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Die Menschwerdung

Zeitlos ist die Kindheit, und in die Zeit eintreten, ist eine schwere Sache, ob es bewußt oder unbewußt geschieht.

Isebies, das wissende Kind, ließ ihre Kindheit ungern aus den Händen. Das erste lange Kleid trug sie mürrisch, voller Bosheit, machte lange ungeschickte Schritte darin wie ein Bub, blieb überall hängen, weinte, schimpfte und machte Marie Sibylle und der Großmutter den Kopf warm. Es kniff sie da und kniff sie dort. Sie riß es sich alle Nasenlang vom Leibe. Die Zwillinge lachten überlegen. Man hatte ihr auch ein kleines Miederchen gekauft, mit dem sie sich etwa so abfand wie das Fohlen mit dem ersten Gurt. Es war ein wahrer Aufruhr im Haus. Isebies wollte nicht.

»Du kannst doch nicht wie ein Bub herumlaufen,« sagte Frau Mutter endlich, »meschantes Ding. Andere Mädchen freuen sich.«

»Weil sie Gänse sind,« sagte Isebies und trug das Miederchen wieder zusammengerollt unter dem Arm. Sie hatte es immer in den Händen und zog daran und wirtschaftete damit herum.

Am ersten Abend zeigte sie sich unten vor dem Haus den Nachbarskindern. Marie Sibylle stand am Fenster und hörte Isebies unten klagen und räsonieren. Die Mädchen, die zum Teil auch schon lange Röcke trugen, verstanden Isebies gar nicht, wie es schien, und die Buben lachten. Da hörte Marie Sibylle, wie Isebies laut und empört mit mächtiger Betonung sagte: »Ihr seid einfach Esel,« ins Haus ging und die Türe hinter sich zuwarf.

Den Abend weinte sie sich in den Schlaf, und am anderen Morgen ging der Tanz mit dem Miederchen von vorn an.

Sie wird sich beruhigen, dachte Marie Sibylle. Isebies trat am Nachmittag, als Marie Sibylle und die Frau Mutter im Wohnzimmer mit einer Handarbeit beieinander saßen, ins Zimmer, als wäre es mit ihr noch keineswegs so recht richtig. Das Miederchen trug sie wieder unter dem Arm, den Rock hatte sie schief an.

Sie blieb ein Weilchen stumm stehen und zog an ihrer Taille, die ihr nicht bequem zu sitzen schien.

»Nun wollt' ich nur fragen,« sagte sie, »was nun wird?«

»Was soll denn werden?« fragte Frau Mutter und schob die Brille auf die Stirn.

»Was soll ich nun in dem langen Kleid und in dem Mieder machen?«

»Dich vernünftig aufführen,« sagte Frau Mutter.

Isebies hatte Tränen in den Augen und antwortete hastig: »Nun möchte ich aber auch 'ne Köchin haben und Kinder und ein Haus,« das stieß sie nur so hervor, so trotzig wie möglich. »Ich merk' schon, die Lernerei ist wie 'ne alte Ölmühle, die nur noch tripfelt; damit geht's zu Ende, das sag' ich! Ich merk's wohl, daß das bißchen Gelatsch bald vollends aufhört! Dann sitz' ich in dem langen Kleid und in dem Mieder da.«

Frau Mutter sagte: »Du bist eine rechte Närrin, Isebies. Mit sechzehn Jahren hat man keine Köchin und keine Kinder und kein Haus. Du mußt jetzt deine Pflichten hier tun und zeigen, daß du ein braves Mädchen bist.«

»Jawohl,« meinte Isebies. »Du hast doch gesagt,« sie sprach zu Marie Sibylle, »ich soll jetzt die Lampen putzen und das Krankenhaus gießen,« sie zeigte auf drei mühselige und verkümmerte Blattpflanzen, die im Nebenzimmer auf dem Fenster standen, »und mit solchen Kräften!« Sie riß jetzt am Miederchen und richtig, sie riß es entzwei.

»Willst du wohl!« rief Frau Mutter. »Jetzt kriegst du aber 'ne Tachtel!«

Marie Sibylle hielt die kleine aufgebrachte Frau, die ihren Liebling jetzt zum ersten Male schlagen wollte, zurück.

»Nein, du wirst auch noch mehr tun,« sagte sie ruhig, »du wirst Klavier spielen, du wirst nähen, und wir werden allerlei lesen, was dich interessiert.«

»Das ist gar nichts,« antwortete Isebies, »das ist kein Leben: lieber will ich Waschfrau werden!«

»Werd' es,« sagte Marie Sibylle. »Geh' ins Waschhaus und wasch' mit!«

»Auch nur Komödie!« meinte Isebies. »Ich wollte, du wärst die Bomberl oben bei Rauchfußens, und ich wäre eins von den Krampen und würde nun groß und wollte den ganzen Dreck mit einem Male in die Höhe bringen. Das wär' etwas!« Isebies schluchzte.

Marie Sibylle lächelte kaum, zog Isebies zu sich und sagte: »Wir stecken nun aber nicht so im Dreck, wie du sagst, und ich bin die Bomberl nicht.«

»Ja, leider nicht!« sagte Isebies.

»Du stehst da, mein Kind, wo Gott dich hingestellt hat. Und ich dächte, es wär' so übel nicht. Du mußt hier deine Pflicht tun.«

»Hier ist keine,« meinte Isebies, »wo die Dienstmädchen wie Minister sind.«

»Näh' jetzt dein Mieder,« sagte Marie Sibylle. »Die Pflichten muß man nehmen, wie sie kommen. Hier setz' dich zu uns. Und es gibt nicht nur Pflichten, es gibt auch Freuden. Ich wollte dir sagen, geh' ein paar Tage hinauf zu Rauchfußens, das wollte ich dir schon gestern sagen.«

»Ja.« Isebies schlang den Arm um den Hals der guten Mutter und ging dann, ihr Nähzeug suchen. Während sie es suchte, sie mußte es natürlich suchen, sagte Frau Mutter zu Marie Sibylle:

»So wart ihr nicht und so waren wir nicht. Es kommt ein neuer Zug in die Menschen, wohl in die Frauen besonders.«

»Ach nein,« sagte Marie Sibylle, »das glaub' ich nicht. Die Zwillinge werden die ersten langen Kleider so harmlos tragen, wie wir sie trugen. Isebies ist anders.«

»Aber du hast es vortrefflich gemacht,« sagte Frau Mutter, »ich hätte sie vor lauter Ärger, weil sie so ein unbequemer Balg ist, diesmal wirklich geschlagen.«

 

Oben bei Rauchfußens war große Frühlingsherrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie man sie in Weimar nicht kannte. Auch in Weimar blühte der Flieder; aber es war ein braver bürgerlicher Flieder, der die Hausgärten und Stadtanlagen schmückte. Die Stare saßen ordentlich vor ihren Nistkästen und pfiffen, Tazetten und Narzissen standen wie gute Kinder auf kleinen braven Beeten und dufteten zu den Parterrefenstern hinauf und waren an Stäbchen gebunden. Hier und da blühte ein Apfelbäumchen, wie eine liebliche Braut geschmückt. Der blühende Goldregen tropfte etwas über den Gartenzaun; aber er war beschnitten, damit sein Goldtraubenregen für die Straße nicht zu außerordentlich aussähe. Es war der Frühling einer kleinen hochgebildeten Stadt mit großen Traditionen, ein taktvoller Frühling, nicht zu laut, nicht zu anspruchsvoll und doch schön und gepflegt. Alle blühenden Gewächse gehörten angesehenen Leuten, die etwas auf sich hielten, das sah man.

