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Das Haus der Mutterlosen

Rauchfußens gehörten gewissermaßen erb- und eigentümlich der Frau Mutter an. Die hatte schon droben im alten Gutshof als Kind gespielt, und ihre Freundin Beate lebte heute noch und war eine alte sanfte Frau, von der Frau Mutter oft sagte, Gott möge sie erhalten, der armen Kinder wegen.

Isebies wußte, daß die alte Frau oben bei Rauchfußens in ihrer Jugend »Badewännchen« genannt worden war. Frau Mutter wußte viel vom Gutshof auf dem Ettersberg zu erzählen, von der einstigen Schönheit der alten Frau, von einem wunderlichen Soldatenvater und der einsamen Kindheit des schönen Mädchens neben dem alten Griesgram, von den Tänzen und Spielen im Garten abends mit den lieben Kameraden und Freunden, die Isebies alle kannte, so genau fast wie die Frau Mutter selbst sie kannte. Die alten Stuben waren noch dieselben wie zu Frau Mutters Jugend, ja der Garten war noch fast unverändert. Der große Muskateller Birnbaum trug heute noch so reichlich wie zu Frau Mutters Zeiten, die Linde, unter der sich so viel begeben hatte, blühte noch Jahr für Jahr, als wäre ein goldenes schimmerndes Netz ihr über die Zweige geworfen.

Und wieder wuchs da oben ein mutterloses Kind auf, dessen Haar rot leuchtete, Lilly Rauchfuß. Doch war ihr Besseres beschieden wie der einstigen jungen Beate Rauchfuß, denn sie hatte einen Bruder, und die alte Beate wachte über die junge zarte Lilly. Die Dinge wiederholten sich droben auf eine wunderliche Weise.

Frau Mutter sagte, daß sie das junge Badewännchen nie ohne Bewegung ihrer Seele anschauen könnte, denn selten geschehe es, daß man einen Menschen zum zweiten Male auf Erden erscheinen sehe. Isebies konnte sich freilich nicht vorstellen, daß die alte Frau der Enkelin geglichen habe, aber Frau Mutter sagte es. Für Isebies war die junge Lilly oben im alten Gutshof die zweite Isebies, der Liebling unter den Menschen. Sie liebte sie über alles, wie sich selbst.

Lillys um zwei Jahre älterer Bruder hieß Ottomar. Ottomar hatte das Grüblerische, Versonnene der Rauchfußens und die Schönheit seiner Mutter und deren Güte. Seine dunkeln Augen hatten etwas Weites, Tiefes. Wenn man hineinblickte, kam man an kein Ende. Wo mag seine Kraft liegen, diese endlose, die aus den Augen spricht, dies Uferlose? Die alte Frau dachte oft, wenn sie sich in den Anblick ihres Enkels vertiefte: Ich wünsche dir, daß diese Kraft Güte und Wärme ist. Ich wünsche dir nicht uferlosen Geist, deine Augen würden mich erschrecken, wenn sie das bedeuteten, du würdest leiden und Leiden bringen. Um dieser Enkel willen war sie im Haus geblieben, trotzdem ihr Schwiegersohn sich bald wieder verheiratet hatte. Sie mußte das Herz ihrer verstorbenen Tochter hier vertreten.

Mit ihrem Schwiegersohn war das so eine Sache. Es gab keinen redlicheren, braveren Mann, das wußte die alte Frau; aber auch keinen schwerfälligeren. Cäsar Rauchfuß dachte und fühlte und ging in einer geraden Linie, die über alles hinwegführte, was sie kreuzte. Ihre Tochter war an dieser geraden Linie eine müde Seele geworden noch in ihren Jugendjahren.

»Es ist das unbewegliche Geschlecht,« hatte die alte Frau sie oft getröstet, »du mußt nichts Unmögliches von ihm verlangen.« Sie kannte nur unbewegliche Männer, ihren Vater, ihren Gatten, ihren Sohn, und ihre bewegte, biegsame Tochter hatte wieder, wie die Mutter, nach dem Unbeweglichen, das die Frauen oft für Kraft und Größe halten, Verlangen getragen und war daran zu Tode müde geworden.

Cäsar Rauchfuß hatte sich ein Jahr nach dem Tode seiner Frau in die neue Wirtschafterin auf seinem Gute verliebt, in eine derbe, flotte Person.

»Weil's mir zu ruhig um mich herum ist,« hatte er der Mutter seiner ersten Frau gesagt, »und weil die Gertraud der Seligen so gleicht.«

»Wieso denn gleicht?« hatte die arme Mutter betroffen gefragt.

»Sie hat auch so ihre Flausen im Kopf, wie ein Frauenzimmer sie nun einmal haben muß, und daß sie so auf ihre Art auch ein bißchen so 'ne Gefühlswurscht ist, ist gerade recht. Ich brauch' das. Es muß was um mich herum sein.«

»Gewiß,« hatte die Mutter gemeint.

Der Mann war entschlossen, das hatte sie gefühlt, so entschlossen wie damals, als er um ihr liebes, schönes Kind warb. Ein stattlicher Mann, ein Ehrenmann, ein Pflichtgetreuer, ein Fels im Meer, ein heiterer Mann, ein Halt der Frau. Man hatte ihn, wie man in Weimar sagt: über den Schellenkönig gelobt. Wortlos und treuherzig, ein deutscher Mann, so nennt man so einen Menschen. Das Gut gedieh unter seinen Händen wie noch nie. Er arbeitete von früh bis in die Nacht hinein; aber er sah und hörte so wenig wie eine brave Lokomotive. Er ging wie auf Geleisen, und wenn man sich an ihn hing und mit ihm fuhr, kam man gewiß an Ort und Stelle und hatte ihn auf der Fahrt lachen und schnaufen hören. »Hoho, das haben wir gleich!«

Das leichte phantastische Gefährt aus dem Hause Rauchfuß war an ihm zerschmettert, und nun versuchte er es mit einem derberen, und so war die Wirtschaftsmamsell Herrin auf dem alten Rauchfußschen Gutshof auf dem Ettersberg geworden, eine ganz andere Art Herrin, als sie bis dahin droben üblich war. Sie brachte auch eine andere Art Kinder zur Welt, als sie bis dahin droben im alten Hof zu Hause gewesen, brachte auch andere Sitten, einen andern Schritt der Dinge. Die schwermütigen, tapfern, träumerischen, stillen Frauen der Familie Rauchfuß waren verdrängt.

