremdartig hörte sich das an? Was war das? Wie kam das? War sie wirklich so oft bei Dohrns? Sie wußte gar nicht recht … Wie im Traum war's ihr zumute.

In diesem Augenblick brachte das Zimmermädchen eines der grauen dreieckigen Briefchen. »An Fräulein Sibylle,« sagte das Mädchen.

»Wieder 'ne Maus,« rief Biwi mitten im Schwätzen und Lachen. »Diese dummen Mäuse immerzu.«

Isebies wagte den Brief nicht zu öffnen.

»Es wird auf Antwort gewartet!«

Dunkelrot öffnete nun Isebies Sibylle das Zettelchen und las:

 

»Kommen Sie, liebes Engelchen Sibyllchen. Es gibt allerhand zu helfen und zu plaudern. Haben Sie Dohrns vergessen? Geht's Ihnen gut? Ja – ja! Bringen Sie Ihre Arbeit. Wer plaudert so gut die Sorgen fort? Wer wohl?

Ihre Elise.«

 

»Sagen Sie, daß ich nicht kommen kann,« wendete Sibylle sich an das Mädchen.

Das arme Kind war tief erregt. Wußte denn Frau Dohrn nicht, wie schwer das alles war? Wußte sie denn nicht, daß man die Tochter zu Hause auch brauchte?

Oft war es Sibylle schon erschienen, als könnte Frau Dohrn sich die Dinge gar nicht vorstellen. Konnte sie denn nicht so ein Briefchen mit der Seele verfolgen, war sie nicht imstande, sich zu vergegenwärtigen, wie es mitten im Kreis der Familie ankam?

Konnte sie sich nicht denken, daß alle darüber die Köpfe schüttelten, daß eine nicht mehr junge Frau so stürmisch nach einem jungen dummen Ding verlangte?

Frau Dohrn war wohl nicht beanlagt, sich in andere zu versetzen.

Irgend etwas fehlte.

Das war in Sibylle wach wie eine leichte Mahnung, auf die sie nicht hören wollte.

Sie ging an diesem Nachmittag nicht zu Dohrns; aber wunderlich, daß ihr dieser Entschluß keine Ruhe brachte.

»Sie werden auf mich warten! Sie sind so abgespannt, ich sollte doch hingehen.«

Sie sah im Geiste Frau Dohrns vorwurfsvolle Augen auf sich gerichtet, und wieder empfand sie das tiefste Mitleid.

Sibylle schämte sich fast, daß sie Frau Dohrn etwas bedeutete. Ach, Freunde sollten sie haben, starke, kluge Freunde, denen sie sich vertrauen konnten!

Wie gern hätte sie ihren Vater gebeten, zu raten und zu helfen, wer weiß, ob der nicht einen Ausweg gefunden hätte. Heinrich Eigenbrodt aber verhielt sich in letzter Zeit immer abwehrend gegen Dohrns, und Sibylle konnte sich nur einen wahrhaft treuen Freund diesen Menschen gegenüber vorstellen. Einer, der sie nicht liebte, würde sie auch nicht verstehen, würde nicht begreifen, daß Alexander Dohrn die Gefangenschaft unter den beengenden ungünstigen Bedingungen in diesem Geschäft als unerträglich empfand, trotzdem alles brillant ging, die Bank zufrieden war und die Einnahmen nichts zu wünschen übrig ließen.

Auch über das blauseidene zerrissene Sofa, das noch immer nicht überzogen war, hätte wohl jeder die Achseln gezuckt und noch über manches, was nicht so ganz ordnungsgemäß aussah. Die vielen Bonbons und der desolate Samowar und die tiefen Seufzer Alexander Dohrns. Denn welcher Mensch in Weimar seufzte so und sagte: »Welt – Welt –! Eine Welt für Kinder und Teufel!« Und wenn man fragte, wie man in Weimar fragt: »Na, wie steht's Befinden?« und zur Antwort bekam: »Vortrefflich, erhaben, auf einer Welt, wo einer den andern frißt, auf der die Nahrung lebt und liebt, ganz ausgezeichnet!«

Ach, wenn er doch nicht so antworten wollte, dachte Isebies Sibylle, wenn er doch ganz einfach sagen würde: Danke, ganz ordentlich, wie alle nicht ganz jungen Leute in Weimar antworten, wenn man sie nach dem Befinden frägt. Sie selbst erschrak nicht mehr vor solchen Antworten – gar nicht. Es erschien ihr natürlicher, natürlicher wie: Danke, ganz ordentlich, oder etwa: Danke, so so, la la. Aber sie wußte auch längst, daß einer den andern auf Erden frißt, daß jedes Geschöpf in Todesangst lebt, nur die bürgerlichen gebildeten Leute wußten das nicht, solange es ihnen gut ging und sie sich sicher fühlten. Und wenn es ihnen nicht gut ging, sagten sie es freilich auch nicht. Und das fand Sibylle doch sehr anständig von ihnen. Schade, daß Alexander Dohrn sich nicht so betrug wie die andern. Er erschwerte sich das Leben damit. Ja, ihm war es gleich, ob die Weimeraner sein Fläschchen mit Baldriantinktur schnupperten. Das mochte sie nicht an ihm, hätte es fortgewünscht, denn er war ein so guter Mensch und klüger wie alle andern, und durch diese dummen Schrullen gab er sich den Mäulern der Leute preis. Und wer mochte auch auf einer so unverschleierten Welt leben! Sibylle sah darin ganz klar und liebte das tief verschleierte Leben, das die Eigenbrodts führten, das so schön und liebevoll und ganz aus Rücksicht füreinander gewoben war. Aber in Dohrns Haus hörte sie Dinge, die ihre aufhorchende Seele staunen ließen.

Bei Eigenbrodts sprach man nicht vom Tod, nicht von Liebe, nicht von tiefen Fragen des menschlichen Lebens. Von elementaren Dingen wurde überhaupt nicht gesprochen, nur von bürgerlichen.

Dohrns standen aber fast ohne alle Bürgerlichkeit den Dingen gegenüber.

Und so war Sibylle oft erschüttert von Worten und Gedanken, die sie dort aufnahm, und die so viel älteren und abgehärteten Dohrns konnten sich in eine derart behütete zarte junge Seele kaum mehr hineindenken.

Alexander Dohrn hatte ganz recht gehabt, als er Sibylle einst sagte: er käme aus einer traditionslosen Urwelt.

Für ihn war seine Welt eine starke, freie Welt, in der er aufgewachsen. Isebies Sibylle aber trat wie mit bloßen Füßen und bloßem Herzen in sie ein, wie aus einem warmen Stübchen in Sturm und fremde Morgendämmerung.

 

Wie sehr war Heinrich Eigenbrodt eines Morgens erschreckt, als alle zur Andacht früh am Kaffeetisch versammelt waren; die Wintersonne schien freundlich zum Fenster herein, Behagen und Seelenfrieden seines Hauses umgab alle schön und sanft; die Kaffeekanne stand blitzend auf dem alten messingenen Wärmer, das Meißener Porzellan glänzte, die Butter war von zartestem Goldgelb und duftender Frische, die Gesichter der Anwesenden ruhig ausgeschlafen, gebadet und gesund, – als Isebies, eben als Heinrich Eigenbrodt einen Abschnitt aus der Bibel vorlesen wollte, die Arme auf den Tisch legte, den Kopf darauf und schluchzte. Ihre ganze Gestalt bebte und zuckte. Heinrich Eigenbrodt blickte auf. »Was ist ihr denn?« fragte er seine Frau, denn es war nicht seine Art, in solchen Fällen direkt mit den Kindern zu verkehren. Er brauchte dazu gewissermaßen Marie Sibyllens Hilfe, wie der Herr Jesus Christus die Maria braucht, um mit seinen Sterblichen zu verkehren.

So wenig wie der Vater sich Isebiesens ungewöhnliches Benehmen erklären konnte, wußte Marie Sibylle es zu deuten, und alle waren erschrocken, als Isebies auf öfteres Fragen nur ihr verschlossenes Siouxindianergesicht zeigte und endlich sagte: »Jeden Morgen vor einem Abgrund stehen kann ich nicht, schon so vor dem Frühstück.«

»Vor welchem Abgrunde?« fragte Heinrich Eigenbrodt.

»Vor der Morgenandacht,« antwortete Isebies ganz hilflos.

Heinrich Eigenbrodt klappte das Buch heftig zu.

»Wie kann das möglich sein?« fragte Marie Sibylle sanft und ruhig. »Solltest du den Sinn der stillen Stunde am Morgen nicht verstehen? Wir sollen an Gott denken, wenn wir den Tag beginnen, und da das Leben zerstreut, sind wir dem guten Vater dankbar, wenn er uns dazu Zeit und Muße gibt.«

»Wenn das so einfach wäre, an Gott zu denken,« antwortete Isebies herb.

»Ja, wo ist die Einfachheit unseres Kindes hin?« Heinrich Eigenbrodt schüttelte schwermütig den Kopf. Mächtiger sagte er: »Wer wagt es, in unser Haus einzugreifen? Wer wagt es, das Wesen unseres Kindes anzutasten!«

Heinrich Eigenbrodt stand erregt auf und verließ das Zimmer.

Isebies saß schuldbewußt vor ihrer Tasse. Alle schauten mit großer Befremdung auf sie, und das Frühstück wurde schweigend und bedrückt eingenommen. Mit einem tiefen, ratlosen Seufzer trat Heinrich Eigenbrodt wieder ein und vergrub sich hinter seinen Zeitungen.

 

Wenige Tage nach dieser Szene erhielt Isebies Sibylle von ihrem treuen Freund, dem Pfarrer, bei welchem sie konfirmiert worden war, einen guten, liebevollen Brief. Die Eltern hatten sich in ihrer Sorge an ihn gewendet.

 

»Liebe Isebies Sibylle!

Ich habe mit Betrübnis gelesen, daß Deine Eltern um mein teures Kind besorgt sind. Zunächst muß ich Deinem Vater recht geben, Du mögest, wie das in Deiner erregbaren Natur liegt, den Verkehr bei Dohrns übertrieben haben, und hast sicher über dem fremden Haus das Elternhaus vernachlässigt, dem Du nach Gottes Ordnung zuerst angehörst, und dem Du unendlich viel zu danken hast. Daß Du der Ansprache und Aussprache bedarfst, weiß ich. Aber dazu ist ein so ausschließlicher Verkehr nicht nötig. Dazu genügt, daß man sich von Zeit zu Zeit einmal spricht. Du mußt ruhiger werden und klarer über das, was Du willst und sollst. Dein Gemüt ist wie ein See, der fort und fort von Stürmen aufgewühlt wird, auf einem solchen See kann sich der Himmel nicht spiegeln. Kennst Du denn den Gewaltigen nicht mehr, der die inneren Stürme so gut beschwichtigen kann?

Suche, liebe Sibylle, in diesem Leben nicht, was dieses Leben nicht bieten kann. Wir können und sollen nicht immer in hohen Regionen leben, auch nicht vor allem uns, sondern vor allem anderen leben. Bezwinge Dich und lerne erst tagelöhnern, auch dann, wenn Du eine Kunst treibst. Ich meine, arbeite auch da, wo Du nicht gerne arbeitest.

Vorerst aber tritt Deinem lieben Vater recht nahe, diesem gütigen, prächtigen Menschen. Er vor allem ist Deine natürliche Stütze und sicher Dein bester Ratgeber. So darf es nicht fortgehen. Du betrübst Deine Eltern, machst ihnen Sorge. Gott hat Dir eine so glückliche Lebensstellung gegeben, daß jeder Atemzug von Dir Dank darbringen sollte.

Ich kenne Deine Dohrns nicht, um ein Urteil zu fällen, ob die Luft dort für Dich gesund ist. Laß das Deine Eltern beurteilen. Ich habe nur den herzlichsten Wunsch für unser liebes Kind Sibylle, daß es in sich zu Ruhe und Klarheit kommt, und daß mein teures Kind den alten göttlichen Kinderglauben heilig im Herzen hält. Dein alter Freund sagt Dir: Dieser Glaube in seiner unergründlichen Einfalt ist größer und tiefer als alle Weisheit der Menschen. Er ist eingepflanzt in unser Herz. Es besteht nicht ohne ihn. Wenn Menschenweisheit ihn vertreiben will, so hat eine Bettlerin eine Königin vertrieben.

In Liebe und Treue 

Dein alter Freund.«

Isebiesens Herz wurde schwer und schwerer, während sie diesen guten Brief las. Wie wunderlich, sie war so besten Willens, und es war, als könnte sie nicht handeln, wie sie wollte. Daß die Eltern sich an ihren alten Pfarrer gewendet hatten, tat ihr wohl und weh. Sie sah sein braves, tapferes Gesicht – ja, er war nicht mit ihr zufrieden. Er wollte sie aufrütteln. Niemand war mit ihr zufrieden. Wie kam das nur? Weshalb konnte sie nicht leben wie die anderen? Kurz nachdem sie des lieben Pfarrers Brief gelesen, schrieb Frau Dohrn:

 

»Liebe, gute, dumme, kleine Isebies?

Wie schlecht Sie von mir denken. Trauen Sie mir wirklich zu, daß ich unsertwillen der Isebies ein Stündchen Unbehagen wünsche? Wie schlecht denken Sie von Frau Dohrn, o schlechte Isebies! Sie schreiben mir von der Szene am Morgen. Sie kommen tagelang nicht. Was fällt Ihnen ein! Das war Ihres Vaters Ernst nicht! Kleine närrische Isebies. Glauben Sie, ich will Ihnen Ihren Glauben nehmen? Wie denn? Haben wir je über Glauben gesprochen? Ihr Gewissen ist unruhig? Weshalb? Jedes junge Geschöpf in Ihrem Alter hat seine Glaubensnöte. Weshalb soll Frau Dohrn daran schuld sein oder gar Herr Dohrn? Unsinn, liebe Isebies. Kommen Sie nur, wenn Sie kommen wollen, ganz selbstverständlich nur, wenn Sie wollen, wenn es Sie hergezogen, wenn es Ihnen so geschienen hätte, als wäre es hübsch so. Kommen Sie, bis Sie wieder an Frau Dohrn denken, bis Ihnen der Gedanke leise aufsteigt, was machen Dohrns? Sie erwarten mich wohl. Fürchten Sie kein Wort mehr. Dohrns haben ein wenig Sorgen. Und nun ruhen Sie sich ganz aus, erholen Sie sich ganz. Überwinden Sie unnötige Gedanken, denn weshalb sollen wir uns nicht sehen? Seien Sie liebenswürdig zu Hause und bleiben Sie nicht gar zu lange fort. Sie machen sich unnötige Sorgen. Arbeiten Sie fleißig.

Ihre
Elise.«

 

Es geht ihnen nicht so schlecht, dachte die junge Sibylle, aber ihr Herz war voll Unruhe. Sie wußte die Freunde in Not und Bedrängnis und ihre Eltern in Sorge. Ihr Plaudern machte das schwere, nutzlose Arbeiten vergessen, ihr Lachen und ihr Wille, helfen zu wollen. Sie war selbst erstaunt über diesen Willen. Sie dachte daran, wie sie Ottomar gesagt hatte, daß sie an den Tod nicht glaube.

Sie empfand sich so lebendig, weshalb es ihr jetzt nicht so rätselhaft erschien, daß Frau Dohrn nach ihr verlangte. Isebies Sibylle ging wie eine ganz junge, starke, frohe Mutter zu ihren Freunden, so übervoll von Liebe und Mitleid und Frohmütigkeit. Und sie dachte: Wer in Weimar würde so zu ihnen gehen! Und mit solcher Kraft und solchem Mut! Niemand! Keine Menschenseele. So voll Hoffnung für sie. Wären die Menschen wärmer zu ihnen, verständen sie Dohrns besser, dann brauchten die mich nicht. Aber so – Es darf nur niemand leiden! Nein, gewiß und wahrhaftig nicht!

So wurde Isebies Sibylle wieder ruhiger. Vielleicht würde sie selbst leiden. Da hatte wenigstens niemand dreinzureden.

So kamen wieder ruhige Zeiten für alle. Die Andachten, die tagelang ausgefallen waren, wurden wieder gehalten. Der Vorfall war vergessen. Isebies Sibylle lebte ihr dreifaches Leben: ihr Leben daheim, bei ihren Freunden und das Leben, das ihrer Arbeit gehörte; aber sie sah sich vor, die Ihrigen nicht zu beunruhigen, sie bat Frau Dohrn, nicht so oft zu schreiben.

Aber der Ernst eines schwer arbeitenden Menschen lag auf der jungen Seele.

 

In dieser Zeit hatte das streitbare Liebespärchen sich in Liebe zusammengestritten. Die erste Verlobung im Hause Eigenbrodt.

Das Brautpaar wurde angestaunt, Mutter und Großmutter waren gerührt, die Schwestern etwas verlegen, die Dienstboten übereifrig, Blumen und Kuchen regnete es ins Haus, Briefe und Gratulanten. Ein Festduft zog durch alle Räume. Das Brautpaar saß viel müßig umher und störte alle etwas.

Heinrich Eigenbrodt sah diesem überflüssigen Schwindel, wie er die erregte Verlobungszeit nannte, sehr gelassen zu, besprach mit Herrn Zerzog, wie er seinen künftigen Schwiegersohn nannte, alles Geschäftliche, ohne jede Gefühlsäußerung, versicherte, daß er gar nichts Persönliches gegen ihn habe, nicht das geringste, er sei nur im allgemeinen gegen diese Verlobungen. Gerade Biwi war Heinrich Eigenbrodt besonders ans Herz gewachsen.

Frau Mutter hatte es sich schon ein wenig bequem gemacht, hatte viel oben in ihren sonnigen Zimmern gesessen und sich mit ihren alten Briefen beschäftigt. Die Mädchen sahen hin und wieder, wenn sie die liebe Frau besuchten, daß sie Blätter, in denen sie eben gelesen, unter ein Sofakissen schob.

»Siehst du,« sagte sie einmal zu Sibylle, »da nehme ich Abschied von meinen guten Briefen. Wenn ich einmal gestorben bin, sorgt mir, daß sie verbrannt werden, solange ich aber lebe, sollen sie bei mir bleiben; das letzte, was wir Alten vom eigenen Leben außer der Erinnerung haben.«

Frau Mutters Lebenswehmut war gar bald, wenigstens äußerlich, verflogen, als die große Arbeitszeit, wie Erntearbeit, an die Reihe kam.

Es wurde geschafft und gesonnen und gewählt. Frau Mutter rüstete das Lebensschiff der Enkelin mit derselben Liebe, wie sie die Tochter einst versorgt, nur wehmutsvoller noch, denn sie stand nun auf der Höhe des Wissens vom Leben.

 

Für Sibylle war daheim eine Stimme erwacht, die ihr wohltat. Friedrich Merk neigte sich zu ihr hin, ruhig und friedvoll, wie es seinem ganzen Wesen natürlich war. Wie etwas Selbstverständliches hielt er sich zu ihr. Wenn sie alle um den Familientisch versammelt waren, fühlte sie sich gut und ruhig, wenn er neben ihr saß. Er verlangte nicht, daß sie viel mit ihm plauderte und lachte, beteiligte sich an der allgemeinen Unterhaltung, aber eine Frage, ein sich zu ihr Wenden ließ sie fühlen, daß dies Herz ihr gehörte.

Wenn sie im Garten miteinander auf- und niedergingen und sie unbeobachtet von den anderen waren, fühlte Sibylle, wie er alles, was sie ihm sagte, warm und treu erwog. Nach und nach war es bei den Eigenbrodts durchgedrungen, daß Sibylle arbeitete. Die Zwillinge lächelten darüber, die Eltern betrachteten die Sache sorgenvoll, fast mit Kummer. Friedrich Merk sprach auch darüber mit ihr und sagte: »Ich weiß nicht, soll ich mich freuen? Mir ist, als brauchte Ihre Natur nichts als ein frohes gutes Leben und Menschen, die Sie glücklich machen können. Die Tage sind so kurz, und das Leben ist so kurz, und die Liebe, die eine Frau zu geben hat, ist so groß und reich. Die Frauen haben das bessere Teil auf Erden. Mir ist's fast schmerzlich, daß Sie etwas von Ihrem Reichtum fortgeben wollen. Ich glaube, nur Einheitlichkeit macht ganz froh.«

 

Während Biwis Verlobungszeit gab Sibylle ein Fest. Man ließ sie gewähren, trotzdem Marie Sibylle Eigenbrodt, die Mutter, sagte: »Sie wird noch alles auf den Kopf stellen. Ein junges Mädchen gibt ein Fest! Das ist in Weimar noch nicht dagewesen!«

Und Sibyllens Fest wurde wundervoll. Bei Weimar liegt ein altes Schlößchen, in dem früher ein Fräuleinstift war, uralt und geheimnisvoll mitten in Wiesen eingebettet. Der Tiefurter Park steht wie eine dunkle, mächtige Wand in der Ferne, und hier waren Bäche, Buschwerk, einzelne herrliche Bäume, die im hohen Sommer in ihrer vollaubigen Pracht wie Berge aufragen.

Sibylle liebte das alte Schlößchen und den großen viereckigen Garten, in den man vom Schloßhof aus durch eine grüne Pforte geht. Auf dem Schloßhof eine mächtige Platane und vor der Schloßtür zwei steinerne uralte Bären.

Diese Platane, die Bären und die grüne Pforte, die in den geheimnisvollen Garten führte, hatten Märchenzauber! Traum von aller Schönheit auf Erden.

Der Garten, von einer Mauer umschlossen, war ohne schattige Bäume. Obststämmchen und Blumen, eine solche Fülle von Sommerblumen, eine Wildnis von Sommerblumen, die uralte Mauer von Efeu überwuchert, der dicke Stämme bildete und dunkle blaue Beerenbüschel trug. Sonderbare Sandsteinköpfe standen in der Mauer in Nischen. Sibylle hatte an hundert gezählt. Könige, Feldherren, Mohren, schöne Damen, Türken und Köpfe mit gewaltigen Allongeperücken, und über alles war ganz oder zum Teil der grüne Efeuschleier, den die Zeit wirkt, herabgesunken. Man mußte ihn heben, um zu schauen. Da fand sich ein Vogelnestchen in steinernen Locken, oder ein Fledermäuschen hielt seinen Sonnenschlaf, angehängt an steinernen Federschmuck. Und die Köpfe mit dem übermächtigen Ausdruck oder dem Liebreiz früherer Zeiten, oder tapfere Nasen und Augen sahen aus dem grünen Dämmer von aller Welt vergessen in die bunte Sommerblumenpracht.

Ein Garten voller Träume. Falter und Bienen hatten hier, so schien es, ihre Heimat. Das war ein Gegaukel um die altmodischen Blumen. Rittersporn und Eisenhut und die feurigen Kapuziner, dazwischen wie Szepter blühende Zwiebeln und blau angelaufene Rotkrautköpfe und Salat, duftende Kräuter, Dill und Estragon und das blaublühende Gurkenkraut, und Zentifolienbüsche von hohem Alter und großer Pracht. Und wieviel ungekannte Blumen und Kräuter, die das köstliche Durcheinander noch sommerduftender, noch farbenreicher machten.

Hier war der Sommer zu Haus.

Und hier wollte Isebies Sibylle ihr Fest feiern. Mit dem alten Gärtner, der im Schlößchen wohnte und der ihr guter Freund war, hatte sie alles besprochen.

Es war für Sibylle eine ganz wundervolle Angelegenheit mit diesem Fest, keine gewöhnliche Sache, kein sonderbarer Einfall; es war eine tiefinnerliche Angelegenheit, ein leidenschaftliches Gefühl zu geben, Liebes zu tun; eine süße, wehmütige Sühne, der Gottesdienst einer armen Seele, die sich schuldig fühlt und voll Liebe ist, die vor jedem, den sie liebt, hätte knien mögen und sagen: Ich hab' dich lieb; auch wenn ich nicht alles tue, was du willst, ich weiß mir nicht zu helfen. Ich hab' dich lieb.

Niemand wußte, welcher Art das Fest sein würde, das Sibylle feiern wollte.

Eines Tages kam ein Brief von Sibylle, in dem alle feierlich eingeladen wurden, nach Tiefurt zu gehen und von Tiefurt aus über die Wiesen nach dem Schlößchen Krommsdorf.

Ein paar Eigenbrodtsche nächste Freunde bekamen auch solche Briefe.

Und so brach der schöne Tag an, ein Sommertag ohne Wolken, ohne Wind. Gott war Isebies Sibylle huldvoll.

Sie war von Mittag an draußen im Schlößchen und deckte unter der Platane eine Tafel, die ihr der alte Gärtner aus dem Schloß herausgeschoben hatte, wand Kränze und Sträuße. Von den Zweigen des herrlichen Baumes hingen Girlanden, und in der Krone des zweiten Baumes, der hinter dem ersten, fast von diesem versteckt stand, war für einen jungen Burschen, einen Geigenspieler, ein Sitz gezimmert, da sollte er wie ein Vogel musizieren. Die alten Gärtnersleute halfen ihr. Körbe voll guter Dinge hatte sie sich hinaustragen lassen und Windlichter, und um den Stamm der Platane hing eine weißleinene Decke, an der sie seit lange gearbeitet hatte. Die Decke war phantastisch mit Pfauen und Kornähren bestickt, ein wunderliches Muster, das Isebies sich selbst erdacht und woran sie ihrer Mutter zur Beruhigung gestickt hatte.

Niemand in Weimar hatte etwas Ähnliches. Sibylle dachte: Sie sieht aus wie ein Teppich, den vor uralten Zeiten ein Königskind gewebt hat.

Die ganze Tafel war köstlich: Blumen und Früchte, Wein und Kuchen, eine Erdbeerbowle. Die alte Gärtnerin hatte frische Kartoffeln gekocht, und allerlei Herrlichkeiten sollten mit diesen aufgetragen werden.

»Solch ein Freudenfest – solch ein Freudenfest! sagte die Gärtnersfrau ein Mal über das andere, und der junge Bursche, den Isebies mitgebracht hatte, spielte in der Platane zur Probe.

Hochlehnige alte Stühle aus dem Schlößchen standen um die Tafel, die einer Märchenhochzeitstafel glich. Von der Gartentüre bis zur Platane war ein Teppich von Blumen gestreut.

Sibyllens Herz schlug vor Seligkeit. Und als sie ihren Gästen auf dem Wiesenpfad in erster zarter Abendstunde entgegenging, die Sonne war nur etwas erst gemildert, und golden lag ihr Licht auf den gemähten Wiesen und versprach noch sanfte schöne Stunden, da war es, als wenn Sibylle flöge, ihr weißes Kleid wehte im leichten Sommerhauch, und ihr Herz war leicht und hell wie ein Sommerwölkchen.

Als sie ihre Leute sich entgegenkommen sah, flatterte sie mit den Armen in der Luft und rief und rannte und fand alle lachend und voller Erwartung. Frau Mutter war auch mitgekommen, alle, die sie geladen.

»Na, was wird's denn werden,« sagte Marie Sibylle Eigenbrodt, die vor allem Unbekannten etwas Sorge hatte.

»Es wird schön, es wird schön!« rief das Mädchen.

 

Und so wurde es auch, es wurde wunderschön.

Als die Gäste von den gemähten goldigen Wiesen in den Garten traten, dessen grüne verhüllten Mauern den ganzen Sommer wie mit Armen zusammengedrängt eingeschlossen hielten, und als sie durch die grüne Pforte traten, den blumenbestreuten Weg sahen, da war ein Staunen und Verwundern.

Frau Mutter rief und bewegte die liebevollen Schmetterlingshände auf Sibylle zu. »Ja, was fällt ihr denn nur ein.« Die Zwillinge küßten sie, der Vater strich ihr über das Haar, die guten Freunde waren ganz aus dem Häuschen, Hans Zerzog schüttelte ihr die Hand und Friedrich Merk küßte sie ihr, und als aus der Baumkrone das süße Geigenspiel erklang, da man sich zu Tische setzte, waren alle ganz hingerissen.

»Das ist ja der Gustel vom Kannerückchen!« sagte Sibylle.

»Euer guter Freund?« frug die Frau Mutter.

Und nun hörte sie noch lieber zu, und es war eine wundervolle Bachsche Melodie, die er spielte.

»Er kann spielen, soviel ihr nur wollt, denn er hat Wein und Brot und alles, was er braucht, oben im Baum. Er ist ein wohlversorgter Vogel,« sagte Isebies Sibylle.

Nun wurde die Decke bewundert von allen Seiten, und bewundert, daß sie fertig geworden war.

Und Isebies Sibylle bediente alle. Niemand durfte aufstehen und ihr helfen. Dies Tischlein deck dich im alten Schloßgarten unter der Platane trug Herrlichkeiten allerart für seine Gäste auf. Zwischendurch klatschte Sibylle in die Hände, damit der Vogel in den Zweigen nicht zu lange ruhen sollte.

Niemand, der am Tische saß, hatte je solch eine köstliche Mahlzeit gehalten, denn alle mochten klar oder undeutlich spüren: die ihnen die Speisen bot und sie bediente, war eine Seele, die sich in Liebe hingab, so voll Glut, als sollten sie ihr Lebtag nicht wieder mit ihr zusammen sein.

Es war ein herrlicher Abend, die Schwalben schwirrten um den alten Giebel des verlassenen Schlößchens, und die Sommerblumen dufteten aus dem mauerumschlossenen einsamen Garten. Ganze Wolken von Duft zogen über die Tafel hin.

Frau Mutter sagte: »Es ist heute keine Hochzeit und keine Feier. Es ist nur Isebiesens Fest, – aber ein so schönes Fest, wie ich noch nicht erlebt habe, – und ich bin alt und hab' Schönes und Schweres erlebt.«

Heinrich Eigenbrodt war ganz bewegt. Er schlug an sein Glas und sagte: »Ja, es ist ein wunderschöner Abend, ein schönes Fest, und daß meine liebe Tochter Sibylle uns dieses Fest gerichtet hat und uns so ihre große Liebe gezeigt hat, tut meinem Herzen wohl, das schon im voraus bedrückt ist, daß meine Biwi uns verlassen wird.«

»Ich verlasse euch ja nicht!« rief Biwi. »Geh, sag' so etwas nicht, Vater.«

Sibylle ging zu ihrem Vater, und der schlang den Arm um sie und küßte sie, da gab sie ihm ein Blatt in die Hand und sagte: »Das schrieb ich für dich.«

Heinrich Eigenbrodt rückte sich ein Windlicht zurecht, entfaltete das Blatt, und trotzdem sie sagte: »Lies es nicht hier!«, las er dennoch. Er hörte ein wenig schwer auf der Seite, an der Sibylle stand.