Oben bei Rauchfußens war die Geschichte ganz anders. Über die kahlen Flanken des Ettersberges strich der Frühling hin und fand nichts, was er so recht ausbündig hätte schmücken können. Er bestreute die kargen Halden mit gelben Schlüsselblumen und allerlei Frühlingskraut und Gras. Oben, wo die Wälder angingen, hatte er freilich Arbeit die Hülle und Fülle. Da strotzte es unter dem neuen Buchenlaub, das die riesigen alten Bäume jung und weich überflog, von ganzen Nestern von Leberblumen, Anemonen und duftlosen Veilchenfamilien, da steckten Morcheln ihre spitzen schwammigen Hüte aus dem feuchten Laub, da tat alles, was es nur tun konnte; aber auf den Flanken und Halden, wenn der Frühling da nicht auf einen einsam stehenden Baum traf, den er mit Duft und Laub einhüllen konnte, oder auf einen Dornenbusch, oder auf Felder, so hätte er mit seinem Übermut nicht gewußt wohin: so aber stand der alte Gutshof im Weg mit seinem Garten. Hier konnte sich aller Übermut austoben, denn die volle Sonne half dazu und die starke unbehinderte Luft und der gute Boden. Herrgott im Himmel, blühte es da! Die alten Rotdornbäume sahen aus, als hätte man rosa Samtteppiche über sie geworfen. Der Goldregen blühte, als wäre eine Goldquelle aus der Erde gebrochen und stiege in mächtigen Fluten in die Höhe. Die Apfelbäume blühten feuriger und tiefer rosig wie unten in der Stadt, und der Flieder wußte nicht, wohin mit sich selbst. Lila, blaue und weiße duftende, mächtige Wolken lagen auf den Grasflächen, die der Löwenzahn zu einem goldenen Teppich gewirkt hatte.

Und all diese Baumblütenherrlichkeit aus dürren Besen ausgekrochen, die man ein Halbjahr nicht angeschaut! Eine ganze Wildnis uralter Tulpen-, Tazetten- und Narzissenfamilien wuchsen hier. Die Tulpen waren von jeher am Weg und am Gesträuch hingekrochen und hatten ihre breiten blaugrünen Blätter gewälzt, die farbigen schweren Köpfe zur Sonne erhoben. Sie liebten es, in ihrer Pracht zu liegen, und niemand hatte sie je gestützt und aufgerichtet. In Rauchfußens Garten war Jahr für Jahr eine große Festlichkeit des Frühlings.

Und wer weiß, ob diese große königliche Pracht, die alle Jahre bei ihnen wiederkehrte, die Rauchfußens nicht seit Generationen schon zu wunderlichen eigenartigen Leuten gemacht haben konnte. Die Mütter hatten eine Welt von Schönheit und Kraft hier gesehen; und von diesen Eindrücken hatten die Kinder schon vor der Geburt gezehrt, und es war etwas Dürstendes, Übermütiges, Lebenssehnsüchtiges in sie gekommen.

Soviel man sich entsann, waren die Frauen dieses alten eingesessenen Geschlechtes immer schön und reizvoll gewesen und hatten Schicksale gehabt, die mit einem Verlangen nach Glück, nach ungewöhnlichem Glück zusammenhingen. Soviel man wußte, hatten sie aber nie etwas Besonderes erreicht, sondern waren durch unkluge Heiraten zu Kreuzträgerinnen geworden, wie die alte Frau Rauchfuß und deren Mutter und wiederum die Mutter von Ottomar und Lilly.

Durch die große Pracht des alten Frühlingsgartens waren Frauen gegangen mit wundem Herzen.

Die jetzige Frau Rauchfuß machte eine Ausnahme. Die schnitt im Garten, was ihr gefiel, und machte Sträuße, Riesensträuße, die sie hinunter nach Weimar mit dem Milchwagen schickte für ihre Verehrer und Verehrerinnen und auch zum Verkaufen. Und sie tat recht daran. Kaum sah man, daß etwas in dem Blütenmeer fehlte, und jeder bekam gern so einen Strauß und lobte dann die tüchtige Frau.

»Das haben wir nie getan,« sagte, als es zum ersten Male geschah, die alte Frau Rauchfuß, »daran haben wir nie gedacht.«

»Unnatürlich,« antwortete die junge Frau darauf.

»Dem Pfarrer und dem Lehrer haben wir auch immer Sträuße geschickt, aber in Weimar hatten wir nicht viel zu suchen.«

»Auch unnatürlich,« meinte die muntere Frau.

»Ja, ja, gewiß,« sagte die alte Frau nachdenklich. »Was dem einen natürlich ist, ist dem anderen unnatürlich. Wir hätten uns besser gestanden, wenn es uns natürlich gewesen wäre, Freunde mit den Blumen uns zu verbinden.«

»Früher soll da oben ein rechtes Unkenleben gewesen sein, sagen alle, damit ist es nun für alle Ewigkeit vorbei!«

»Ja, wir haben sehr still gelebt,« antwortete die alte Frau träumerisch; »wohl zu still.«

 

Als Isebies durch die Felder dem Ettersberg zuging, im langen, hellen Sommerkleid und im Miederchen, war es ihr, als hörte da oben alle Pein und Not auf, und sie lief direkt in ihre Kindheit wieder zurück. Der Milchwagen sollte ihr winziges Köfferchen noch bringen, und im Köfferchen war ein brauner Kittel, auf den sie sich freute, und der in Weimar nichts mehr galt.

Ottomar und Lilly kamen ihr den Gartenzaun entlang entgegen. Sie sahen feierlich aus, so erschien es wenigstens Isebies. Lilly trug ein helles Sommerkleid, ihr goldrotes Haar war in einem Knoten aufgesteckt, und wie groß, wie schlank aufgeschossen war Ottomar! Sein lockiges, dunkles Haar stand hoch und fest über der Stirn. Isebies war ganz befangen, als sie die beiden so sah.

Sie erschienen ihr wie Engel, die vor dem Paradiese standen. Über den Zaun neigten sich in schweren Lasten die blühenden Büsche und Bäume, Rotdorn, Flieder und Goldregen.

Isebies war nicht in Weimar konfirmiert worden, sondern bei einer Pastorenfamilie auf dem Lande, bei einem frommen Dichter. Marie Sibylle hatte ihrem Sorgenkinde einen großen reinen Eindruck in dieser Zeit der ersten Jugend geben wollen. Isebies hatte also die Geschwister lange nicht gesehen und war ganz gerührt, so schön und gut sahen Ottomar und Lilly aus – und gehörten ihr. Sie waren eine Heimat, Isebies durfte sich auf sie verlassen. Lilly konnte ein Engel sein, wie sie so daherkam, und wahrlich nicht nur äußerlich. Sie verstand alles; vor ihr brauchte man sich nicht zu schämen. Sie sagte einfach: »Ja, das weiß ich, das kenne ich,« und wie zärtlich sie war, wie sie einen begrüßte! Und wie sie sich kannten! Vor ihnen brauchte sich Isebies nicht zu schämen. Und daß Lilly keine Mutter hatte, gab ihr etwas so Rührendes, Einsames, und daß sie oft sehnsüchtig nach der großen Liebe ihrer toten Mutter verlangten, und daß Ottomar und Lilly dadurch so ganz anders zueinander gehörten, wie es sonst bei Geschwistern üblich war, an all das dachte Isebies, als die Geschwister den Gartenzaun entlang auf sie zukamen.