Die alte, echte Beate Rauchfuß wachte über die Enkelkinder der alten Rasse. Aber die neue Frau Rauchfuß brachte Leben ins Haus. Vollbusig und drall, braunäugig, lachte sie mit ihrem Riesen um die Wette. Er hatte nun etwas um sich herum. Sie vertrug auch einen gehörigen Puff. Sie war die rechte Frau für ihn, zwar keine »Gefühlswurscht«, wie er sagte, aber doch das Herz auf dem rechten Fleck. »Das Gefühl war ihr nur so angekommen, anfangs,« meinte er. Geschmalzen ging ihr alles von den Händen: die Arbeit, die Vergnügungen, das Kinderkriegen, das Schneidern, das Kirchengehen. Es war eine wahre Freude. Sie verstand das Weibsein ganz vorzüglich, wie er das Mannsein. So hausten sie gut beieinander.

Sie war eine weitläufige Verwandte von Goethes Christiane, und Frau Mutter sagte, daß sie dieser ausnehmend gleiche.

Nur konnte Frau Rauchfuß sich bei weitem besser ausleben als die arme Christiane, die gewiß neben ihrem Geheimrat gar oft in ihrer unbezwinglichen Natur sich gedemütigt und beeinträchtigt gefühlt hatte und gewiß manche Taktlosigkeit würde unterlassen haben, wenn sie frei hätte ausschreiten können; aber wie eine Quelle doppelt sprudelt, wenn man sie erst zurückgestaut hat, so war es gewiß der armen Christiane ergangen.

Frau Rauchfußens Lebensgeister waren hingegen vollkommen ungehemmt: ihre bösen und guten Eigenschaften hatten keinen Grund sich aufzubäumen. Alles ging in gesundem Trab.

Der heitere Riese war zufrieden. Er brauchte so etwas. Er war zu unbeweglich, um im eigenen Sinne selbst leben zu können, das heißt sein Inneres von den Geschehnissen bewegen zu lassen. Er hatte seine Arbeit. Wenn er aber feierte, wollte er ein bißchen Theater haben. Das Hoftheater unten in Weimar langweilte ihn. Da war ihm die »schnackische« Frau, die immer etwas vorhatte, ganz das Richtige.

Die Fremdenzimmer wurden nie leer von Leuten, die mit Frau Rauchfuß bekannt waren und sie bewunderten; da war ihr jeder recht, Männlein und Weiblein. Sie mußten nur mittun, jung und alt. Die Lehrer und Lehrerinnen der Kinder, Schauspieler und arme Maler; auch die beiden alten Schwestern von Cäsar Rauchfuß, zwei alte, schmächtige Dämchen, denen der Riesenbruder scheinbar alles weggenommen hatte, Fleisch und Knochen, Kraft und Wärme, die kamen alljährlich auf ein paar Monate herauf in einem alten Mietkütschchen, mit ihren beiden alten Köfferchen und konnten sich gar nicht genug tun in Bewunderung der Frau, der Kinder, der Wirtschaft, des Bruders, des Essens und Trinkens, der Ordnung, der Milch, der Butter, des Viehs, des Wetters. Und diese Bewunderung gab ihnen die Berechtigung zu existieren. Cäsar Rauchfuß lachte immer, wenn sie kamen, fand kein Wort zur Begrüßung, reichte jeder seine große Tatze, lachte nur. Es war aber ganz klar, was das bedeuten sollte. Da kommt nur, ihr Vogelscheuchen! Habt wieder kein Fett angesetzt. Macht's euch bequem. Langt zu! Wir haben's. Die Geschwister verstanden sich aber, gottlob!, auch wortlos.

Die beiden magern Wesen waren kaum angelangt, so stimmten sie auch ihre Lobeshymnen an. Um einige Töne drückten sie den Lobgesang herab, wenn es sich um Ottomar und die kleine Lilly handelte. Die pausbackigen Schwarzköpfe aber aus zweiter Ehe brachten einen enormen Sturm von Lobgesängen bei den beiden magern Jungfrauen hervor – fast so stark, wie sie ihre Lobesgesänge zu Ehren des Jungviehs ertönen ließen, das unter Gertrauds Oberhoheit stand. Die fortgesetzten Hymnen mochten aber das überzarte Schwesternpaar anstrengen, denn man hörte sie nie miteinander reden. Sie ruhten, wenn sie allein waren, von der Strapaze aus. »Du d'r ä Duch um« (»Tu dir ein Tuch um«), sagten sie zueinander auf gut Weimarisch, wenn sie sich im Garten begegneten, denn sie froren immer und hatten Mitgefühl füreinander. Sie wußten, was jede leisten mußte, um sich hier oben einzuloben. »Du d'r ä Duch um,« – in diesen wenigen Worten hatten sie ihr ganzes Mitgefühl füreinander ausgepackt. Das sagt alles, daß sie froren und ein paar alte arme Schelme waren, diese beiden Lobesposaunen.

Cäsar Rauchfuß mochte es auch, wenn die Gäste bewundernd auf seine Frau schauten; an ihrer Treue zweifelte er nicht, denn Dankbarkeit gibt es noch auf Erden. Wer hatte den Mut, die Mamsell zu heiraten, ohne alles Drum und Dran, in jetzigen Zeiten, einfach »die Mamsell«. Sie war ihm auch treu. Was waren die hungrigen Maler und kleinen Schauspieler gegen ihn, die Lehrer und Pfarrer der Umgegend gegen ihn, den Riesen, mit dem köstlichen Lachen, den schneeweißen Zähnen, den kleinen, festen Locken, der stummen, gewaltigen Lebenskraft, der elementaren Liebeskraft, der sie so ganz gewachsen war. Wer hätte so mit ihr spielen können und sie mit ihm? Sie liebten sich wie zwei wilde, starke, große Katzen mitten zwischen Haustieren. Es war gar kein Grund zur Untreue vorhanden, gar keine Möglichkeit. Sie wußten genau, was sie aneinander hatten, oder sie wußten es auch nicht. Sie dachten beide nicht und lebten ihr Liebesleben, wie sie eine schöne starke Luft einatmeten, fast unbewußt. Die Kinder, die sie ihm schenkte, waren ganz das, was er von Kindern erwartete. Sie gefielen ihm außerordentlich. Es waren seine wirklichen Kinder, ganz einfache, hübsche, rotbackige »Bälger«.