»Komm her, mein Kind,« rief er nach einer Weile, »setze dich und lies es mir und den anderen vor.« Er rückte ihr selbst das Windlicht zurecht.

Sibylle schlug das Herz. Es war das erstemal, daß sie ihren Nächsten etwas von dem mitteilen sollte, was ganz ihr eigenstes war.

Sie saß neben Friedrich Merk, wie immer, und las mit bebender Stimme und klopfendem Herzen:

 

»Als Christus zum zweitenmal auf Erden war und niemand mehr wußte, was gut und böse ist, die Erde ihrem Ende zuging und alle ratlos nach Gottes Wegen, die sie verloren hatten, suchten, und Mond und Sonne blutrot am Himmel standen, kam Christus wandernd durch eine Stadt auf seinen Weg, diejenigen zu finden, die ihn erkannten. Und es begegnete ihm ein elendes Weib, die rief ihn an und sprach: ›Die Sonne steht blutrot am Himmel, die Tage der Erde neigen sich ihrem Ende zu, was soll ich tun in aller meiner Not, um meine Seele zu retten?‹

›Tue, was dir am schwersten fällt zu tun. Dann wirst du den Frieden deiner Seele und die Gewißheit eines ewigen Lebens in dir tragen.‹

Und das Weib kehrte heim müden Schritts, denn sie wußte, was ihrer harrte. Die Kinder liefen ihr entgegen und schrien nach Brot, und sie brachte ihnen nichts heim; da gedachte sie der Worte des heiligen Wanderers, tue, was dir am schwersten fällt zu tun, – und da ihre Seele und ihre Hände trotz allen Jammers rein geblieben waren und ihre Ehrlichkeit ihr einziger Reichtum war, ging sie hinaus auf den Markt und tat das Schwerste, was sie tun konnte, griff nach einem der Brote, die bei einem Bäcker auslagen, und sprach dazu: ›In Gottes Namen denn!‹ und der Herr der Brote ließ sie gehen. Darauf trat sie bei einem Metzger ein, langte sich ein Stück Fleisch und sagte wiederum: ›In Gottes Namen denn!‹ und der Herr der Fleischstücke ließ sie gehen, ohne sie anzuschreien. Der Mund des Bäckers war versiegelt gewesen wie der Mund des Metzgers, und beide glaubten einen Engel im feurigen Schein gesehen zu haben, der bei dem einen ein Brot, bei dem andern ein Stück Fleisch fortgenommen hatte.

Christus aber war weiter durch die Stadt gegangen, in der die Menschen durch die Straßen hasteten, geängstigt davon, daß die Sonne blutrot am Himmel stand und nach der Schrift verkündete, daß sich die Tage der Erde ihrem Ende zuneigten, da begegnete ihm ein Mann, der ihn erkannte und auf sein Angesicht fiel und sagte: ›Herr, was soll ich tun, um meine Seele zu retten? Der Jüngste Tag ist nahe, und die Toten stehen bald auf, hört man sagen.‹

Da antwortete Christus und sprach: ›Tue, was dir am schwersten fällt zu tun.‹

Da ging der Mann heim, und sein Gewissen schlug. Er trat in seinen Laden, und der Schweiß rann von seinem Angesicht, so sauer wurde es ihm, das Schwerste zu tun. Dann nahm er die falschen Gewichte mit schwerer Hand von seiner Wage und suchte in einer staubigen Ecke nach den vollen Gewichten.

Und als die Kunden kamen und er ihnen die Waren nach rechtem Gewicht und Maß abwog, glänzte sein Gesicht wie eines Engels Angesicht, und die Kunden liefen auf die Straße und riefen: ›Ein Heiliger hat uns die Waren im Laden gewogen. Es geschehen Wunder und Zeichen.‹

Und der betrügerische Kaufmann hörte das Geschrei und fühlte, daß er auf Gottes Wegen ging, und Friede zog in sein Herz.

Und Christus begegnete wiederum einem Weib, das ihn erkannte und ihn anrief in der Not ihrer Seele. Und er antwortete ihr wiederum: ›Tue, was dir am schwersten fällt zu tun.‹

Und das Weib blickte ihn an und sagte: ›Dazu fehlen mir die Kräfte.‹

Christus aber antwortete ihr: ›Tue, wie ich dir zu tun geheißen habe, und du wirst die Wege Gottes finden.‹

Und das Weib ging heim – und fand ihre Söhne, wie diese es sich wohl sein ließen. Sie hatten ein Gastmahl gegeben. Spiel und Gesang klang ihr entgegen; da verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Sie vergeudeten ihr Hab und Gut im Vaterhaus. Niemand gedachte eines Armen. Niemand gedachte, die Wege Gottes zu finden. Blutrot standen Mond und Sonne am Himmel. Die Toten standen auf, und die Tage der Erde neigten sich ihrem Ende zu. Sie aber hatte keine Macht über ihre Söhne und irrte in Verzweiflung umher.

Sie war zu gut und zu schwach ihr Lebtag gewesen. Allzu gut ist liederlich, erkannte sie. Sie würden sie verhöhnen, wenn sie jetzt zu ihnen träte, um ihnen Vorwürfe zu machen. Sie würden sagen: ›Geh, laß dich heimgeigen, was sollen wir an die Armen denken, wenn alles zugrunde geht! Was sollen wir nach den Wegen Gottes suchen, die niemand zu finden weiß? Heut ist Heute! Das ist uns sicher. Den Augenblick fassen! Geh büßen und fasten, wenn's dich freut. Laß uns zufrieden!‹

Sie hörte sie im Geiste also reden. Da nahm sie sich ein Herz und ging die Treppe hinauf und warf die Schwachheit ihres Lebens von sich und trat in den Saal, in dem das Gastmahl abgehalten wurde, und trat unter die Gäste.

Und weil sie entschlossen war, das zu tun, was ihr am schwersten fiel zu tun, leuchtete auch ihr Angesicht wie eines Engels Angesicht, und ihre Worte waren wie Peitschenhiebe, und als die Söhne die Schwache, Allzudemütige also reden hörten, – fürchteten sie daß die Decke des Saales über ihnen zusammenbrechen würde, und liefen hinaus und riefen: ›Die Festen der Erde wanken! Die Toten sind auferstanden!‹ Und sie taten Buße und gingen in sich. Sie gingen in sich und suchten die Wege Gottes in ihrer eigenen Seele.

So tat Christus auf seinem Weg durch die Stadt Wunder an denen, die ihn erkannten. Und etliche fragten: ›Du sagst Sündern und Heiligen: Was dir am schwersten fällt, das tue! Dem Sünder aber ist das Gute am schwersten, dem Heiligen das Böse! Wie? Sollen wir das Böse tun?‹

›Das ist also gemeint, ihr Teuren,‹ sprach Christus zu ihnen. ›Sonne und Mond stehen blutrot am Himmel, die Tage der Erde neigen sich ihrem Ende zu. Wenige suchen die heiligen Wege. Heut' ist Heute! Den Augenblick fassen, das ist euer Gott. Ich aber sage euch: Gut ist nicht gut und bös ist nicht bös, wenn diese Erde emporgeflammt ist. Die Wandlungen und Überwindungen eurer Seele aber sind das ewig Lebendige.‹«

 

Sibylle schwieg, senkte die Augen und wagte nicht aufzublicken. Ein seltsamer Eindruck, die schweren Worte aus dem Mund dieses zarten Mädchens zu hören. Der lauduftende Sommerabend, der alle schmeichelnd umgab, das Außergewöhnliche der ganzen Feier, das liebevolle, fast zärtliche Bedienen und Sorgen des sonst oft so verschlossenen Geschöpfes, das seine eigenen Wege ging, trotz aller leidenschaftlichen Liebe. Alle waren bewegter Stimmung. Und so erstaunte es niemand, daß Friedrich Merk sich erhob, als Sibylle geendet hatte, an sein Glas schlug, seine sanfte, lebendige Stille unterbrach und sagte: »Schweige, wer hier schweigen kann! Wir haben alle einen lieben, herrlichen Menschen unter uns, ein gutes Kind! Eine junge Seele voll Zartheit und Güte, voll Wahrheit und Kraft. Ja, ich weiß es, was ich sage. Wohl denen, die sie tröstet, wohl denen, die durch sie glücklich werden!« – Er schlug wie Isebies Sibylle in die Hände und rief: »Spiel', Gust'l, spiel'! Denn zu dieser Menschenseele gehört Musik!«

Da klangen die süßen Geigentöne aus der Baumkrone wie träumender Vogelgesang.

Der Glückliche wirst wohl du selbst sein! dachten die, die um die Tafel saßen, und stießen mit Friedrich Merk an.

Als er das Glas des seltsamen Mädchens berührte, sagte er leise: »Das mußte gesagt sein. Einer mußte es sagen.« Und er küßte ihr die Hand, und sie sah wie ratlos zu ihm hin und blickte auf die anderen ebenso ratlos.

»Ja,« meinte Marie Sibylle, die Mutter, lächelnd. »Ich glaub's, daß du dich wunderst, daran sind wir wirklich nicht gewöhnt, so gefeiert zu werden. Heut' aber hast du es verdient, gutes Kind, – und ich fange an zu begreifen, daß du vielleicht wirklich Menschen trösten kannst, daß in dir etwas liegt, was wir nicht wissen, und daß man dich wohl oder übel gewähren lassen soll.«

Heinrich Eigenbrodt legte seine Hand in die seiner Frau. Es war das so seine stumme Art mit ihr übereinzustimmen.

Bei Mondenschein ging man im hellen Schloßhof auf und nieder. Aus der Baumkrone drangen hin und wieder zarte Geigentöne.

Unter der Platane wurde die Tafel abgeräumt. Draußen vor dem Tor stand der Wagen, der Frau Mutter nach Hause führen sollte.

Die übrigen gingen durch den nächtlichen geheimnisvollen Blumengarten über die tauigen Wiesen ihren Heimweg.

Friedrich Merk hielt sich eine Weile neben Hans Zerzog.

»Mir ist eigentümlich zumute,« sagte er zu diesem. »Vor Jahren in allererster Jugend lag ich krank an einem leichten Lungenübel, das im Süden vollkommen geheilt wurde, an das ich nie wieder dachte; und heute erinnert mich mein ganzes Wesen an jene Zeit. Erinnerungen stehen auf: die Güte und Sorge meiner Mutter, die Seligkeit des Reisens, der eigentümliche, nicht unangenehme Druck auf der Brust, oder was es war, es ist mir alles gegenwärtig.«

Bald hielt er sich wieder zu Sibylle. Sie gingen schweigend nebeneinander her.

Dann fragte er sie nach ihren Freunden. Sie erzählte ihm. Sie bat ihn um Rat, denn mehr und mehr zogen sich bei Dohrns bedrohliche Wolken zusammen. Er versprach, zu raten und zu helfen, wie und wo er nur konnte. Und sie freute sich, ihnen einen treuen und so ganz verläßlichen Freund erworben zu haben.

»Sie suchen Hilfe für andere, – – doch daß Sie mir immer so schutzbedürftig erscheinen,« sagte er, »verstehe ich kaum. – Aber lassen Sie mir diesen Glauben! Mir ist oft, als drohte Ihnen etwas und ich dürfte Ihnen helfen. Geben Sie mir Ihren Arm.«

Sibylle tat, wie er wünschte, und sie gingen wieder schweigend.

»Seltsam,« sagte er, »mir ist, als müßten Sie Sterbende trösten können. Ich möchte nur Sie in meiner Nähe haben, wenn meine Seele sich auf die große Reise macht, dann werden Sie und ich alt sein. Ich älter wie Sie. Ich werde vor Ihnen sterben; – aber wie es auch mit uns einmal sein wird, – werden Sie kommen – werden Sie da sein?«

»Ja,« sagte das junge Mädchen. »Das hat aber noch lange – lange Zeit!«

Er lächelte. »Das Leben könnte so wundervoll sein – so unausdenkbar schön!« Er war tiefbewegt. »Ich möchte Ihnen heute noch eins sagen: Tun Sie doch den schönen Kopf des sterbenden Alexander, den Dohrns Ihnen schenkten, von der Wand in Ihrem Zimmer. Er steht zu schwer auf dem Brett über dem kleinen Ruhebett. Tun Sie's noch heute abend. Ich verlasse mich darauf.«

Sibylle versprach es ihm.

So verabschiedeten sie sich voneinander.

 

Marie Sibylle, die Mutter, brachte in dieser Nacht ihr gutes Kind zu Bett, half ihr beim Ausziehen und plauderte mit ihr. Sie fühlte heute eine unendliche Liebe zu ihrem Mädchen und hätte es nicht verlassen können und hatte so recht das Gefühl: Dies junge, reiche Geschöpf gehört dir. Wer weiß, wie lange noch, – nur dir! Sie war von den schweren, tiefen Christusworten ihres Kindes, die es seinem Vater geschrieben hatte, betroffen. Was für ein seltsames Geschöpf! Welch ein ungekanntes Leben führte Isebies. Sie wollte ihr näherkommen. Isebies Sibyllens Fest hatte die Mutter aufs tiefste bewegt.

Während sie miteinander plauderten, stieg Sibylle in ihrem Nachtkleid auf das kleine Ruhebett und hob mit aller Anstrengung den schweren Kopf des sterbenden Alexander von dem großen dunklen Eichenbrett. Marie Sibylle half ihr und fragte: »Weshalb tust du das?«

»Ich hab' es versprochen,« sagt das Mädchen. – – »Fühlst du den leichten, kühlen Hauch?«

»Nein. Geh' zu Bett und deck' dich zu, du frierst.«

Sibylle legt sich. Nach einer Weile aber setzt sie sich aufrecht und sagt: »Es ist ein kühler Hauch hier, der mich immer trifft. – Gib mir ein Tuch.«

Sie legt sich das Tuch um die Schulter und ist ganz still.

»So, ist's nun gut?« fragt Marie Sibylle.

»Nein. – – Es ist ein kalter Hauch. Leg' mir noch etwas um.«

Die Mutter geht aus der Tür, und nach geraumer Weile bringt sie eine weiche wollene Decke, in die sie ihre Isebies ganz einhüllt.

»Verlaß mich nicht, der Hauch dringt auch durch die Decke.« Isebies blickt angstvoll.

»Du bist krank,« sagt Marie Sibylle, die Mutter, besorgt.

»Nein, gewiß nicht; aber geh nicht fort. Fühlst du's nicht?«

Marie Sibylle legt ihre Hand auf Isebiesens Wange, und auch ihr ist es, als wenn sie einen kühlen Hauch verspürt. Ihr scheint's fast so.

»Dieser Hauch überströmt mich ganz und gar, – auch die Decke hilft nichts,« sagt das Mädchen.

»Die Tür ist geschlossen, die Fenster sind zu, durch die Wände kann kein Hauch kommen in dieser Sommernacht. Leg' dich jetzt und schlaf ein.«

»Geh nicht fort.«

Marie Sibylle bleibt bei ihrem Kind und setzt sich, so müde sie ist, an den Tisch und blätterte in einem Buche. Isebies liegt still und lang in ihre Decke gehüllt.

»Wie ist's?« fragt Marie Sibylle.

»Es ist dasselbe,« antwortet Isebies. »Ich weiß nicht, mein Herz ist mir so schwer, der Hauch macht mich trauriger und trauriger.«

»Du bist überreizt, hast dich zu sehr angestrengt.«

»Nein – nein – Ich war so froh,« sagt Isebies.

Wieder nach einer Weile fragt Marie Sibylle: »Wie ist's?«

»Es ist dasselbe,« antwortet Isebies ganz leise, kaum hörbar. Marie Sibylle verläßt ihr Kind nicht, bis es eingeschlafen ist. Da schaut sie nach ihm, – tiefe, regelmäßige Atemzüge; aber zwischen den im festen Schlaf geschlossenen Lidern dringen Tränentropfen und rollen über die jungen Wangen. Für Marie Sibylle ein unvergeßlicher Eindruck. Dies stille, schlafentrückte Gesicht und die lebendigen Tränen.

 

Am Morgen erfuhr Marie Sibylle, die Mutter, erschauernd, zuerst von allen im Hause, daß Friedrich Merk plötzlich in der Nacht an einem Blutsturz ganz einsam in seiner Wohnung gestorben sei.

Bangenden zitternden Herzens stand sie an Isebiesens Tür und wagte nicht zu öffnen.

Sie hatte ihr nicht in das Herz gesehen; aber die ahnungsvollen Tränen, die tiefen ahnungsvollen Schauer ließen sie alles befürchten.

Sie fand Isebies schon wach. Das Fenster stand offen und das Mädchen war damit beschäftigt, Rosen, die ihr Friedrich Merk gestern gepflückt, aus dem Waschkrug zu nehmen und in ein Glas zu ordnen.

Als Isebies Sibylle gehört, was ausgesprochen werden mußte, sagte sie laut: »Der Glückliche!« mit einem Ton, so tief aus innerstem erschauerndem Herzen; aber es war nicht der Schrei beraubter Liebe. Marie Sibylle strich ihr über die Wange. Isebies sagte: »Wie gut, daß er mich heut' nacht zu finden wußte. Meine Seele hat ihn gewiß getröstet, als ich schlief. Gewiß. – Ich war gewiß bei ihm.«

Marie Sibylle überrannen Schauer, als sie Isebies so gelassen von den geheimnisvollen Begebnissen dieser Nacht, die am Morgen schrecklich an Bedeutung gewonnen hatten, sprechen hörte. Die heißen Tränen ihres schlafenden Kindes und das Sichverhüllen vor dem Todes- und Abschiedshauch ist Isebiesens Mutter nie aus dem Gedächtnis geschwunden. Eine ernste, sie tiefbewegende Erfahrung, daß wir über unser Bewußtsein hinausleben, und sie dankte Gott in ihrem Herzen, daß er ihr Kind vor einer tiefen, schmerzvollen Liebe bewahrt hatte.

Friedrich Merk war Isebies lieb gewesen, vertraulich, heimisch, und das plötzliche Versinken, Fortgewischtsein dieses lebendigen, guten Menschen hatte ihr ein Frösteln der Seele hinterlassen.

 

An einem Abend, als Sibylle zu Dohrns kam, befand sie sich in einer eigentümlichen traumhaften Stimmung. Der plötzliche Tod Friedrich Merks hatte sie müde gemacht, eine Müdigkeit des Körpers und der Seele, die schon wochenlang schwer und drückend auf ihr lag. Kein Schmerz, kein Verlangen; aber ihre Kräfte hielten nicht stand. Der geheimnisvolle Abschied, den sie genommen, hatte ihr Wesen in den Grundtiefen erschüttert. Die unbewußten Tränen, die Marie Sibylle ihr Kind hatte weinen sehen, waren allzu schwer geweinte Tränen gewesen, in Erkenntnissen und Gefühlen vergossen, die nicht im Bewußtsein hafteten, die anderen Sphären, anderen Zuständen des Lebens angehörten.

Müde und träumerisch saß sie allein im Dohrnschen Salon, die gerauchten Zigaretten dufteten noch. Im Malachittintenfaß lagen die Bonbons, eine Pflanze mit roten kleinen Beeren stand im Licht der Lampe.

Eine rote Beere hing im Dunkel, wie eine kleine Welt. Sie schien zu schweben und trug einen Lichtschimmer, wie unsere Erde im Sonnenlicht.

Sibylle schaute auf die kleine schwebende Welt im Dunkel des Raums.

Das Erdchen machte sie traurig und schwermütig. Soviel Leid auf dieser kleinen Welt mit ihrem Funken Sonnenschein und ihrer verschatteten Nacht, im Dunkel schwebend. – Das Leben erschien ihr schwer, – so unverhältnismäßig schwer und so lang, – so lang und dunkel. Das Jungsein war auch eine schmerzvolle Sache, eine Unruhe – ein Weltverlangen – ein Kraftgefühl – wohin damit? Was taten sie alle damit? Nichts geschah. Man saß und plauderte – und lachte, – und die Jungen weinten wohl auch hin und wieder. Ruhig und vernünftig wurde man später, dann kamen wieder andere daran, die plauderten und lachten – und hin und wieder wohl weinten. – Sibylle seufzte leise, da öffnete sich die Türe, und Frau Dohrn trat ein – im fließenden grauen Gewande. Sie ging auf Sibylle zu, sah aber an ihr vorüber.

Was sieht sie nur, dachte Sibylle und lächelte. Sie vergegenwärtigte sich, daß Frau Dohrn oft so verloren blickend in das Zimmer trat, und Sibylle dachte: Sie hat geschlafen. Sie schläft so zwischendurch. Das kam dem jungen Geschöpf komisch vor. Niemand bei ihr daheim schlief am Tag oder gar vor Schlafengehen. Auch Frau Mutter tat das nicht. Sie waren alle wach und hell daheim von früh bis in die Nacht.

»Herr Dohrn ist fort,« sagte Frau Dohrn mit einer eigentümlichen Betonung, ohne auf Sibyllens Gruß zu achten.

Sibylle schaute auf.

»Fort,« sagte Frau Dohrn langsam – »fort.«

»Verreist?« fragte Sibylle.

»Das nicht. Ausgegangen.«

»Einfach ausgegangen?«

»Ja. Wenn Sie es einfach ausgegangen nennen?« sagte Frau Dohrn, immer noch in die Ferne blickend, in schwerer Betonung. – »Ja – ja, – Herr Dohrnchen!«

»Was ist denn?« fragte Sibylle etwas ungeduldig.

»Wer ausgeht, – ist das immer so ganz sicher, daß er wiederkommt?«

»Für gewöhnlich,« meinte Sibylle, »ist das wohl so. Sind Sie durch mich aus dem Schlaf geweckt worden?«

»Geschlafen?« wiederholte Frau Dohrn lächelnd. »Geträumt. – Gelesen, – wie Sie wollen, – auf meine Art geschaffen.

Ich lese ›Das Leben der Kaiserin Katharina von Rußland‹ – der Kaiserin!«

Sibylle war es unbehaglich zumute. Fremd kam ihr diese Frau heute vor. Wesenlos. – Was war ihr denn?

»Interessieren Sie sich für Katharina von Rußland?«

»Ich weiß nichts von ihr,« sagte Sibylle.

»Nun, und?« fragte Frau Dohrn wie gespannt.

»Ich weiß nichts. Sie geht mich nichts an.«

»Nein, Sie wahrlich nicht!« rief Frau Dohrn hell aus. »Mich aber, – mich! Blut von ihrem Blut! Geist von ihrem Geist!«

Wie sie das sagte! Träumte sie? Welche Leidenschaft im Blick!

»Ja – ja, Isebieschen. – Verrückt bin ich nicht. – Sie sind gut eigenbrodtsch, so klug Sie sind, und trotzdem ein Fünkchen Genie im Köpfchen spukt. Sie haben nie die Glut zu herrschen im Blut gespürt! Sie haben nie eine übermächtige Seele gespürt, die hinaus, über alle hinaus will! – Und diese Armseligkeit! Diese Fähnchen! Dies Glückchen und Unglückchen! Dies Sichwinden in Winzigkeit. Diese Sündchen und kleinen lausigen Tugenden! – Ach, gehen Sie – ein Leben für ein Haustier! – Und Herr Dohrn? Ein prächtiger Mensch in seiner Art; – aber – aber: ein widerstrebendes Instrument, um zu erreichen – weltabgewandt – ein Träumer – weltfremd – nie weltverbunden! – Eine gute Stunde – ein guter Gedanke – ein Plaudern ist ihm genug. Genügsam wie ein Bernhardinerhund, versunken wie ein Mönch! – Mit einem Freiheitsdrang wie ein Wilder! – Kann das bißchen Druck nicht ertragen, unter dem ungerechten Vertrag zu arbeiten – Hä! – Noch ein wenig aushalten und mit eiserner Kraft wäre es erreicht, – wir könnten bei dem brillanten Gang auch unter diesem Vertrag frei leben und atmen! – Aber nein! – Mit dem Kopf durch die Wand! Er läßt sich nicht gefallen, ungerecht hier angebunden zu sein! – Fort – er muß fort! Herrschen aber heißt, über den Dingen stehen, auch über den zwingenden!

Ach, Isebies! Der Mann, der mit mir ginge! – und alles läge uns zu Füßen. Auch als Dramatiker könnte er steigen und steigen! – Sie haben's miterlebt! – Talent die Fülle, – und voller Gleichgültigkeit. Er geruht es nicht aufzuheben, was ihm zufällt. Hier nicht und dort nicht – nirgends!

Sie wissen nichts oder jämmerlich wenig von mir, Isebies –. Glauben Sie mir, so als Gespenst auf Erden leben, als Gespenst mit heißem Verlangen, – eine Katharina oder Lady Macbeth ohne Körper: das ist mein Los.

Wenn ich versuchen wollte, mich in Sie zu ergießen, mein Wollen in Sie zu pflanzen, – würde ich eine schöne Müh' haben, mich geltend zu machen!

Und was durch eigene Kräfte herrlich würde, – wird mit fremden Kräften ein dünnes Spiel voll Widerstreben.

Wir haben uns gezankt, und er ist fort! – Spazieren gegangen, sagen Sie. – Ich glaube auch, daß er spazieren gegangen ist.«

»Ich glaube auch.« Sibylle ging in das Kinderzimmer und plauderte mit den guten Geschöpfen, die voll Dank und Freude waren. Als sie durch Frau Dohrns Schlafzimmer ging, sah sie das Buch liegen, in dem Frau Dohrn gelesen hatte.

Sibylle erzählte den Kindern eine Geschichte, und Frau Dohrn kam und hörte zu, – hatte aber noch ganz verträumte, erregte Augen.

Alexander Dohrn trat ein und sagte: »Gottlob, daß Sie da sind!« Seine Stimme klang warm und lebendig wie noch nie.

»Lassen Sie sich nicht stören, schwatzen Sie weiter. Es ist so hübsch, tapfer, jung und dumm zu sein. Wir wollen Bauern werden, ganz einfache Leute, – nur nicht sich hetzen. Wer die Welt erkannt hat, ist für die Welt verloren. Wenn Sie wüßten, wie tief das ist! Wenn Sie wüßten, wie wundervoll das ist. Welche Freiheit! Wenn wir für diese Welt verloren sind, – welcher Gewinn!«

 

Am Morgen des nächsten Tages erhielt Sibylle von Frau Dohrn wieder ein graues dreieckiges Briefchen, eine Maus – wie Biwi sagte –, und eine dicke Maus.

 

»Liebes, tapferes Mütterchen, – Sie waren gestern verstimmt. – Und mit Recht. – Sie kommen ins Haus, wie ein guter, freundlicher Geist – hilfsbereit – gut wie ein liebes Kind, und ich mache Ihnen mit dummem Zeug das Herz schwer.

Sie sind so ganz Sie selbst in jedem Wort, in jeder Gebärde, an Ihnen haftet nichts Fremdes. Sie sind Ihrer Kräfte froh, Sie arbeiten so hübsch tapfer, wenn man Ihnen etwas zu tun gibt, sei es was es sei, so gehen Sie mit der ganzen Ehrlichkeit Ihrer Seele daran. Alles kommt aus Ihnen selbst. Glauben Sie mir, ich weiß genau, was es uns bedeutet, daß Sie uns Tag für Tag helfen, und daß die Stimmung durch Sie ruhiger wird, der Mut manchmal wächst, die Hoffnung um sich greifen will, mit einem Wort, daß es uns erträglicher zu gehen scheint.

Sagen Sie, weshalb greif' ich so nach Ihnen? Weshalb fehlen Sie mir so?

Sie haben mich gestern nicht verstehen können. Ich bin ein armes Gespenst ohne Hände, – und ich verlange nach den Armen anderer, ich verlange nach der Wärme anderer.

Glauben Sie, – ich kann zu ihm sagen, was ich will? Mir fehlt der Mund, mir fehlt die Sprache. Ich kenne eine traurige Geschichte von einem armen Geistchen, das gar zu gern Wäsche aufgehängt hätte. – ›Ach, du Liebe,‹ sprach es unhörbar wieder und wieder zur Dienstmagd. ›Häng' die Wäsch' mit mir auf. Kehr' die Stube mit mir aus, gib mir deine Hände.‹ Die Magd hörte es nicht, konnte es nicht hören.

Unendlich reich bin ich und unendlich arm, lechzend nach Ausdruck meiner Seele. Ein Dichter ist in mir, ohne Form, eine Königin ohne Macht.

Und Ihr alle seid Hände und Füße und Herzen und Kräfte, die davonlaufen. Ich stehe immer allein, ungehört wie das Gespenst bei der Dienstmagd.

Ich lasse Sie lachen, Isebies, weil ich nicht lachen kann. Ich bitte um Ihre Hilfe, weil ich nicht helfen kann. Ich halte Sie am Schnürchen, – aber Sie entwischen mir. In meiner Ohnmacht habe ich gestern gesagt: Er könnt' bleiben, wenn er wollte, er könnte die Ungerechtigkeit ertragen, wenn er wollte. Heut' sage ich: Nein – nein – nein! Ich hab' ihm unrecht getan. Er kann's nicht tragen und er darf's nicht! Eins käme zum andern. – Jetzt kann er Neues beginnen. Jetzt muß es geschehn! Jetzt oder nie, – er hat recht! Heut' oder Untergang! Er hat recht. – Ach, welch eine Seele bin ich denn? Woher stamme ich? – Was tue ich? – An was vergreif' ich mich? – Fort – fort – fort! Welch einen Abend verlebten wir, als Sie gegangen waren, – kommen Sie! Vertrauen Sie mir ganz. – Wissen Sie, was Sie uns sind? Nein. Die Kinder sagen: Der Engel – Wo bleibt der Engel? Die Großen fragen: Wo bleibt sie, – wo bleibt die gute Lebensquelle, – und ich für mich ganz allein sage: Wo bleibt meine Hand, – wo bleibt mein Mund, – wo bleibt mein Lachen?

Elise.«

 

Doch ein sonderbarer Brief, dachte das Mädchen. – Es war Sibylle, als wenn sich Spinnengewebe um sie legten, um ihr Denken und Fühlen, etwas Zartes, Fesselndes, Unentrinnbares schien sie zu umgeben. Wer ist eigentlich Elise Dohrn? – Niemandem gleicht sie, dachte Sibylle, verstehe ich sie? Versteht sie sich selbst? Diese Schleier, mit denen sie sich umgibt, diese seltsamen Schleierkleider, – und diese seltsamen Augen? Dies Träumen und Versinken, – und dieses Stahlharte in ihr.

Die sonderbare Begierde nach Macht und Herrschen. Wie ihr die Augen kalt, fast grausam leuchteten! »Diese Sündchen und kleinen lausigen Tugenden,« hatte sie gesagt. – Was ging in ihr vor? Was sollte das heißen?