Ja, und sie sahen heute so feierlich aus. Und Isebies nahm sich vor, Ottomar nicht mehr grüne Laus, Frosch, Eau de Cologne-Frosch und Dropsaffe zu nennen. Er kam ihr so gut und groß vor, ordentlich vornehm sah er aus, der Eau de Cologne-Frosch.

Sie nannte ihn so, weil er ein so lieber Kerl war, und ein Eau de Cologne-Frosch war er wirklich, denn er konnte all so ein Zeug wie Eau de Cologne nicht leiden, und grüne Laus nannte Isebies ihn, wenn er gar so gescheit redete.

»Na, was hast du denn?« rief Lilly, als sie einander nahe genug gekommen waren. »Du tust ja gar nicht als ob!« Und Ottomar schrie: »Sie ist aufs lange Kleid stolz!«

Isebies aber hielt die Hände um den Mund und antwortete übermütig: »Frosch, dummer, Eau de Cologne-Frosch, dummer!«

Lilly rief: »Hast du auch ein Korsett?«

»Pfui Kuckuck,« rief Isebies zurück, »freilich, sie haben mir eins umgeschnallt.«

»Drum bist du so steif!« rief Ottomar.

»Nein,« sagte Isebies, als sie vor ihnen stand. »Ich hab nur über euch nachgedacht, weil ihr so gut seid. Deshalb war ich so steif. Denken ist schwer.«

Sie gingen miteinander jetzt durch das breite Gartentor, Lilly in Ottomar eingehakt und Isebies von Lilly geführt. Sie hatten sich viel zu erzählen.

Die Tanten waren da und eine schöne junge Schauspielerin.

»Es ist alles mögliche los, wir können ganz für uns allein bleiben,« sagte Ottomar auf seine ruhige warme Art, »und wir haben dir etwas ganz Feierliches heut' noch zu sagen, Isebies.«

Isebies wollte es wissen.

»Heut' abend,« sagte Ottomar, »eher nicht.«

»Gut,« meinte Isebies. Sie war nicht neugierig, nur froh, bei ihren Herzensfreunden sein zu können.

Sie gingen still durch den blühenden Garten, und sein Zauber lag voll über ihnen. So jung und unter diesen blühenden Bäumen und Büschen wandelnd, die im Überschwall ihrer Herrlichkeit wie in Ekstase standen, war schönste Lebenserfüllung. Und das Wundervollste, daß sie es gleichmütig wie ihren jungen, leichten Atem hinnahmen.

Der Tag war bewegt. Die junge Frau Rauchfuß hatte den Kaffeetisch unter den Linden decken lassen, die Bomberl kam mit einer Schüssel voll knuspriger Plinsen, spießte eine nach der anderen auf die Gabel auf und warf sie jedem vor, daß es auf der blütenweißen Ahornplatte wieder Fettflecke gab. Ein mächtiger Fliederstrauß stand auf dem Tisch. Die ganze Familie mit allen Gästen war ausgelassen, voller Behagen und Lachen. Die alte Frau saß in ihrem Stübchen still beschäftigt.

Cäsar Rauchfuß, der zum Kaffee von einem Gang durch die Felder heim kam, freute sich über die muntern Leute, scherzte mit den Kindern, tobte mit den Buben und spielte den feinen Herrn, wenn er sich an die hübsche Schauspielerin wendete, übersah die Tanten und war gottsfroh, wie schön und laut und lustig es bei ihm herging. Ja, so ein Sonntag oben bei Rauchfußens, das war etwas!

Ottomar, Lilly und Isebies fanden, daß die hübsche Schauspielerin eine ekelhafte Briese sei. Ottomar sagte zu Isebies: »Vorderhand mag ich das Theater überhaupt nicht, besonders die Frauenzimmer dort nicht. Die da hat letzte Woche die Eboli gespielt und sich ganz abscheulich herumgewälzt, niemand benimmt sich so, wenn er unglücklich und Gott weiß was ist. Ich liebe nur Wahrheit.«

»Ja,« sagte Isebies, »ich auch.«

»Ihr seid rechte Bauern,« meinte Lilly. –

Am Abend, als die Tanten sich verkrochen hatten, die Babies schliefen und die Rauchfußens mit den Gästen im Wohnzimmer saßen, da flogen die drei jungen Herzen aus. Jetzt gehörte der Garten und die ganze Welt ihnen allein.

Die Sterne funkelten, der Mond schien, der Flieder duftete zum Hinsterben. Da gingen die drei die stillen, flimmernden Wege auf und nieder.

Ach, und sie sprachen, wie man spricht, wenn man ganz jung ist, flüsternd, tief erregt, als wäre der Geist Gottes über sie gekommen. Sie sprachen so rein, so gut, so hilflos, so nichtwissend, wissend auf der Schwelle des Lebens.

»Ich glaube nicht an den Tod,« sagte Isebies nach kurzem Wandeln in der duftenden Schönheit und hielt Ottomars Hand gefaßt. »Elias fuhr auch zum Himmel und starb nicht.«

»Weißt du, du hast niemanden durch den Tod verloren,« meinte Ottomar.

»Aber solche Kräfte!« antwortete Isebies. »Wenn du meinen kleinen Finger anfaßt, wirst du fühlen, daß er alles kann. Einen Schnellzug kann er aufhalten. Das fühlst du natürlich nicht. Du denkst, das ist einfach ein kleiner Finger. Ich fühle es aber. Aber sage mir, Ottomar, was soll ich mit diesen Kräften tun?«

»Brav sein,« antwortete Ottomar.

»Das sagen sie zu Hause auch.«

»Ja, es gibt nichts weiter, keinen Schritt vom Weg.«

»Aber welchen Weg?«

»Den du gehen mußt,« antwortete er.

»Grüne Laus, du bist ein kühler Frosch!« rief Isebies. »Das ist doch nicht alles so einfach.«

»Das ist sehr einfach.«

»Ich soll also zum Beispiel alle Kraft nur dazu anwenden, um mein langes Kleid mir anzugewöhnen und das Korsett?«

»Ja, wenn das sein muß, natürlich, was bleibt dir denn übrig?«

»Aber ich könnte mit meinen Kräften Wundervolles tun!«

»Fragt sich,« sagte Ottomar. »Und es gibt nichts Wundervolles zu tun. Glaubst du, Latein und Griechisch lernen ist wundervoll? Es ist ekelhaft, scheußlich. Ich glaube, man hat seine Kräfte, um meist Ekelhaftes zu tun.«

»Geh weg!« sagte Lilly ärgerlich.

»Nun, und wenn ich nun mein Korsett endlich mag, was dann?«

»Dann gibt es wieder etwas anderes. Ich glaube, es ist ganz gleich, was man tut.«

»Du machst einen ganz traurig, grüne Laus,« sagte Isebies. »Glücklich soll man doch sein.«

»Was werdet ihr nur ohne mich machen?« Jetzt sagte Ottomar das Geheimnisvolle, was er und Lilly Isebies schon vordem angekündigt hatten.

Sie wollten mit Isebies das heilige Abendmahl zusammen nehmen als Bündnis fürs Leben. Sie wollten beim Abschied etwas tun, was sie für alle Zeiten miteinander verbände.