Keine Kinder mit uferlosen Augen. Diesen Ausdruck hätte er freilich nie gebrauchen können, denn er lag ihm weltenfern; aber er spürte so etwas Fremdes in den Augen seiner beiden Ältesten, etwas, das nicht zu ihm gehörte, nicht zu ihm wollte, etwas Unheimisches, etwas Rauchfußsches von der anderen Linie.

Die andere Linie lebte träumerisch inmitten des satten Treibens des Hauses, auch die alte Frau war auf ihre Art träumerisch. Sie sah allzuviel Vergangenes, nach dem niemand mehr fragte.

Die vergessene Mutter der beiden ältesten Kinder des Hauses aber hatte mitten im neuen Familienglück zwei leidenschaftliche stumme Verehrer gefunden, zwei glutvolle Anhänger. Sie war zur Heiligen geworden für zwei sehnsüchtige Herzen.

Lilly und Ottomar schlichen ihrer Spur nach, die schon ganz vom Leben verwischt war. Mitten im lärmenden frohen Durcheinander des Hauses sahen sich die Kinder zuweilen bedeutungsvoll an, und eines oder das andere flüsterte: »Vergiß sie nicht.«

An den Weihnachtsabenden hatten sie eine stille Sitte eingeführt. Sie bauten in einem Winkel des Gartens im Schnee einen kleinen Altar für die verstorbene Mutter, zu dem sie sich nach der Bescherung schlichen. Dort beteten sie und legten der Mutter ihre Zeugnisse stumm nieder und feierten eine ekstatische Weihnachtsfeier tief verborgen, brachten der Toten ihre Liebe, flüsterten ihren Namen und sagten: »Liebe, gute Mutter.«

Diese stummen Feiern verbanden sie auf das engste miteinander. Niemand ahnte etwas davon, selbst die Großmutter nicht.

Ottomar konnte jedesmal ein glänzendes Zeugnis auf den kleinen Altar niederlegen. »Sei nicht böse,« sagte er, »und auch nicht traurig, der Lilly ist's wieder nicht recht geglückt; aber das nächste Mal.« Dabei faßte er Lilly an der Hand, wie um ihr beizustehen, und er hatte feste Hände mit einem starken Griff. »Liebe Mutter,« sagte er, »wie es auch wird, ängstige dich um Lilly nicht, ich bin bei ihr, ich lasse ihr nichts geschehen, auch wenn es mit dem Lernen nicht besser werden sollte; – aber es wird besser.« Dies sprach er zu Lilly; dann wendete er sich wieder zur Mutter: »Und wenn sie dich alle vergessen, wir vergessen dich nicht.« Das war so fest und unerschütterlich gesprochen, so grundehrlich. Jedes Jahr waren es ungefähr dieselben Worte. Zwei rote Lichtchen brannten und flackerten. Damit niemand den Schein gewahr werden sollte, beugten sie sich tief. Lilly hielt ihre Hände vor, da wurden die zarten Hände durchscheinend und erglühten rosig.

»Deine Augen,« sagte Lilly nach einer solchen Feier zu ihrem Bruder, »wenn man hineinguckt, sind wie das Meer.«

»Wann hast du denn das Meer gesehen, dumme Gans?« sagte er. »Pfui, wer redet von Augen. Kein Bub sagt so was.«

Lilly wurde ganz kleinlaut. Einen geheimnisvollen Schreck hatte sie vor den Augen ihres Bruders empfunden. Wer war er denn, daß er so schaute? Ganz anders wie sie selbst. Sommer und Winter ging er seinen Weg in aller Herrgottsfrühe hinunter ins Gymnasium, im Winter mit einer Stallaterne. Niemanden machte er Not; aber es bekam auch niemand außer Lilly und der Großmutter ein herzliches Wort von ihm. »Die Babies« nannte er die Geschwister und behandelte sie immer etwas scheu von oben herab, besonders die ganz kleinen mit viel Zartheit. – Am liebsten wich er ihnen aber aus. »Dummes Volk,« sagte er zu Lilly, »so, so – ich weiß nicht – zu dumm. Und man denkt immer, man tut ihnen was, wenn man sie angreift. Daß der Vater sie so wie Bälle in die Luft wirft und auffängt!«

Sehr gern hatte er Isebies Eigenbrodt, die öfters zu ihnen kam, und er nannte die beiden Mädchen: »Die Isebiese.«

Es machte sich alles so ganz wie von selbst zwischen ihnen dreien. Die Zwillinge paßten nicht in den Ton, den sie miteinander anschlugen.

Über Tiere wurde geredet, über alles mögliche Viehzeug, das war ihnen am interessantesten. Menschen gehörten nicht in das Reich ihrer Unterhaltungen; und dann liebten sie, in der Erde zu graben. Sie gruben einfach Löcher und gruben und gruben. Und Ottomar sagte zu den Isebiesen: »Ich weiß nicht, ein Mensch, der nicht gern gräbt, ist für mich gar kein Mensch. Ich bin ein Erdarbeiter mit Verstand. Ich grabe natürlich nicht wie ein Unsinniger. Ihr werdet es gesehen haben, bei mir geht's immer ganz vernünftig zu, nicht wie bei euch. Ich weiß die Form des Loches immer im voraus, und ich weiß auch immer, weshalb ich grabe. In der Erde kann alles mögliche sein. Es ist der einzige Ort, wo wirklich etwas sein kann. Die Dinge liegen natürlich nicht auf der Erde umher, alles in der Erde, was man finden kann: Rüstungen und Schätze, Knochen, wundervolle Statuen. Und was in der Erde liegt, hat keinen Herrn.« So gruben die drei Schatzgräber im Schweiße ihres Angesichts und waren voller Erregung und hofften auf Geheimnisvolles. Sie wurden der Arbeit nicht müde.