Sibylle fühlte sich von Fremdartigem umgeben. Von einem Wesen beeinflußt, das sie nicht kannte, und das ihr dennoch so lieb war, – so nah – fast heimisch.

 

»Beschreib' mir mal deine Frau Dohrn,« hatte die liebe Frau Mutter sie neulich gebeten.

Isebies Sibylle hatte sie ihr nicht beschreiben können, auf keine Weise.

»Ist sie gut?« hatte die alte zarte Frau endlich gefragt.

»Gut? Ja, sie ist gut, – aber – das ist nicht die Hauptsache bei ihr. – Du bist gut, – und mit dir ist sie nicht zu vergleichen.«

»Ist sie besonders klug?«

»Besonders klug, – ja,« hatte Sibylle geantwortet. »Aber eigentlich nicht einfach klug so wie du. Sie ist nicht mit dir zu vergleichen.«

»Ist sie denn heiter und lustig?«

»Ja,« sagte Sibylle, »das schon; aber nicht von selbst so wie du.«

»Nun, was ist sie denn dann für ein sonderbares Wesen? Ich bin ein einfacher, demütiger Mensch. Ist sie denn nicht einfach und demütig wie wir Menschen sein sollen?«

»Nein, das ist sie nicht,« hatte Sibylle geantwortet. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie es.«

»Aber weshalb liebst du sie denn? Man muß wissen, weshalb man einen Menschen liebt.«

»Ich liebe sie, weil ich sie liebe, Gomelchen. Sie ist so lebendig. Sie hat mir's angetan.«

»Lebendig?« fragte die Frau Mutter. »Und hat dir's angetan? Da kann ich mir nichts dabei vorstellen. Und er?«

»Er ist vor allen Dingen gut; aber ein närrischer Kerl würdest du sagen, Gomelchen.«

»Wenn er nur gut ist, da mag alles hingehen. Nun, und klug?«

»Er ist nun wieder ureinfach klug. – Für ihn gibt es nur ganz große Begriffe, die stehen wie Riesenklötze da, und das Kleine, das, was uns allen so wichtig erscheint, gibt's für ihn gar nicht. Deshalb nenne ich ihn einen närrischen Kerl. Er stolpert über kleine Steine, wenn er von einem Felsblock zum andern springt. Für ihn gibt es das Alltägliche nicht.«

»Das ist ungemütlich,« sagte Frau Mutter.

»Ja, ungemütlich schon manchmal; aber er ist wie ein Kind. Er freut sich an einem Gedanken, der stimmt, so in sich hinein, wie man sich als Kind über etwas freut. Ich habe nie einen Menschen gesehen, der sich so über einen Gedanken vergessen kann, so ganz weltvergessen kann er sein, und es sind immer Gedanken, die das Geheimnis der Welt heller machen über Gut und Bös und solche Urdinge.«

»Das freut dich?« fragte die liebe Frau lächelnd.

»Ja, das freut mich. Ich höre ihm gern zu. Seine Gleichgültigkeit der Welt gegenüber würde mich nicht freuen, wenn ich seine Frau wäre; aber so freut sie mich. Ich muß oft lachen und glaube, daß er viele Dummheiten macht und die Leute ärgert. Er sagt zu den Allerungeschicktesten die weisesten Sachen, doch kann man, wenn man will, viel von ihm haben.

Er lädt die fremdesten Leute auf der Straße ein, wenn sie ihm gefallen, und schleppt sie zu sich hinauf und fragt sie aus und versucht, ob sie ihn verstehen. Und wenn so ein Mensch ihn nicht versteht, läßt er ihn wieder forthüpfen, wie ein Kind einen Frosch forthüpfen läßt, den es satt hat, der es langweilt, und dann sagt er noch irgendeinen Unsinn, den er dem Frosch mit auf den Weg gibt. Er versteht es, sich Feinde zu machen. Ich wollte, er wäre in solchen Dingen anders.«

»So gefällt er dir besser wie sie?«

»Das kann ich nicht sagen,« hatte Isebies Sibylle geantwortet. »Ich liebe sie mehr; aber das Gute, das ich dort finde, finde ich mehr bei ihm.«

»Und wenn sie beide nun nicht einfach schlechtweg klug und schlechtweg gut sind, wer besorgt denn das bei ihnen?«

»Gomelchen, ich glaube ich! Ich glaube, darum lieben sie mich so!«

»Ei du lieber Gott,« sagte Gomelchen, »da haben sie aber doch wieder einen närrischen Kerl erwischt.«

»Freilich, liebes Frauchen; aber ich bin doch ganz, ganz anders wie sie, so viel einfacher. Sie sind beide wie aus dem Nest gefallen, und ich war doch in einer hübschen, guten, lieben Kinderstube, bin Mutters Tochter und deine Enkelin. Ich räume oft bei ihnen auf, lege die Bücher zurück, sammle die Bonbons, die in der Stube herumliegen, räume überhaupt auf, stäube ab, während wir uns unterhalten – mein Staubtuch liegt immer bereit –, mache ihnen Mut, wenn sie alle Hoffnung verloren haben, erzähle ihnen dummes Zeug, bringe sie zum Lachen, habe ihnen auch den Samowar in Ordnung gebracht und Imogens Schulbücher, gegen die die unseren wahre Aktenstücke sind, – und habe es sogar dahingebracht, daß sie das Sofa neu überziehen ließen.

Ich sage ihm auch manchmal, er soll nicht so dumme, wildfremde Leute ins Haus bringen, die nachher nur klatschen.

Die Menschen sind doch wie die Pflanzen, man kann sie nicht so mitten in der Blüte, wenn sie einem gerade gefallen, herausreißen und irgendwo bei sich einpflanzen. Er meint, das geht alles.

Es fehlt dort eben ein ganz simpler Mensch, der sich der Dinge annimmt. Mit einem wirklich ganz simpeln Menschen aber könnten sie nichts machen, der würde bei ihnen herumstehen wie eine große Kiste im Salon.

Siehst du, Gomelchen, so ist unsere Freundschaft etwa. – Nur habe ich nicht gesagt, was ich dort bekomme. Ich lerne von ihm arbeiten und denken, – was in mir Gutes geworden ist, ist durch ihn geworden.«

So etwa war das Gespräch zwischen Frau Mutter und Isebies Sibylle gewesen, und an dieses Gespräch dachte sie, als sie Frau Dohrns sonderbaren Brief gelesen. Es war ihr ein Trost, daß sie Gomelchen alles so ungefähr hatte einfach erzählen können, wie es zwischen ihr und Dohrns stand.

 

Zeit verging. – Bei Eigenbrodts lebten sie in Behagen und bei Dohrns in Unruhe, – in schwüler Luft vor einem Gewitter. Und das Gewitter hing am Himmel. Tapfer stand die kleine Frau unter den dunkeln Wolken. Sibylle hatte den Eindruck, als wäre die zarte Person aus Stahl. Ein lebhafter, anstrengender Verkehr mit Rechtsanwälten, mit Sachverständigen wurde unermüdlich fortgesetzt.

Heinrich Eigenbrodt sah die Sorge seines Kindes um ihre Freunde und fragte Sibylle, was etwa zu tun sei, ob dieser oder jener seiner Freunde eingreifen könnte. Er wäre bereit, dies zu versuchen. Er trug ihr kurz und gemessen auf, Dohrns zu fragen, ob ihnen mit dem Rat dieser oder jener Persönlichkeit gedient sein könnte.

Sibylle war von der Güte ihres Vaters tief bewegt. Sie wußte, wie wenig noch immer der Verkehr nach seinem Sinne war, trotzdem sich alles friedlich und unauffälliger geregelt hatte. Sie fühlte seinen Kummer, sein Widerstreben gerade bei diesem Entgegenkommen deutlicher wie je, empfand das Unrecht, das sie an ihm tat, in Hilflosigkeit und Verwirrung.

Sie konnte ihm für seine Güte kaum danken und schrieb sogleich an Dohrns von ihres Vaters Bereitwilligkeit zu helfen. Es war ihr unmöglich, diese gute Botschaft ihnen selbst zu überbringen.

 

Frau Dohrn schrieb ihr zurück: »Sorgen Sie sich nicht zu sehr um uns, gute Isebies. Wir hoffen, daß eine Krankheit, denn die ist am meisten zu fürchten, uns nicht überwältigt.

Wir bleiben für jede Freundlichkeit tief dankbar. Sagen Sie das Ihrem Vater. Ich überlege, was helfen könnte; zunächst Ihre Gegenwart, die uns beide aufrichten, vielleicht vor Krankheit retten würde.

Das ist das Gewisse.

Vier bis fünf Tage sind jetzt unberechenbar, und Sie schreiben von einer kurzen Reise, die Sie unternehmen wollen. Das andere aber, die Hoffnung darauf zu setzen, daß irgend jemand durch eine Beurteilung der Sache etwas für uns tun könne, – ist ungewiß, – ganz ungewiß und wahrscheinlich zu spät.

Das einzige, was die Bank noch abhalten könnte, uns völlig auszunutzen, – wäre die Öffentlichkeit. Herr Dohrn muß einen Vergleich eingehen, um keinen Prozeß zu riskieren. Wir erwarten heute, jeden Tag, einen Delegierten der Bank.

Liebe Isebies, mißverstehen Sie uns nicht, wir sind tief dankbar für jede Mithilfe; – aber ein Urteil in der Sache würde so gut wie nichts helfen, denn die Bank ist dem Buchstaben des Vertrags nach im Recht. Selbst wenn eine höchste Autorität dem Sinne des Vertrags nach uns recht gäbe, so würden wir, um einen jahrelangen Prozeß zu vermeiden, uns vergleichen müssen.

Dem Sinne nach und der Verabredung des Vertrags nach haben wir vor jedem redlich denkenden Menschen unzweideutig recht.

Sagen Sie das Ihrem Herrn Papa und danken Sie ihm in unserm Namen.«

 

Sibylle hatte in der Unruhe ihres Herzens geschrieben, daß sie ein paar Tage zu ihrer Schwester Biwi reisen müßte. Sie war von der Güte ihres Vaters so bestürzt, daß sie ihm dies Opfer bringen wollte. Sie wollte ihm etwas Gutes tun. Wenn Dohrns sie nicht jetzt so nötig gehabt hätten, sie wäre nicht wieder zu ihnen gekommen, so sehr sie an ihnen hing.

In Sibyllens Herzen wehten die Gefühle wie die Winde in einem Kornfeld von Osten nach Westen, von Westen nach Osten. So nur reift das Korn; aber die Unruhe der Seele ist schwer zu tragen, und zu viel Wind und zu viel Unruhe sind für Korn und Seele nicht gut. Windstille, warme Sommertage müssen kommen.

 

Sibylle und Alexander Dohrn waren zwei gute Kameraden geworden, voll Vertrauens zueinander.

Frau Dohrn sagte: »Ihr steht einander gut.«

Es war ihr, wie es schien, angenehm, wenn Sibylle ihre Arbeit brachte und ihn um Rat fragte und sie stundenlang miteinander berieten und plauderten.

Frau Dohrn fühlte, wie er dann Vergessen trank, wie er ein natürliches, ruhiges Leben lebte und alles Schwere für Stunden im Hause versank.

In diese Zeit fielen Sibyllens erste Erfolge, und ganz wunderliche Erfolge, an die niemand gedacht hatte. Des seltsamen Geschöpfes Art zu schreiben gefiel, ja verwunderte manchen, ihr lebendiges Herz hatte den Zauber, sich mitteilen zu können, sich begreiflich machen zu können, den unerklärlichen Zauber, der wie eine Zauberformel an den Worten haftet. Welches Erstaunen bei Eigenbrodts!

Es wurde über Isebies Sibylle in den Zeitungen geschrieben. Ganz vernünftige Männer gaben sich die Mühe, spaltenlang über das, was Isebies sich ausgedacht hatte, zu schreiben, lobten und tadelten.

Und alle daheim fragten sich: »Woher hat sie das alles? – Woher kennt sie den Tod, das Leid, die Liebe und das Alter? Wieso sind die Erfahrungen mit ihr geboren?«

Frau Mutter streichelte sie zärtlich, als sie zum ersten Male gelesen, was ein bekannter und berühmter Schriftsteller über Isebies schrieb. Tränen standen in Frau Mutters Augen, und sie sagte: »Du armes Kind. Ich kannte und liebte dich, als du ein Püppchen warst und in deinen Kissen lagst.«

Marie Sibylle war es angst und bange.

Heinrich Eigenbrodt aber hatte unverhohlene Freude.

Die zarte Weltdame wußte nicht, was sie dazu sagen solle, sie rümpfte die kleine Nase. Es war ein wenig Mißachtung ihrem Befremden beigemischt. Biwi, die Verheiratete, war voller Freude.

Isebies aber erschien den Ihrigen etwas entrückt zu sein.

Sie selbst behandelte die Sache fast gleichgültig. Nur an dem Abend, als sie mit einer vorzüglichen Besprechung ihrer Arbeit zu Dohrns ging, blickte sie freudigen Herzens zum dunkeln Herbsthimmel hinauf, und der war ausgestirnt, über und über gestirnt, so schön und strahlend, zum Sterben geheimnisvoll. Da durchfuhr sie ein Schauer, und sie dachte über sich nach und dachte über alles nach, was sich mit ihr begeben hatte, und eine Andacht sondergleichen erfüllte ihr Herz; Tränen traten ihr in die Augen, und sie stand unter den noch dichtbelaubten Bäumen vor dem Haus, die den scharf herbstlichen Duft ausströmten, ganz still …

Ihre Seele war so weit, und es war ihr, als wäre sie ein Königskind aus einem uralten Märchen, – ein starkes glückliches Königskind, mit einer Krone, und ein seliges Gefühl von Macht und Seligkeit bewegte sie. Niemand kannte diese heilige große Stunde. Sie konnte ins Grenzenlose hineinempfinden, niemand lächelte, und sie selbst wußte im Augenblick nichts von Vielheit, Kleinheit, Größe und Maß.

Sie stand unter dem gestirnten Himmel – eine glückliche Seele.

Dann ging sie, als berührten ihre Füße den Boden nicht, zu ihren Freunden.

 

Sie traf Alexander Dohrn allein daheim.

»Nun, was ist's?« fragte er und schaute groß auf, als sie eintrat. »Schön sind Sie, Isebies, heute!«

Sie reichte ihm stumm das Blatt.

Er las.

»Welche Freude!« sagte er. – »Daß sie dem guten Isebies nichts tun!«

Sein Gesicht strahlte.

»Schauen Sie! Schauen Sie, was sie da schreiben, – die Esel! Reingefallen! Verstrickt! – Na!«

Isebies lachte.

»Ich freue mich,« sagte er. »Es hätte auch anders sein können. Sie hätten über die schauderhaften Sätze die liebe süße Seele eigentlich umrennen müssen, wie sich's gehört, – und die Sätze sind gar nicht so schlimm, Isebies. Ihr Wesen dringt wenigstens durch! – Auch durch Druckerschwärze! Aber, aber, wenn die meine Heimatseele kennen würden! wie ich sie kenne! wie sie jetzt die Türe öffnete und hereintrat, und alle Unruhe und Sorge und Schererei ist fort, – und das Lachen ist da, das Glück! – Isebies!«

Er war auf sie zugetreten und hielt ihre beiden Hände in den seinen – fest – fest.

Isebies sah in ihr fremde Augen, in Augen, die sie so anders anblickten wie sonst. Sie erschrak, als hätte sich der Boden vor ihr aufgetan.

»Isebies,« sagte er, ich weiß nicht, was ich sage – Gott verzeih' mir's, Gott schütze mich und Sie! – – Isebies! –« Es war wie ein Aufschrei. – »Sie sind mir über alles lieb!«

Verwirrung überkam sie. Unmöglichkeit war möglich! Ihr Freund, ihr guter Freund, dem sie so ganz vertraute, der ihr so heimisch war, – so nah, – so gut, – den sie verehrte, dessen tiefe, ehrliche Seele sie liebte! – Entsetzlich! – Was hatte sie getan? –

Er hatte sich auf das Sofa geworfen und das Gesicht in die Hände verborgen. – Sie hörte sich jetzt selbst sprechen. – Es klang ganz, als wenn eine Stimme zu einem kranken Kind sprach.

»Seien Sie ruhig, – das vergeht, – – das vergeht. – – Sie haben so viel Sorgen. – Sie nehmen die Dinge so schwer.«

Er lächelte schmerzvoll, als er aufschaute.

»Ich hab' meine Heimat gefunden, was meinen Sie? Heimweh ist für den einen überwindbar, – für den andern …?«

Sie schwiegen beide.

Isebies verstand diese Stunde nicht. Es war alles außerhalb ihr und erschreckte sie wie eine Geistererscheinung.

Unmöglich – Unmöglich!

Es war ihr, als müsse sie ihn von diesem Unglück, diesem Bann befreien.

»Denken Sie, denken Sie,« sagte sie bebend, »an alles, an Frau Dohrn, an die Kinder, wie lieb alle Sie haben.«

»Ich denke an alles, – ich weiß alles,« – sagte er und faßte nach ihrer Hand und küßte sie in selbstvergessener Leidenschaft.

Sie wollte ihm die Hand entreißen, wie sie es jedem andern Mann gegenüber getan hätte; aber es war etwas in ihr, was sie hinderte, schroff und empört zu sein.

Seine Seele war ihr lieb und heilig.

Sie hatte so Wundervolles in ihm erkannt.

»Weh will ich Ihnen nicht tun. Gott behüte mich davor. – Sie sehen selbst alles klar,« sagte sie kaum hörbar.

»Ich sehe alles klar zum Verzweifeln,« war die Antwort, und er drückte ihr einen Kuß auf die Lippen.

»Frau Dohrn kommt zurück,« sagte er in einer Betonung, die Sibylle die Seele erschütterte.

In welch einem Unheil fühlte sie sich stehen.

Frau Dohrn trat ein.

Wie die Dinge geschehn, – – dachte Sibylle voll dunkeln Staunens.

»Nun, da ist sie ja!« rief Frau Dohrn. »Da ist die Hoffnung und das Lachen!«

Frau Dohrn brachte Bonbons mit und schüttete sie auf dem Tisch aus.

»Heidi,« sagte sie, »bei Dohrns geht's auf und nieder.« Sie war bei dem Rechtsanwalt gewesen. »Martin hat heut zum erstenmal eine Auffassung, aus der sich Hoffnung schöpfen läßt. Wer weiß, es wäre sogar mit einem Prozeß zu wagen.«

»Nie,« sagte Alexander Dohrn schroff.

»Ich wag' es!« sagte die Frau fest. »Wie oft hat's mich verlangt, einmal statt einem Kommerzienrat oder sonst einem Ehrenmann einem echten, rechten Löwen gegenüberzustehen. – Macht um Macht! – Mut um Mut, ohne alle Redensarten. Mein Blick ist nicht schlecht, dünkt mich; – so eine Bestie, – ob sie sich nicht davor zusammenkauert!«

Katharina von Rußland, dachte Sibylle wie im Traum.

»Ich bin ganz frisch von dem Gedanken geworden. – Ein Prozeß! Weshalb nicht? Kampf – Leben! Mir ist's recht! Druck ertrag' ich nicht; aber Kampf! – Um mein Recht kämpft' ich bis aufs Blut, und wiederum mein Recht könnte ich mit dem Fuß von mir stoßen mit Leichtigkeit – Leben! Und erhöhtes Leben! Heiliger Gott!«

»Darum Bonbons,« sagte Alexander Dohrn trocken.

»Bonbons statt anderer Taumel und Sensationen. – Ja! Bonbons!« Sie lächelte.

»Wir müssen nach Leipzig, meinte Martin, und dorthin soll der Delegierte von der Bank kommen, um mit uns zu verhandeln. Martin hatte heute seinen hellen Tag. Ich bin ganz mutig geworden.«

»Ich muß gehen,« sagte Sibylle.

»Da geht sie, wenn Dohrns ein wenig obenauf sind!« rief Frau Dohrn.

»Sind sie es denn?« fragte er versonnen.

»Sie sind's!« sagte die Frau. – »Mir ist's, als spürte ich neues Leben.« –

»Sibylle hat ihre erste Besprechung gebracht.« Er wollte Sibylle aufhalten.

Sie antwortete: »Die lasse ich hier. Ich bin müde.«

Frau Dohrn brachte Sibylle an die Treppe und fragte: »Herr Dohrn war mißgestimmt, schien mir, – und die Besprechungen sind gut? – Ja? Sehen Sie, es kommt alles. – Wann machen wir ein Freudenfest?«

Als Sibylle auf der Straße war, versagten ihr die Füße. Sie ging ermattet. Wie schwer war die leichte Seele, die eben noch in Glückseligkeiten unter dem ausgestirnten Himmel gestanden hatte, vom Schicksal beladen worden.

Sie konnte nur mühsam und gebeugt gehen.

In ihr liebes Heimathaus trat sie wie eine Fremde ein.

Ach, das war nicht auszudenken, was sie erlebt hatte!

Sie ging schlafen, so früh es noch war, und schlief sofort ein vor Erschöpfung. Es war ein tiefer, tiefer Schlaf, wie ihn die ganz Erschöpften schlafen.

»Schlaf nur,« hatte ihr Gomelchen gesagt. »Ich will den andern sagen, daß dich deine Freude müde gemacht hat.«

 

Früh war Sibylle auf. Fort – fort! dachte sie. Sie setzte sich noch im Nachthemd an ihr 

en Schreibtisch und schrieb einen Brief an Frau Dohrn.

 

»Gut, daß es besser geht, gut, daß Hoffnung aufsteigt, so kann ich Sie ruhiger auf ein paar Tage verlassen. Ich fühle mich krank. Ich bin so erregt. Es ist zu viel für mich: Mein Daheim, Sie lieben Menschen, – meine Arbeit. – Mich schwindelt!

Seien Sie nicht so gut mit mir! Wir müssen uns fremder werden, dann erst, meine ich, kann ich wieder an Leben denken.

Wenn ich zurückkomme, reden Sie mir nicht zu, so oft zu kommen –. Wenn wir uns fremder sind, stehe ich Ihnen ruhiger gegenüber und kann besser helfen.

Ich muß mir irgendein Bild von meinem Leben machen, ich will nicht mehr so verworren leben wie jetzt. Ich tue meine Pflicht daheim nicht. Ich betrübe. – Ich verdunkle die Freude und den schönen Frieden im Haus. Bei uns ist immer Freude und Friede, – und ich störe. Denken Sie auch mit mir? Seien Sie fremder gegen mich und nicht so gut, – so himmlisch gut wie Sie sind!

Sagen Sie mir nicht, daß Sie mich notwendig brauchen, das ist mir jetzt kein Trost, – ich erschrecke davor.

Sie schreiben und sprechen zu mir wie zu jemand, der volles Leben in sich hat. Ich fühle, wie ich Tag für Tag über meine Kräfte lebe. Meine Seele ist nicht ruhig. Ich lade Schuld auf mich mit meinem Verhalten zu Hause.

Vielleicht wird alles wieder besser; aber kranken Kindern muß man den Willen tun.«

 

Sibylle bat noch in aller Frühe ihre Mutter, daß sie zu ihren Pfarrersleuten reisen dürfte.

Wie gerne wurde ihr das gewährt.

Marie Sibylle, die Mutter, freute sich, daß ihr Kind so an den prächtigen Leuten hing, daß sie ihnen ihr Glück selbst mitteilen wollte.

So packte Sibylle eilig ihr Köfferchen und fuhr wie ein Dieb in der Nacht mit klopfendem Herzen in das liebe Nest, nahe bei Jena, in dem sie sicher war, herzlich und voller Güte empfangen zu werden.

Sie mußte eine Strecke vom jenaer Bahnhof aus zu Fuße gehen. Die schönen fremdartigen Berge, die einzig sind in Deutschland mit ihren Weingärten und ihren scharf abfallenden Flanken, ihren großzügigen Formen und Hochebenen, waren von der Herbstsonne bestrahlt und schwammen im Licht, wie Inseln in einem Lichtduftmeer. Die Wälder am Fuße der Berge, an den Nord- und Westseiten waren schon bunt gefärbt.

Sibylle tauchte unruhigen Herzens unter in dieser leuchtenden Herrlichkeit. Wie gut, daß ihre lieben Pfarrersleute so weltabgeschieden wohnten, daß man zu ihnen auf weichen, lebensvollen Wegen gehen konnte, über Rasen mit Herbstzeitlosen, den vornehmen, kalten Blumen, über elastische Pfade auf dicken Schichten von Tannennadeln, über gestorbenes purpurbraunes Buchenlaub, auf das sterbend neues Laub niederregnete voll farbiger Glut, in der die Blätter sterben.

Was für eine Welt war das, in der Tod und Leid im Farbenrausch flammte. Durch die Bäume ging Todes- und Leidesahnen in feurigen Strömen. Die heiligen Bäume lebten ihr geheimnisvolles Leben, das uns so nah und fern, so unbegreiflich, so hoheitsvoll ist, das Leben stiller, ruhigerer, vornehmerer Wesen, wie wir es sind, zu denen aus unserem Herzen kein Trost dringt, kein Mitfühlen, die aber uns mit Ruhe und stiller Freude und guter Erdenseligkeit überschütten, die uns mit ihren starken Armen überwölben, schützen, bergen wie Götter, die wir aus innerster Herzensregung anbeten, zu denen von jeher, solange Mensch und Tier unter ihnen wandeln, Gebete aufgestiegen sind, unter deren Kronen Herzen ruhiger schlugen.

Auch Isebies Sibylle ging unter diesen Kronen gesänftigter, weniger erschreckt, weniger verworren.

Und als das liebe Haus und Dorf der Pfarrersleute vor ihr lag, flossen die Blutwellen wieder natürlicher, – sie schien wie aus den Händen guter Wesen entlassen.

Das Haus im Schutze breiter Nußbäume lag wie eine Heimat vor ihr im freundlichen, sanften Tal.

Sie sah im Garten, in dem die Herbstblumen glühten, den Pfarrer und Dichter graben und arbeiten. Die Malven nickten über den Zaun, und die mächtigen Sonnenblumen leuchteten wie Gestirne, und die Pracht der Astern lohte, und das Herbstvögelchen sang. Eigenbrodts nannten es das Herbstvögelchen. »Gütschü – be, Gütschü – be.« Es sang so kristallhell in die klare Herbstluft hinein, so wehmütig-selig, wie eine Seele, die es schön findet und wohl zu sterben. Es sang vom süßen Tod der Natur, vom seligen Hinsterben, von Herbstfrieden, von den letzten Dingen.

Der alte Mann mit dem tapfern Gesicht lächelte bei seiner Gartenarbeit und beim Gesang des Vögelchens und hob den Kopf und sah Sibylle am Zaune stehen.

»Mein Kind!« rief er. »Mein gutes, liebes Kind!« Und warf das Grabscheit beiseite. »Ja, daß dich! Wie kommst du daher?«

Er streckte ihr die Hände entgegen, und über den Zaun zwischen den hohen blühenden Malven küßte er sein Kind auf die Stirn und rief seine Frau.

Er gedachte nicht seiner erdigen Hände und strich ihr übers Haar und sagte nur, als er's bemerkte: »'s ist liebe, gute Erde, – unser aller Heimat. – Nun lauf, mein liebes Herz, und komm zum Gartentürchen rein.«

Da kam auch schon die Frau Pfarrerin, mit den braunen Samtaugen, die wie zwei dunkle Stiefmütterchen blühten, mit dem leichtergrauten welligen Scheitel, dem lachenden, frischen Mund, der ehrlichen Schürze und den liebevollen Händen. Und der Pfarrerin warf sich Sibylle in die Arme und umschlang sie und küßte sie. Da atmete Sibylle Vanille ein, den würzigen Duft von Zitronat und Rosinen und warmen Mehlhauch. Die Pfarrerin hatte natürlich Kuchen gebacken.

Sie tat lauter wundervolle Dinge, die lachende Frau mit den blühenden dunkeln Augen; Kuchen backen, Blumen säen, Blumen pflücken, Kinder und Mütter trösten, warme Strümpfe stricken, Früchte liebevoll behandeln, ihre warme Katze streicheln. Ihre klugen Hände nähten blütenweiße neue und alte Wäsche, räumten zärtlich in den Zimmern und der blanken Küche.

Sibylle wurde bewillkommnet wie das Kind vom Hause.

»Ist's doch, als hätte mein Herz davon gewußt,« sagte die Pfarrerin froh; »als ich aufstand, war's mir, als flüsterte mein Schutzengel mir zu: ›Back' einen Kuchen‹.«

»Das flüstert dein Schutzengel oft,« meinte der Pfarrer.

»Und zwar einen Mohnkuchen,« sagte die Pfarrerin lachend. »Den besten von allen.«

Dies Haus mit seinen Menschen war ein echtes, rechtes Friedensnest.

Menschen, die durch die Wandlungen des Lebens gegangen waren, hatten hier die Lebensruhe gefunden, ihren Gott, ihr Jenseits und Diesseits, und was bei unruhigen Naturen zu Unliebenswürdigkeit, Erregtheit, Mißgunst, Übellaunigkeit und Friedlosigkeit wird, all diese unverbrauchten Kräfte waren hier zu Blumenflor, Kuchen und Sträußen geworden.

Es gibt gar viele Welten hier auf Erden, diese aber war eine der schönsten, kindlichsten, abgeschlossensten und kraftvollsten.

Verwirrnis lag weit draußen in der Welt der andern, Wunschlosigkeit breitet hier ihre Flügel wie eine Henne aus, und die Pfarrersleute waren ihr untergekrochen. Was sollten sie auch wünschen, die Seligkeit trugen sie schon im Herzen, der Tod stand unsichtbar wie ein guter Bote aus einer andern, bessern Welt vor dem Blumengarten, und sie waren es in aller Ruhe gewärtig, daß er einst sichtbar würde, um ihnen zuzuwinken, es sei an der Zeit.

Die Gesichter der Pfarrersleute waren rein und klar. In beiden Gesichtern blühten die Augen.

Sibylle dachte, als sie so ganz beim Willkomm den Frieden dieser wundervollen Welt einsog: Was hat Gott mit mir vor?

Sie gingen miteinander den breiten Weg im Garten zwischen den geradlinigen Blumenrabatten auf und nieder. Sibylle eingehakt in den Arm des Pfarrers und in den Arm der Pfarrerin.

Sie plauderten miteinander.

So sehr der Pfarrer Sorge um seines lieben Kindes Seelenheil im Herzen trug, fragte er doch nicht. Es war ihm genug, daß diese Seele ihm wieder zugeflogen war.