Schauer bewegten Isebies. Das heilige, geheimnisvolle Abendmahl mit Ottomar und Lilly! Es war ihr, als sollten sie alle drei miteinander Unaussprechliches erleben, die dunkeln, schweren Worte, die sie schon einmal gehört, rauschten im Geiste wie einst vor ihr auf, Worte, die auf unaussprechliche Weise mit dem Ewigen verbinden, mit sich reißen über Tod und Leben hinaus.

Und das wollten Ottomar und Lilly mit ihr zusammen erleben!

Wer in Weimar würde an so etwas gedacht haben? Wie anders waren sie wie alle andern! Wie groß war ihre Liebe zueinander!

»Und das wollt ihr mit mir?« sagte sie, nachdem sie geschwiegen und gesonnen hatte.

Ottomar antwortete ganz trocken und fest, wie es seine Art war: »Ja, das haben wir so vor. Wenn wir jetzt miteinander den Faust lesen würden, oder Homer, das wäre gar nichts. Wir würden diese Stunde vergessen. Aber weit über allem, was je die Menschen schufen, steht der Gedanke des heiligen Abendmahls, schöner ist's und größer und geheimnisvoller ist's wie alles andere. Nur das bleibt in der Todesstunde, wenn alles zu nichts geworden ist. Eins mit Gott werden. Nur das ist der Sinn des Lebens.«

Die junge Lilly sagte leise: »Das Geliebtwerden ist ebenso schön, und wer wird's vergessen? Und auch in der Todesstunde nicht. Wenn du fort bist, Ottomar, werde ich hier vergehen.«

»Ich bin bei dir,« sagte Isebies und schlang den Arm um sie.

»Du bist unten in Weimar. Mir ist, als könnte man nur leben und sterben, wenn jemand einen an der Hand hält. Ich fürchte mich allein.«

Eine wundervolle Nacht. Die jungen Herzen waren bewegt von aller Schönheit, vom Duft der Blütenwolken und des frischen Grases und des jungen Birkenlaubes. Sie gingen in den süßen Opfergerüchen der Erde, waren ganz eingehüllt in Schönheit und lebendige Reinheit der ersten Jugend.

 

Und wie sie es sich vorgenommen, so geschah es. Sie feierten an einem köstlichen Maienmorgen das heilige Abendmahl miteinander in der alten Dorfkirche, in der Ottomar und Lilly konfirmiert worden waren.

Eine starke Zusammengehörigkeit folgte diesem Tage. Es war, als hätten sie einen Bund fürs Leben geschlossen. Die alte Frau Rauchfuß wußte von dem Vorhaben der drei guten Kinder und schützte sie an dem geheiligten Tag vor den Einflüssen des allzu lebendigen Hauses. Isebies hatte es auch ihrer Mutter gesagt und sie gebeten, daß es nur das Gomelchen wissen dürfe, und so war es auch geschehen.

 

Während dieses Aufenthalts bei Rauchfußens geschah es, daß Isebies in das Schlafzimmerchen der kleinen, hübschen Schauspielerin eingedrungen war und sich darin umgeschaut hatte. Das Puder- und Schminkgerät war für sie sehr anziehend, denn Lilly und Isebies hatten längst bemerkt, daß die kleine Person gründlich ihrer Hübschheit mit allerlei nachhalf.

Isebies versuchte es auch, puderte sich mit großer Andacht und unternahm noch allerlei, und wirklich, sie fand, daß das eine lustige Sache sei. So verschönt mit einem zarten, weißen Flaum über dem Gesicht wie der Blütenstaub, der über der Mehlprimel liegt, wandelte Isebies im Bewußtsein ihrer sehr gehobenen Schönheit befriedigt unten im Hofe auf und nieder.

Da kam ihr Ottomar entgegen, es war die Zeit, wo er aus der Schule kommen mußte. Er schwenkte die Mütze und schwenkte die Büchermappe, als er sie von weitem sah. Wie er ihr aber die Hand entgegenstreckte, fuhr er zurück. »Pfui Teufel,« schrie er fast auf. »Ekelhaft! Was hast du denn gemacht!« Die Büchertasche warf er zur Seite, packte Isebiesens Kopf mit beiden Händen und leckte ihr übers Gesicht, und leckte eifrig und wütend, bis kein Stäubchen mehr zu sehen war. »Ekelhaft, ekelhaft!« schrie er dazwischen.

Isebies wehrte sich.

»Pfui!« rief sie. »Du!«

Der alte Knecht hatte zugeschaut und schmunzelte und sagte: »Siehste, jetzt is die schene Malerei fortgewoschen. Siehste, Isebies, so geht's! Ne, du bist aber ä forscher Junge, Ottomar. Ich habe wohl gesehn, was se gemacht hat, die Isebies. Das konnte ja eens auf zwee Stunden sehn.«

»Marsch, fort!« rief Ottomar. »Nun lauf an den Brunnen und wasch dich!«

Er selbst ging mit seiner Büchermappe, ohne Isebies mehr eines Blickes zu würdigen, dem Hause zu.

Und Isebies lief zum Brunnen und wusch sich und weinte.

Ottomar beachtete sie den ganzen Tag nicht und sagte am Abend: »Du kannst dich zusammennehmen und etwas gründlich Anständiges tun, sonst hast du verspielt.«

Was aber sollte sie tun? Sie war wütend auf Ottomar und doch beschämt und grämte sich, daß er nichts mehr von ihr hielt.

Da kam eines Tages eine alte Bettlerin auf den Hof, bettelte und klagte, daß sie sich einen Dorn in die Fußsohle gestochen habe. Die Bomberl machte sich darüber und sagte: »Zeig' her den Knorz.« Isebies, Ottomar und Lilly kamen gerade dazu. Die Bomberl war in so was wohl geübt. »Nur stillechen, bei den Krampen kommt so was aller Nasenlang vor.«

Sie arbeitete und wirtschaftete an dem armen alten schmutzigen Fuß nicht schlecht mit ihrem Taschenmesser.

»Deine Hand is nich aus Samt,« meinte die Alte, »Sakrament och!«

»Dei Knorz och nich,« meinte Bomberl und arbeitete und stach und arbeitete weiter. »Jetzt schau her, jetzt sieht man den Splitter schon, jetzt wenn ich ä Zängelchen hätt'!«

»Bomberl, laß mich's tun!« sagte Isebies und war bleich bis in die Lippen.

»Meinetwegen,« meinte Bomberl und machte Isebies Platz. »Haste ä Zängelchen?«

Isebies kniete sich nieder und preßte ihren Mund an die schmutzige, schrundige Fußsohle der alten Bettlerin, und mit den Zähnen packte sie den Dorn und zog ihn heraus.

Schneeweiß stand sie auf und hielt das blutige Ding zwischen den Lippen. Einen Augenblick war sie bewegungslos, dann nahm sie den Dorn und gab ihn der alten Frau in die Hand.

»Das is d'r sauer angekommen, Kindchen,« sagte die Alte, »Gott vergelt's.«

»Ich hab' es gern getan,« antwortete die bleiche Isebies schmerzlich lächelnd.

Ottomar nahm Isebies bei der Hand und sagte, als sie niemand mehr hören konnte: »Gottlob, daß du's gekonnt hast.«

Er führte sie an eine kleine Quelle im Garten, sammelte den feinen Strahl in seiner hohlen Hand und wusch ihr die Lippen rein. Und sie weinte, den Kopf vor Erregung an seiner Brust versteckt.