Lilly sagte einmal zu Isebies während des Grabens: »Unsere Mutter liegt auch in der Erde.«

Etwas Traurigeres hatte Isebies nie gehört. Mit vor Mitleid glühender Seele fiel sie zuerst Lilly, dann Ottomar um den Hals, küßte beide leidenschaftlich und schluchzte: »Sag' das nicht, da müßt ihr ja sofort sterben, wenn ihr das sagt.«

Beide Kinder konnten Isebies nicht sogleich wieder beruhigen. »In dieser schweren Erde,« sagte Isebies traurig und wog mit einer rührenden Gebärde ihrer mageren Hände die Schwere der Erde vor ihren Augen gleichsam ab.

Sie gruben aber nicht weiter und gingen planlos miteinander auf dem Gutshof umher, durch die Ställe, und blieben schließlich bei ihren Karnickeln hängen.

»Wir müssen noch ein Weibchen haben,« meinte Lilly. »Wann ist der nächste Viehmarkt?«

Sie fragten den Knecht, der im Stall beschäftigt war. Zum nächsten Viehmarkt, der in ein paar Tagen fiel, holten sie Isebies von daheim ab, und Ottomar führte sie über den Rollplatz, an den Reihen von Kühen, Ochsen, Stieren und Kälbern vorüber, durch all den Dunst und Dampf der mächtigen Tierleiber, bis sie an den Stand kamen, auf dem das kleine Vieh feilgeboten wurde, Ziegen, Schweine, Ferkel und Karnickel. Da war auch großes Treiben, und mir Mühe würgten sie sich mit dem Korb, den Lilly trug, durch.

»Jetzt paßt aber auf,« sagte Ottomar, »damit wir nichts Dummes erwischen!« Lilly mit dem Korbe war die wichtigste und eifrigste Person. Sie hob die Deckel von den Kisten und schaute hinein, wie die Hasen geduckt und breit im Stroh saßen. »Was wollt ihr denn?« wurden sie gefragt.

»Wir wollen eine gute Häsin,« antwortete Lilly.

»Das ist eine gute Häsin,« sagte ein Verkäufer und hob ein graues, zappelndes Tier an den Ohren in die Höhe.

»Nein, nein,« sagte Lilly, »das ist nichts, sie soll eine Lapinhäsin sein.«

»So, so,« rief ein anderer Verkäufer und hob eine weiße Lapinhäsin in die Höhe.

»Die wollen wir keinesfalls, die zieht Ratten an,« meinte Ottomar, »dann bekommen wir langgeschwänzte Junge, meint Jochem.«

»Jawohl,« rief der Verkäufer höhnisch. »Dummer Schnack. Sie ist schon trächtig und nicht von Ratten.«

»Wir wollen sie aber nicht,« sagte Ottomar kurz.

Isebies aber meinte: »Du, wenn sie schon trächtig ist, sollten wir sie doch nehmen.«

»Nein, nein, da verlass' ich mich auf Jochem.«

Mittlerweile hatte Lilly eine Häsin gefunden, die ihr auch gefiel. Sie hob sie selbst an den Ohren aus dem Stroh und fragte mit voller Andacht und Gewissenhaftigkeit: »Wie oft hatte sie schon Junge? War ihre Milch gut? Gediehen die Kinder? Biß sie noch keinen? War sie eine gute Mutter? Darauf kommt uns alles an. Wir wollen eine gute Mutter.«

Die Bauern, die um die Kinder her standen, und die Verkäufer fingen an zu lachen und machten ihre Bemerkungen, sahen auf das hübsche Mädchen, das die Häsin hoch in die Höhe hielt und auf niemanden achtete. »Ist es auch bestimmt eine Häsin? Bei Hasen ist das gar nicht leicht zu sagen. Betrügen Sie uns auch nicht?«

Das Lachen wurde immer stärker, die Leute drängten sich um die Kinder.

Isebies sagte laut, stolz und bös: »Da ist gar nichts zu lachen. Weshalb lachen die Leute?«

»Wir wollen die Häsin nehmen,« meinte Ottomar, der vor Zorn dunkelrot war, kurz.

»Laß,« sagte Isebies. »Da wird nichts übereilt. Schließlich haben wir die Bescherung.« Und sie handelte und fragte weiter, bis endlich eine schöne, braune, schon trächtige Lapinhäsin ihr im Korbe saß und von ihr und Lilly mit Zärtlichkeit überschüttet wurde.

Ottomar und Lilly trugen miteinander den Henkelkorb. Isebies wollte helfen.

»Nein, laß,« sagte Ottomar, »da kommen Jungens aus meiner Schule.«

»Mädchenschlunz! Mädchenschlanz!« rief es hinter ihnen drein.

»Wart,« sagte Ottomar, »laßt die Häsin nicht fallen.« Fort war er und über die Jungen her wie der Teufel, so schien es Isebies, und sie hörte ihn rufen: »Wart, ich werd' euch beschlunzen und beschlanzen.« Er trat und hieb und rüttelte und schüttelte, daß es eine Art hatte, und zwickte und zupfte wie eine Maschine, die die Jungens in die Mache bekommen hatte. Er stieß mit seinem braunen Buschelkopf nach ihnen wie ein Bock und war mit den beiden Burschen bald fertig, die ihn mit einem Ausdruck verblüffter Hochachtung gehen ließen, eine Weile ihm nachblickten und dann verschwanden. Das war ein ganz überraschender Ottomar für Isebies, ein Kerl, ein böses Stück Natur, das ihr fern war, das fremd sich von ihr getrennt hatte, eine andere Welt. Sie war stumm, als er wieder zurückkam, und sagte nach einer Weile: »Du bist aber einer.«

»Freilich, du meinst wohl, ein Bub hätte nicht die Augen offen zu haben!«

»Seid ihr alle so?« fragte Isebies.

»Alle,« sagte Ottomar.

»Wie die Viecher,« meinte Lilly.

»Nein, wie Männer,« antwortete Ottomar schroff.

»Aber die anderen waren nicht gerade wie Männer,« meinte Lilly wieder.