»Weißt du noch, als du vor zwei Jahren zu mir kamst, als du ›Tristan und Isolde‹ zum erstenmal gehört hattest und mich um das heilige Abendmahl batest, und wie ich es dir reichte? Denn weshalb sollte der Leib unseres Herrn nicht einem schönheitstrunkenen Herzen geboten werden? Ich seh' dich noch unter denen stehn, denen ich den Kelch reichen sollte. Ich kannte all ihre Mühsal, ihre Nöte, ihre Sünden und Qualen des Leibes und der Seele. Mein Kind war aber ohne Schuld. Gott segne es; ohne Qual des Leibes und der Seele, erschüttert von der Größe der Schönheit und Herrlichkeit, die Gott dem Menschen ins Herz gelegt, trat sie an den Tisch des Herrn. Hast du seitdem nicht wieder das Abendmahl genommen?«

»Nein,« sagte Isebies. »Nur aus der Hand meines lieben Vaters möcht' ich es empfangen.«

»Das ist nicht recht, jede Hand ist geheiligt, die es bietet; morgen bereite ich meine Gemeinde vor, an den Tisch des Herrn zu treten. Willst du teil daran nehmen? Willst du am Sonntag wieder das Heiligste empfangen?«

»Ja,« sagte sie leise.

»Gottlob, daß du ohne Zaudern mir antworten kannst. Ich werde dich in stiller Stunde nicht fragen, was du erlebt hast, du brauchst mir nicht zu beichten. Mir ist's genug, daß ich deine Antwort habe.«

»Ich bin nicht besser geworden,« sagte Sibylle traurig, »und ich weiß mir und andern oft nicht zu helfen.«

»Ich kann dir nur sagen: Die dir angestammt sind, haben fürs erste das stärkste Recht an dich. Sei nicht wehleidig dir und deinen Freunden gegenüber. Unsre Pflichten auf Erden müssen nach einfach menschlichen Gesetzen und Rechten gehen, sonst geraten wir ins Chaos.«

Die Pfarrerin drückte ihren Liebling an sich und sagte: »Das Hemd ist mir näher als der Rock. Verzeiht, wenn ich ganz simpel rede.«

Über den Zaun rief eine lebensfrohe, rauhe Stimme: »Na, habt ihr euren kleinen Balg wieder mal bei euch? Geh her, laß dich begucken! Biste mal wieder beim lieben Gott?«

Das war der Bruder des Pfarrers, Landarzt im Dorf. Er stand mit seiner langen Pfeife und paffte. »Na, gucke, gucke, die macht sich raus! Mit jungen Mächen fang' ich's Hiten gar nich an, da is der liebe Gott anderscht. Nee, siehste!«

»Ach was,« sagte der Pfarrer. »Bleib' du bei deiner Doktorei und red' keinen Unsinn!«

»No, wenn er se so zwischen eich habt, wie ich eich hab' gehn sehn!«

»Der sagt immer noch zu seinem Bruder: ›Lieber Gott‹,« brummte die Pfarrerin. »Siehste, Isebies, mit Karlen is nichts zu machen, da mag man sagen, was man will.«

»Nee, in keener Weese; aber hibsch is 's bei lieben Gotts, un gar, wenn sie Mohn- oder Zwiebelkuchen mit Speck backen, da kann meine Sindigkeit gar nich erwarten, bis gerufen wird, un wenn der Zwiebelkuchen zu schwer fürs Mägelchen is, da hat sie eenen ›Kersch‹ angesetzt. Gottstrambach, in den ihren Himmel lass' ich mersch gefallen. Wär' nich ibel, wenn ich all meine armen Deiwel von Patienten in so eenen schicken därfte, statt sie barfuß un nackig in de Dunkelheit un ins Ungewisse 'neinmarschieren zu lassen.«

»Du verstehst dein Metier nur halb,« sagte der Pfarrer.

»Jawohl, Philosophie is für so Leite wie ihr, aber wo's Hirn wie'n Knorz is von aller Sorge un Arbeit, da bleib mer davon. Hast'n schon eemal zugeguckt, wie die Katz' mit der Maus spielt, eh' se ihr den Treffer gibt, stundenlang, ewigkeitenlang, mei Lieber, nich zum Anschaun. Der komm ämal mit Philosophie un solcherlei!«

»Kämst du nur,« sagte der Pfarrer.

»Den guck' an! Nee, lieber Gott, was ä Doktor is, is ä schlechter Christ!«

»Weil er befangen ist.«

»Er!« rief der Bruder und schwang seine Pfeife. »Hab' ich deine Schweine gehitet, daß de mir mit ›er‹ kommst! Geh, guckt nach eiern Mohnkuchen. Wollte Gott, es wär' ä Zwiebelkuchen mit Speck, der wär' mir lieber, schon weil de Bauchweh dann merschtenteels ne Sicherheit sin un der Kersch och.«

»Du siehst,« sagte die Pfarrerin zu Sibylle, »er bleibt sich treu, ein schlechter, gefräßiger Christ und ein guter Doktor.«

Der wundervolle Herbsttag, das Behagen im Hause, die Heiterkeit der Seelen umgaben Sibylle. Das aber war es nicht, was sie hergeführt hatte. Sie hatte hier zu sich selbst kommen wollen, nachsinnen wollen, was zu tun sei; wohin sie sich wenden sollte, denn ihre Freunde konnte sie nicht wiedersehen, oder nur dann, für kurze Zeit, wenn der Weg, den sie gehen durfte, gefunden war.

Der Duft des Mohnkuchens aber durchströmte das Haus, von den Obstbäumen im Garten tropften die reifen purpurnen Äpfel und Birnen von Zeit zu Zeit ins Gras, wie im Überschwall des Reichtums, und die alten Leute hatten in der goldnen Herbstsonne ihre hellste Laune. Diesseits und Jenseits floß ihnen zusammen; verklärt war Tod und Leben. Das arme, unruhige, verwirrte Herz des guten jungen Geschöpfs, das sich hierher gerettet hatte, wurde ganz beiseite gedrängt in seiner Lebensnot, vor dieser Abgeklärtheit, Helle und dem Reichtum des Herbstes und der reifen Seelen.

Aber es fand sich eine Stunde nach dem Gottesdienst, der Vorbereitung der Gemeinde zum Abendmahl, daß sie mit ihrem Pfarrer sprechen konnte. Sie erzählte ihm von ihren Erfolgen und von Plänen, die wirr in ihrer Seele aufgewacht waren.

»Trügerisch, mein Goldkind, trügerisch! Du suchst Ruhe und Befriedigung in der Kunst? In ihr ist weder Friede noch Genügen zu finden. Die wahre Kunst wird aus der Schönheit geboren und deutet auf Höheres hin, über sich hinaus. Die wahre Kunst ist prophetisch. Sie zeigt uns das Wirkliche als ein Verklärtes, sei es in Worten, Tönen, Farben oder in Stein. Frieden kann nur der gewähren, der selbst den Frieden hat, den die Welt nicht hat; ›den Glauben aber kann man nicht einschnupfen‹ meinte Freiherr vom Stein.

Schriftstellerin – welch ein trauriges Wort! Ich meine, mein Goldkind müßte schamrot werden. In all deiner Unzulänglichkeit glüht ein Funken von echtem Feuer, und du willst dich Schriftstellerin nennen lassen? Willst so Brot verdienen, Handel treiben? Wie, mein Kind?«

»Ich will arbeiten!« sagte Sibylle. »Ich will das, was ich in mir fühle, wirklich vollenden. Zu Hause kann ich das nicht. Ich will fort von zu Hause.«

»Fort von zu Hause? Wie das aus deinem Munde klingt. In die Fremde? So ein weiches Herz wie du? Willst deine Seele ausbieten, deine Schmerzen, deine Seligkeit verkaufen? Ich weiß schon, was du willst, – du verschweigst mir – du verschweigst mir.«

Es war ja nicht ihr Geheimnis allein, was sie von zu Hause forttrieb. Sie durfte nicht sprechen, so gern sie ihres alten Freundes Hand in die ihrige genommen und gesagt hätte: Ach, was soll ich tun, wo soll ich Hilfe und Rat finden? Mich liebt der Mann, den ich von allen am höchsten schätze. Seine Frau hat er vergessen, seine Kinder. Er ist verwirrt. Er hat ausgesprochen, was er nie hätte aussprechen dürfen. Ich bin in Angst und Not hierher gekommen.

»Ich verschweige nicht – ich verschweige nicht,« gab sie aber zur Antwort.

»Diesmal bist du nicht wahr, mein Kind,« sagte der Pfarrer ruhig.

 

Am Abend saßen sie alle drei bei der Lampe.

»Es könnte sein,« sagte der Pfarrer, »daß heute noch unser guter Junge käme, – er könnte drüben bei Karl wohnen, weil unser Fremdenstübchen so gut besetzt ist.«

»Was habt ihr denn für einen Jungen?« fragte Sibylle.

»Ja, da wirst du dich wundern,« meinte die Pfarrerin. »Wir haben jetzt zwei Kinder, dich und ihn. Du kennst ihn sogar. Sag's nicht, wer's ist,« wendete sie sich lebhaft an ihren Pfarrer, »sie wird schon sehen.«

Und sie sah. Der Pfarrer las eine Parabel vor, die er gedichtet hatte, und sagte: »Ein wenig Pfeffer in diese Welt streuen, ist hin und wieder ganz gut und braucht es.«

Da tat sich die Tür auf und Ottomar trat ein – Ottomar Rauchfuß.

»Ottomar!« rief Sibylle. Es war ihr Herzensfreund, Lillys Bruder.

»Isebies!«

In diesem einfachen Aussprechen der Namen lag alles, was sie miteinander erlebt hatten: die schöne Kindheit, die starke Luft des Ettersberges, ihre Zusammengehörigkeit, eine ganze Erinnerungswelt.

Beide schauten sich einen Augenblick voll Verwunderung an.

Sie sah nur seine Augen. Das waren die braunen, ernsten, uferlosen Augen, in die sie als Kind so gern hineingeschaut hatte – wie in eine ruhigere Welt.

Er schien noch gewachsen zu sein, die Gestalt war kräftig, schlank.

Er sah auch auf Sibylle so wie einst, als wollte er wie damals sagen, wenn er ihr nicht so recht traute: Sieh mir in die Augen; und wenn sie ihn mit weit offenen Augen dann angesehen, war die Sache für ihn erledigt. So auch jetzt. Es war für ihn die Isebies, seine und seiner Schwester gute Isebies. Er gab ihr die Hand wie sonst, und es war, als lägen keine Jahre zwischen der letzten und dieser Begrüßung.

»Hast du damals meinen Brief bekommen?«

»Den letzten –,« sagte Isebies, »auf den ich nicht wieder schreiben durfte?«

»Ja, – den,« sagte er.

Er begrüßte den Pfarrer und die Pfarrerin herzlich und wurde von ihnen so herzlich aufgenommen wie Isebies heut morgen.

»Was sollen wir nun tun?« fragte Ottomar. »Sibylle hatte ihren Eltern versprechen müssen, den Verkehr mit allem, was Rauchfuß heißt, aufzugeben. Die Ursache ist Ihnen bekannt.«

»I bewahre,« sagte die Pfarrerin, »das haben die so nicht gemeint. – Nun ist ja alles gut und friedlich. Dich lassen wir jetzt nicht von uns fort, unsern liebsten Freund, unsern guten Jungen, da laß mich nur an die Eigenbrodts schreiben. Das war damals!«

Der Pfarrer war nachdenklich geworden.

Ottomar stand wie jemand, der entschlossen ist zu gehen.

»Nein,« sagte der Pfarrer, »du bleibst. Ich nehme die Verantwortung auf mich. Ich stimme allerdings nicht mit meiner Frau so ohne weiteres überein. Frauen nehmen solche Dinge auf die leichte Schulter. Aber in diesem Falle ist es auch meine Meinung, daß du bleibst. – Es ist eine Fügung Gottes, daß wir uns fanden, wie die, daß wir Isebies Sibylle fanden. Ich halte es für gut, daß ihr einander einmal wieder sprecht. Unser Kind braucht Rat und Hilfe. Vielleicht kannst du mit uns das Rechte für sie finden. Ich sollte heute noch an Eigenbrodts schreiben. Bleiben sie bei ihrem Entschluß, was ich durchaus nicht glaube, so …«

Der Pfarrer hielt inne, als traue er selbst seiner Folgerung nicht ganz.

»In Gottes Namen,« sagte er dann. »Diese Verantwortung nehme ich einfach auf mich. Jetzt setz' dich, Ottomar. Hätte ich es vordem gewußt, wie die Dinge stehen, so hätte ich dich gebeten, deinen Besuch aufzuschieben; – aber so … Es ist ja kaum möglich, da du zu uns gehörst und bald noch enger zu uns gehören wirst.«

»Da weißt du auch wohl gar nicht, daß Ottomar Rauchfuß, wenn er sein Examen nächstens hinter sich hat, aller Wahrscheinlichkeit nach hier neben meinem Manne Hilfsprediger werden wird?« fragte die Frau Pfarrerin.

»Nein.« – Sibylle schaute Ottomar groß an. »Theolog bist du geworden?«

»Staunt dich das so?«

»Ein wenig bin auch ich mit daran schuld,« sagte der Pfarrer. »Ich möchte gerad' in unserer Zeit die Besten zu uns herüberholen. Das heißt zugleich die Redlichsten und die Tapfersten.«

»In Tapferkeit und Redlichkeit,« antwortete Ottomar lächelnd, »sollen Sie sich hoffentlich nicht getäuscht haben.«

Sibylle dachte: Komisch, daß ich die Pfarrer früher gar nicht leiden konnte. Und nun sitze ich mitten unter ihnen, und der liebste Junge gehört zu ihnen.

Sie hatte oft darüber nachgedacht, was Ottomar wohl geworden wäre. In keinem Beruf hatte sie sich ihn vorstellen können. – Ja, wirklich, sie konnte ihn sich jetzt ganz gut als Pfarrer denken; aber nicht in der Stadt, – nur unter Bauern in einem stillen Dorf, wie den guten Pfarrer Schönwetter hier.

»Und Lilly?« fragte sie – und fand sich schuldig, daß sie nichts von ihr wußte.

»Lilly?« antwortete Ottomar gedankenvoll. »Es ist dieselbe Lilly, die wir kannten, der man die Hände unter die Füße breiten möchte. Entsinnst du dich genau, Isebies, wie sie aussah?«

»Ja,« sagte diese versunken in Erinnerung.

»Es legt ihr niemand die Hände unter die Füße.«

Er griff in seine Brusttasche und zog ein Taschenbuch hervor, entnahm ihm ein Bildchen und reichte es Isebies.

»Lilly!« rief sie, und Tränen schimmerten in ihren Augen. »Lilly mit zwei Kindern. Das ist das älteste,« sagte sie, »das, – für das ich leben und arbeiten wollte. Wenn man dem einen wohltut, – tut man dem andern weh. – Ihr war ich treu von ganzer Seele und durfte es nicht sein. Sagt mir, wie findet man sich in dieser Welt zurecht? Es ist nicht so einfach. – Das andere Kindchen ist wohl etwa zwei Jahre. Und was tragen sie für Bündelchen auf dem Rücken und Lilly auch?«

»Rucksäckchen,« sagte Ottomar. »Sie wandern viel. Du wirst alles erfahren.«

»Wie zart und schön sieht Lilly aus. Ist sie glücklich?« fragte Isebies zaghaft.

»Sie glaubt es zu sein.«

»Wieso glaubt sie es nur?«

»Es ist viel, wenn man es zu sein glaubt. Nur möge der Glaube ihr erhalten bleiben,« antwortete Ottomar ernst.

»Ist er nicht gut zu ihr? Liebt er sie nicht, wie er sie lieben müßte?«

»Er liebt sich selbst. Sie liebt ihn auch, – und das läßt er sich gefallen. Wenn es so bleibt, wie's jetzt ist, mag's sein. Wir werden's erleben.«

»Wo wohnen sie?«

Sie bekam zur Antwort: »Er ist Schriftsteller, braucht Anregung, ist nicht fürs Familienleben geschaffen, und so hat Lilly eigentlich kein Heim, lebt bald da, bald dort mit den Kindern und betet ihn aus der Entfernung an. Sie ist so ziemlich vogelfrei. Er nennt sie sein wanderndes Frauchen. – Entsinnst du dich noch, wie sie sagte: Ich kann nur sein, wenn mich jemand, der mich liebt, an der Hand hält. Von da an wußte ich, daß ihr ein schweres Los bestimmt war, denn was uns am schwersten fällt, das müssen wir erleben.«

»Wie kommst du darauf?« fragte Sibylle erstaunt und dachte an die Legende, die sie ihrem Vater geschenkt hatte.

»Wie ich darauf komme? Weil ich die Augen offen habe.«

»Ich hab' dasselbe gedacht,« sagte Sibylle befangen.

»Das ist natürlich,« meinte er, »denn schon zu jener Zeit wußten wir davon. Der Dorn, den du der Alten aus dem Fuß zogst und zwischen den Lippen hieltest! Von da an ist der Gedanke wohl in dir und mir gewachsen. Er ist auch einfach genug, so daß jeder eigentlich darauf kommen muß.«

»Isebies aber,« sagte der Pfarrer, »kann diesen Gedanken wohl aussprechen oder niederschreiben, aber schwer wird sie danach handeln. Sie tut, was ihr gefällt.«

»Sie kann auch tun, was ihr schwer zu tun wird,« sagte Ottomar. »Leicht war es ihr nicht, Lilly und mich aus ihrem Leben zu streichen, nichts mehr von uns zu hören und zu sehen. Ich fürchtete fast, daß sie dennoch an mich oder Lilly schreiben würde. Sie tat es aber nicht.«

Das war der alte, liebe, ernste Ottomar, der so sprach.

Sibylle, wie in einem Traum befangen, war wieder das glückliche, verträumte Kind, das so gern nach Ottomars einfachen Worten und einfachen Taten handeln wollte und es so oft nicht konnte.

Ottomar war ihr das Maß gewesen, das sie an Gutes und Böses legte. Wenn er sie gelobt hatte, welch ein Frieden des Herzens, und wenn er tadelte, welche Verzweiflung! Sie hatte als Kind oft gedacht, er steht Gott näher als andere Menschen.

Ja, es war ganz recht, daß er Pfarrer wurde. Dann konnte er mit kummervollen Leuten reden, mit Leuten, denen er zum besten zusprach. Denn mit Gebildeten um nichtige Dinge zu plaudern, war er zu gut.

Sonderbar, daß Alexander Dohrn ihm darin glich. Wie weh tat es Sibylle jedesmal, wenn sie ihn so gründlich mißverstanden sah. Alexander Dohrn aber war unendlich schwerer zu verstehen als Ottomar. Ottomar war von jeher der einfache Mensch gewesen, dessen ruhige Seele leicht und stark über die Erde ging, und Alexander Dohrn war ein Sucher, ein Grübler, der nicht ruhte, bis er das Wesentlichste erfaßt hatte. Welche Weite des Denkens lag in ihm, und dann wieder war in ihm etwas Kindliches, das Ottomar fehlte. Oder fehlte es auch ihm nicht?

Ein wenig glichen sie einander, ganz gut, daß er Pfarrer wurde.

Isebies-Sibylle fühlte sich in Ottomars Nähe ruhiger. Es war ihr, als könne nichts Schweres und Beunruhigendes geschehen, seit sie ihm wieder begegnet war, und er sprach mit ihr genau so wie vor fünf Jahren, als hätten sie sich jeden Tag in dieser Zeit gesehen und gesprochen. Sie gehörten wieder wie einst ganz einfach zueinander.

Abends brachten die Pfarrersleute und Sibylle Ottomar zu Onkel Karl. Der Mond schien, die Bäume standen im monddurchleuchteten Herbstnebel, so zart und licht gewoben wie hingehaucht. Es war solch eine Herrlichkeit in der Natur, daß aller Herzen ergriffen waren.

Als Ottomar Sibylle die Hand zum Abschied gab, sagte er: »Es kann nichts Böses dabei sein, daß wir uns wiedersehen. Schlaf sanft, Isebies.«

 

Am Sonntag morgen war heilige Pfarrhausstimmung. Der Pfarrer ging auf und nieder auf dem geraden Weg zwischen den Malven und Sonnenblumen, die Herbstnebel lagen noch wie kühle Schleier über Wald und Wiesen.

Niemand redete den würdigen Herrn an. Niemand störte ihn. Die Pfarrerin hatte das liebe mittuende Schweigen, die Magd ging im Hause in Strümpfen.

Es war ein so schönes, gutes Schweigen. Und der vortreffliche Kaffee und der festliche Sonntagskuchen. Heiligkeit und Erdenbehagen waren hier verbunden.

Im Wohnzimmer lagen der Talar und die schwarze Kappe, die der Pfarrer zum Kirchgang aufsetzte, und die weißen Bäffchen, die Sibylle nicht leiden konnte, die ihr den ganzen Pfarrer verdarben. Sie legte sie auch heute unter die Kappe.

»Das war aber eine Überraschung gestern abend,« sagte die Pfarrerin beim Kaffee. »Ihr seid wie Geschwister miteinander. Das hat uns Ottomar nie erzählt, daß ihr euch so nahe steht. Er sagte nur einmal, als wir zufällig von dir sprachen: ›Die Isebies Eigenbrodt kenne ich auch.‹«

»Ja, wir kennen uns gut,« sagte Sibylle leise. »Es wäre besser gewesen, meine Eltern hätten den Verkehr mit Lilly und Ottomar nicht verboten.«

»Ich kann es mir aber vorstellen,« meinte die Pfarrerin; »die Geschichte mit seiner Schwester hat Rauchfußens damals unmöglich gemacht.«

»Aber gut ist es doch nicht, dies: Haut ihn, er hat keinen Freund,« antwortete Sibylle.

Ihre Antwort ließ den ganzen Kampf ihrer Seele fühlen, den sie durchlitten hatte. Augen und Mund bekamen etwas Trotziges.

»Still,« sagte die Pfarrerin. »Das ist kein Gespräch für heut morgen. Trink' deinen Kaffee und iß den Kuchen. Ich gehe auch zum Tisch des Herrn. Setz' dich dann auch in die Laube und laß dich von Gottes Sonne bescheinen, das macht gut und still. Ich ruf' dich, wenn ich gehe. Ottomar geht auch mit.«

 

So hatte Isebies wieder mit dem Freund ihrer Kindheit das Abendmahl genommen. Der Pfarrer hatte es seiner Frau und den beiden guten, jungen Menschen, die ihm ans Herz gewachsen waren, nach den anderen Gemeindegliedern gereicht.

Die geheimnisvollen Worte hatten wieder wie ein dunkles Meer gerauscht. Mystische Töne und Kräfte den Raum erfüllt, die Herzen berührt. Der Trost aller Getrösteten, die Not aller Sterbenden, die Ahnung aller Erwachenden, an denen die mächtigen Worte vorübergerauscht, waren auferstanden und berührten die erschauernden Seelen.

Welch einen Friedenstag lebten sie miteinander.

Nach dieser heiligen Stunde fuhr Sibylle mit dem Pfarrer und Ottomar in eine andere Gemeinde des Pfarrers, in der er ein Begräbnis halten mußte.

Ein altes Bäuerchen war gestorben, lag friedlich mit gefalteten Händen in seinem Sarg in der wohlaufgeräumten armen Stube. Die alte Frau saß mit gefalteten Händen, so friedlich wie der Tote selbst, am Sarg. Im ganzen Haus duftete es nach Kaffee, den die Frau für die Trauergäste hergerichtet hatte. Jetzt war alle Arbeit zu Ende, und die Stunde vor dem Begräbnis war sie bei ihrem alten Mann, gerade so schweigsam, wie sie so manchen Sommerabend vor der Türe am Hause miteinander gesessen hatten.

Der Pfarrer sprach mit der Alten. Sie erzählte ihm ruhig von den letzten Stunden des Heimgegangenen. »Da hat'r zum Sohn gesagt: ›Fahr' heit nich auf Weimer. Ich sterb' heit. Gib mer 'n Kaffee, die Mutter soll en guten machen. Ich leg' mich ruhig nieder. Fahr' aber heit doch lieber nich auf Weimer.‹ Nach ein paar Stunden hat er noch e mal e Schälchen gewollt, hat aber nur e paar Schlickchen getan; – dann hat er mer die Hand gegeben un gesagt: ›Mir ham gut miteenander gehaust, das muß ich sagen‹ –

Un nich lang darauf is er eingeschlafen, ganz stillechen.«

»Ja,« sagte der Pfarrer, »und ihr habt auch gut miteinander gehaust.«

»Gelle ja,« sagte die Alte. »Ich bin ganz zufrieden gewesen. Die gute Stunde selber war er immer von jung auf. Un wenn man so miteenander alt geworden is.«

Am Grabe sprach der gute Pfarrer schlichte Worte, die so ganz zum Leben der alten Eheleute paßten. Den jungen Leuten legte er ans Herz, so still und brav zu sein wie das alte Paar, das jetzt vom Tod getrennt worden war; den Alten sprach er vom Tod als von einem guten Freund, einem heiligen Führer, den niemand zu fürchten brauchte, den sie aber vor Augen haben sollten, denn er sei der Führer zum Guten. Er lasse das Erdenleben weniger schwer erscheinen, denn er erlöse davon. Sie sollten sich ihm ruhig anvertrauen. Er sei der beste, wahre Freund, der es wirklich gut meine, der zu ihnen sage: Kinder, seid vernünftig, hängt eure Herzen nicht so fest an diese Erde. Sie ist ja nicht eure Heimat! Ich führ' euch erst in eure Heimat. Schaut selber her: Gibt's hier eine Freude ohne Leid? Gibt's hier irgend etwas ohne Mühe und Kampf? Das bißchen Essen, wie müßt ihr euch dafür abarbeiten und abrackern. Nicht einmal ist es euch leicht gemacht, an Gott unsern Herrn zu glauben. In Dunkel ist alles gehüllt. Und wenn ich, der Tod, nicht wäre mit meiner sichern Stunde, da spräche kein Ding und kein Mund die Wahrheit zu euch: Ich aber, der Tod, ich spreche die Wahrheit. Wenn ihr so hin und wieder an mich denkt, denn oft tut ihr's leider nicht, weil ihr mich törichterweise fürchtet, da vergesse ich nie zu sagen: Nehmt euch in Obacht, meine Stunde kommt. Macht euer Bündel nicht so schwer. Laßt den andern auch was. Nicht so rappschen! Ihr könnt ja nichts mitnehmen als den Frieden eurer Seele und die Güte eures Herzens. –

So sprach der gute Pfarrer Schönwetter, und die Leute verstanden ihn.

Sibylle nahm dann beim Lehrer dem Pfarrer den Talar ab, packte ihn in das leinene Tuch, wie sie es sonst immer während ihrer Konfirmationszeit getan hatte, und sie fuhren alle drei wieder heim im Kütschchen.

»Siehst du,« sagte der Pfarrer, »so treiben wir's immer noch und werden's nicht müde. Alle Weisheit dieser Welt, mein liebes Kind, ist ganz schön; aber so von Herzen zu Herzen, so ganz ureinfach – und ich bin bei den Weisen dieser Welt gar oft zu Gaste gewesen –, so ganz ureinfach darf der Herr Pfarrer Schönwetter sein, dann ist er sicher, verstanden zu werden. Wie heißt das alte Ding: Wir wollen weniger erheben, doch desto mehr gelesen sein. 's ist übrigens ganz egal, der eine macht's so, der andre so, – wenn's nur aus lebendiger Seele kommt.«

Die Pfarrerin hatte in der Laube gedeckt, ein Strauß stand auf dem Tisch, der Garten lag im hellen Sonnenglanz, und alle waren in froher Stimmung.

Auch Sibylle schien wie aus einem schweren Traum erwacht. Der Freund ihrer Kindheit an ihrer Seite! Sie fühlte manchmal seine Blicke auf sich ruhen, als wollten sie ihr bis in die Seele dringen. Sie fühlte, wie die Pfarrersleute ihn liebten und hochhielten, und er hatte sein altes schönes, freies Knabenlachen noch.

Ach, wie gut das alles war!

Am Nachmittag ging sie mit Ottomar durch den sonnendurchschienenen gold- und rotleuchtenden Buchenwald.

»So können wir uns einbilden, Ottomar, wir gingen im Ettersberger Forst Jahre zurück.«

»Können wir noch genau so miteinander reden?« fragte er ganz einfach im Ausdruck.

»Ja,« sagte Sibylle, »genau so, – daß du Pfarrer werden willst, hat mich zuerst doch erstaunt und fast erschreckt.«

»Weshalb soll ich es nicht werden? Ich bin ein einfacher Mensch, das fühle ich so recht, wenn ich unter andern bin. Die komplizierten Dinge interessieren mich nicht. Ich bin auch zu lebendig. Unter Büchern allein könnte ich mein Leben nicht verbringen, und die beißende Klugheit der Gelehrten stößt mich ab. Ich sehe das Leben so groß und den Tod so groß – und finde, daß unser Herz ein so wundervolles Ding ist, daß ich mich darauf freue, zu Sterbenden zu gehen und mit ihnen zu sprechen. Es wird so viel dummes Zeug auf Erden geredet und getan, auch von den sogenannten Gelehrten.

Mit Leidenden und denen, die dem Tode nahe sind, läßt sich's reden. Sie sind die einzigen, die hören, – die wirklich hören.

Von all den Menschen, die in den letzten Jahren mit mir sprachen, waren es nur zwei, die nicht nur mit dem Maule wackelten: der eine unser Pfarrer Schönwetter, dem ich mich auch fürs erste verschrieben habe – fürs erste –; die Einfachheit, in die er sich zurückgezogen hat wie in ein Refugium, hat mir's angetan; und noch ein andrer, ein Mensch, den ich einmal sah und nicht wieder sehen wollte, – um, sagen wir, den Eindruck zu behalten. Und dazu war's einer aus Weimar!

Ich saß an einem Herbsttag an der Saale in einem kleinen Gasthaus und hatte meinen Dackel mit und stand mich nicht besonders mit dem Dackel; es war nicht der Hund, der zu mir gehörte, denn auch Mensch und Hund müssen einander finden wie Freund und Freund. Es war so einer, du weißt, wie meine fidele Stiefmutter solche nannte: ›Kommst her oder net, und da kam er her oder net.‹ Nach solch einem ist's nicht besonders ehrenvoll zu rufen, und man läßt's bald sein.

Das tat ich auch. Ich setzte mich wieder an meinen Platz und schaute in die helle Saale.

›Sei nachsichtig, und du wirst bald das Nachsehn haben,‹ sagte da jemand hinter mir mit der wohlklingendsten Stimme, die ich je hörte, einer vollkommenen, ganz harmonischen Stimme.