 

Der Abschied von Ottomar war das erste große Weh, die erste Erdenöde. Er hatte wenig Worte gehabt. »Isebies, verlaß meine Schwester nicht. Halte zu ihr, als wären wir drei beieinander.«

Als Lilly ihn zum Abschied küßte, hatte Isebies ihn auch weinend geküßt, und sie hatten ihm nachgeblickt, wie er die Landstraße hinunterschritt, die vom Ettersberg zum Bahnhof führte.

Beide waren wie verwaist, und Isebies erschrak fast vor den Tränenfluten ihrer Kameradin. Es war, als ob kein Halt in ihr sei, als wenn sie sich in Tränen auflöste, als hätte der Bruder all ihre Kraft mit sich genommen.

»Hier oben sterb' ich, wenn er nicht da ist. Hier oben geh' ich zugrund'.«

Isebies erschrak. Das war das lachende, schöne, gütige Mädchen nicht mehr, das sie kannte. Das war ein fremdes verzweifeltes Geschöpf. Das war der gute sanfte Engel nicht. Etwas so Wildes und Verzweifeltes lag in diesen Tränen, eine Glut sondergleichen, ein verzweifeltes Wollen.

Isebies sagte: »Er kommt zurück. Du siehst ihn zu Weihnachten wieder!«

»Nie kommt das! Ich kann nicht leben, wenn er mich nicht liebt, wenn er nicht da ist!«

Isebies sah zum ersten Male eine Seele leiden, ganz ausgefüllt sein von Leid, ganz gebeugt von der Last des Leidens.

»Er kommt zurück,« sagte sie immer wieder. »Hörst du mich nicht? Er liebt uns. Ich fühle, wie er uns liebt, auch wenn er nicht da ist.«

»Das ist kein Trost!«

Isebiesens Herz, das der Abschied auch schwer bedrängte, faßte angesichts dieses leidenschaftlichen Schmerzes Mut. Eine süße Vornehmheit hielt es befangen und stärkte es.

Sie brachte Lilly zur alten Frau Rauchfuß und übergab ihr das weinende, verzweifelte Mädchen. Sie selbst ging im Garten auf und nieder und hatte ein Gefühl, als hätte ihr Herz eine Last verschwiegen zu tragen, die ihm außerordentlich schwer deuchte. Das war der Schmerz, und doch wunderte sie sich über Lillys haltlose Tränen. Hat sie denn das Gefühl nicht, daß sie stärker sei als dieser Schmerz? In Isebies quoll wie eine frische, klare Quelle zwischen allem Abschiedsweh ein Glückseligkeitsgefühl, daß Ottomar überhaupt da war, und daß sie selbst so stark und freudig fühlte, und sie wurde voller Hoffnung und Zuversicht, und durch alle Ferne fühlte sie, wie Ottomars Kraft und Freudigkeit auf sie strömte. Sie sagte leise vor sich hin: »Du lieber, lieber Mensch. Ich danke dir, daß du mich immer lieb hattest, und ich will werden wie du es wünschst.«

Sie war dankbar, daß sie nicht überwältigt wurde wie Lilly, aber Lilly war hier oben auch unsäglich einsam. Isebies erschrak, wenn sie daran dachte, und sie hörte Lilly im Geiste sagen wie damals, als sie im blühenden Garten miteinander gingen: »Wenn du fort bist, Ottomar, werde ich hier vergehen. Mir ist, als könnte man nur leben und sterben, wenn einen jemand immer an der Hand hält.«

Und da fühlte Isebies ein Mitleid sondergleichen, und auch ihr drangen die heißen Tränen in die Augen, und sie schlang die Arme um einen Baum im goldenen Herbstschmuck und weinte bitterlich.

 

In diesem Winter starb die alte Frau Rauchfuß und ließ ihr sehnsüchtiges Enkelkind allein in dem Hause zurück, in dem niemand mehr an die Generation der nach Leben und Liebe dürstenden Frauen des Rauchfußschen Geschlechtes erinnerte als Lilly.

 

In der Zeit der Erkrankung und des Todes der alten Frau Rauchfuß waren Eigenbrodts mit allen Kindern und Angelika Vogel, der Erzieherin, in Oberitalien, und der verzweifelten Isebies wurde nicht gestattet, nach Weimar zurückzukehren, um ihre arme Freundin zu trösten.

Sie fand sie fremd, scheu, niedergedrückt wieder, als rechte Hand ihrer Stiefmutter und als Hüterin der jüngeren Geschwister.

Isebies schrieb an Ottomar, der in Berlin studierte:

 

»Wie fehlt uns Deine Weisheit, wie fehlst Du uns. Lilly ist brav, aber es ist die liebe frohe Lilly nicht. Glaub' mir, sie ist ein armes Kerlchen. Die wilde Familie fährt über sie hin wie ein Sturmwind. Die Mädchen werden alle Frau Rauchfußens und die Jungens Vater Rauchfußens, oder sie sind ein Gemisch; aber auch das Gemisch braust und zischt. Ein anderes Bild: Deine Schwester blüht wie eine Feuerlilie unter Kartoffeln und Puffbohnen. Die liebe alte Frau, die die schöne Feuerlilie pflegte, ist nun nicht mehr. In ihrem verlassenen Stübchen wohnt jetzt Lilly. Dafür, daß sie so gerne ausgelassen war, ist sie jetzt viel zu fleißig und gut.

 

Du fehlst uns beiden auf Schritt und Tritt. Drei war eine gute Zahl. Zwei ist eine sehnsüchtige Zahl. Uns ist nicht wohl allein. Siehst Du, zu niemand bin ich so offen wie zu Dir, denn Du bist mit mir aufgewachsen. Wir haben miteinander in der Erde gegraben. Du kennst alle meine Schlechtigkeit und Gutheit. Was sagst Du aber dazu, daß ich gar nicht so recht glücklich bin? Ich habe alles, was ich mir nur wünschen kann. Ich liebe alle, die um mich sind. Wie ich sie liebe! Alle sind gut, gut, gut zu mir. Aber ich rannte früher abends unten auf dem Karlsplatz unter den alten Bäumen und spielte mit den Gassenkindern und war ihr Anführer; ich rannte zu Lewins und zündete die Sabbatlichter an, ich rannte zu Euch, und bei Euch war eine ganz gewaltig gute Luft. Man hätte immer jauchzen können. Der Ettersberg war doch nicht gar so hoch; aber der Wind dort oben! Und unsere Spiele und unsere Gespräche! Ich war immer ganz erfüllt, immer in einem schönen Saus, das Leben schien mir so gut. Du hast mich nicht verstanden, als ich Dir sagte: Ich bin im kleinen Finger so stark, daß ich einen Eisenbahnzug aufhalten kann, und ich glaube nicht an den Tod. Du sagtest mir damals: Gewöhn' Dich einfach an dein Mieder, oder was du sonst etwa zu tun hast.

Nun sage ich Dir aber, daß ich mich an mein Mieder noch immer nicht gewöhnt habe, daß es mich drückt und beengt, daß mich oft alles beengt, und daß in meinem kleinen Finger noch immer dieselbe Kraft ist. Ach, grüne Laus, ich habe Deine Weisheit nicht!

Mich hat das Leben in eine fix und fertige Welt gesetzt.