»Sie haben die Kräfte noch nicht.«

»Du hast sie aber?« fragte Isebies.

»Das wollt' ich meinen. Ich bin der Stärkste in meiner Klasse.«

Isebies aber fühlte sich ihrem Kameraden für einen Augenblick ganz unverständlich fern gerückt.

 

Bei Rauchfußens war eine andere Luft wie unten bei Eigenbrodts, eine Luft, in der Isebies gern atmete. Es war so etwas Urkräftiges da oben. Der Regen peitschte ganz anders, wenn er an den kahlen Flanken des Ettersbergs dahinfuhr und über den freiliegenden Gutshof zog, als unten in der Stadt zwischen den Häusern; und der Wind, – da machte man sich unten in Weimar keinen Begriff davon, was der eigentlich konnte. Um das Gutshaus fuhr er im Herbst und Frühling, als wenn ein Eilzug nach dem andern daran vorüber donnerte, dicht an den Fenstern hin und ununterbrochen, und heulen konnte er mit unglaublichen Stimmen, an den Fensterläden rüttelte er so unverschämt, wie er sich das in Weimar nie erlaubt hätte. Der Schnee fiel so dicht und tief, der Sturm wühlte und spielte darin, die Rabenzüge schrien so wild und seltsam, und im Frühjahr und Herbst flogen die Starenschwärme auf mit rauschendem, donnerndem Getöse, wie man sich so etwas von Staren in Weimar nicht ausdenken konnte. Die Sonne brannte anders wie in der Stadt, und die Düfte und Gerüche waren so viel stärker. Nach einem Frühlingsregen dampfte und roch die Erde ganz berauschend. Ganze Wolken von Duft stiegen auf, und die Kornfelder rochen, daß es sich einem schwer auf die Brust legte. Ganze Lasten von Geruch und Wachstum waren in der Luft und immer etwas anderes und immer etwas Ungewöhnliches. Es war, als ob in Weimar alles verwässert ankäme.

Und es schien auch so etwas mit den Menschen da oben zu sein.

Bei Eigenbrodts war man doch auch lustig und lachte oft; aber man lachte, wie man es in Weimar tut. Marie Sibylle konnte oft lachen, daß ihr die Tränen in den Augen standen, und da mußten alle mitlachen, der Vater, die Frau Mutter, die Kinder, und wenn eins der wohlerzogenen Dienstmädchen durchs Zimmer ging, blieb diesem gar nichts übrig, als sich in die Lippen zu beißen.

Aber oben bei Rauchfußens war oft ein Spektakel, daß kein Mensch sein eignes Wort hören konnte. Wenn Cäsar Rauchfuß gut aufgelegt war, und das war er sehr oft, da gab es etwas zu hören. Der konnte wiehern, grunzen, quieken, und seine Frau stemmte dann die Arme in die Seiten und half ihm nach ihrer Art, und die war nicht schlecht, und die Kinder fielen ein, daß man hätte des Kuckucks werden können.

»Warum auch nicht,« so etwas Ähnliches würde Cäsar Rauchfuß gesagt haben, wenn man ihn gefragt hätte. »Wir haben niemand über uns und niemand unter uns und niemand neben uns. Weshalb sollen wir uns genieren?«

Und weshalb sie lachten? Das war gar nicht zu sagen, um was für dummes Zeug, wegen dem kein Mensch in Weimar auch nur gelächelt hätte.

Sie spielten manchmal abends mit ihren Gästen. Da wurden Rätsel geraten. Der kleine, dürre Lehrer, der so oft bei ihnen zu Besuch war, mußte sich unter den Tisch kauern, und der dicke Verwalter mußte sich auf den Tisch legen und tun, als wenn er schwämme, und das sollte heißen: das Fett schwimmt oben. Über solche und ähnliche Sachen freuten sie sich ganz unbändig.

Einer mußte den Mund aufreißen und einem waren die Augen verbunden, und der mußte mit ausgestrecktem Finger vorwärts gehen. Natürlich fuhr er mit dem Finger dem andern in den Mund. Da konnte man sich freilich vorstellen, daß dem harmlosen Riesen das Hoftheater nicht besonders gefiel.

Wenn Isebies der Frau Mutter von dieser Art Zeitvertreib bei Rauchfußens erzählte, sagte diese: »Das muß in den Wänden stecken geblieben sein. So haben sie es da oben immer getrieben. Deshalb hat auch Beate Rauchfuß damals den verrückten Menschen geheiratet, nur weil er anders war. Und was macht die alte Frau dabei?«

»Die ist gewöhnlich oben in ihrer Stube,« sagte Isebies. »Die kommt fast nie herunter, wenn abends alle beieinander sind.«

»Die ist dann bei ihren Heimgegangenen,« meinte die Frau Mutter. »Da sind wir alten Leute am liebsten.«

»Sie ist wie eine heilige Frau,« sprach Isebies, »und könnte auf einem Altar stehen. Man möchte ihr die Hände küssen, wenn das nicht dumm wäre.«

»Das macht,« sagte die Frau Mutter, »sie ist niemals glücklich gewesen, soviel ich weiß, und diese Frauen bekommen alle ein bißchen etwas, als wären sie nicht daheim auf Erden.«

»Aber du warst glücklich, mein Gomelchen?«

»Ja, das war ich, Gott sei's gedankt.«

»Gott sei Dank,« sagte Isebies und küßte die Frau Mutter stürmisch und freute sich heute noch ganz gewaltig über das längst vergangene Glück ihrer lieben Frau Mutter.

»Weißt du, die Dienstleute oben, wenn ich da an unsere denke!« sagte Isebies zu Frau Mutter. »Wie Exzellenzen und Minister sind die unsern mit ihren weißen Schürzen und Häubchen und den Gesichtern, als wären sie eben aus dem Ei gekrochen, aus dem die ganz braven Dienstmädchen kriechen, so, als stünde auf ihrer Stirn geschrieben: Wir haben nie genascht, wir haben nie geklatscht, wir haben keinen Schatz, wir sind die bravsten, brav, brav, brav.