Ich schaute mich überrascht um, da saß ein rassiger, dunkelhaariger, fast bartloser Mensch, vornehm im Äußern. Ein Ränzchen aus hellem Segeltuch lag auf dem Tisch.

Er hatte mich beobachtet und lächelte, als ich mich umdrehte.

In seiner Bemerkung lag allerlei, was mich überraschte. Ich hatte freilich das Nachsehn, aber daß dies aus der vielgerühmten Tugend der Nachsichtigkeit sich sogleich ergeben sollte! Natürlich! Er hatte recht. Ich dachte: ›Dumm ist er nicht!‹

Dann dachte ich: ›Nicht jeder verstände es, einen wildfremden Menschen so sicher und liebenswürdig dabei, ohne jede Grimasse oder dumme Verlegenheitsangewohnheit mit einer feinen, sogar geistreichen Bemerkung anzureden.‹

Das ist für manche schwerer und unmöglicher als einen neuen Weltteil entdecken.

Er war damit beschäftigt, eine kleine Spirituslampe anzuzünden und kochte sich in einem silbernen Kesselchen Kakao. Es duftete um ihn her, und die Flamme flackerte. Er tat alles sehr intelligent und geschickt und trug unter seiner Reisemütze eine Art Kappe aus roher Seide. Wahrscheinlich war er empfindlich.«

Sibylle hörte ihrem lieben Freund mit großen Augen zu; das konnte nur Alexander Dohrn sein. Sie sagte aber kein Wort.

Ottomar erzählte ihr, wie sie sich dann miteinander weiter unterhalten hatten.

»Wir sprachen über seine Bemerkung. ›Vergessen Sie das nicht, solange Sie etwas erreichen wollen,‹ sagte er. ›Wir selbst haben es uns so ins Herz gelegt, andere zu vernichten, um uns zu erhalten. Zu solchem Ziel ist jede Frechheit, jede List und Gewalt, jedes Unrecht erlaubt und geboten und belohnt sich auf der Stelle. Jede Unentschlossenheit, jede Abschwächung des straffen, zielbewußten Willens, etwas aufkeimendes Mitleid, die leiseste bessere Regung rächt sich unmittelbar: siehe Dackel, der Fang ist vereitelt. Darum Verdruß, wenn die Beute entgeht, und Herzensfreude, wenn sie röchelnd am Boden liegt. – Kein andrer Ausweg, um zu leben: – erbarmungslos zu morden.

Sehr bald aber wird der Raubende den Unterschied gewahr zwischen dem leicht und dem schwer zu erlangenden Fraß, zwischen der sichern und der gefährlichen Jagd, zwischen der wehrlosen und der wehrhaften Beute, und er lobt das eine und schilt das andre, betrachtet das eine mit Haß, das andre mit Liebe, – nur sich im Auge. Was sich fressen läßt, gefällt ihm, und er nennt es gut; was sich nicht willig hergibt, was widersteht, was gar ihn selbst angreift, mißfällt ihm, und er nennt es schlecht und böse! Fressend hält er das Tun für löblich und recht; doch selbst gefressen für unrecht und böse.‹

Sehr einfach und sehr ungewöhnlich, dachte ich. So ein eigentümlicher Wandersmann. Er sprach so lebendig, als hättre ich ihn nur in seinen Gedanken unterbrochen. Er sprach auch nicht gackernd und nicht äh – äh – zwischen jeden paar Worten. Ein schöner Kerl mit einer schönen Sprache und einer Glut des Denkens.

Wenn ich dir so davon erzähle, kannst du dir doch keine Vorstellung davon machen.

Er gab ein großes Bild, wie das Rauben und Morden allmählich in fest gehandhabte und streng eingehaltene Ordnung gebracht wird und alle Welt sich freudig dieser Ordnung fügt, und wie jedermann, was er an sich selbst als grauenvoll empfindet, dem Nächsten gelassen antut.

Er sagte: ›Kaltblütig und mit Ruhe wird gemordet und in sanften Formen gefressen.‹

Und wundervoll, wie aus diesem grauenvollen Bilde Selbstlosigkeit sich hob, das Wunder aller Wunder, Quell und Ursprung aller Gottheit.

Was der Kakaomensch sprach, hatte etwas Hinreißendes, war ein Kunstwerk.

Glücklicher! dachte ich. Wie der sein Bestes achtlos in den Wind streut, denn daß ich zufällig kein Weidenstrunk an der Saale war und kein Schmierfinke aus dem alten Rattennest, schien ihm ganz egal.

Er blies an seinem Kakaomaschinchen herum, und sein Gebräu duftete ganz geheimnisvoll und köstlich.

Ich wollte ihn bitten: Nimm mich mit, wandre ein Stück mit mir, ich bin kein Esel. Aber mir fehlte der Mut, der Mann hatte etwas verblüffend Vornehmes, Abwehrendes, trotz alledem, daß er mich so zu packen gekriegt hatte wie einen Frosch.«

»Du sagst auch: wie einen Frosch!« rief Sibylle. »Das sage ich immer, er fängt sich die Leute wie Frösche.«

»Kennst du ihn?« fragte Ottomar erstaunt.

»Alexander Dohrn.«

»Er hat mich eingeladen zu kommen.«

»Und du kamst nicht!« Sibylle seufzte auf. »Du bist Gottes Weg nicht gegangen. Du hast's versäumt. – Du hättest kommen sollen. Daß du ihm begegnen mußtest!«

»Ja,« sagte Ottomar, »es war eine Begegnung, die mich ergriffen hat, – dieser schöne vornehme Mensch mit seiner Seele, die schwer an Gedanken trug. Ob er eine Form finden wird? – Daß du ihn kennst! Der Pfarrer erzählte mir, daß du Erfolg hast, daß du schreibst. Mich hat's ganz sonderbar berührt, du, Isebies!

Tu's nur recht anständig und ehrlich, verstehst du, ganz urehrlich, so – wie ich den Eindruck hatte – wie der Alexander Dohrn denkt. Dann wird's auch was!

Und denke nicht, daß du berühmt werden willst. Tu dafür nur ja nichts! – Wir wollen eigentlich dasselbe. Ich weiß, du hast ein Herz so tief wie ein Brunnen. – Das sagtest du sonst immer. – Das klagtest du sonst. – Du willst auch etwas vom Leiderlösen, das du in dir fühlst und in den andern vermutest. Gell?«

»Vielleicht.«

»Da halte dich aber nur rein vom Pack und werde nicht eitel. Ich gehe in ein Dorf, wahrscheinlich komme ich hierher. Ich will einfach mit den Erdenleuten zu tun haben, und wenn ich werde wie unser Pfarrer, ist's gut. Etwa ein eitler Herr Pastor in der Stadt, davor behüte mich Gott, oder ein gelehrter Pfarrer – Jawohl! – Mir ist jede Form der Religion recht. Jedes Symbol ist gut. Wir, in der Welt der Bilder und Worte!«

»Ottomar,« sagte Isebies, »du gehst einen guten Weg. Du gehst so unentwegt wie damals schon. Früh nach sechs mit der Laterne den Ettersberg hinab zur Schule.«

»Das war sehr gut,« sagte er. »So lernt man am besten die Wege dieser Welt gehn. So geh' ich leicht auch über schwere Dinge. Man soll ja nicht glauben, daß die schweren Dinge dieser Erde etwa schwerer sind, als wenn ein müder Junge winters mitten in der Nacht aufsteht, sein Laternchen anzündet und jeden Morgen durch Schnee und Kälte und Wind und scheußlichen Regen in die ekelhafte Schule wandert. Ich wollte, du und Lilly, ihr hättet das auch tun müssen.

Ich wollte auch, Isebies, ich wüßte über Lilly besser Bescheid. ›Sein wanderndes Frauchen!‹ – damit bin ich nicht recht einverstanden. – Sag' einmal, wen hast du denn jetzt statt uns?«

»Komische Frage, statt euch hab' ich niemanden.«

»Ich meine, was hast du für Freunde?«

Über Sibylles Gesicht zog eine Wolke. »Haben die Pfarrers dir davon erzählt?«

»Nein. Nichts.«

»Ich werde dir einmal davon sprechen, Ottomar. Jetzt nicht.«

Ottomar faßte Sibylles Hand. »Immer bin ich für dich da. Immer. Vergiß das nicht, keinen Augenblick vergiß das. – Tu nichts, von dem du denken müßtest, ich fände es nicht gut.«

Sibylle lächelte wie im Traum.

»Das klingt unverschämt, nicht wahr? Aber es macht nichts. Weißt du noch? ›Grüne Laus!‹ – So nanntest du mich sonst, wenn ich so was sagte; aber Scherz beiseite, ich kenne dich, wie dich niemand sonst kennt. Wenigstens bilde ich mir's ein.

Wir drei hätten beieinander bleiben sollen!« sagte er voll Wehmut. »Es war eine Zersplitterung, als die Trennung kam.«

»Ja,« meinte Isebies lebendig, und Tränen traten ihr in die Augen. »Wir waren wirklich eine Macht da oben, – keine Langeweile konnte herein, keine Menschen. Ich glaube, wir wären einander ewig genug gewesen! Wir hätten zuletzt nur irgendein Gemurmel und Gebrumm wie die Tiere gehabt und hätten uns bis ins Herz hinein verstanden. Ach, daß es dir auch so ergangen ist, daß du die Sehnsucht nach uns dreien nie verlorst! Ich nie! Und werd's auch nie! Siehst du, wie wir miteinander reden können, sauer und faul und alles, – und wenn wir über Regenschirme sprachen, so war's schön! – Und niemand konnte es so wie wir! Du und Lilly, ihr konntet mir ins Herz sehn. Ich wäre ein besserer, ruhigerer Mensch geworden.«

»Lilly aber wollte ihren Götzendienst,« sagte Ottomar schroff. »Wäre die auch im Winter um sechs Uhr hinunter in die Schule gegangen, da hätte sie wohl eine Weile ruhig ertragen können, daß sie niemand in Liebe an der Hand hielt. Wer hält sie jetzt? Dumme Suse! Ich weiß es nicht, Isebies?!«

So plauderten sie wie einst, und beider Herzen schlugen.

»Mir paßt's doch nicht, Isebies, daß wir hier so miteinander hingehen, und wenn drei Pastor Schönwetter es in Ordnung finden. Keinen Schritt vom Weg. Ich liebe das Verstohlene nicht.«

Ach, und sie kannte das Verstohlene. Dunkelrot wurde sie und senkte die Augen.

»Ich fahre heute abend zurück, Isebies. – Solltest du mich in irgendeiner Sache wirklich brauchen, dann bin ich bei dir. Aber nur, um miteinander zu plaudern, dürfen wir uns nicht sehen. Komm, wir wollen jetzt heimgehen.«

Inzwischen war ein Expreßbrief an Sibylle abgegeben worden, ein Brief, der mit dem Boten fünfundsiebzig Pfennig kostete. Die Frau Pfarrerin hielt ihn ganz erregt in der Hand, als ihre beiden Gäste eintraten. »Herr, du meine Güte,« sagte sie, »was ist denn das? So einen teuren Brief hab' ich mein Lebtag nicht bekommen. Es wird doch niemanden etwas geschehen sein?«

Sibylle nahm den dreieckigen Brief, der ganz von Marken überdeckt war, auch auf der Rückseite. »Nein,« meinte sie verlegen und erschreckt, »das ist gar nichts, – der ist von Frau Dohrn.«

Die Pfarrerin schüttelte den Kopf. »Das ist das erste, was ich von deiner Frau Dohrn erfahre. Einen so zu erschrecken! Und wozu das viele Geld? Ist's denn gar so nötig?«

Sibylle hielt den Brief in der zitternden Hand, ohne ihn zu öffnen.

Die Pfarrerin meinte: »Na, wenn sie so viel Marken darauf geklebt hat, so mach' ihn doch wenigstens auf.«

Sie tat es. Über ihr Gesicht flog nervöse Röte. Sie fühlte sich beobachtet. Ottomar stand am Fenster, und sie empfand seinen Blick.

Da nahm sie sich zusammen und las.

 

»Isebies,« schrieb Frau Dohrn, »wenn je im Leben, müssen Sie jetzt bei uns sein.

Nur Sie wissen, wie es in uns aussieht, nur Sie können uns wieder eine Stunde Ruhe schaffen. Kommen Sie, nicht gezwungen! Kommen Sie freiwillig. – Kommen Sie, ehe es zu spät ist. – Das einzige ist, daß wir uns selbst und unsere Kraft wiederfinden. Da können nur Sie helfen. Ich erwarte Sie wie eine Rettung! – Was uns jetzt am notwendigsten ist, wer beurteilt das? Sie? Oder Ich?«

Frau Dohrn schrieb »Ich« in der Erregung mit großen Anfangsbuchstaben.

»Kommen Sie! Kommen Sie! Wie ist es möglich, daß Sie auch nur einen Augenblick zögern können? Kommen Sie, und Sie werden selbst Beruhigung finden.

Ich erwarte Sie nach diesen Zeilen auf jeden Fall, das ist die böseste Zeit, um einander fremd zu werden.

Elise.

Davonlaufen, liebe Isebies, – im Stich lassen! Wie heißt Ihr Spruch: Sei getreu bis in den Tod, und ich will dir die Krone des Lebens geben. Hören Sie das.

Elise.«

 

Isebies wagte kaum zu atmen, geschweige aufzublicken.

Während sie las, war es ihr wie Entsetzen durchs Herz gefahren: Weiß sie darum? Sagte er es ihr? Er kann nicht lügen! – Um Gottes willen aber doch – schweigen!

»Jetzt ist unser Kind aber nicht schlecht erschrocken,« meinte die Pfarrerin.

Sibylle faßte sich. »Ich habe es ja erzählt, daß meine Freunde in Sorge sind.«

Als die Pfarrerin aus dem Zimmer gegangen war, trat Ottomar auf Sibylle zu.

»Du hast Kummer und Aufregung, hast dich aus irgendeinem Grund hierher verkrochen? – Ich sage dir nur das eine: Rechne auf mich, – was es auch sei!«

Seine Stimme bebte, und Sibylle sah die mächtigen Augen ihres jungen Kameraden mit tiefer Güte auf sich gerichtet.

»Ja, du bist gut! Und deshalb liebten wir dich so sehr. Weißt du noch, die Isebiese, die dummen Isebiese! Wie oft nanntest du uns so. Ja, Ottomar, ich bin in Sorge. Nur dich werde ich fragen, – nur dich!«

So nahmen sie Abschied voneinander.

Isebies aber schrieb nachts an Frau Dohrn, aber der Brief kam ihr tot vor.

Am andern Morgen kam ein neuer Brief:

 

»Sie kennen Dohrns, heute ist jede Aussicht auf Ruhe abgeschnitten, jeder gute Gedanke und jede Hoffnung erstickt in seinem Keim. Keine Macht der Welt, die Gedanken zu bannen, – sie sind da, solange sie da sind! Vielleicht lange Qual. Heute haben wir es erfahren. Wir müssen wohl jede Hoffnung aufgeben, gut davon zu kommen. Wir wollen das Schicksal nehmen wie es ist. Aber – Sie müssen kommen. Sagt Ihnen Ihr Herz nicht, daß Sie jetzt hier sein sollten!

Telegraphieren Sie!

Wir werden heut nacht nicht schlafen; wir werden oben in der roten Stube auf und ab gehen. Es wird besser werden, wenn Sie erst da waren.

Elise.«

 

Unter dem Brief stand von Alexander Dohrn geschrieben: »Es wäre doch ein Glück, wenn wir jetzt beieinander sein könnten.«

Ottomar war nach Jena zurückgefahren. Sibylle saß in ihrem stillen Pfarrhausstübchen, halb angekleidet, und hielt den Brief in ihren Händen, verwirrt und ratlos, nach einer schlaflosen Nacht.

»In welchem Unheil stehe ich,« sagte sie wieder leise vor sich hin.

 

Am Abend des Tages kam noch ein Briefchen von Elise Dohrn: »Liebste Sibylle, Sie sind uns das Liebste, was es auf der Welt gibt. Nun denken Sie an uns. Vergessen Sie nicht, wie Sie geholfen haben, vergessen Sie nicht, daß Sie uns helfen müssen. Eher hätten Sie gehen müssen, – viel eher, – aber nicht jetzt! Ein hartes Wort, Isebies, – ein hartes Wort dem leichtsinnigen Herzen, – jetzt aber kommen Sie! Jetzt durchaus: Jetzt will ich es. – Jetzt muß es sein!

Elise.«

 

Gott im Himmel, dachte das Mädchen, was ist das!? Hat sie mich je gehen lassen? – War ich zudringlich? Hat sie mich nicht gerufen und gerufen! Von zu Hause fort gerufen! Von meiner Pflicht gerufen! Gegen mein Wollen gerufen? Gegen den Willen des Vaters gerufen! Sie, immer sie! Vergaß sie das? – Hat sie mich nicht in Angst und Not und Schuld gerufen, – gerufen und gerufen?

Das arme verwirrte Geschöpf starrte vor sich hin, heiße Tränen in den Augen. Das war der erste Peitschenhieb, der über ihre arme stolze Seele ging.

Da erhob sie sich, trocknete die Tränen und sagte: »Ich komme – ich komme! Ich werde dir sagen, wie unrecht du hast! – Nein – nein! Ich lasse mich nicht schlagen!«

Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

»Nein, ich muß kommen, ich muß sprechen! – Und ruft sie mich jetzt nicht wieder! In einem Atem: Ja und nein. Was soll das heißen?«

Sie ging hinunter zu der Pfarrerin und sagte ihr, daß sie auf einen Tag nach Weimar wollte, ob sie wiederkommen dürfe? – Ob sie nicht störe.

Ja, sie durfte. Sie durfte in die Welt des Friedens zurückkehren.

 

Sie wollte Frau Dohrn allein sprechen, wollte ihn nicht sehn. Sie wollte ihr sagen, daß sie Frieden brauche, – daß ihre Eltern Frieden brauchen, daß Dohrns Frieden brauchen, daß jeder sich selbst auf Erden genug sein muß, daß alle auch einsam sterben müssen, und daß wir trotz aller Nähe einsam im Leben sind.

So wählte sie eine Stunde, in der sie wußte, daß Frau Dohrn allein zu treffen war, eine Zeit, in der er sich meist in den Arbeitssälen aufhielt.

Isebies wurde in das rote Zimmer geführt, einen schönen Raum im alten Haus, der einen wundervollen Blick auf den Ettersberg hatte, über Tannen und Baumkronen hin, das Arbeitszimmer, in dem in letzter Zeit bis tief in die Nacht über alle Möglichkeiten beraten worden, in dem alles ins Auge gefaßt worden war. Große Verluste, die Möglichkeit auszuharren, Kämpfe mit dem Delegierten der Bank, Besprechungen mit dem Rechtsanwalt.

Beide Dohrns waren im Zimmer, trotzdem das Mädchen gesagt hatte, die gnädige Frau arbeite allein.

Er saß am Schreibtisch, wie ausruhend, und Frau Dohrn ging mit kleinen harten und doch etwas wiegenden Schritten im Zimmer auf und nieder.

Sibylle stand an der Türe des großen Raumes, ohne sofort bemerkt zu werden.

Sie sah Frau Dohrn, als sähe sie diese zum ersten Male; aber mit ahnungsvollem Wissen. Welche Zierlichkeit und Festigkeit der kleinen Figur. Welche Gebundenheit, – als ob sie eine geheime Waffe eisern festhielte. Die Arme an die Seiten gestreckt, die kleinen sehnigen Hände geballt, – und dieser Schritt –! Dieser merkwürdige Schritt, dramatisch ausdrucksvoll, als ginge sie einem Feind entgegen, und doch in den Bewegungen der Hüften etwas Unsicheres, fast Weichliches.

Er saß, die Hand müde aufgestützt, den Kopf darin geborgen. Nicht mehr Wollen lag in seiner Haltung, und doch auch etwas, was sich nicht ergibt.

Jetzt schaute Frau Dohrn auf. Ihr Blick war stahlhart. »Isebies!« sagte sie mit einer Betonung, die von dem Mädchen ganz Besitz ergriff.

Alexander Dohrn schaute mit einem langen Blick auf Sibylle.

Sibylle stand wortlos.

»Kommen Sie endlich,« rief er.

Er hatte gewiß, so warm und lebendig wie die Begrüßung klang, sie nicht begrüßen wollen. Aber der Ausdruck seiner Stimme überströmte seine äußere Haltung.

Frau Dohrn legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Mein Freund,« sagte sie, lächelte wie im Traum – und wendete sich flüsternd zu ihm.

»Setzen Sie sich, Isebies,« fuhr sie mit demselben sonderbaren, nicht zu deutenden Lächeln fort. »Herr Dohrn wird Ihnen sagen, – es ist mir lieber, er sagt es Ihnen.«

»Wir werden Isebies erschrecken. Weshalb jetzt?« Das sagte er.

»Und weshalb nicht jetzt?« fragte sie hart. »Ist es ein Unglück, Isebies ein wenig zu erschrecken?«

Er schwieg … Erhob sich dann, ließ sich auf das Sofa nieder, auf dem Sibylle saß und angstvoll schaute.

»Frau Dohrn ist ganz wunderbar, ganz unbegreiflich wunderbar –,« begann er unvermittelt – und schwieg wieder.

»Sag' es einfach,« unterbrach sie ihn, und auf ihren Zügen stand noch immer ein kaum hingehauchtes Lächeln, das Sibylle ganz beklommen machte. Es war so ein fremdes, unwirkliches Lächeln.

»Isebies,« begann Alexander Dohrn. Er sprach schwer und tastend. »Frau Dohrn will, daß wir beide glücklich werden. Frau Dohrn will sich von mir scheiden lassen – unseretwegen.«

Sibylle sank ein wenig zurück, als brauche sie einen Halt. Ihre Augen schauten verwirrt, ihre Lippen waren aufeinander gepreßt. Sie hätte nicht sprechen gekonnt, sich nicht bewegen können. Eine Erstarrung war über sie gekommen.

»Ich habe dir gesagt, daß es zu viel für sie ist,« sagte Alexander Dohrn kurz und erregt, »– – zu viel.«

»Zu viel – – zu viel –,« antwortete Frau Dohrn gedehnt, wie abwesend, als wiederhole sie das Wort unbewußt.

»Ja – ja, – Isebies, so ist's.«

Sibylle erhob sich, stand, als suche sie nach einem Halt, und ging nach der Tür, ohne ein Wort reden zu können.

»So nicht, so nicht fortgehen,« sagte Alexander Dohrn in möglichster Ruhe.

Sibylle aber ging durch den weiten Raum. Er schien ihr endlos, und was sie dachte, war ebenso endlos und stürzte auf sie ein. War Frau Dohrn eine Heilige? – Um Gottes willen – eine Heilige? – Liebte sie ihren Mann nicht! Wenn diese nicht? Wer dann? – Ganz unzertrennlich waren sie ihr erschienen. – Eins! – Und nun? Welches Entsetzen! Welcher Unsinn! Welche Sünde!

Mit einem furchtbaren Schreck sah sie die Gesichter ihrer nächsten Menschen vor sich. Vater und Mutter und die liebe Frau, die Schwestern, die Pfarrersleute und Ottomar. – Alle, alle.

Ja, – und etwas fühlte sie noch, was sie mehr als alles entsetzte: Sie fühlte sich Alexander Dohrn nahe, unerhört nahe! Nie hatte sie ähnlich empfunden. Sie fühlte seinen Kuß im Geiste wieder auf ihren Lippen. Was sie sich an jenem Abend nicht zu denken gewagt hatte, hob jetzt das Haupt!

Um Gottes Barmherzigkeit willen! In welchem Unheil stand sie!

Immer wieder bildeten sich ihr die Worte, als drückten sie alles aus. Nahe stand er ihr, nahe! Das hatte sie gar nicht gewußt.

Eine innere Empörung fühlte sie gegen die Frau. Wie durfte sie es wagen, hier Schicksal zu spielen, auszusprechen, – zu gestalten? Um Gottes willen, wußte sie denn, was sie getan hatte? Wie konnte sie? – Und wieder dachte Sibylle: Wie durfte sie!

Und so kam sie an die Türe. Aber Frau Dohrn folgte ihr und sagte, als Sibylle die ersten Stufen hinunterging: »Auch ich hätte kein Wort gefunden, wenn ich Sie wäre. – Gehen Sie jetzt; aber kommen Sie heute noch. Es ist durchaus notwendig.«

 

So saß Sibylle eine Stunde danach mit den Ihrigen daheim zu Tische – und wußte sich zu beherrschen. Ja, es war gar nicht so übermäßig schwer, sich zu beherrschen, denn an das, was sie soeben erfahren hatte, glaubte sie nicht.

Es stand außerhalb aller Möglichkeit, wie eine Gespenstererscheinung. Man konnte es vergessen, als wäre es nicht dagewesen.

Aber die Arme und die Füße waren wie Blei, und eine Ermattung im Körper, als hätte sie eine schwere Krankheit überstanden.

Die Seele kann im Augenblick eines großen Schrecks entwischen; aber der ungeschickte Kamerad, der Körper, trägt jeden Streich.

Wohin nun?

»Du hast Ottomar Rauchfuß wieder bei Pfarrer Schönwetter begegnet,« sagte Heinrich Eigenbrodt. »Weshalb erzählst du das nicht sofort. Du weißt, wie wir zu diesen Leuten stehen?«

»Ich vergaß es,« antwortete Sibylle.

»So etwas vergißt man nicht.«

»Doch, ich vergaß es,« antwortete das Mädchen. »Pfarrer Schönwetter hat es dir geschrieben.«

Ottomar – Ottomar! – dachte Sibylle.

»Ich bitte dich, – ja, ich wünsche es, daß du einer Begegnung mit Ottomar Rauchfuß ausweichst. Ich möchte keinerlei Verbindung mit diesen unglücklichen Leuten. Hörst du?«

»Ja,« sagte sie, »aber laß mich noch ein paar Tage bei Pfarrer Schönwetter.«

»Ich werde meine Meinung über Rauchfußens an den Pfarrer schreiben.«

»Ja,« sagte Sibylle, »dann kann er alles einrichten, wie du wünschst! Ottomar aber wird selbst nicht kommen, solange ich dort bin!«

 

Endlich konnte Sibylle ermattet und bis ins Innerste zerquält sich in ihrem Zimmer einschließen.

Da ging sie auf und nieder – fast gedankenlos –, die Hände über der Brust gefaltet.

»Ach Gott im Himmel, nimm mir das Gefühl, als gehörte ich irgendwie zu ihm! Ich weiß nicht, – ich weiß nicht!«

Am Nachmittag um vier Uhr wurde Frau Dohrn gemeldet.

Sibylle kam bebend und fand Frau Dohrn im Wohnzimmer mit der Mutter und dem zierlichen Zwilling zusammen, ganz harmlos plaudernd.

»So, Isebies,« sagte sie auf ihre verschleierte Art lächelnd, »ich wollte Sie mir in der wundervollen Herbstsonne ein wenig zum Spazierengehen holen. Ich komme Tag für Tag nicht hinaus.«

Sie war ganz vornehme Dame, mit großer Sicherheit im Benehmen.

Das arme erschreckte Mädchen aber dachte: Wie kann sie nur! – Wie kann sie nur hierher kommen? Heute? Wie bringt sie's übers Herz …

Sie erschien so grausam spielerisch, wie sie mit der Mutter sprach. Und wenn sie tausendmal heilig war, so fehlte ihr etwas – etwas, – das ihr nicht fehlen durfte.

Wieder regte sich Zorn in Sibylle, – Anbetung der unglaublichen Hingabe, Bewunderung und leises Grauen.

Was war das alles?

So ganz fremd, so ganz unbegreiflich. Doch wenn sie das durchgeistigte, eigenartige, überaus rassige Gesicht ansah mit der zarten, schmalen, unsäglich feingebildeten Stirn, dem wundervollen Haaransatz, den Augen, die wie im Lichte schwammen, wußte sie nicht, was sie denken, fühlen und sagen sollte.

Ihre Verwirrung war grenzenlos.

Jetzt hörte sie Frau Dohrn wieder sprechen: »Sie haben mir das Vertrauen geschenkt, Ihr Kind mir so oft zu überlassen. Isebies hat uns unendlich wohlgetan. An mir hat Isebies eine zweite Mutter gefunden.«

»Nun,« sagte Frau Eigenbrodt lächelnd, »für gewöhnlich genügt eigentlich eine.«

Sibylle unterbrach das Gespräch. »Ich muß heute zurück zu meinen Pfarrersleuten. Die warten auf mich. Ich versprach's, zu kommen.«

»So – so?« sagte Frau Dohrn wieder in unbestimmbarer Betonung.

Isebies aber legte sich diese Betonung wie eine Zentnerlast aufs Herz.

»Wieso bist du so eifrig, – du hattest doch sonst nicht solche Eile?« fragte Frau Eigenbrodt, der eine eigentümliche Sorge wegen Ottomar Rauchfuß im Herzen aufstieg.

Isebies durchschaute, verstand. »Mutter!« sagte sie tief aufatmend.

»Bleib heut hier, mein Kind, geh' mit Frau Dohrn.«

»Gut – gut,« antwortete Sibylle wie im Traum, legte ihren Arm um Frau Eigenbrodts Schulter und sagte noch einmal leise, kaum hörbar, in ihrer unsäglichen Angst: »Mutter! Mutterchen!«

 

So ging sie mit Frau Dohrn.

Wundervolle Herbstsonne.

Beide sprachen nicht.

»Lassen Sie uns die Zeit nicht versäumen, Herr Dohrn weiß nicht, daß ich mit Ihnen zusammen bin –,« brach Frau Dohrn das Schweigen. »Ganz gleichgültig, wer Schuld trägt, oder wer keine Schuld trägt.«

»Niemand trägt Schuld, – und niemand soll Schuld tragen,« sagte Sibylle leise.

»Isebieschen – Isebieschen! So kommen wir über diese Dinge nicht fort. Den Kopf verstecken, nicht hinschauen, – sehr bequem! Denken Sie mal – Schuld? – Schuld? Das entsetzt Sie! – Als ob sie nicht täglich Schuld auf sich laden? Als ob wir der Schuld jemals entwischen könnten? Mein Gott! – Ich bin nun mal so eine Art Hexe. Ich weiß, an Ihren Augen seh' ich's, daß Sie so etwas von mir denken. Ich fürchte mich auch nicht vor Schmerz. – Ich fürchte mich nur vor Öde. – Sie haben mir immer gefallen. – Sie sind das einzige Weib, das mir je gefallen hat. Sie sind etwas zu viel gekommen, wir haben uns etwas zu viel gesehen! – Gut, mag's meine Schuld sein. Ich sehe schon, Sie wollen sie von sich abwehren!«

»Nein, nein!« rief Sibylle wie außer sich. »Sie spielen ja mit den Dingen! – Um Gottes willen, Sie denken ja nicht! Ideal und groß denken ist Unsinn, wenn man anderen Unglück damit bringt. Wissen Sie denn die Schuld, die Sie und ich bei uns, bei uns Eigenbrodts getan haben?«

»So, ich habe eben bemerkt, daß niemand bei Eigenbrodts sehr benachteiligt aussieht!«

»Ach, was wissen Sie!« schluchzte Sibylle auf.