Da kann man freilich in einem Mieder drin stecken und nur halb schnaufen; aber ich bin ein Mädchen mit starken Kräften, ich möchte arbeiten! Ich möchte, wir hätten einen Garten, der eine Urwildnis wäre. Ich möchte, ich wäre eine Bauerndirne; eine Krankenschwester könnte ich werden, weshalb nicht? Das würde ich dürfen; aber die weißen Häubchen, die miezekatzigen grauen Kleider, die leisen Schritte, die frommen Hände und die stillen Augen, sag' selbst, das wäre zu schwer für mich.

Ich weiß einfach noch nicht, was mit mir anfangen.

Sie haben mich auf einen Ball geführt: rosa Rosenkranz, rosa Kleid, so à la Fee. Schön sah ich aus in dem Kranz, ich schob ihn mir tief in die Stirn, wie man es mit einem Kranz tut, daß die Augen darunter vorleuchten in Lebensfreude; aber er sollte oben sitzen, weil's so Mode ist. Man setzt doch einen Kranz aus Freude auf und sonst aus keinem Grund. Und tief in die Stirn muß er gedrückt sein.

Nun kannst Du Dir gar nicht vorstellen, wie es auf diesem Ball zuging.

Die sogenannten Herren kommen mir vor wie fein lackierte und polierte schwarze Salonmöbel. Im Anfang dachte ich, vielleicht kann ich da plaudern wie mit Dir. Jawohl! So ein Salonmöbel und Du! Sehr bald begriff ich: Schnabel halten! Diese polierten Möbel verstehen gar nichts, einfach gar nichts, was unsereinen freut. Die Offiziere verwechselte ich immer, als wären sie Bleisoldaten, machte in der Française Dummheiten, weil ich immer dachte: Dem hast du doch eben erst die Hand gegeben. Ich entschuldigte mich dann und sagte, daß ich sie nicht voneinander unterscheiden könnte. Als ich drei, vier Tänze getanzt hatte und meine Tanzkarte voll war, lief ich davon und ging zu Hause ins Bett, las die Namen auf der Karte durch und dachte: Wer seid ihr – wer seid ihr eigentlich?

Mein liebes Gomelchen und die liebste Mutter waren beide böse auf mich. Gomelchen sagte: ›Du hast uns in eine schöne Bredouille gebracht.‹ Diese Tante hatte das gehört, was ich gesagt, und jene hatte auch was gehört. Und wie ich fortgelaufen war, das hatte Angelika Vogel gesehen. Kurz, ich scheine für einen Ball nicht recht zu passen.

Es hat sich, wie Du siehst, nichts eingestellt, was die starke lebendige Lust droben bei Euch mir ersetzen könnte. Ich träume oft von Armut, daß die Eigenbrodts arme Leute würden. Dann sollten sie sehn!

Und ganz im Vertrauen gesagt: Mir war's immer auf jenem Balle, als wäre da etwas nicht so ganz sauber; weißt Du, nicht so sauber, wie das ist, was ich sauber nenne, und was Ihr, Du und Lilly, sauber nennt. Ich kann es nicht so sagen. Vielleicht irre ich mich. Aber mir war's mit einem Male, als wären wir dummen Mädel so etwas zweckvoll herausgeputzt. Na, es wird ja nicht so sein.

Daß Du mich damals abgeleckt hast, war sehr gut von Dir, und ich danke Dir noch dafür, so bös ich damals auf Dich war. Recht hattest Du.

Sag' mir, was kann ein Mädchen tun? Ich möchte kein Faulpelz sein; aber Du weißt, ich bin nicht klug. Ich habe nichts Rechtes gelernt. Klavierspielen tue ich miserabel, Nähen ist auch nichts. Zeichnen? Ich zeichne bei dem alten Preller und der sagt: ›Komm, Isebieschen, trink mit mir Kaffee, da kommt mehr dabei heraus, komm, schwätz ä bißchen.‹ Er hat mich ein wenig gern, der alte herrliche Mann, wie so ein berühmter Mensch ein dummes Mädchen gern haben kann. Ich darf neben ihm sitzen, wenn er seine wundervollen Zeichnungen betrachtet, und da sind wir beide ganz still. Er weiß aber, daß ich mit in seine Mappen gucke. Manchmal fragte er: ›Biste fertig, Isebieschen?‹

Oft denke ich so etwas, als säße ich neben dem lieben Gott, der Sonntags nachmittags seine Welt anschaut. Er sieht auch aus wie der liebe Gott, Du kennst ihn ja: langer, grauer Bart, schöne, weise Augen. Und die Studienmappen sind seine Welt. Und was darin steht, ist lauter Herrlichkeit und Schönheit, und sein Gesicht ist, wenn er ganz vertieft ist, das Gesicht eines Schöpfers, auf dem der Frieden eines Schöpfers leuchtet.

›Ach,‹ sagte ich leise einmal zu ihm, ›ich möchte auch so ein Mensch werden, ich möchte auch so was Wundervolles tun dürfen.‹

›Mit Zeechnen wird's nischt bei dir, Isebieschen,‹ sagte er und streichelte mir über die Wangen. ›Damit wird's nischt, aber was braucht denn so ä Frauenzimmerchen auch viel zu tun? Mach' dir keene dummen Gedanken, Isebieschen, die Kunst ist für euch Frauenzimmer nischt. Hand weg, sag' ich. Die Sache ist zu ernst.‹

›Dann aber,‹ sagte ich, ›rühre ich auch keinen Bleistift wieder an.‹

›Recht haste, Isebieschen!‹ Und ich weinte und schämte mich, und er tröstete mich und nahm sein großes buntseidenes Taschentuch und trocknete mir die Augen.

›Laß nur,‹ sagte er. ›Du wirscht schon noch lachen. Die Kunst is eigentlich jetzt och nich für die Mannsbilder. Sieh' dir doch die Kleckser an. Fahr' doch mit der Bahn durch Deutschland an tausend Dörfern vorbei un an tausend Städten. Wo sitzt denn eener, der wirklich was kann?

Siehste, Isebieschen, die Kunst nimmt eenen Menschen her un verlangt Leib und Seele von ihm un jeden Tropfen Blut un jeden Atemzug, un dann nimmt sie ihn und lädt die Welt auf seine Schulter, soviel er davon tragen kann. Nun such' dir mal eenen, der Sack un Pack nich balde abwirft, oder der sich nich irgendwie bequem dermit hinhockt.

Die die Welt auf der Schulter tragen, sind gar wenige, gar wenige. Un wo se die Kräfte hernehmen, das weeß keen Mensch.‹

›Sie sind so einer,‹ sagte ich leise.

›Ich, ich? Isebieschen. Hingehockt hab' ich mich nich dermit, das is wahr, das kann ich sagen; aber ich trug immer nur ä kleenes Stückchen. Ich trug so ä paar immergrüne Eichen auf der Schulter, die mir keene Ruh' ließen, un ä paar wundervolle Wolkenhimmel un ä paar wundervolle Menschen aus einer bessern Welt, un Wellenspiel un Sturm un Felsen, un das hab' ich weiß Gott ehrlich geschleppt.‹

Lieber Ottomar, wenn ich alt bin, möchte ich auch sagen wie der alte Preller: ›Hingehockt hab' ich mich nich dermit, das is wahr.‹ Ich möchte auch ehrlich schleppen!

Schreib' an Lilly.

Oben bei Euch ist ein Mensch, den ich nicht mag, wie so eine süße Leberwurscht ist er zu Lilly. Er spielt da oben die erste Geige, weißt Du. Er versteht Frau Rauchfuß zu schmeicheln, und er ist süß mit Lilly, das kann ich nicht leiden.