Oben kommt die Bomberl, so nennt die junge Frau Rauchfuß die Mötschen, die mit Mann und Kindern auf dem Hof wohnt und Aushilfsköchin ist und alles mögliche natürlich noch, – die Bomberl kommt ins Zimmer mit bloßen Füßen und fast ohne Zähne, nur zum Kauen so'n paar; patsch, patsch, patsch kommt sie herein wie'n Frosch und bringt die heißen Plinsen zum Kaffee, und mit einer Gabel nimmt sie sie raus aus der Pfanne und klatsch, klatsch, klatsch, patsch, patsch, patsch fällt jedem so ein rundes Ding neben die Kaffeetasse und macht einen runden Fettfleck. Das scheuert die Bomberl am andern Tag wieder fort, ganz blank ist's dann wieder. Das macht nix. Und dabei wollen sie jetzt eine Kochlernerin, wie Frau Rauchfuß sagt, nehmen.

Unsern Vater möcht' ich mal oben sehen! Aber schmecken tut's! Solche Plinsen könnten wir gar nicht machen; auch wenn wir wollten. Bei uns würden es zahme Plinsen. Weißt du, es gibt zahme Gänse und wilde Gänse und zahme Plinsen und wilde Plinsen, und so ist alles. Da oben sind's Wildgänse mit wilden, feurigen Augen, und wir sind zahme Gänse, ganz einfach.«

»Du bist gut!« sagte Frau Mutter. »Und wie ist denn Herr Rauchfuß, wie kommt denn der dir vor?«

»Wie'n feuerspeiender Berg.«

»Und Frau Rauchfuß?«

»Wie 'ne Feuerkugel.«

»Na, und was machen sie denn immer, daß sie so speien und feuerkugeln?« fragte die Frau Mutter wohlgelaunt.

»Was sie machen? Sie arbeiten furchtbar, und dann, wenn's damit zu Ende ist, geht eine großartige Lustigkeit los.

Denk dir, neulich war Frau Rauchfuß auf dem Brocken ohne Herrn Rauchfuß, mit dem Lehrer und seiner Frau. Dort hat sie die Sonne aufgehen sehen und Gott weiß was, und Frau Rauchfuß ist furchtbar gestiegen und hat alles herrlich gefunden und hat alles mögliche erlebt, und hat erzählt und erzählt und erzählt, hat in ihrer Freude und Aufregung Kuchen gebacken, Kuchen über Kuchen, Grießkuchen, den ich aber nicht mag, und Apfelkuchen und Napfkuchen und Kaffee gekocht, und draußen auf der Veranda, an der die Straße vorüberführt, ist sie dann gestanden und hat gebügelt, und wer vorübergekommen ist, den hat sie hereingewunken, gewunken, sagt Frau Rauchfuß, den Lehrer, den Pfarrer, die alte Wirtschafterin vom Nachbargut, die Frau Kleinerten von der Marienhöhe, und dann ist jedesmal das Kuchenessen losgegangen und das Kaffeetrinken und das Erzählen, und für den Herrn Pfarrer gab's Apfelmost, und ich glaube für den Herrn Lehrer auch, und der Herr Rauchfuß ist gekommen und hat gesagt: ›Du ausgelassenes Fett,‹ und hat sie in die Backe gekniffen, daß die dunkelrot geworden ist. Und immer, wenn wer Neues gekommen ist, hat sie gemacht, als wenn die Sonne auf dem Brocken aufgehen will.

Sie haben immer Späße da oben. Und wenn irgend was ist, was Frau Rauchfuß nicht gleich versteht, sagt sie ganz einfach: ›Unnatürlich!‹ Ganz besonders sagt sie das oft zu Ottomar. Ich glaube, den mag sie nicht sehr, und auch zu Lilly sagt sie oft: ›Unnatürlich!‹«

»Und wie sind nun eigentlich Ottomar und Lilly?«

»Das sind Kerle aus Gold und Edelsteinen!« rief Isebies und fiel ihrer Großmutter leidenschaftlich um den Hals.

»Und du wirst mir da oben wohl auch eine Wildgans?«

»Ich bin schon eine!« sagte Isebies. »Weiß du denn das nicht?«

Sie schüttete der Frau Mutter von Zeit zu Zeit vollkommen ihr Herz aus, und das war gut.

»Aber Bomberls Kinder, da machst du dir keine Idee, Gomelchen,« fuhr sie fort. »Im Herrnhaus ist Bomberl sauber, da gibt's nix! Vom Plinsenfleck auf dem runden, weißen Tisch ist am andern Tag kaum mehr ein Schättchen da, und so alles. Hinter der Kinderfrau ist Bomberl her wie der Teufel, wenn da was nicht ganz sauber ist, macht Bomberl ein Mordsgeschrei. ›Die Dreckliese‹ heißt's dann gleich. Aber ihre eigenen Kinder! Herr du meine Güte! Ich glaube, die hat sie nur so aus Versehen gekriegt. Gar keinen Sinn hat sie dafür. Sie nennt sie Krampen – Krampen! Immer hört man sie daheim bei sich so etwas rufen wie: ›Einen Deifel muß es nich geben, sonst hätt' er schon lang' so etliche Hünd geholt, so Hünd, so ganz damische, so ganz damische.‹ – Weiß du, Herz haben sie da oben nicht. Die Bomberl hat bei Rauchfußens viel zu viel zu tun. Das dürften die Rauchfußens nicht erlauben, daß sie alles daheim so verschlampen läßt. Sie stammt aus dem Heimatsdorf von Frau Rauchfuß.

Die Großmutter grämt sich auch oft darüber und lehrt die kleinen Rotznasen stricken und schaut öfters nach, aber die Rauchfußens haben kein Einsehen. Ottomar ist oft ganz wütend darüber. Bei dem käme so etwas nicht vor.

Ottomar könnte Gottes Sohn sein,« schloß Isebies, »so gut ist er.«

»Ach geh,« erwiderte Frau Mutter, »red' nicht so abgeschmackt!«

»Na,« sagte Isebies, »wenn der Herr Jesus so anständig mit vierzehn Jahren war wie Ottomar, da konnte Maria sehr zufrieden sein. Ins Gymnasium ist Jesus nicht gegangen, seine rechte Mutter hat er gehabt, da war's nicht so schwer. Er hätte sich gehörig umgeschaut, wenn Gott ihm die Maria genommen und die Frau Rauchfuß dafür gegeben hätte, – und jeden Tag punkt halb sechs Uhr, Winter wie Sommer, hinunter ins Gymnasium, – und diese Aufgaben dann, und die Ludersch von Lehrern! Und die Ungerechtigkeit von Frau Rauchfuß. Und daß ihn sein Vater immer Esel nennt!«

»Isebies!« rief Frau Mutter ganz entsetzt.