»Isebies, lassen Sie sich nicht gehen. Gut, Sie haben manchmal zu Hause gestört; aber was haben Sie dafür bei uns getan?«

»Bei Ihnen! – Es ist ja alles Unsinn – und Wahnsinn!«

»So?« sagte Frau Dohrn.

»Nein, Sie wissen nicht, was Sie tun! Sie stellen sich die Dinge nicht vor, so wenig Sie sich mein Zuhause vorstellen können. Sie lassen sich scheiden und …« Sibylle wagte nicht gleich auszusprechen. – »Und dann die Kinder! – Sie selbst! – Meine Eltern – mein Zuhause! Ich! – Er! – Welch ein Entsetzen überall?«

»Vielleicht, wenn ich mir zu wenig vorstelle, stellen Sie sich zu viel vor,« sagte Frau Dohrn ruhig.

»Geben Sie das Herrn Dohrn. – Ich schrieb es für ihn auf, – vielleicht versteht er mich.« Sibylle nahm ein Zettelchen aus der Tasche und reichte es hin.

»Darf ich's lesen?«

»Ja,« sagte Sibylle leise.

Da las Frau Dohrn: Es war einmal ein Mädchen, das hatte einen Freund, von dem sie das Beste und Größte dachte. Da geschah es einst, daß ihr Freund sie betrübte und erschreckte, so sehr, daß sie es, ohne zu sprechen, in ihrem Herzen verbarg, als hätte sie es nie erfahren, denn sie konnte ihm kein Wort darüber sagen, sonst hätte sie sterben müssen. Und so geschah es, daß sie, statt ihrem Freunde zu zürnen, sehr gut gegen ihn war, daß er sich selbst verwundern mußte. Ihr Herz aber war traurig geworden, so traurig, daß sie es niemandem mehr aussprechen konnte.

Frau Dohrn las und sagte: »Spinngeweb gegen Feuer! Haben Sie das als Antwort heut geschrieben?« Sie lächelte.

»Nein, nicht heute.«

»So? – Das redet von Liebe! Kindchen! Kindchen!«

Sibylle war es zumute, als wäre sie gestorben und befände sich in einer andern Welt mit andern Gesetzen und Gefühlen.

Oft hatte Frau Dohrn sie erstaunt mit ihren wunderlichen, leidenschaftlichen Ansichten und Urteilen; aber heute, heute, wo es sich um ihr eignes Sein und Nichtsein handelte, um Mann und Kinder, um alles, um ihr eignes Blut und Leben, ihres eignen Herzens Seligkeit und Qualen! Ihr schwindelte – –

»Was sind Sie denn? Wer sind Sie denn?« fragte Sibylle.

Und der Ausdruck, mit dem sie fragte, brachte die Antwort: »Keine Heilige, mein Kind. Legen Sie mich in kein Erbauungsbuch. Ich nehme heute und geb' morgen, – ich gebe im Überschwall. – Ich liebe Sensationen, ich quäle mit Krallen und Küssen. Ich bin so und so ein sonderbares Stück Natur, eine sonderbare Heilige. Hüten Sie sich, – ich lasse Sie nicht los! Fragen Sie Herrn Dohrnchen, – gut bis zum Übermaß. Gut, daß es einem grauen könnte. – Aber was ist gut? Fragen Sie ihn, ob er's weiß? Meine Güte kennt er, – ob aber nicht auch ein wenig Grauen davor? Was weiß ich! – Was weiß ein Mann von seiner Frau! – Ich bin nicht so deutlich. Ihnen gegenüber aber werde ich deutlich sein. Heute so, morgen so. – Ein wenig Anrecht hab' ich ja jetzt auf Sie! – Mit Blut erkauft – sagen wir mit Blut! –, weshalb nicht?«

Sibylle ging in tausend Unruhen und Qualen, in tausend Zweifeln und Nöten! Ihre Verwirrung war grenzenlos. Wohin sollte sie sich wenden, welche Entschlüsse sollte sie fassen? Fort! – Fort! – Das war das einzige! – Das murmelte sie unhörbar vor sich hin.

»Wie Sie zusammengeduckt sind,« sagte Frau Dohrn, »die schlanke, lustige Isebies. Sie haben sich gedacht, das ist alles ganz leicht, wenn mir's paßt, gehe ich. Ich spiele da eine kleine Komödie und dort eine kleine Tragödie. Warum nicht? – Jung sein und hübsch sein ist allerliebst. Alles hat Wert, was man sagt, der dümmste Kohl. Man brennt da ein Feuerchen im Herzen an und dort eins, und freut sich, wenn's flackert! Es ist jetzt etwas Ernst dazu gekommen! So, – mein Gott, was man Ernst nennt. Große Geschichte!«

»Nie spielte ich Komödie, nie! In Gottes Namen schwör' ich das. – Ich hab' nie gedacht …«

»Das haben Sie weiß Gott nicht getan,« sagte Frau Dohrn. »Vielleicht Druckerschwärze im Blut? Wer weiß. Aber Scherz beiseite! Jetzt kommen Sie mit hinauf, – wir trinken Tee und wollen ganz vernünftig reden, mit Ihnen darf ich mir doch hin und wieder erlauben, ein bißchen Hexe zu spielen?« Sie lachte.

»Lassen Sie mich!« rief Isebies außer sich. »Habe ich Ihnen weh getan und auch Herrn Dohrn, so habe ich keine Ahnung gehabt. Ich habe wirklich geglaubt, Sie brauchten mich. Ich habe unrecht getan, wohin ich blicke; aber wie konnte ich das wissen? Ich wollte … Ach, was wollte ich! Ich habe unrecht gegen meine Nächsten getan!«

»Immer Eigenbrodts! Sie haben jetzt auch Verpflichtungen, – gegen mich zum Beispiel! Ich schenkte Ihnen Vertrauen. Ich öffnete Ihnen mein Haus.«

»Mich schwindelt,« sagte Sibylle leise. »Mir dreht sich alles. Ach, wie wird mir!« Bleich und krank sah sie aus. »Ich weiß nicht, was ist denn das für ein Durcheinander, – für ein Schreckliches?«

»Davon sagen Sie Herrn Dohrnchen nichts, daß wir gesprochen haben?«

»Nein.«

Sie standen jetzt vor Dohrns Haus.

»Kommen Sie mit hinauf und beruhigen Sie sich.«

Da hob in Sibyllens armem Herzen sich eine Sehnsucht. Ihn sprechen, ein paar Worte mit ihm sprechen! So, wie es jetzt, nach dem Gespräch mit Frau Dohrn, um sie stand, war alles Untergang und Verwirrung.

Sie ging müde mit hinauf.

»Also kein Wort,« sagte Frau Dohrn.

Sie gab keine Antwort.

»Kein Wort verraten? Wir sprachen nicht miteinander!«

»Nein,« sagte Sibylle.

 

Als sie ihrem Freund allein gegenüberstand, nahm dieser ihre Hand in die seine und sagte: »Sie sehen zum Erbarmen aus, Sibylle. Sagen Sie, armes Herz, das hat Sie alles so sehr erschreckt? Frau Dohrn hat sich groß betragen. Was haben wir für Tage erlebt! – Und wenn Sie sich innerlich dagegen sträuben, – ich weiß es, seit jenem Abend, – ich weiß es, wir gehören zueinander. Und wenn Sie kein Wort sagten, das ich mir so deuten dürfte, – es ist so. – Sie waren Heimat – ganz Heimat – ganz Mitempfinden gegen Ihren Willen, ganz süßeste Mutter: Sie würden verkümmern, und ich würde zugrunde gehen. Wir gehören zueinander.«

»Mag sein,« sagte Sibylle. »Viele gehen zugrunde und verkümmern, weshalb wir nicht? Sind wir besser wie andere?«

»Frau Dohrn aber will, daß wir zueinander gehören. Es ist ihr freier, starker Wille.«

Traurig blickte ihn Sibylle an.

»Geht kein froher Strom durch Ihre Seele?« fragte er erregt. »Für mich Heimat, – Erlösung! Wir führen jetzt die ganze Schererei mit der Bank mit aller Glut des Willens durch. Was sich ergibt, bleibt ihr und den Kindern, und wir beide! – Wir beide!« Seine Stimme war wie durchleuchtet, sein Gesicht wie neu geschaffen. »Wir beide gehören zueinander! Leben wie armes Volk und arbeiten. Ach, wenn Sie wüßten, – mitten in aller Qual und allen Nöten dieser Tage kamen die wundervollsten Gedanken.«

Sein Ausdruck war für Sibylle ganz neu.

Schweren Herzens sagte sie: »Sie denken nur an sich und mich. Können Sie sich das Unheil, was wir anderen bringen würden, nicht vorstellen?«

»Eigengeschaffenes legen wir den Dingen bei und nennen es der Dinge Eigenschaften. Ich erinnere nur –«

»Im tiefsten Grunde ist es so,« sagte Sibylle leise, »aber …«

»Herr, mein Gott!« rief er aus. »Ihr schafft Euch Mauern, wo keine sind! Frau Dohrn will, – wünscht es, – will frei sein! Was ist da unerhört, unmöglich?«

»Die Meinen denken nicht, wie Sie denken. Die schufen sich eine ganz andere Welt, der Ihren entgegen –«

»Dann, Sibylle, dann nehme ich dich in meine Heimat, in meine von mir geschaffene Welt und frage nach niemand!«

Sibylle lächelte schmerzlich und sah ihn fremd an. »Wer kann seiner Welt entfliehen?« sagte sie.

»Wir sind alle tief bewegt, Sibylle. Sie sind erschüttert. Gehen Sie in Ihr stilles Nest zurück zu Ihren friedlichen Menschen. Denken Sie nach; aber ohne Qual und ohne Hast. – Ich kenne einen Menschen, dem nur Sie Leben geben. Denken Sie an ihn und denken Sie, ob er es wert ist, daß  … Geh, mein Herz, – geh.«

Er reichte ihr die Hand.

 

Sie war seit Tagen wieder im stillen Haus, bei denen, die reif und still und voller Heiterkeit lebten. Noch besaß sie dieses köstliche Heim der reinsten Seelen, fern von Leidenschaften und Verwirrung. Noch durfte sie hier ein- und ausgehen bei »lieben Gotts«, wie des Pfarrers Bruder Karl sagte.

Sie arbeitete in dieser leichten, erquickenden Luft im Pfarrhause, andächtig selbstvergessen, – wollte kein Denken an ihr Schicksal, an sich selbst. »Schriftstellerin,« hatte der liebe Pfarrer Schönwetter gesagt, »solch ein trauriges Wort, mein Goldkind. Wirst du nicht schamrot, – du liebe Seele?«

Sie spürte die Schmach nicht, die am Wort haftete, als sie so selbstvergessen, mit der Kraft der guten, starken Isebies sich in ihre Arbeit versenkte, alles vergaß, ganz untertauchte.

Welch ein Leben! Welch stille Wonne! Welch ein Wunder, so entfliehen zu können, allen Sorgen und Ängsten, und frisch und stark wieder aufzutauchen.

Nach solchen starken Arbeitsstunden saß sie mit der Pfarrerin in der ersten Dämmerung eines Abends im stillen Zimmer, als das Mädchen Ottomar meldete.

Bang blickte Isebies-Sibylle nach der Türe; so sehr sie sich freute, Ottomar zu sehen, verstand sie nicht, daß er sein Wort, nicht zu kommen, nicht hielt, – er, der Gerechte und Sichere.

Nach einer kurzen Unterhaltung, der Isebies-Sibylle es anmerkte, daß sie erzwungen war, sagte Ottomar unvermittelt: »Es ist schön draußen, Sibylle, begleitest du mich ein wenig?«

Sie erhob sich mit klopfendem Herzen.

Er konnte sich nicht verstellen. Es lag eine Sorge auf ihm, – ein Kummer. Wie sie ihn kannte! Wie sie sich seiner und seines Ausdrucks aus früheren Jahren erinnerte!

Sie gingen miteinander durch den Garten den breiten, geraden Weg. Feuchte herbstliche Nebelluft. Die Malven standen fahl, nur hin und wieder leuchtete eine eben erblühte unter den welken auf. Von den nebelfeuchten, schweren Wipfeln der hohen Birnbäume fiel noch hin und wieder eine reife Frucht, die nicht geerntet worden war, dumpf ins Gras.

Sie waren stumm miteinander gegangen.

»Die Leute sprechen in Jena davon, daß Alexander Dohrn ohne dich nicht mehr leben kann,« sagte er unvermittelt mit einer Stimme, die Sibylle fremd klang. Sie fuhr zusammen, antwortete nicht, entzog ihm ihre erregte Hand. So gingen sie schweigend weiter nebeneinander.

»Traust du mir?« fragte Sibylle hart nach langem Schweigen.

Keine Antwort.

»Sieh mir in die Augen!«

»Es ist dunkel,« antwortete Ottomar.

»Sieh mir in die Augen. Zu jeder Stunde meines Lebens, Ottomar, sollst du das können. Das ist das einzige, was ich klar weiß, – das Gesetz meines Lebens.«

Ein Aufschluchzen, und das arme Geschöpf verbarg den Kopf an Ottomars Brust und weinte heiß und tief erregt.

Ihre ruhige Haltung, mit der sie die namenlose Unruhe ihres armen Herzens ertragen mußte, brach zusammen.

Es war dieselbe leidenschaftliche Isebies, die Ottomar wegen kleiner Nöte sonst gar oft getröstet hatte.

Heute lag sie an seiner Brust, rückhaltlos wie einst, und er fühlte ihr vom Weinen feuchtes Gesicht, und auch über seine Wangen rannen Tränen, qualvolle, junge, verzweiflungsvolle Tränen.

»Ich bin dein,« sagte er, kaum fähig zu sprechen, »komm zu mir mit jeder Bitte und jedem Verlangen. Hörst du! Leb' jetzt wohl, – denk' dran: Du hast mich!«

So ließ er sie nach einem festen Händedruck im dunkeln Garten stehen, ging durchs Pförtchen, den Waldweg nach Jena zu.

Und die dunkeln, stillen Bäume, von denen die nebelfeuchten letzten Blätter wie Blutstropfen fast lautlos zu ihren Füßen niedertropften, nahmen ein zerrissenes Menschenherz unter ihren stillen, geheimnisvollen Schutz. – – – – – – – – – –

Sibylle stand noch lange, hatte zuerst auf Ottomars verklingende Schritte, dann in die Stille und Dunkelheit des Herbstabends hineingelauscht. Alles war versunken, alle Erscheinungen dieser schönen Welt, und nur von herben Düften und feuchten Herbstgerüchen war sie umgeben, wie von zarten geistigen Körpern.

Ein würziger Holzrauch, den irgendein Feuerchen in einer Hütte aufsteigen ließ, brachte eine Erinnerung an Heimstätte, Behagen, Schutz, Unterkriechen ins angestammte Eigene.

Ihre Seele aber irrte im Unheimischen und Wesenlosen, in Angst und Verwirrung wie im wogenden dunkeln Nebel.

 

In der Nacht noch schrieb sie an Frau Dohrn, daß diese kommen sollte, gab ihr an, wo sie sich treffen wollten. Sie müsse mit ihr reden. Frau Dohrn sollte darum wissen, wovon Ottomar in der Not seines Herzens ihr gesprochen.

Frau Dohrn kam. Sibylle holte sie am Bahnhof ab. Sie stieg lebhaft und Sibylle begrüßend aus, trug ihr elegantes Reisekleid, den kleinen Hut ganz in einen grauen Schleier gehüllt, der unter dem Kinn geknüpft war und in langen Enden herabfiel.

Sie ließ Sibylle gar nicht zu Worte kommen.

»Wohin gehen wir?« fragte sie lebhaft. »Führen Sie mich zu Ihrem Pfarrer? Was tun wir? Schade, daß es ein so grauer Tag ist!«

Es war ein grauer Tag; die Luft stand fast still, kein Windhauch, die neblige Herbstkühle war wie völlig unbelebt. Es regnete nicht, der Himmel hielt seine Tropfen in einer grauen gleichmäßigen Wolkendecke fest.

»Wie gut Sie's haben,« sagte Frau Dohrn und blickte um sich. »Nun führen Sie mich hin, wo Schönes ist. Wann komme ich hinaus!«

Frau Dohrn plauderte, als wäre nichts geschehen.

Die beiden Frauen gingen einen einsamen stillen herbstlichen Weg, der hinauf zu einem Bergwirtshaus führte. Dieser lautlose Herbsttag! Die Farben, die in der Sonne geglüht hatten, waren zu einem stillen nebligen Braun geworden, die Wiesen im Tal lagen fast farblos. Nebel ruhten unbewegt, wie zarte graue Schleier, den Fluß entlang. Der Herbstduft war stark und herb.

Sibylle ging bedrückt, fragte nach den Kindern, nach der Arbeit, ob sie miteinander ins Theater gingen. Und endlich nahm sie unter lautem Schlagen ihres angstvollen Herzens den Mut und sagte scheinbar ruhig in verhaltener Erregung, um Frau Dohrn nicht allzusehr zu erschrecken: »Man spricht hier über uns, über Dohrns und mich, – über Herrn Dohrn und mich.«

»So. – Nun sehn Sie mal,« erwiderte Frau Dohrn, »wie hübsch ruhig und selbstverständlich sie das sagt! Es freut mich, daß Sie über diesen Dingen stehn.«

Sibylle blieb wie erstarrt.

»Nein! Nein! Nein!« sagte sie und blickte ratlos. »Ich sprach nicht ruhig.«

»Was soll das heißen: nicht ruhig? Ich dächte doch  …«

Sibylle sprach unklar. Es war, als konnte sie den einfachen Ausdruck nicht finden. Ein Abgrund lag zwischen ihr und Frau Dohrn, eine schauerliche Unwirklichkeit. Die vorgeschriebenen Wege, die die Menschen gehen, sind doch ganz klar. Man konnte sich doch verständigen, so schien es ihr. Weshalb verstand Frau Dohrn die einfachsten Dinge nicht? Weshalb verstand sie diese versteckte große Angst nicht?

»Lassen Sie die Leute doch reden,« sagte Frau Dohrn, »was kümmern mich die Menschen! Was wollen Sie denn?«

»Sie und die Kinder schützen!« rief Sibylle geängstigt, als wäre dieses Wort zu finden die größte Mühe der Welt gewesen. »Es scheint Ihnen eine freie große Tat, eine große Idee; aber es ist ein großes Unrecht!«

»Ein Unrecht von mir? Was Sie sagen?« Frau Dohrn lachte auf. »Und was mich das schert!«

»Und die Kinder!«

»Es sind meine Kinder. Wie eine Mauer werden sie um mich stehn.«

»Ja, aber Sie brauchen dann eine Mauer. Und die Kinder wollen ihr eigenes Leben. Die dürfen nicht wie eine Mauer stehn, um das zu schützen, was wir getan haben.«

»So lassen Sie sich doch einmal herbei zu sagen, was wir! – wir! – wir! getan haben!«

»Ich will und wollte es nicht,« sagte Sibylle schroff. »Ich will's nicht! – Hören Sie mich!!«

»Gewiß,« sagte die Frau aus ihrem grauen Schleier heraus lächelnd. »Nur sind wir schon etwas zu weit gegangen. Sie erzählen mir ja eben selbst, was die Leute zu reden belieben.«

»Um Sie zu warnen!« sagte Sibylle ruhig.

»Das hätten Sie früher tun sollen. Jetzt Kopf oben! Retten, was zu retten ist. Miteinander gehen!«

»Ich habe Sie nicht warnen können, denn ich wußte nichts.«

»Worte – Worte,« sagte Frau Dohrn. »Schön ist's hier! Hören Sie einmal, – unbeschreiblich schön! Und hier lassen Sie es sich wohl sein – und arbeiten – und plaudern und lachen! – Natürlich lachen Sie! – Und arbeiten! Glückliches Geschöpf! Wie geht's Herrn Ottomar Rauchfuß? – – Und ich liege wie auf einem Stachellager, meine unruhige Seele zermartert und zerreißt sich selbst.«

»Das sollen Sie nicht,« rief Sibylle überströmend von Mitleid.

»Worte – Worte!« antwortete Frau Dohrn. »Sie haben die schöne Ausrede, daß Sie jung und unerfahren sind. Wie hübsch sich das anhört! – Als ob ein Weib je unerfahren ist!«

Frau Dohrn warf über das verwirrte Geschöpf Schuldgefühl wie einen ihrer grauen Schleier, in die sie sich zu hüllen liebte, und dieser graue Schleier fiel auf Sibyllens helle Seele und umdämmerte sie.

Schlafwandelnd kam sie in ihrem friedlichen Asyl an. Es sanken im Zwielicht auf die braunen Buchen die ersten Schneeflocken vom Himmel. Leise und fast zärtlich sanken sie nieder, so erschien es Sibylle.

Wenn wir uns einsam und verlassen fühlen, fern vom Verstehen der Menschen unsere eigenen schweren Wege gehen, die niemand mit uns geht, spricht die Natur zu uns; die Schneeflocken fallen zärtlich, tröstlich auf uns nieder, der Wind umarmt und liebkost, die Sonne legt sich wie eine gute warme Hand auf uns, die Bäume bekommen menschliche und verständliche Bewegungen, die Dunkelheit nimmt uns ans Herz, verbirgt und schützt uns wie eine Mutter.

Frau Dohrn hatte auf dem Weg durch die schweigsame Herbstlandschaft ihre Stimmung oft gewechselt, von hingebendster Mütterlichkeit bis zu Äußerungen beißenden Hohns. Sie hatte von Sibylle auf eine ganz wunderliche Weise Besitz ergriffen, betrachtete sie als ihr erworbenes Eigentum, überschüttete sie mit Liebe, mit Vorwürfen, mit Plänen, mit einer Art scherzender, spielender Mißachtung und sprach von ihrem Gedanken, sich scheiden zu lassen, wie von etwas Selbstverständlichem.

»Verlassen Sie sich auf meine Herrschernatur,« hatte sie Sibylle gesagt. »Was euch unmöglich erscheint, ein Wort von mir, ein Wille, und es ist da. Sie brauchen nicht für Eigenbrodts zu fürchten. Nur fest und einig durchführen und zueinander halten, etwas Unüberwindliches sein, und alle beugen sich. Der Mut und die Unerschütterlichkeit zur Tat trägt die Anerkennung in sich. Sieghaft sein.«

In Sibylle dröhnten alle diese Worte, diese Schrecken noch nach.

Wollte Frau Dohrn frei sein? – Ja, gewiß wollte sie das. Sibylle war müde vom Denken, vom Abwehren, vom Zweifeln; sie verstand nicht. Ganz unklar war ihr das Wesen der Frau geworden. War es Hingebung, war es Liebe, war es Unklarheit, war es Überklarheit, was diese Frau trieb zu handeln und zu sprechen?

Fort! Fort! sagte eine Stimme in Sibylle, – eine Stimme, die nicht zum Schweigen zu bringen war; aber andere Stimmen erhoben sich zaghaft dagegen.

Am andern Morgen hielt sie einen guten Brief von Frau Dohrn in der Hand.

 

»Meine liebe, liebe Isebies, muß uns denn, sobald wir auseinandergehen, gleich Unheil und Qual treffen? Sie sehen, wir sollten es nicht tun. Wenn ich wüßte, daß ein Wort von mir Sie beruhigen könnte, so wäre ich heute schon wieder bei Ihnen.

Eins wissen wir, wir gehören zueinander. Alles, was von außen herantritt, muß daran abgleiten. Und darum nur Ruhe, keine Aufregung und keine Qual – und keine Gedanken, – – es wird alles gut. Gewiß. Nur müssen wir zusammenhalten, und ruhig und klar müssen wir bleiben, aller Qual und allen Gedanken zum Trotz.

Und dann, liebe Isebies, ich lese Ihre Briefe nun zum vierten, fünften Male, und wenn Sie von mir anfangen zu sprechen, dann überspringe ich es, weil ich jede Anklage für so ganz ungerecht halte. Nur jetzt und für den Augenblick lassen Sie den Schreck nicht wirken und stehen Sie oben, – ein dummes Geschwätz und nicht unklug, liebe Isebies.

Wenn Sie noch unruhig sind oder nur fürchten, wieder unruhig zu werden, dann telegraphieren Sie: ›Komme‹. Ich richte dann schon alles ein und kann auch wirklich jeden Augenblick kommen. Darauf rechne ich sicher, daß Sie es tun.

Einen guten Tag und eine gute Nacht, meine liebe Isebies.

Ihre Elise.«

 

Die Zeit rückt vorwärts und führt die Seelen mit sich einem dunkeln Ziel entgegen.

Wie ein junger Baum aber will jede Seele wachsen, will nicht verkrüppeln. Unmut liegt auf ihr, wenn ihr Wachstum gehindert wird, auch wenn unser Bewußtsein von dieser Unlust nichts weiß.

Eine zarte, fast unbewußte Scham erfüllt die Seele bei Erfolg, bei Erlangen, bei Rechthaben, bei Glückesfülle; – in Schmerzensnot aber und im Unrechtleiden taucht dämmernd ein Gefühl auf, als ginge die Seele auf guter, herber Weide. Ein Mißtrauen dem Glücke dieser Erde tröstet mit geisterhaftem Trost, der aus einer fernen, in das Dunkel des Herzens einschimmernden Welt stammt.

So erging es Sibylle. Scham lag über ihr, daß sie das wehevolle Geschenk der Frau empfangen sollte. Ihr ganzes Wesen wollte dies Unerhörte nicht, es erschauerte und ängstigte sie, auch wenn alle, die sie liebte, damit einverstanden sein würden.

Ein stilles, unauffälliges Glück, das sich sanft ans Herz legt, unbemerkt von allen; aber ein Glück, das aus heißen Tränen und Anstrengungen, Überwindungen und Peinen einer andern zu ihr wollte?! Wenn sie daran dachte, stieg Glut in ihre Wangen. Sie hätte sich auflösen mögen zu nichts. In welch schrecklicher Gestalt trat das Glück zu ihr!

Liebte Frau Dohrn ihren Mann nicht, war sie seiner überdrüssig? Nein – nein, das glaubte Sibylle nicht. Rätselhaft war ihr alles. Wie fern stand ihr die Frau trotz aller Nähe.

Als Sibylle ratlos und hilflos wieder nach Weimar kam, in das heimatsichere Haus zu ihren Lieben, erschien sie sich wie eine Verbrecherin; als sie zu Dohrns kam und die Kinder ihr entgegenjubelten und riefen: »Der Engel kommt, der Engel kommt!« wußte sie nicht ein und aus vor Verwirrung.

Frau Dohrn war allein daheim und empfing sie lächelnd, war unergründlich, sprach vollkommen ruhig. Sibylle fand kaum Worte. Alles, was sie sagte, erschien matt und kraftlos gegen Frau Dohrns ganzes Wesen.

Sie fühlte sich ihr nicht gewachsen. Sie kam sich ungeschickt vor, ganz armselig. Wie konnte Alexander Dohrn sie lieben? Wie war das möglich? – Was konnte sie ihm sein?

Wenn sie Frau Dohrns Gesicht ansah, das wie aus Elfenbein leuchtete, und die Edelsteinaugen und das bewußte Wesen der Frau mit sich selbst verglich, verging ihr der Atem.

Ob Frau Dohrn doch frei sein wollte? War es eine ihrer Herrscherlaunen? War es ein Spiel? War es Ernst? – Um Gottes willen, was war es?

»Ich fühle Ihr Mißtrauen,« sagte Frau Dohrn einmal zu ihr. »Sie möchten in mich hineinsehen, nicht wahr? Aber Frau Dohrn ist nicht durchsichtig.«

 

So ging die Zeit über die Seelen hin. In Sibylle wuchs gegen ihren Willen tiefe Zugehörigkeit zu Alexander Dohrn. Ihre Seele aber war todmüde von allem Außergewöhnlichen.

Du bist geliebt, sagte sie sich, tief und mächtig geliebt von dem teuersten Mann, der dir der wünschenswerteste Freund ist. Aber ihr Herz blieb von tiefer Trauer erfüllt, von Scham bedrückt.

Als Dohrns den Entschluß faßten, nach Berlin zu ziehen, kam in Sibyllens Seele ein Aufatmen. Lieber in Sehnsucht vergehen, als in diesem verwirrenden Zwiespalt weiterleben.

In Berlin wollten Dohrns sich nach allen Möglichkeiten einer Scheidung umsehen. Alexander Dohrn war nicht deutscher Untertan. Sein Vater hatte die deutsche Untertanenschaft verloren und die russische nicht erworben, so war er vaterlandslos, und eine Scheidung in Deutschland hatte große Schwierigkeiten.

Die Angelegenheit wurde zwischen den Ehegatten ruhig und sachlich besprochen.

Es gab Zeiten, in denen Sibylle begann, alles für möglich und natürlich anzusehen, da diejenige, die es am nächsten anging, jetzt so völlig leidenschaftslos und einverstanden sich zeigte.

Es wuchs und entwickelte sich dies alles bei Dohrns fast pflanzlich, erdensicher langsam – und wurde ganz Frau Dohrns Tat.

Vor Sibylles Seele aber stand das Haus Eigenbrodt mit all seinen Traditionen, seinen unsäglich zart abgestimmten, wohlgeratenen Menschen, seiner Unnahbarkeit und Abgeschlossenheit.

Wenn sie mit den Ihrigen zusammensaß, erschrak sie oft bis ins innerste Lebensmark hinein, denn bei jedem Gespräch trat die ruhige, felsenfeste Eigenart der einfach Vornehmen zutage, die durch entwickelte Familienkultur sich selbst vor einer zu lauten, zu lebendigen Freundschaft scheu zurückzogen, die sich kein überschwengliches Wort gestatteten, kein überschwengliches Lob, kaum einen heftigen Tadel.

Mit einem Lächeln, einem bedeutungsvollen Schweigen beurteilten sie das Leben um sie her.

Die gewissenhaften, stillen, schweigsamen Menschen im Exzellenzengarten hatten ihre Kräfte und Eigenarten ihren Nachkommen in das lebendige Blut gelegt, und Frau Mutters süße, heitere, gelassene Natur hatte dem etwas eckigen Schweigen jene Zartheit der Würde beigefügt.