Weißt Du, ich wünsche mich nicht einmal zu verheiraten, wie die Mädchen das gewöhnlich tun. Wenn ich denke, ich soll meinen Mann ums Wirtschaftsgeld bitten, und er macht ein Gesicht; oder ich kaufe mir einen Hut, und er macht einen dummen Witz, wie sie immer in den ›Fliegenden Blättern‹ stehn, von Ohnmacht und einem Sommerhütchen! In mir ist etwas, etwas so Starkes, so Lebendiges. Oft ist mir, ich fliege unsere Treppe hinunter, so lebendig bin ich, und wenn ich hinauflaufe, springe ich über soviel Stufen, daß es eine wahre Kunst ist.

Ja, solche Künste kann ich!

Nun leb' wohl!

Deine treue Isebies«

 

Marie Sibylle las diesen Brief zufällig und zeigte ihn der Frau Mutter. »Darf sie das so an den Ottomar Rauchfuß schreiben? Ich weiß nicht recht?«

»Freilich darf sie das. Es ist viel besser, sie vertraut sich einem Kameraden an,« sagte Frau Mutter.

»Aber: ›Deine treue Isebies‹?«

»Ach was, freilich ist sie eine treue Isebies und eine unschuldige. So haben wir mit unsern Kameraden verkehrt, und ich wüßte nicht, daß irgend etwas vorgekommen wäre, an das wir nicht gern zurückdächten. Nur waren wir viel einfacher.«

»Aber abgeleckt. Er hat sie abgeleckt?«

»Ja,« sagte Frau Mutter, »das verstehe ich selbst nicht, da werde ich sie einmal fragen.«

Und Frau Mutter fragte Isebies und sagte ihr ganz einfach, daß sie den Brief gelesen habe.

»So? Das macht nichts,« sagte Isebies und erzählte, wie Ottomar ihr die Schminke der hübschen Schauspielerin wieder vom Gesicht geleckt hatte.

»Das klingt eklig,« sagte Isebies, »nicht wahr, Gomelchen? Und mir war's auch zuerst eklig; aber er hat es so gut gemeint, daß kein Mensch ihm darum bös sein konnte, und recht hat er gehabt. Ich war auch zu albern, wie ich da im Hof herumlief. Der alte Knecht Jochen hat's mit angesehn.«

 

Über Isebies kam etwas im Herbst, nachdem sich die Abreise Ottomars vom Gutshof gejährt hatte, etwas, was zu der Harmlosigkeit ihres lebendigen Wesens nicht paßte. Es war, als ob eine unheimliche Hand nach ihr langte, als käme über ihr drängendes junges Leben, das von der Welt nichts wußte, ein Schauer, ein Maienfrost.

Man saß um den Familientisch zur Mittagsstunde, friedlich und im vollen Eigenbrodtschen Behagen. Da sagte Heinrich Eigenbrodt: »Daß mir Isebies mit keinem Schritt wieder hinauf zu Rauchfußens auf den Ettersberg geht. Damit ist's ein für allemal zu Ende. Mir tut es leid, daß diese Menschen eins unserer Kinder jemals bei sich gesehen haben.«

Isebies ließ vor Überraschung die Hände sinken und schaute wie erstarrt auf ihren Vater.

»Ja, Heinrich, was ist denn das?« sagte Frau Mutter. »Wer kann gegen Rauchfußens denn ernstlich etwas sagen?«

»Ich wiederhole hiermit meinen Befehl,« antwortete Heinrich Eigenbrodt, »daß Isebies das Haus auf dem Ettersberg von heute ab zu meiden hat.«

Isebies erblaßte.

»Ich habe keinen Grund, mich hier näher zu erklären. Isebies hat es gehört und wird danach handeln.«

Auf Isebiesens Gesicht lag banger, fremder Schreck. Noch nie hatte sie ihren Vater so schroff gesehen. Sie wagte nicht zu fragen.

Niemand fragte.

Schweigend wurde weiter gegessen. Eine dumpfe, schwere Stimmung lag über allen.

Nach Tisch ging Marie Sibylle mit ihrem Mann in seine Bibliothek, wo er den Kaffee zu trinken gewohnt war. Isebies saß draußen auf den Stufen der Veranda, die Füße waren ihr so schwer. Der schöne Herbsttag drückte auf ihre ahnungslose Seele.

Aber da war etwas. Wie das so hart und schwer geklungen hatte …

Als Marie Sibylle aus dem Zimmer ihres Gatten wieder heraustrat, lag auch auf ihrer Stirn tiefer Ernst. Sie trat zu Isebies hinaus und sagte: »Ja, Isebies, es ist so, wie der Vater sagte, du darfst mit keinem Schritte wieder hinauf zu Rauchfußens, und wir müssen unserem Kinde vollkommen vertrauen. Es ist ganz unmöglich, daß du jemals wieder hinaufgehst. Diese unglücklichen Menschen müssen für immer aus deinem Leben gestrichen sein.«

Isebies war aufgeschnellt und stieß hervor: »Sag' mir, was es ist! Ängstige mich nicht so!« Wie ein Angstschrei war das. Das blasse, erschreckte Kind stand eng an die Hauswand gedrückt.

Sibylle sah die schmerzvolle, zarte Gestalt, die mit großen, leidvollen Augen wie auf einen Schlag wartete.

»Du darfst nicht mehr hinauf. Ich kann dir auch nichts weiter sagen.«

»Du mußt,« sagte Isebies hart. »Es sind meine treuesten Freunde. Wir gehören zueinander bis in den Tod.«

»O mein Kind,« sagte Marie Sibylle. »Du darfst nicht so überschwenglich sein, so kommst du mit dem Leben nicht aus. Du hast dich in Lilly geirrt.«

»Nein!« schrie Isebies wild auf.

»Doch.«

»Nein!«

»Liebes Kind, es gibt Dinge, über die wir jetzt nicht reden können, die dir fern liegen und fern liegen müssen.«

»Lilly,« sagte Isebies hart, »ist rein und gut wie ein Engel. Sie ist besser wie alle, die ich kenne. Sie ist die einzige!«

»Nein,« sagte die Mutter. »Du irrst dich. Lilly hat schlecht, unaussprechlich schlecht gehandelt.«

»Nein,« sagte Isebies wieder hart. »Nein!«

»Du wirst mich nicht zwingen, dir zu sagen, um was es sich handelt. Du hast mir zu glauben.«

»Ich glaube dir nicht!«

»Marie Sibylle, weshalb glaubst du mir nicht?« Zum ersten Male nannte die Mutter ihre Tochter bei ihrem eigentlichen Namen. Da schaute Isebies bang auf. »Hab' ich dich je belogen?«

Isebies schwieg.

»Sag' mir, habe ich dich je belogen?«

»Nein.«

»Also glaube mir.«

»Du mußt mir sagen, was Lilly getan haben soll. Ich kann nicht treulos sein, und wenn ich dir so ohne weiteres glaubte, wär' ich's. Du selbst könntest mich nicht achten.«

»Gut.« Marie Sibylle sagte: »Sie hat das Schlechteste getan, was ein Mädchen tun kann. Sie hat Schande über ihre Angehörigen gebracht.«

»Sie ist unschuldig,« antwortete Isebies tiefernst. »Sie kann nur unschuldig sein. Und wenn die ganze Welt an ihr zweifelt, ich glaube an sie.