»I, was wahr ist, muß wahr bleiben.«

»Nennt er seine Lehrer so?« fragte Frau Mutter.

»Könnte vorkommen, kommt aber nicht vor. Das sag' nur ich so.«

»Na, dann sag's nicht.«

»I was,« meinte Isebies.

»Weshalb verkehrst du mit deinen Kindern, den Mädels, mit denen du Stunde hast, so ungern?«

»Weil ich bei denen immer der Hund bin.«

»Wieso?«

»Weil sie mich verachten wegen des schlechten Lernens, und wenn etwas los ist, das sie spielen, soll ich immer der Hund sein. Ne. Wenn sie was untereinander haben, immer bin ich ausgeschlossen. Ottomar und Lilly halten zu mir. Wir sind ein Dreck!«

»Pfui!« rief Frau Mutter. »Wie kommst du auf so abscheuliche Worte?«

»Ich mag die schönen nicht,« sagte Isebies trotzig und machte ihr Siouxindianergesicht, verschlossen, kalt, unbeweglich.

»Aber mit solchen Worten kann man mit uns nicht leben,« sprach Frau Mutter ernst.

Eine heiße Röte stieg in Isebiesens Gesicht auf. Tränen drangen in die Augen. Sie schaute um sich, als wollte sie davonlaufen, und Frau Mutter nahm sie weich in die Arme.

»Arme Wildgans,« sagte Frau Mutter leise.

 

Eigenbrodts bekamen nun wirklich eine Erzieherin. Diese Neuigkeit machte die Runde in der ganzen Bekanntschaft.

Und die Gefürchtete kam an einem kühlen Frühlingstag. Der neugesetzte Ofen im Schulzimmer war zum erstenmal angebrannt und roch süßlich nach Lehm, recht unausstehlich. Isebies war das sehr unangenehm, daß es so fatal roch; und sie pflückte im Garten ein Sträußchen Schlüsselblumen. Biwi räucherte mit Eau de Cologne und Wasser vermischt.

»Na,« sagte Isebies.

Biwi meinte auch, die Stinkerei braucht's nicht.

Diejenige, die ankam, war ein wunderhübsches blondes Mädchen von zwanzig Jahren, trug die Zöpfe um den Kopf geschlungen, hatte ein Gesicht flaumig und zart wie ein Pfirsich. Isebies hatte aber sofort den Eindruck, als wäre sie aus zwei Figuren zusammengesetzt. Sie hatte zu kurze Beine und war in den Schultern zu breit, und auch die Arme waren zu kurz geraten. Sie machten Isebies den Eindruck von Flügelchen. Ihre Nase war aber eine feine Gemmennase, und ihre Augen waren außerordentlich schön geschnitten und blau.

Lilly und Ottomar waren vom Ettersberg herunter gekommen, lauerten vor dem Haus, Isebies hatte schon nach ihnen ausgeschaut und kam sofort zu ihnen herunter.

»Na, was tut sie?« fragte Lilly.

»Vorderhand verhält sie sich ruhig. Ofenecken hat sie noch keine abgebissen.«

»Benimm dich aber anständig, Isebies,« sagte Ottomar, »daß wir dich achten können. Ich muß auch tun, was ich kann.«

Zwei Lewins kamen, während Ottomar und Lilly noch da standen, und fragten auch. Da sagte Isebies ruhig und sah auf Ottomar: »Sie scheint nett zu sein.«

»Gottlob,« sagten die Kinder. »Wir möchten unsern Schabbesgoj holen.«

»Ja,« sagte Isebies und freute sich darauf, der oben in der Schulstube zu sagen, wenn sie fragen würde: Wo gehst du hin?, ich stecke den Juden das Licht an.

Und wie sie es sich vorgestellt hatte, so kam es; die in der Schulstube fragte Isebies wirklich: »Wo gehst du hin?« Und Isebies antwortete wirklich, wie sie sich vorgenommen.

Sie wurde aber rot. Sie kam sich gemein und verräterisch vor, mit solch einer heiligen Sache zu prahlen und ihre Lewins damit zu verraten.

Sie kam sich wie Judas Ischariot vor und schämte sich in die Seele hinein, lief fort, ohne etwas Näheres zu erklären, kam aber nach einer Weile zurück. Sie hatte erregt draußen vor der Haustür gestanden und sich überlegt, wie sie es wieder gut machen sollte. Das schöne Mädchen saß an ihrem Schreibtisch und schrieb und sah traurig aus. Isebies trat zu ihr, und weil die Fremde so zerstreut aufsah, wurde ihr es schwer, zu beginnen.

»Ich wollte nur sagen,« kam es etwas bebend, aber wohlgesetzt wie nie sonst von ihren Lippen, »daß meine jüdischen Freunde mir erlaubt haben, ihnen das Licht zum Sabbat anzuzünden, das dürfen sie nicht selbst tun, das muß ein Ungläubiger tun, und da ich einer bin, so haben sie es mir erlaubt. Das wollte ich nur ordentlich sagen.«

Das schöne Mädchen sah ganz erstaunt auf und blickte das Kind fragend an. Die heißen Augen fielen ihr auf, die bebende Gestalt, der Kampf in dem jungen Geschöpf.

Was für ein eigentümliches Kind ist das?, dachte das Mädchen. Was soll ich nur sagen?

Sie war eine Pastorentochter und kannte ihr Fach; aber die jungen, heißen Augen verwirrten sie.

»Weshalb heißt du Isebies?« fragte sie.

»Weil meine Mutter Sibylle heißt und ich auch. Ich hab' mich als kleines Kind selbst Isebies genannt. Marie Sibylle werde ich erst heißen, wenn ich groß bin. Das ist kein Name für ein Kind.«

»Nun, du bist doch auch schon dreizehn Jahre?«

»Ja, leider,« sagte Isebies. »Kind sein ist schön. Nun muß ich aber gehen, meine Freunde warten auf mich.«

Das schöne Mädchen dachte: Das ist ein sonderbares Kind.