Dieses köstliche Kunstwerk, an dem Generationen gewirkt und gewebt, trug Isebies-Sibylle wie eine ungeheure Last auf ihren Schultern.

Hier wie dort, gebannt durch Liebe, Zugehörigkeit, Schwäche, Verwirrung, stand das bebende Geschöpf ratlos mit der übergroßen Last, die niemand ihr abnehmen konnte. Das Sommerlüftchen ihrer so heiteren Seele war verflogen.

Sibylle fühlte etwas felsenhaft Domhaftes, wenn sie an die Ihrigen dachte, und sie lag wie ein wirres Bündel vor der Türe des Heiligtums.

In dieser Zeit hob sich das Licht ohne Schatten, wie Heinrich Eigenbrodt seine Tochter, die kleine Weltdame, nannte, von dem Familienbilde hell ab. Sie trat mit leichten Schritten in den Vordergrund und streckte die Hand nach neuem Inhalt ihres Lebens bescheiden-vornehm aus.

Wie ein gutes, heiteres Kind war sie ein- und ausgegangen, ganz erfüllt von zarter Lebensfreude.

Umgeben von zahmen Vögeln, klugen Hunden, hatte sie lächelnd ohne Verlangen gelebt, geliebt von Mensch und Tier, geatmet in einer Wolke von süßer Anbetung. Ihr Näschen hatte wie das Näschen eines zierlichen Götterbildes Weihrauch eingesogen, der ihrer Schönheit, ihrer jungen Weibesmacht dargebracht worden war.

Ihre zierlichen Tiere waren in dieser duftenden Wolke geflattert, und die klugen, zottligen kleinen Hunde sprangen wie die Bälle in Anbetung und Zärtlichkeit an ihr in die Höhe, wo sie sich zeigte. Ihre Anbeter nahm sie so wenig ernst, wie eben ein zierliches Götterbildchen sie ernst nimmt. Der verbotene Vetter war und blieb der verbotene Vetter, ohne daß das durchsichtige Wellenspiel ihrer Seele getrübt worden wäre. Süß erdenwohl war's ihr zumute. Sie hatte einen dicken rötlichbraunen Vogel, einen Kreuzschnabel, der ihr beim Nähen die Fäden und Nadeln reichte, einen Kreuzschnabel, klug, wie keine Menschenseele noch einen besessen, mit dem sprach sie und plauderte, und er sah sie mit runden Augen an. Die Tiere dienten ihrem zarten Wesen, lernten sie erfreuen, ohne daß sie sich viel Mühe mit ihnen gab. Sie verstanden sie.

Zu ihrer Schwester Sibylle sagte das Licht ohne Schatten in dieser Zeit: »Isebies, was tust du eigentlich, du arme Seele? Du rennst und du schreibst und bist sogar die Nacht nicht ruhig. – Was willst du denn? Du bist hübsch und jung, und ich weiß etwas von dir. Geh, das Leben ist nicht wert zu opfern. Laß dir opfern,« lächelte sie, »aber opfere nicht selbst. Du dauerst mich.«

Zwischen jeder Beschäftigung tanzte Lieselotte, tanzte ganz versunken, bis sie müde war. Ihr Gang, ihre Bewegungen hatten etwas so Leichtes wie ihre Seele. Es war eine Freude, sie im Hause zu haben. Sie kannte keine Langeweile, keinen Unmut.

So war sie von einem Feste gekommen und hatte am Morgen lächelnd zu ihrem Vater gesagt, als sie zierlich ihren Morgenkaffee trank: »Du hast uns allen unseren Vetter verboten. War es eigentlich der Grund, weil er Offizier ist?«

»Nein,« sagte Heinrich Eigenbrodt.

»So?« meinte Lieselotte. »Dann wüßte ich einen, der mich gern heiraten würde, auch ein Offizier, ein Mensch mit der reinsten Seele, und er hat die schönsten Hände, die ich je sah. Ich habe ihm gesagt, daß wir Freunde bleiben wollen unser Lebtag; aber heiraten dürften wir einander nicht, weil du die Offiziere nicht magst.«

Heinrich Eigenbrodt mußte lächeln: »Das ist nicht ganz richtig, mein Herz. Ich habe nichts gegen einen braven Offizier.«

»So,« sagte Lieselotte ruhig, »dann werde ich es ihm schreiben. Welche Freude wird er haben.«

»Und du?« fragte der Vater. »Du sprichst nur von ihm.«

»Er liebt mich sehr,« sagte das zarte Mädchen, »und mir ist er ein lieber Mensch, du wirst ja sehen, seine Hände sind wie seine Seele. Selig sind, die reines Herzens sind –,« meinte Lieselotte ruhig. »Wer möchte sein Lebtag lieben. Mir würde es zu schwer sein.«

Sehnsüchtig hörte Isebies-Sibylle ihre Schwester so sprechen, so selig eingehüllt in die Sanftheit ihrer Natur und so wissend. Sie fühlte auch wehes Hinneigen und ein Heimgefühl zum Zarten, Stillen, zur Gelassenheit; aber welche Wege ging sie!

Ottomar, – dachte Sibylle, Ottomar!

Sie dachte auch an die herzensbange Nachtstunde, als sie die Nähe jenes nach ihr verlangenden Sterbenden empfand.

Alles Sanfte wurde von ihr fortgedrängt. Wohin sie sich wendete, tat sie Menschen weh statt wohl.

Was hatte das aber mit ihrem innersten Wesen zu schaffen?

Sibylle war wie eine arme Seele, die keine Heimstätte auf Erden hat, kein Behagen, keine Zugehörigkeit, ja kein Gefühl, dem sie sich hingeben konnte. Sie lebte nur in Abwehr.

Ihre Arbeit, ihre Kunst aber zog sie wie eine Heimat an sich.

 

Zur Zeit, als Dohrns mit dem Gedanken immer vertrauter wurden, Weimar zu verlassen, wandelte Frau Dohrn im großen roten Zimmer auf und nieder. Sibylle war soeben fortgegangen.

Ein Fenster stand offen. Alexander Dohrn saß schweigend vor seinem Schreibtisch.

Pein lag im Raum wie eine schwüle, drückende Atmosphäre.

»Und – du fragst nicht,« sagte Frau Dohrn, »was nun geschehen soll?«

Im Auf- und Niedergehen bewegte sie sich etwas weichlich in den Hüften, trotz der harten, kleinen Schritte und trotz der Anpressung der kurzen, energischen, zart geformten Arme. Ihre großen Augen blickten wie in die Ferne.

Heinrich Eigenbrodt hatte ganz recht gesehen, als er die Augen dieser Frau Feldherren-Edelsteinaugen nannte.

»Tat – Tat!« sagte Frau Dohrn scharf. – »Wir müssen von hier gehen! Selbstverständlich. Ein halbes Vermögen eingebüßt. Gut. – Jede Hoffnung zu einem Leben verloren, wie ich es mir träumte; zu einem Erfolgsleben! Du hättest es uns schaffen können wie keiner, – du! –«

»Vielleicht irrst du dich,« sagte er.

»Liebe und Ehe verloren. Weshalb? Nein, ich frage nicht! – Öde, wohin ich blicke; – Einschränkung, Gleichgültigkeit, Alltäglichkeit, Reizlosigkeit, – du hast es vortrefflich verstanden, dein Wort einzulösen. Du kanntest mich, – oder kanntest du mich nicht? Wahrscheinlich nicht.« Sie lachte auf. »Wahrscheinlich nicht! Nun, untersuchen wir's nicht! Die Kinder, – meine Kinder! Sie werden mit der Glut, die sie aus meinem Blut sogen, um mich stehen, mit der Glut, die ihr alle nicht kennt. Wir werden eine Macht sein. – Ich werde eine Macht sein!«

»Du wirst dich täuschen,« sagte er ruhig, »du gehst falsche Wege. Was du auch zu haben glaubst, – hat dich.«

»Philosophie!« meinte Frau Dohrn mit einer sonderbaren Betonung.

»Du bist Herr über das, was du überwandest! Sonst über nichts.«

»Laß das,« sagte Frau Dohrn, »werde Herr über deine Liebe zu Sibylle!«

»Ich sprach nicht von mir,« sagte er.

»Ich kann meine heiße Weltliebe ebensowenig lassen; alle Weisheit ist umsonst, meinen Ekel vor Armseligkeit, Gedrücktsein, vor Gleichgültigkeit in der Liebe, vor dem gutbürgerlichen Abgetansein, vor dem Begriff ungeliebte deutsche geduldige Hausfrau, – Sanftmutstier! Allesertragerin, – Alleshergeberin, – arbeitsfreudiger Mülleresel, – Vertraute aller Unbequemlichkeiten –! Nein, mein Welthaß und meine Weltliebe halten sich die Wage, – du kennst mich nicht! – Du bist in deiner Weise viel zu sehr Egoist, als daß du mich kennen könntest. Erschrecken würdest du, wenn du klar sähest, wen du mit Pflichten und Pflichtchen so freigebig und ohne Ende und ohne Dank gedankenlos beladen hast. Du hast mir gegeben, was du geben konntest, eine Strecke Wegs königliche Liebe, Liebe, die ich dir nie vergessen werde, – das Wundervollste auf Erden. Deshalb eben lasse ich dich, – trenne ich mich, – deshalb eben! Wir sind durch schwere Zeiten gegangen, die haben mich bei dir gehalten. – In Not und Tod – ja –! Aber nicht in Flachheit, – nicht in Öde und Langeweile und nicht ohne Dank. Abgetane Liebe erregt in mir Ekel. Wenn es uns leidlich gut bürgerlich ginge, so eine bürgerliche Gleichgültigkeitsehe mit dir, – nein! Ich bin nicht geschmacklos genug, ich bin auch nicht gut genug, auch nicht dumm genug, auch nicht verdorben genug, auch nicht heilig genug. Mir macht Entsagen auch keinen Spaß, diese Art Machtempfinden, wie du es meinst, ist mir nicht angeboren, und dann, du kannst so wenig ohne Liebe leben wie ich!

Christlich sanftmütiges Eheweib! Du heilige Unnatur – Ich nicht! – Ich nicht!«

Leidenschaftlich streckte sie die Arme vor, wie um zu verscheuchen, was sie sah.

»Liebt ihr, ist euch das Weib nicht rassevoll genug, – seid aber nicht erstaunt, wenn's euch später bequem ist und sie sich zum breitgetretenen Nichts umwandelt! Nicht einen Gedanken lockt euch das hervor, kein Erstaunen! Was denkst du dir von mir? O, seid so klug und weise, wie ihr wollt, so stolz und kraftvoll, – dem sehenden Weibe gegenüber seid ihr höchst naiv!«

Jetzt lachte sie grell auf. »Ich tu's auch nicht! – Es liegt in meiner Hand, – einzig in meiner Hand! Weshalb sollst du glücklich sein? – Und ich! Ich? – – Ich tu's doch! – Jawohl! – – Ich tu's nicht! – – Ich tu's –«

Er verfolgte sie mit den Blicken, wie einer etwa das Schicksal in Person betrachten würde, das im Zimmer vor ihm auf- und niederwandelt.

»Gott verzeih's! Ich bin überzeugt, du sprichst mit Sibylle etwa so: ›Sibylle, Frau Dohrn ist eine wundervolle Frau.‹ Das heißt in anderen Worten: eine bequeme Frau.«

»Bei Gott, nein!« sagte er. »Wieso bequem?«

»Was weißt du! Liegst du nachts auf dem Dornenlager wie ich? Wissen – wissen. – Was heißt wissen! – Was weiß der Mann vom Weibe! – Ach – Worte – Worte!

Nur eins weiß ich: In der Liebe red' mir nicht vom Manne!

Zu lieben! – Und nur die Folgen der Natur bedenken, – ein Kind tragen und gebären. Tod und Not sondergleichen, schwere Nächte, wehe Tage und doch lieben! Tod und Vernichtung in der Liebe trinken und alles wissen. Daran mißt sich des Weibes Liebe.

Schweigen, Schweigen!

Wenn ich mich jetzt aufgebe, so ist das Geschmackssache, Schönheitsliebe und Trunkenheit, hat mit Entsagung und braver Weibesentartung nichts zu tun. Geschürt von Überreizung ist's nebenbei, mich hat die Ehe im Kampfe mit meiner Natur sehr ermüdet.

Was weißt du!

Du hast an mir mehr Gefährtin, als du je an Sibylle haben wirst, mehr Freund und Mutter. Ich bin für dich mehr Heimat, mehr Versteherin, mehr Hingebung, mehr, mehr, – mehr von allem, ein ungeheurer Lebensgewinn, mit ruhigen Augen betrachtet. Du hast die Lebenslust der Liebe aufgebraucht, und ich auch. Ich fliehe den Mann ohne Liebe. Das heißt den Mann, der für mich nicht mehr fühlt, dessen Nerven für mich stumpf wurden, dem die Seele für mich in Dumpfheit verfiel.

Was kümmert mich alle Weisheit und Größe eines Mannes, der mir gegenüber in jeder Lebensäußerung erstarrte. – Ich bin kein Wundertier an Güte.«

»Weshalb sagst du mir das alles?« fragte Alexander Dohrn. »Glaubst du, ich weiß nicht, was du tust?«

»Du weißt es nicht, kannst es nicht wissen. Wir wissen nur, was uns gleich ist. Du glaubst jetzt auch, Sibylle zu verstehen,« sagte Frau Dohrn ruhig. »Sibylle geht Wege wie die ärmste Märtyrerin. Wie sie mir lieb ist! – Trotz alledem! – Isebies, – kleine Isebies! – Sie sollte sich hinlegen und sterben dürfen. Ob du ihr Mann wirst oder ein anderer! Es bleibt sich gleich. – Es lohnt sich nicht der Müh'! Das Leben und die Liebe! Für Tier und Bauer war alles gemacht; aber fürs erste noch nicht für uns.

Neues Leben und neue Liebe für uns!«

So sprach Frau Dohrn tiefinnerlich erregt.

»Daß sie fast alle elend aneinander werden müssen! – Ist's ihre Schuld? Wer weiß!

Sibylle ist ein köstliches Geschöpf. Mich verlangt nach ihr! Heiß verlangt's mich oft nach ihr!« das sagte die zierliche Frau gedankenvoll. – »Es war mir so wohltätig, von ihr geliebt zu sein. Jetzt fürchtet sie mich. – Und wenn ich noch so liebevoll zu ihr bin, sie fürchtet mich. – Und sie tut recht daran!

Ach, ich gehöre zu den Durcheinandermenschen. In meiner Seele ist vom Schicksal ungebührlich umeinander gerührt worden. Die Seelen der meisten Menschen sind wie stille Teiche; aber die meine nicht! – Gott sei's geklagt.«

Hilflos und einsam klagte die Frau. Ihr Gefährte konnte sie nicht trösten. Er hatte dies Recht nicht mehr.

Er litt tief.

Seine arme Kameradin, der Mensch, der am treusten zu ihm gehalten, war in tiefster Not wie losgelassen; aber er fühlte, sie beachtete ihn kaum. Sie sprach wie in leere Luft hinein. – Was war er ihr noch! – Ein leeres Gefäß, das einst für sie Göttertrunk umschlossen hatte und alles Zarteste und Köstlichste dieser Welt.

Sie stand wie verschmachtet in einer Wüste. Er sah sie im Geiste auf ihrem dornenvollen Lager liegen, ihre dornenvollen Wege gehen, ihre arme Seele war wie ein vom Sturm aufgewühlter Teich. Was konnte er tun? Zu ihr hinstürzen, sie in die Arme schließen? Dazu war keine Kraft mehr in ihrer Zueinandergehörigkeit.

Er stand regungslos.

Grausam ist das Versagen der Liebe für beide, für Mann und Weib, die sich einst liebten.

»Alexander,« sagte Frau Dohrn, »Sibylle wird, ehe ich einen Schritt tue, ihren Eltern von unserem Plane Mitteilung machen. Nur so geschieht es.«

»Niemals,« sagte er.

»Doch,« sagte Frau Dohrn. »Wer ist in dieser Sache Herrin? Einzig nur ich allein! Ich tu's oder tu' es nicht. Ich bin hier Engel oder Teufel. Du willst Sibylle schützen, ihr die Hände unter die Füße breiten? – Nein! sage ich, laß sie leiden! – Laß sie tun! Laß sie büßen! Ich würde wahnsinnig, wenn ich allein zertreten würde. Laß uns alle miteinander leiden! Ihr sollt mit mir leiden! Alle!

Eine gutbürgerliche Verlobung zwischen euch in Eigenbrodts Stil – nach geschehener Scheidung –, und ich bin wahnsinnig. Ich will auch meine Sicherheit haben, daß mein und der Kinder Vermögen mir und den Kindern gehört. Mögen Eigenbrodts für Sibylle eintreten. – Ich will frei sein, frei in jeder Hinsicht. Verstehst du!«

»Ich brauche Eigenbrodts nicht,« sagte er hart.

»Ich aber brauche Eigenbrodts. In Kampf und Not will ich mich von dir lösen, nicht bei bürgerlichem Juniwetter einen zufriedenen Mann entlassen. Quält euch nur! Haßt mich nur! So wie ich es will, – so will ich's!

Ich will bei der Komödie zuschauen. – Beiseite schieben lasse ich mich so ohne weiteres nicht, den heiligen Packesel spiele ich nicht!

Kämpft um eures Lebens Seligkeit. Ich will sehn, ob ihr's wert seid oder nicht!«

 

Was an jenem Abend in verzweifelter Laune Frau Dohrns erregtem Gemüt entsprungen war, was noch zu heftigen, verzweifelten Szenen zwischen dem Ehepaar führte, sollte zur Wirklichkeit werden.

Dohrns hatten Sibyllens Leben getrunken und Sibylle Dohrns ganzes Wesen. Frau Dohrn hatte schleierhaft Sibyllens Seele eingehüllt. Es war eine Welt entstanden, die diesen drei Menschen zugehörte, die sie selbst geschaffen hatten, im Gegensatz zu der Welt, die die andern schufen.

Dohrns Gesetze breiteten sich ungehindert auf dieser raumvollen Welt aus. Sibyllens jetzt oft so natürliche Zugehörigkeit zu Alexander Dohrn machte ihr diese ihr eigentlich so fremde Welt heimischer.

So kam es, daß sie das Unerhörte im Verhältnis zu ihren Freunden nicht mehr klar empfand, daß sie sich mehr und mehr an den Gedanken gewöhnte, ihren Eltern Frau Dohrns Plan mitzuteilen. Ihre Nächte waren deshalb nicht ruhiger, ihre Tage nicht fröhlicher. Aber sie hoffte auf Erlösung aus den tieferregenden Formen, die ihr Leben angenommen hatte.

So ließ sie schweren Herzens Dohrns ziehen, die nach Berlin übersiedelten, um von da aus Wege zu finden.

Sibylle blieb wie eine geängstigte Seele zurück.

Die Schwester Biwi zog wieder nach Weimar, ihr Mann war dahin versetzt worden. Sie brachte ihr Kindchen mit. Lieselottes Hochzeit nahte und wurde gefeiert.

Sibylle aber hatte das Gefühl: Es baut sich ein Wall um ihre Lieben.

Wochen und Monate vergingen. Sibylle fand den Mut nicht, den Unfrieden in das blühende Haus zu tragen.

Sie schrieb an Dohrns und bat sie, alles wieder und wieder zu bedenken.

 

»Liebe Frau Dohrnchen!« schrieb sie. »Ach, lassen Sie mich es sagen: – Seit ich allein hier bin, fühle ich, daß der Einfluß hier im Haus mich ersticken will. Unser Leben, unsere Wege erscheinen mir unüberwindlich und ganz wahnsinnig. Alle möglichen Pläne, wie ich helfen könnte, gehen mir durch den Kopf. Ich glaube einen Weg gefunden zu haben, der Ihnen beiden frohere Tage bringen wird auch ohne mich, ohne daß das Traurige, Schwere geschieht. Ziehen Sie in den Süden unter blauen Himmel in hellere Sonne. Herr Dohrn wird wieder froh in schöner Natur leben. Von seiner Mutter hat er die Liebe zur Sonne, zur Wärme. Er bedarf Heiterkeit. Er ist im Norden geboren, aber seine Mutter war Sehnsucht nach ihrer Heimat. Sagte er nicht selbst: ›Unheimisch war meine Mutter, ein Stück fremder Natur.‹ Ist er das nicht selbst? Paßt er hier zu den Menschen? Schaffen Sie ihm eine Heimat in der Heimat seiner Mutter. Er schafft Ihnen Heimat, wohin Sie mit ihm gehen. Er ist so überreich an sich selbst.

Herr Gott, was ist hier für eine andre Luft!

Wie erscheint mir mein Leben! Mir schwindelt. Ach, ich merke hier, nun, da ich allein bin, wie ich mich gequält habe. Aber es soll alles geschehen, – alles.

Es stürzt so vieles auf mich ein.

Ich glaube, es wäre gut, wenn wir in unser sonderbares Leben hinein einmal ruhig sprechen hörten.

Es ist schwer zu ertragen, hier einsam zu sein. Es ist beinahe unerträglich, und nirgends ein Funken Hilfe und alles einstürmend.

Wir denken Unmögliches.

Ich sehe unaufhörlich Ihr liebes Gesicht.

Ihre arme
Isebies.«

 

»Meine lieben Dohrns!« – schrieb sie wieder. »Haltet fest zueinander. Plaudert abends mit den Kindern, lest mit ihnen, helft ihnen. Sie sind die Hauptsache! Das erste.

Fürchtet nichts für mich. Ich bin hart gewöhnt. – Ich schließe die Türen zu meiner Welt auf und lebe ein Leben, das niemand mir nehmen kann. In aller Not und Angst arbeite ich.

›Ganz Luft und Feuer‹ steht auf einem winzigen Zettelchen, das ich auf dem Herzen trage. Ich rühre an die Stelle, auf der es liegt, und Ströme fließen über mich hin, die Freiheit, wundervolle Entrücktheit bringen, – selige Kraft, Mut zu dulden.

Ich liege auf den Knien nachts vor dem Zimmer meiner Eltern, zu dem ich leise geschlichen bin, und bete: ›Gott schütze Euch vor mir, Gott breite seine Hände über Euch aus.‹ – Ich schleiche an die Tür der lieben Frau und bete und bete und ringe die Hände. Dann liege ich im Geist auf den Knien vor Ihnen und bete und bete in die Ferne und in die Nähe, – in die Nähe, suchend nach einem Herzen, das mich hört, – nach einem Gott, – nach mir selbst, – nach höchster Liebe und unaussprechlicher Hilfe!

Ist es so schwer, einander zu lieben? Liebten Sie einander nicht einst über alles? Was änderte sich? Ihre ewigen Seelen, die ich so heiß liebe, sind da, sind dieselben. – Werden Sie nicht müde, das geliebte Bild wieder zu finden. Herr Dohrn sagt: ›Eigengeschaffenes legen wir den Dingen bei und nennen es der Dinge Eigenschaften!‹

Schaffen Sie beide neu an der großen heiligen Liebe. –

Ich bete und schreibe und bete – und bebe. Meine Seele ist so leicht wie ein Hauch und frei und furchtlos. Ich fürchte kein Opfer und fürchte keinen Schmerz. Herr Dohrnchen, schaffen Sie nicht an dem Bild, das Sie sich von mir machen. Ich würde Sie enttäuschen. Ich bin nicht die, die dem einen folgt und andere leichten Herzens läßt. Sie würden mich so tief verwundet endlich erkämpft haben, daß Sie Sorge und Müh' und Not auf sich laden würden. Ich bin kein freies Geschöpf. Ich fühle mich, als wäre ich der Atem derer, die ich liebe; wie soll ich mich ausdrücken, um Ihnen mich ganz zu offenbaren? Mich erschreckt eine so schwer erkaufte Zueinandergehörigkeit. Sie legt sich wie eine drückende Last auf mich. Mir ist, als sollte unser Leben ein Heiligtum werden, dem unerhörte Opfer gebracht wurden. Ich fürchte mich vor solch einem Heiligtum.

Ihre hilflose Isebies, die in Weimar umhergeweht wird wie ein abgerissenes Blatt. Seien Sie gut, seien Sie grenzenlos gut, Herr Dohrnchen. – Ach, weshalb steht Frau Dohrn nicht als guter Engel neben Ihnen! – Die guten heiligsten Engel auf dieser Erde müssen gar oft feurige Schwerter tragen.

Ihrer beider treue Isebies.«

 

Frau Dorn an Sibylle:

 

»Liebe dumme Isebies!

Muß ich wieder sagen: Spinnweben gegen Feuer? Seien Sie tapfer, seien Sie heiter. Handeln Sie königlich. Was zwischen uns liegt, beurteilen Sie nicht, beurteilt niemand.

Und wer nicht hören will, hört nicht.

Wissen Sie, liebe Isebies, wie unendlich naiv Ihr letzter Brief war? – Wissen Sie das? Was muten Sie mir eigentlich zu lesen zu?

Aber Ihre naive Kraft hatte mir es angetan. Sie sind mir lieb und gefährlich deshalb geworden. Halb Nönnchen, halb Bacchantin. So etwas läßt man eigentlich nicht in sein Haus.

Ich tat's – Ich wehrte nicht.

Jetzt können Sie nicht aufhalten, was so mächtig ins Rollen kam. Ihre Briefe sind Schaum! Erregen Sie mich nicht. Ich muß mich stark erhalten. Schreiben Sie keine solchen Briefe mehr – und bedenken Sie, daß jeder Brief an mich, auch an ihn gerichtet ist. Glauben Sie, es ist ein Scherz, den wir erleben, ein so oder so? Eine Komödie, nach deren Schluß man sucht? Sie werden anders denken lernen, anders schreiben lernen. Tod und Leben steht bei uns auf dem Spiel. Die verträumte, zaghafte, tugendhafte, rücksichtsvolle Isebies, die doch gern mit dem Feuer spielt, möge sich dessen erinnern.

Schlafen Sie gut. Sie müssen schlafen.

Waren die großen Menschen keine Menschen wie wir, die Tausende und Abertausende, um ihre guten und schlimmen Zwecke zu erreichen, in den Tod führten, die über deren Leiber seelenruhig hinweggingen? Die sich bei gutem Schlaf und gutem Appetit trotzdem erhielten, bei bester Gesundheit waren und bei bestem Frieden, liebten und geliebt wurden?

Sie wollen ein Erstaunen der Ihrigen nicht erregen, ein Erstaunen über einen Plan, dem sie bald ihre Zustimmung nicht versagen können.

Liebe Isebies, übertreiben Sie Ihre Gefühle nicht.

Gott behüte Sie – und tapfres Tun.«

 

»Vermag ein gutes Wort von mir, liebe Sibylle, auf Sie zu wirken, so nehmen Sie alle, die die Jahre gebracht, jeden guten Gedanken, und Sie werden deren genug finden.

Ihre Briefe haben mich erregt, und ich hatte nicht genug Besinnung, die Erregung zu bekämpfen und von den Briefen gegen Herrn Dohrn zu schweigen und Sie zu bitten, sehr ruhig zu schreiben, da es mir sonst buchstäblich unmöglich wird zu lesen … Nur Gleichmut, Besonnenheit und Ruhe können Sie an ein Ziel bringen.

Sie müssen alles, was Erregung bringt, vermeiden. Sie wissen, was davon abhängt. Gesundheit und Leben, – und wo der Augenblick das gesprochene Wort entschuldigen kann, ist das unvorsichtig geschriebene unentschuldbar.

Noch einmal, liebe Isebies: Nur Ruhe kann uns zu einem guten Ziele führen.

Elise.«

 

Sibylle an Frau Dohrn:

 

»Wenn Sie und Herr Dohrn sich in meine Lage versetzen könnten! – Sie würden fühlen, daß es tiefere Erregung wie hier nicht geben kann!

Sibylle.«

 

Heinrich Eigenbrodt war auf einige Tage verreist, die beiden Sibyllen, Mutter und Tochter, saßen im Wohnzimmer. Die Gartentür stand offen, draußen rauschten die vollaubigen Bäume im warmen Gewitterwind.

Es war schwül. Sibylle, die Mutter, hatte Klavier gespielt, ihre süßen melodiösen Weisen, sehnsüchtig und heiter schwebend.

Weh schloß dem Mädchen den Mund, tödliches Weh.

Sibylle, die Mutter, nahm ihre Handarbeit.

Draußen rauschte es mächtiger, die ersten Donnerschläge grollten. Noch schlug kein Regen gegen die Scheiben.

Die Stunde war gekommen. – Sie war gekommen. Das dunkle, nächtliche Sommergewitter brachte diese bange, schreckliche Stunde auf breiten, schweren Flügeln. Es brachte sie Sibyllen, der Tochter, und Sibyllen, der Mutter, – endlich.

Die Schwüle war herzerstickend gewesen, atemraubend. Wenn Sibylle, die Mutter, diese Stunde gewiß nicht erwartet hatte, wenn ihre Gedanken andere Wege gingen, ahnungslos, so hatte sie doch das Weh ihres Kindes Tag für Tag eingeatmet. Ihr Blut, ihre Nerven hatten alles in sich schon aufgenommen.

Der Regen begann zu rauschen, der Donner grollte, der Wind beugte die vollaubigen Baumwipfel zueinander. Im Zimmer war es still und drückend.

In den Donner hinein sagte Sibylle: »Mutter, höre mich –« Sie saß aufrecht, die Hände lagen gefaltet auf der Tischdecke.

Sibylle, die Mutter, schaute befremdet auf.

»Mutter,« sagte Sibylle, die Tochter, »ich möchte schweigen dürfen. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll; aber ich muß reden.« Es war ihr, als wenn die mächtigen Donnerschläge sie verbargen, als wenn das Gewitter, die Regenströme sie einhüllten.

Sibylle, die Mutter, schaute mit großen erschreckten Augen auf ihr Kind. Sie fragte nicht. Sie wartete mit angehaltenem Atem. Ihr Kind, das gerade und bewegungslos vor ihr saß, flößte ihr Schrecken ein.

Das wilde, sommernächtige Wetter füllte das Zimmer mit Getöse und ließ es wie erbeben im fahlen Blitzesleuchten. Die große Hängelampe brannte im Schein der Blitze lichtlos.

Es war für Sibylle vielleicht die einzige Möglichkeit, heute zu reden. In stiller, alltäglicher Stunde, in der nur Eigenbrodts Patriziertum im Hause herrschte, dieses abgeklärte, sanfte Patriziertum, das das geheimnisvolle Menschentum seiner Geheimnisse und Unergründlichkeiten entkleidet hatte, wäre es unmöglich gewesen, in dieser Ruhe, Sicherheit und dem sanften Behagen den Mund aufzutun, um zu sagen: Ich will eine brennende Fackel in euer Haus schleudern, ich, euer wohlerzogenes, gutes Kind.

Sturm und Hochgewitter, die aufrührerischen Erinnerungen an geheimnisvoll drohende Zustände mußten eindringen, um die schweren, in diesem Hause unerhörten Worte der armen gequälten Seele von den Lippen zu lösen.

Sibylle versuchte zu sprechen, ein Mitleid aber sondergleichen, wenn sie sich dem Anblick ihrer Mutter hingab, ließ sie lange nicht zu Worte kommen.

»Mutter, Frau Dohrn will sich von ihrem Manne scheiden lassen, damit ich und Alexander Dohrn uns heiraten können.« – Das war es, was gesagt werden mußte. Die Kraft reichte zu keinem weiteren Wort.

Die diese Worte vernommen hatte, stieß einen Schrei aus, wie ihn das blühende Haus noch nicht gehört hatte, einen Schrei des Entsetzens, einen Schrei des Untergangs alles Sicheren und Heiligen. Die Hände an den Kopf gepreßt stand Sibylle, die Mutter, mitten im Zimmer, mit einem Ausdruck hilflosen Grauens auf dem Gesicht, und wieder schrie sie auf. Kein Wort fand sich in dieser ernsten, behüteten Seele, das ausdrücken konnte, was sie bestürmte.

Bei diesem zweiten Schrei aber hatte Sibylle, die Tochter, das Empfinden, als wäre unvermutet ein Schwarm Stare mit Sturmesgeräusch in ihrer nächsten Nähe aufgeflogen, wie sie es im Herbst und Frühjahr auf dem Ettersberg erlebt hatte.

Etwas ganz Sinnverwirrtes war über sie gekommen.

»Grauenhaft,« sagte Sibylle, die Mutter. »Wie konnte so etwas Entsetzliches geschehn! Wie war das möglich bei einem meiner Kinder! Wie hast du leben können? – Mit uns lachen können, die Mahlzeiten mit uns halten können? – Hat dich unser Vertrauen, unsere Liebe nicht gebrannt? Und diese Frau! – Diese unglückselige Frau? Solch ein Opfer willst du annehmen! Bist du ein reißendes Tier?«

Sibylle schwieg in Erstarrung.

»Sie will! – Sie will, – es ist ihr Wille!«

»Unerhört!«

Sibylle, die Mutter, warf sich auf das Sofa und verbarg ihr Gesicht in den Kissen.

Niemals noch hatte das Mädchen ihre Mutter haltlos gesehen, – ja sie hatte sie nie müde oder bequem liegen gesehen, – das machte ihr jetzt einen schrecklichen Eindruck, dies Liegen. Die Tränen brachen bei ihr aus.

»Mutter! Mutter!« schluchzte sie laut und warf sich neben diese auf die Knie.

Sie fanden kein weiteres Wort.

Sibylle, die Mutter, zündete ihren silbernen Leuchter an und suchte ihr Schlafzimmer auf.

Ehe sie ging, wendete sie sich an ihr Kind.

»Schlafe, wenn du schlafen kannst. Ich frage mich, wie hast du es möglich gemacht, hier in unserm Haus mit solchen Gedanken überhaupt schlafen zu können?«

Verändert klang die Stimme, verändert war die Haltung der sichern, so wohlgeborgenen Frau. Tränen rannen ihr über die Wangen, der Leuchter zitterte in ihrer festen kleinen Hand, unsicher, fast tastend faßte sie nach dem Türgriff. Sibylle hätte ihr zu Füßen stürzen und rufen mögen: Laß alles! Laß alles! Vergiß!

Noch aber konnte das nicht sein. Ehrlich wollte sie ihr Wort lösen, kämpfen, solange sie kämpfen durfte.

 

Wieder schrieb sie nachts an Dohrns.

 

»Ich habe gesprochen. –

Ach liebe Dohrns, wie wenig wissen Sie beide von unserer Welt. Fremd sind wir Ihnen! Ich erlebe Entsetzen.

Ich hab' es gewußt – gewußt!

O, recht haben Sie, Frau Dohrn! Verlassen hätte ich Sie müssen! Gehen, als es noch Zeit war! Alle heißen Tränen, alle glühenden Vorwürfe löschen hier und dort mein Unrecht nicht aus. Was werde ich erleben müssen? Was wird geschehen?

Wie kann ich das Rad, das mir aus der Hand glitt und den Berg hinabrollte, aufhalten?«

 

Alexander Dohrn antwortete: »Sibylle, der Gott, der über allen Leidenschaften steht, behüte Sie. Lassen Sie sich so machtlos nicht hinnehmen. Ich sehe hier nicht das ungeheure Unrecht, das Sie fühlen, wohl aber ein schweres Schicksal.

Nicht Sie und nicht ich wußten, daß wir so unzertrennlich zueinander gehörten. Wir mißtrauten der lieben Gewohnheit nicht.

Die Zugehörigkeit zu Ihnen, – zueinander, war sündlos wie die Heimatliebe, die wir armen Menschen fühlen. Meine Heimat – meine Erde! Laß Dich nicht allzusehr bestürmen. Höre auf die Stimme, die in Dir spricht. Höre auf sie trotz allen Wellen und Sturmbewegungen um Dich her. Sie spricht die Wahrheit. Sie ist heller und stärker wie alles Laute um Dich.

Frau Dohrn schickt Dir diesen Brief. Aus ihrer Hand empfängst Du ihn. Ist das nicht Ruhe? Sie will es. Vertraue ihr. Ich verstehe, daß es den Deinen qualvoll und neu ist, was das Schicksal ihnen zumutet; aber nicht unüberwindlich.

Gewiß sollen die Gesetze dieser Erde, unter denen wir leben, uns heilig sein; aber gibt es nicht Gesetze über diese hinaus? Trägt eine tiefe, große Liebe nicht ihre Gesetze in sich? Fühlst Du das nicht? Sei tapfer und gläubig, und Du wirst Dich und alles überwinden, wirst Dir und allen Frieden bringen.

Glaube getrost.

Du sagst, weshalb sollen wir nicht untergehen? Du sagtest das oft. Ja, weshalb sollen wir nicht untergehen? – Auch ich glaube, ich würde verstehen, das Leben zu lassen.

Aber ich frage Dich, weshalb sollen wir untergehen? Wir, die wir leben dürfen. Du bist jung, und es scheint Dir leicht, Dich zu opfern. Ich sage Dir: Sei gläubig. Glaube an unsere Liebe, glaube an ein schönes großes Leben, glaube an das Glück und den Frieden, den Du einem gehetzten Menschen zu geben imstande bist. Quäl' Dich nicht über Recht und Unrecht. Geh' Deinen geraden Weg und trage Dein reines, liebevolles Herz wie ein Licht in den Händen. Es wird Dir leuchten und andern. Es wird Dich und andere schützen. Sei getrost. Sie werden sich einst vor der Reinheit Deines Willens beugen und der Güte Deiner Kraft. – Behalte Mut, Sibylle.«

 

Frau Marie Sibylle Eigenbrodt an Frau Elise Dohrn: »Ich kann nicht anders, ich muß Ihnen schreiben; ich bin aufs Äußerste bestürzt und in tiefster Seele betrübt.

Sibylle ist zerbrochen in trostlosester Verzweiflung! Es ist Ihr Werk. – Ich unterdrücke jeden Vorwurf, uns Eltern trifft das Bitterste: wir haben mit sehenden Augen, immer Unheil fürchtend, wenn auch in ganz anderer Weise, denn in Wahrheit waren wir mit Blindheit geschlagen, – aus Schwäche, aus Furcht, wehe zu tun, haben wir seit Jahren unser Kind ins Elend rennen lassen; im Gedanken, daß bei ideal angelegten Naturen Freundschaft bestehen könne, versäumten wir den Schritt zu tun, der Heilung gebracht hätte.

Ich schützte meine Tochter vor jeder bösen Rede durch das Vertrauen, das ich in meine Sibylle setzte.

Nun gibt es nur einen Weg: Sie müssen mich unterstützen, es ist der einzige, der wieder Frieden, wenn auch nicht Freude, in die verwirrten Herzen bringen kann! Sie haben sich einer unseligen Schwäche hingegeben.

Sie haben unsere Tochter gegen unsern Willen, der Ihnen bekannt war, seit Jahren fester und fester an sich gefesselt. Jetzt müssen Sie die Bande lösen, und zwar muß der Entschluß Sibyllen erleichtert werden durch Ihr Entgegenkommen. Fürchten Sie meinerseits Sibyllen gegenüber keine Härte. – Von Ihnen aber verlange und erwarte ich sie! Herr Dohrn muß zu sich kommen, ich beschwöre ihn im Gedanken an seine Töchter, – hier ist auch eine Tochter.

Herr Dohrn muß Sibyllen schreiben, daß er jeden Gedanken aufgibt, der nach jenem Ziele hinführt, das, wie Sibylle sagt, zwischen Ihnen besprochen, und das ich mich zu nennen scheue.

Ich trage leichter die Folgen dieses meines Verlangens als Verantwortung, seien sie wie sie wollen, als ich die Folgen tragen werde jenes Schrittes, der in Ihren Augen eine Erlösung sein soll.

Hier ist Entsagung zu üben, hier heißt es alle Kraft zusammennehmen. Sie haben entsetzlich gelitten, Sie werden weniger leiden, wenn Sie Ihr inneres und äußeres Leben wieder geordnet haben. Ich erwarte auf das bestimmteste einen Brief an Sibylle, der ihr den Gedanken nimmt, der sie am meisten zu quälen scheint: daß sie schwere Schuld auf sich laden würde, wenn sie ihr Leben von dem Ihrigen scheidet.

Mein Mann ist noch nicht zurück; ich bin unglückselig in dem Gedanken, wie ich ihn betrüben muß, und wie seine Gesundheit, eben erstarkt, unter diesen Erschütterungen leiden muß.

Schreiben Sie bald und vermeiden Sie dann alle aufregenden Briefe.

Marie Sibylle Eigenbrodt.«

Nachschrift von Heinrich Eigenbrodt: »Gestern nach erfolgter Rückkehr hat mir meine Frau die entsetzliche Nachricht mitgeteilt, die das Glück und den Frieden unseres Hauses bedroht. Ich bin bis aufs Tiefste erschüttert. An Ihnen ist es, die Katastrophe zu verhindern, indem Sie den einzigen Weg, der zum Frieden führt, den der Ehre und Pflicht betreten.« –

 

Das war nicht mehr das blühende Haus und die harmlos stolze Familie. Düster ging Heinrich Eigenbrodt ein und aus, stumm saß man bei Tische, schwere Unterredungen zwischen Sibylle und ihrem Vater, die Schwestern kamen scheu ins Haus.

Sibylle fühlte sich wie eine Last, wie ein Unglück. Man sprach mit ihr in einem unsichern Ton, niemand fand den rechten Ausdruck, alle tasteten danach.

Frau Mutter strich dem armen zerbrochenen Geschöpf liebevoll über das Haar, ganz wie sonst, und blickte sie mit ihren guten Augen zärtlich und warm an.

»Meine Alte,« sagte sie, »meine Alte.«

Schonend hatte Marie Sibylle der lieben Frau von dem Unerhörten zu sprechen begonnen und war von ihr unterbrochen worden.

»Ich weiß es schon, mein Kind, ich weiß es, mir ist es von fremder Seite mitgeteilt worden; ehe Dohrns fortzogen, bin ich gewarnt worden.«

»Und du hast uns nichts gesagt, – du hast geschwiegen!«

»Ja,« sagte die liebe Frau einfach, »ich habe geschwiegen.«

»Und weshalb?«

»Weil ich zu alt bin, um noch den Mut zu haben, in ein Schicksal einzugreifen. Ich fragte mich: War Sibylle nicht immer ein gutartiges Kind? – Was Gott ihr auferlegt zu tragen, wird sie so gut wie möglich tragen. Ich werde nur noch kurze Zeit leben. – Wir alten Leute sollen nicht mehr eingreifen, die Dinge geschehen nach Gottes Willen. Ihr seid noch im Alter, einzugreifen und zu verhindern.«

Die alte Frau vermied, über Sibyllens Schicksal mit Tochter und Schwiegersohn zu reden; aber voll stummer, leiser Zärtlichkeit war sie mit der Enkelin, wenn sie diese allein antraf. Leise und zart wie eine geistige Natur nahm sie die Hand der Enkelin in ihre weißen, zarten, alten Händchen und saß so wortlos bei ihr.

Keine größere Gnade Gottes hätte dem armen Geschöpf in seiner Zerrissenheit geschehen können.

 

Sibylle schrieb an Frau Dohrn:

 

»Hier sehe ich alle wie mit schweren Wunden umhergehen, die ich ihnen schlug. Sie gehen würdig und gehalten, aber mir ist, als flösse das Blut unaufhaltsam aus diesen Wunden, von denen sie nicht sprechen. Sie sehen sich an, als wollten sie sagen: Leidest du sehr? Ich seh' sie an mit verzweifelten Augen, ich sehe durch die Kleider ihre armen verwundeten Herzen. Ich habe getan, was ich konnte. Ich war tapfer, das heißt: Ich habe den anderen weh getan.

Ich bin in der Welt, in der die hausen, die für sich selbst opfern. Ich kann nicht mehr. Jeder Blick erschüttert mich, jeder tiefere Atemzug, den ich höre, macht mich erbeben.

Sibylle.«

 

 

Und ein Brief kam an Frau Eigenbrodt:

»Sehr geehrte Frau!

Heute lassen Sie mich nur bitten, Sibylle die nächsten Tage ganz in Ruhe zubringen zu lassen. Geben Sie mehr Hoffnung, als Sie selbst glauben, ihr halten zu können, überlassen Sie das andere der Zeit; ich weiß, daß ich mit diesem Ihnen und ihr gut tue.

Elise Dohrn.«

 

So wurde Brief auf Brief gewechselt.

Keinen Schritt wichen Eigenbrodts, und Sibylle war wie ein geängstigter, flatternder Vogel. In ihrem Elternhause sah sie Elend und Not von ihr hervorgerufen, und die Briefe, die sie erhielt, zerrissen ihr die Seele.

 

Sibylle an Frau Dohrn:

»Seien Sie grenzenlos gut. Schützen Sie ihn. Helfen Sie ihm. Daß er mich liebt, ist eine Torheit seiner Seele. Stehen Sie ihm bei. Seien Sie so gütig, wie nur Sie es sein können. Ich habe den Vorteil, daß ich nicht da bin. Verstorbene und Abwesende erscheinen in ungetrübtem Licht. Sie haben es deshalb schwerer, ihn zu trösten.

Ich weiß, Sie tragen eine ganze Welt von Leid auf Ihren Schultern. Aber Sie sind anders wie andere Menschen. Oft denke ich, was jeden erdrücken müßte, scheint Ihnen gar keine Schwere zu haben, und was andere leicht nehmen, das scheint Sie zu erdrücken. Aus welch geheimnisvoller Welt stammen Sie?

Zu Hause sind alle gütig zu mir – sanft –, und ich werde von Tag zu Tag matter. Gestern blieb ich ganz zu Bett liegen. Heute auch; aber ich arbeite in jeder freien Stunde. Ich schließe mir die Welt auf, die mir gehört, und versinke darin, wie in einen kühlen, sonnendurchschienenen Wald. Ja, es ist ganz wunderlich, mir ist, als trüge ich den Schlüssel zu dieser Welt leibhaftig in den Händen, und ich sehe mein Erdenpförtchen leibhaftig vor mir, eine Gartenpforte, wie sie zu Goethes Garten führt; weißgestrichen und etwas altertümlich geheimnisvoll. Ich sehe mich den Schlüssel in das Türschloß stecken und wieder hinter mir zuschließen, und dann wird mir wohl, traumwohl.

Sie werden das Leichtsinn und Kühle nennen. Ich aber weiß, meine Seele fürchtet sich vor dieser Erde, und sie hat ein Versteck gefunden. Da verschlüpft sie sich wie ein Kind, und Schuld und Not und Qual und Sehnsucht läßt sie draußen wie ein großes Bündel vor der Pforte liegen und ist ganz frei und kinderleicht in ihrem Versteck. Niemand aber nimmt das schwere Bündel inzwischen fort.«

 

Imogen Dohrn, das zwölfjährige Töchterchen, schreibt an Sibylle:

 

»Engelchen! Mein geliebtes Engelchen – Ach, wo steckst Du! Komm doch! Wir sehnen uns nach Dir! Niemand weiß, daß ich schreibe. Mutzelchen ist so triste, so triste, geht in ihrem Schleierläppchen umher, bald da, bald dort, – weiß nicht recht, was sie anfangen soll, guckt einmal in unsere Schulhefte, und dann vergißt sie's wieder, und dann lacht sie ein wenig mit uns so, als wenn sie müßte, – und dann weint sie. Und wenn wir sie fragen, was sie hat, macht sie ein komisches Gesicht und sagt: Bäh – bäh, bäh. Aber sie hat etwas, das ist ganz gewiß, und Papachen erst! Ist immer eingeschlossen, will niemand sehen, ist krank, geht nicht aus.

Manchmal plaudert er mit uns; aber nicht wie sonst. Es liegt ein Druck im Haus, als säße ein Riese auf dem Dach, ein fürchterlicher Riese, den die Mauern kaum tragen. Kämst Du, würde der schwere, dunkle Riese gehen. Alle würden wieder lachen. Du würdest uns eine Geschichte erzählen. Wir würden Schokolade mit Dir trinken. Von Pa's Zimmer geht es wie ein stummer Strom zu mir. Armer Pa. Was ist denn nur? Mir ist so angst. Komm, Engelchen, steck' Dein Köpfchen wieder durch die Türspalte. Deine hellen, frohen Augen sind wie Sönnchen. Komm, Engelchen!

Deine oft so traurige Imogen,
weil alle traurig sind.«

 

Frau Dohrn an Sibylle: »Isebies-Sibyllchen! Wer lehrt Sie so mit dem Schicksal anderer spielen? Ahnen Sie denn die Verantwortung, die auf Ihnen liegt? Ahnen Sie, wie schwach, wie leichtsinnig Sie sind? Arbeiten? Sie arbeiten jetzt, – Sie schließen Ihr Gartenpförtchen und träumen. Glauben Sie, ich beugte mich, wenn ich mich nicht beugen müßte? Glauben Sie, ich spiele? Glauben Sie, es ist nicht tiefer, schwerer Ernst? Was glauben Sie? Werden Sie klar! Handeln Sie! Wohin soll es führen?

Sie schreiben an Herrn Dohrn, vertrösten ihn, halten ihn hin, sind nicht warm und nicht kalt. An mich schreiben Sie: Im tiefsten Vertrauen sage ich Ihnen, daß unser Gedanke eine Unmöglichkeit ist, und daß ich nie einwilligen werde, bald so, bald so, wie die Stimmung ist, und die Stimmung ist wie auf einem windbewegten See.

Sie tragen große Verantwortung, Sibylle!

Elise.«

 

Man hatte Sibylle dazu vermocht, an Alexander Dohrn einen Brief zu schreiben, der alle Hoffnung nahm. Und Sibylle hatte diesen Brief geschrieben, – verzweifelten Herzens.

Sie wußte, was sie damit tat.

Wenn wir in unerträglichen Leidenszeiten entscheidende Entschlüsse fassen müssen, ist in unsere gewöhnliche Sphäre Neues getreten, was sonst außerhalb stand. Wir ziehen Untergang und Tod in unsere Berechnung und sind erstaunt, daß diese fremden, drohenden, steilaufsteigenden Berge, die in blauer Ferne gestanden hatten, zu uns so nah gehören. –

So schrieb Sibylle ihren ernsten schweren Brief an Alexander Dohrn und opferte ihn und sich. –

Das Aufatmen der Menschen im blühenden Hause tat ihr weh. Sie verkroch sich in ihrem Zimmer, und die Kräfte verließen sie.

Still lag sie und matt, draußen blühten die großblättrigen Linden vor dem Haus, der süße Duft strömte durch die offnen Fenster, und dämmernd träumte sie: So duftet das Leben, das Leben, das sich aufgibt, das den teuersten Menschen aufgibt und opfert.

Es stieg ein Opfer auf, das nach blühenden Linden duftete.

Schön und still ist's, nach getanem Opfer sich niederlegen und zu vergehen – – –. Sie fühlte keinen Schmerz, – keine Sehnsucht, – kein Verlangen. Ihr war's, als hätte sie noch nie die Augen so fest geschlossen. Sie lag nicht schlafend, nicht wachend. Friedlos hatte sie gelebt, – wie eine bebende Flamme gebrannt. Jetzt kam die Ruhe.

Sie wurde nicht müde, den Lindenduft einzuatmen, den süßen betäubenden Opferduft. »Ganz Feuer und Luft geb' ich die niedern Elemente dem Staub zurück,« klangen wundervolle Worte wie ein Schlummerlied. Aber es war kein Schlaf, es war ein banges, seliges, umdämmertes Wachen einer schwer ermatteten Seele, die sich überlitten hatte. So lag sie tagelang und nächtelang, konnte nichts zu sich nehmen, konnte nichts sprechen. Zu schwer hatte sie gelebt, zu groß waren die bangen Sorgen für ihr junges Herz gewesen.

»Sie schläft sich gesund,« sagte Sibylle, die Mutter, sorgenvoll, um sich selbst zu beruhigen. Die liebe Frau ging aber wie ein stiller Geist bei der Enkelin ein und aus.

Isebies erhielt keine Nachricht von ihren Freunden. Die Mutter nahm die Briefe in Empfang und schrieb an Dohrns, daß Sibylle erkrankt sei.

Und wunderlich, Isebies-Sibylle fragte nach keinem Brief, fragte mit keiner Silbe nach Dohrns, war ganz in sich selbst versunken. Sie hatte getan, was sie konnte. Sie hatte ihr Opfer gebracht.

Sie fühlte Alexander Dohrns Zusammenbrechen. Sie fühlte seine tiefe Entmutigung. Sie fühlte, wie notwendig sie ihm war.

Sie empfand ein Hinsterben an seinem Leid. Für keinen andern Menschen auf Erden empfand sie ähnlich. Sein Leid trug sie. Sein Leid nahm ihr alle Kraft. Sie war erfüllt davon, es nahm ihr den Atem. Sie war selbst wie ausgelöscht.

Die Tage vergingen. Nichts änderte sich in Sibyllens Zustand. Heinrich Eigenbrodt kam zu ihr herauf, strich ihr über die Stirn, küßte ihr die Hand. Seine Tochter aber lag wie in einem Bann, kaum ein Wort kam über ihre Lippen.

Marie Sibylle, die Mutter, war oft bei ihr.

»Es ist nicht genug, daß du entsagst, du mußt auch überwinden. Das ist halbe Tat, die du tust.«

Sibylle verstand ganz wohl; aber der Bann wich nicht. Eine Last lag auf ihr, die sie unbeweglich machte.

An einem stillen Sommersonntag brachte das Mädchen der lieben Frau ihr einen Brief. Sibylle hielt ihn in der Hand, ohne ihn zu öffnen; – lange hielt sie ihn so in der Hand. Mit diesem Brief hatte das Mädchen ihr einen blühenden Lindenzweig von den Bäumen draußen vor dem Haus mitgebracht und ihn ihr auf die Bettdecke gelegt.

Ein ungeheures Erlebnis für die erschütterte Seele! Sie blickte auf diesen Zweig, als käme er aus einer andern Welt.

Der Brief lag jetzt auf ihrem Herzen. –

Es schien ihr, als sollte sie aus einem tiefen Schlaf geweckt werden, – – und sie wollte nicht geweckt sein. Sie wollte den Brief vergessen. Ihre Blicke ruhten auf dem Zweig, und er nahm alle ihre Gedanken gefangen.

Die ganze Herrlichkeit des Sommers drang auf sie ein.

Der Brief brannte leicht auf ihrem Herzen.

Sie dachte an ihre seligen Sommer.

Alle Sommerdüfte umgaben sie; durch den Lindenduft rang es sich zart wie ferne Kornblüte hindurch, der schwere, fruchtbare, brodige Geruch – und Rosenduft, süßer, warmer Rosenduft! Die Düfte wandelten sich, durchdrangen einander. Ihre Seele versank ganz in die Düfte des Sommers.

Der Brief lag schwerer und schwerer auf ihrem Herzen.

Schlaf – Schlaf –!

Es war ihr, als schwände der Brief hin wie ein Traum. Sie atmete auf.

Doch nein, – da lag er wieder schwer und drückte sich in ihr Herz wie ein heißes Stück Eisen in Schnee.

Sie griff nach ihm.

»In Gottes Namen denn!« sagte sie leise und öffnete ihn mit schwachen Fingern.

 

Frau Dohrn schrieb: »Ihren letzten Brief, Sibylle, dem kein andrer folgte, gab ich Herrn Dohrn nicht.

Welche Tage – welche Stunden!

Es ist, als wüßte er von dem Brief, den ich verschwieg. Sibylle! In die Hand eines Kindes gab ich sein Glück! – In die Hand einer folgsamen Tochter! Sibylle! Wie eine Königin handle ich, – und Sie! – Denken Sie nach! Sterben die Ihren ohne die Tochter? Steht das Eigenbrodtsche Haus nicht auf gesunden Grundmauern? Wird es erschüttert, wenn ein Glied der Familie ein wenig anders zu seiner Heirat kommt, als die Eigenbrodts es seit Jahrhunderten gewöhnt sind?

An dem Bürgertum wird fleißig fortgebaut. Da fehlt es nicht an Arbeitern. Ihre Hände werden nicht vermißt werden, unkluges kindliches Geschöpf.

Hier aber steht ein einsamer Mensch, – ein Mensch, für den alles andre tot ist, für den nur Sie leben, der alles Glück, Leben und Tod von Ihnen erwartet!

Werden Sie nicht schamrot, daß ich so für ihn werbe? – Glauben Sie beruhigt, daß ich ihn nicht mehr liebe, glauben Sie beruhigt, daß er mir gleichgültig ist. Ich war sein Weib, – ich liebte ihn, – er liebte mich!

Das ist kein Rechenexempel, unter das man einen Strich zieht und Gleichgültigkeit als Summe darunter schreibt.

Hat ein Mensch den andern getrunken – ja, getrunken –, so ist sein Blut erfüllt von ihm, – seine Nerven, seine Seele, – sein ganzer Körper, – sein ganzes Sein. Eins ist er geworden mit ihm.

Vergessen Sie das nicht.

Vermindern Sie mein Tun nicht durch Ihre Auffassung, und wenn die Ihrigen mich Verbrecherin schelten. Pah! Sie sollen mich verurteilen! Aber Sie, Sibylle, sollen wissen, daß ich größer und besser handle als Sie. Trotzdem Sie jetzt sehr vortrefflich sind, eine Mustertochter, eine Heilige, – und krank sind Sie auch! – Ganz gemütlich krank! Was Sie sich alles gestatten!

Eine heiße Seele wird nicht krank! War ich je krank?!

Raffen Sie sich auf! Werden Sie nicht im Halbschlaf zur Mörderin. Es möchte Sie einst reuen. – Ich habe mein Opfer gebracht. Glauben Sie, ich lasse Sie weiter dämmern in Selbstgefälligkeit? Nein!

Ihre Pflicht liegt bei ihm.

Sie gehen falsche Wege, die Wege der Feigen und Friedfertigen.

Ich hätte eine Welt regieren können, ein Reich, wie irgendeine Königin und soll hier mit meinem Willen Schiffbruch leiden, an einem simpeln Bürgerhaus!

Gehen Sie ins Freie, hinaus zur Wallendorfer Mühle, den Weg, den wir so oft gingen, und denken Sie besonnen nach, was Sie ihm schulden, was Sie mir schulden, und was Ihre verfluchte Pflicht und Schuldigkeit ist.

Die Scheidung wird hier in Deutschland kaum durchzuführen sein. Andre Wege müssen gewählt werden. Wenn ich Ihnen telegraphiere, daß Sie kommen sollen, so ist Gefahr für ihn, – dann gibt es keine Rücksicht, – dann kommen Sie!

Bereiten Sie sich vor. – Gestatten Sie sich kein Kranksein! Kopf oben! Das Herz auf dem rechten Fleck! Nicht zerfließen, nicht selbstgefällig sein! Nicht tugendhaft! Nicht braves Kind! – Heldin! Weib! Wissend! Lernen Sie lieben!

Seine Großmutter lieben ist nicht Liebe! – Dächt' ich. – Wissen Sie, was Liebe ist? Vielleicht wußte ich's. Vielleicht weiß ich's. Fragen Sie doch einmal.«

 

Wie getroffen sank Sibylle in ihre Kissen zurück, in grenzenloser Verwirrung.

Sie hatte getan, was sie konnte. Sie hatte bis zur Erschöpfung nach dem Rechten gesucht. Wo lag das Rechte? Wo lag ihre Pflicht? Handelte sie für die einen gut, sündigte sie für die andern. Wohin sie sah, kam sie nicht aus Schuld und Not.

Ein Entsetzen durchfuhr sie. Wie, – sollte sie den Kampf noch einmal aufnehmen? Den schrecklichen Kampf gegen leidende Herzen.

Die Ruhe der Ihren, die sanfte Heilung der Wunden, die sie soeben noch schmerzlich berührte, weil sie durch das Leiden eines andern, der ihr unsäglich nahe stand, erkämpft war, jetzt schien ihr diese Ruhe, diese Befriedigung mit einemmal ihr höchstes Kleinod, um das sie zitterte.

O, Auf und Nieder, Ein- und Ausatmen dieser Welt. Die sanft und unmerklich leben, fühlen dich nicht; die aber in Sturm geraten, werden vom Ein- und Ausatmen deiner Wellenbewegung zu Tode gehetzt.

 

Marie Sibylle, die Mutter, hatte die letzten Nächte bei der Tochter geschlafen.

Sibylle hatte es ihr nicht gewehrt.

Heut nacht aber sagte Sibylle: »Schlafe nicht wieder bei mir. Seid nicht gut zu mir, denn es kann sein, daß ich mein Wort brechen muß. Ich will es nicht. Ich will's halten, – vielleicht aber kann ich's nicht halten.«

Sibylle, die Mutter, antwortete: »Tue, was du tun mußt. Ich werde meine Pflicht erfüllen. Solange du bei uns bleibst, bist du mein Kind.«

Sibylle hörte, wie die Mutter stundenlang nicht zum Einschlafen kommen konnte. Sie hatte ihr von neuem die Ruhe genommen.


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