Eine Woche später schrieb die junge Erzieherin:

 

»Wir sind nun schon mitten im Unterricht. Es steht schlimmer, wie ich gefürchtet habe. Die Kinder sind ganz untrainiert im Lernen. Unbegreiflich in diesem gehaltenen Haus. Ich verstehe es nicht. Alle drei Kinder sind, was man Charaktere nennen möchte; als Menschen sind sie merkwürdig eigenartig; sollte das auf Kosten ihrer Lernbegabung gegangen sein?

Isebies ist aber unergründlich in ihrer Unorthographie, von Grammatik keine Spur. Nichts bleibt hängen. Sie ist weit hinter den Schwestern sogar zurück. Ehre, fürchte ich, werde ich mit ihr nicht einlegen. Sie hat, wie mir scheint, mit ihrem Lehrer auf einem sonderbaren Fuß gestanden. Muß ihn unter dem Pantoffel gehabt haben, denn sie kommt in der Stunde immer ins Schwatzen, und ich bin überzeugt, das ist ihr Trick, den Unglücklichen, der sie unterrichten muß, auf andere Gedanken zu bringen. Es sind übrigens merkwürdig reizvolle Kinder alle drei.

Ich bin hier wie im Vaterhaus aufgenommen. Die liebe Frau Mutter will mich heute sogar auf einen Ball führen. Sie sagt, sie werde schon sorgen, daß ich neben meiner Arbeit das Jungsein nicht vergesse.«

 

Ein anderer Brief, etwas später:

 

»Stell' Dir vor, Isebies hat mich gebissen! Liebste, beste Mutter, was soll ich tun? Soll ich von hier gehen? Ich habe hin und her gesonnen. Ich bin ratlos. Die verehrte Frau Mutter ist krank. Isebies war in Verzweiflung; und wie ich mich endlich zur Stunde setze, das Buch aufschlage und ihr Französisch diktieren will, sieht sie mich mit Augen an, die ich nie vergessen werde, wie ein Leopard, den man zu etwas zwingen will. ›Kaltes Tier!‹ ruft sie, fährt über mich her und beißt mich in die Wange. Und wie. Alle Zähne sind zu sehen. Ich zittere und bebe vor Schreck – und das abscheuliche Kind auch.

Ich sprach kein Wort und sie keins.

Ich setzte mich an den Schreibtisch und schreibe Dir. Mag sie denken, was sie will. Sie ist ein Mädchen von bald dreizehn Jahren. Was soll ich mit ihr machen? Rat mir.

Sie steht stumm am Fenster.

Jetzt ist sie eben fortgerannt. Ich muß es Frau Eigenbrodt sagen, so schwer mir's wird. Ich glaube, ich kann mit diesem Geschöpf nicht fertig werden. Da müßte ein Bändiger her.«

 

Isebies rannte ohne Hut aus dem Haus, durch die Schwanseestraße, unter die großen alten Pappeln, die längs der Schwanseewiese standen. Dort ging sie auf und nieder mit klopfendem Herzen, mit fliegendem Atem. Sie wartete auf Ottomar, der diesen Weg vom Gymnasium nach Hause zu gehen gewohnt war. Sie wußte, daß er bald kommen mußte, und richtig, da kam er. Sie ging jetzt ruhig auf ihn zu.

Er sah sie erstaunt an.

»Wo kommst du her?«

»Die Gomel ist krank,« sagte Isebies mit vor Tränen erstickter Stimme.

»Sehr krank?« fragte Ottomar erschreckt.

»Sie hat, was sie schon einmal hatte, so eine Entzündung und Schmerzen und Fieber. Der Doktor ist bei ihr.«

»Sie wird auch dieses Mal wieder gesund werden, sei ruhig, Isebies.«

Isebies sah düster vor sich hin. »Ottomar, sagte sie, »ich habe unsere Lehrerin gebissen und habe sie abscheulich geschimpft, weil sie mir diktieren wollte, trotzdem die Gomel krank ist.«

»Pfui,« sagte Ottomar. »Und weshalb kamst du dahergelaufen, mir das zu sagen? Ich finde, daß du und Lilly oft ganz jämmerlich seid! Ich wollte, ich kennte euch nicht! Du gehst sofort nach Haus und sagst's deiner Mutter. Alte Suse! – Zu beißen. Das tun ja die Babys oben nicht. Und wenn deine Mutter dich halbtot schlägt, macht's nichts. Lauf nach Haus, mich geht das gar nichts an!«

»Ich mußte dir's sagen! Du mußtest es wissen, sagte Isebies hart. »Ich geh' auch nach Haus, ich sag' auch alles. Du solltest aber keine Stunde länger glauben, daß ich anständig bin.«

»Lauf nur jetzt und sag' alles; was dir geschieht, ist ganz egal.«

Er gab Isebies die Hand, die sichere, feste Hand und ging seines Weges weiter. Isebies rannte nach Hause und flog nur so; trug, gebrochen und erschüttert, die Strafe, ausgeschlossen zu sein von allem, was in den schweren Tagen der Krankheit sich zutrug, erlebte auch das erste Hoffen auf Besserung nicht mit den andern.

Sehr ernst wurde sie nach Tagen wieder zum gemeinsamen Frühstück zugelassen. Niemand erwähnte ihre böse Tat. Heinrich Eigenbrodt las das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er las jeden Morgen einen Abschnitt aus dem Neuen Testament oder eine fromme Betrachtung.

Der Unterricht wurde gehalten wie gewöhnlich. Die junge Lehrerin sah blaß aus; auf ihrer Wange war ein runder, roter Fleck zu sehen.

Sie sprach mit Isebies, als hätten sie sich nie gesehen, nicht unfreundlich, aber weit schlimmer. Sie kannte Isebies nicht mehr.

Wortlos und unauffällig verging der Bann nach und nach, der auf ihr lag, und es wurde wie früher. – Aber sie war doch einmal ausgeschlossen gewesen.


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