Ich kann es mir denken, was geschehen ist, denn ich bin kein Kind mehr. Aber das ist unmöglich. Du kannst mir alles sagen, ich verstehe alles. Was wird aus ihr? Was tut man mit ihr?«

»Niemand fragt nach ihr,« sagte Marie Sibylle. »Du darfst nicht nach ihr fragen. Hier kannst und darfst du nicht helfen.«

Isebies war bleich bis an die Lippen, müde ging sie ins Haus zurück, schloß sich in ihr Zimmer ein, warf sich vor ihrem Bett in die Knie und betete unzusammenhängende Worte in der Angst ihres Herzens.

Sie betete, daß Gott ihr helfen möge, wenn sie doch zu Lilly ginge. Niemand konnte wissen, wie sehr sie sich alle drei liebten und wieviel Liebe sie von Bruder und Schwester genossen hatte. Niemand würde von ihr verlangen, daß sie ehrlos und undankbar sei und eisigen Herzens.

Sie wollte hingehen und dann sagen, daß sie bei Lilly war, und ruhig die Strafe tragen.

Anders durfte sie nicht handeln.

Aber Lilly? Wie war alles möglich? Undenkbar! Welch ein Geheimnis! Es war nur eine Möglichkeit! Eine Mörderin war Lilly nicht, eine Diebin auch nicht. Ja, auch Isebies war innerlich stumm. Sie wollte nicht glauben.

 

An einem dunkeln, stürmischen Herbstabend stand Isebies, eingehüllt in Reginens graues Schaltuch, in demselben, in dem Frau Mutter sie vor Jahren für ein kleines Bettelmädchen gehalten hatte, vor Rauchfußens großer niederer Gartentür. Über die öden Felder brauste der Wind, der letzte Dämmerschein war am Vergehen. Grau lag die Einöde um sie her.

Isebies wartete, daß Lilly käme. Die Nebel und Wolken jagten. Im Garten rauschten die Bäume.

Das Herz war dem jungen Geschöpf schwer wie Blei. Sie hatte Lilly geschrieben und glaubte, daß sie durch den Garten kommen würde; aber sie wartete und wartete, kein Schritt war zu hören. Rabenzüge flogen, und ein Zug Wildgänse zog durch die Luft, freie, wilde, geheimnisvolle Schreie und Rufe ausstoßend.

Isebies dachte an die Nacht im Mai, als sie zu dritt im Garten miteinander gewandelt waren, daran, daß Lilly ohne Liebe nicht leben konnte. O, wer kann das! Und Lilly ganz Sehnsucht, solange sie sie kannte, nach ihrer Mutter, und jetzt nach Ottomar und der lieben alten Frau Rauchfuß. Und da nahm sie die schlechte Liebe.

Wie die Nebel zogen! Weimar war ganz verschleiert, und von überall wob es heran. Nebel und Dunkelheit.

Waren das nicht Schritte? Aber nicht vom Garten her? An der Hofmauer hin. Im Garten war's schaurig, da hatte sie sich wohl nicht getraut hindurchzugehen. In den Bäumen rauschte es so, und sie schüttelten die Häupter.

Ja, es kam da etwas. War sie es? Isebies bewegte sich langsam, zögernd vorwärts. Eine schmale Gestalt, ein Schatten. Kein Laut. War sie es? Isebies blieb stehen, auch der zarte Schatten blieb stehen. Es kam so wesenlos. Die Nebel umzogen Himmel und Erde.

War das die traute Mauer vor dem geliebten Rauchfußschen Hof? War das Lilly? So stumm? Wie hatten sich sich sonst immer zugerufen, wenn sie einander kommen sahen.

Isebies wollte rufen. Kein Laut kam über ihre Lippen. Ein rieselndes, lähmendes Grausen ließ sie kaum atmen.

Das war kein lebendiges Wesen, dem sie so entgegen ging. Ohne Bewegung schien es zu gleiten, ohne Laut, ohne Traulichkeit – unbekannt und stumm. Ihr eigner Schatten, dem sie zulief?

Jetzt bewegt sie den Arm wie zur Abwehr, und das Gleitende, Schattenhafte bewegt ihn auch. Jetzt blieb sie stehen. Da stand es auch. Es zögerte wie sie selbst. Jetzt nahm Isebies alle Kraft zusammen und rief bebend zärtlich: »Bist du's, meine Isebies?« Sie rief im Gedenken an Ottomar, der sie und Lilly die Isebiese nannte.

»Ja,« kam es undeutlich, unbekannt zurück, eine fremde, schwebende Stimme.

Isebies konnte nicht vorwärts gehen, eine grenzenloses Grauen hielt sie fest.

»Sag', wer du bist?« rang es sich wieder los. Und da war es ihr nah, und ein weiches, verhaltenes Schluchzen drang an ihr Ohr, so weich, so unhörbar fast und so bekannt.

Da breitete Isebies die Arme aus, und wie eine laue Welle aus lauter Zärtlichkeit hüllte sie den armen Schatten ganz ein, zog ihn zu sich, bedeckte das weiche, feuchte Gesicht mit Küssen.

Die viel Gescholtene, die allen Überlästige fühlte sich in ein ganzes Meer von Wärme, Mitleid und Zärtlichkeit versunken. Ihre Tränen brachen gewaltsam hervor. Isebies zog sie zu sich nieder auf den Rasenrain am Weg, zog sie auf ihren Schoß. »Damit du warm bist,« sagte sie, »meine Seele wird immer bei dir sein.«

Isebies wollte mit Worten, mit Tönen, mit Streicheln, mit Anschmiegen ihr soviel an Liebe geben, wie die Menschen ihr an Mißachtung gaben. Isebies war wie ein treuer Hund, der nicht weiß wohin vor Liebe und Treue.

»Wenn er nicht ganz grenzenlos gut mit dir ist, laß ihn. Bleib allein! Ich werde mich schon zu dir durchringen. Ich werde so lange den Menschen sagen, daß du ein Engel bist, bis sie's glauben. Du siehst ja schon wie ein Engel aus. Sie glauben das Böse und glauben das Gute. Ich werde ein Licht anbrennen und immer leuchten, bis das Licht auf dich fällt. Für dein Kindchen werde ich arbeiten. Du brauchst ihn nicht! Ich schwöre, daß er nicht gut ist! Wie sollte er denn gut sein!«

Da sagte das zarte Mädchen: »Gut, gut, gut ist er und unendlich groß und herrlich. Ich bin seiner in nichts wert.« Sie sprach das in traumverlorener Ekstase.

»Ach geh,« sagte Isebies ganz betroffen. »Das kann ich mir gar nicht denken. Wie sollte er gut sein?«

»Nein! Nein! Um Himmels willen nicht!« schrie das arme Geschöpf fast auf. »Du ahnst ja nicht!«

»Aber wie hat er dann … Mein Gott, ich weiß nicht!  … Ich kann mir's nicht vorstellen … Ich versteh' nur Liebe, die  … aber solche Liebe doch nicht?« Isebies weinte.

»Ach, aber sie werden dir schon Kluges und Böses genug gesagt haben.«

Isebies sprach wie in einem Fieber von Zärtlichkeit, Mitleiden und Liebe. »Ich werde arbeiten. Glaub' mir's nur, wenn sie dich alle verlassen, auch er – ich nie!«

»Und wenn er mich verließe, so wüßte er weshalb, ich zürnte ihm nicht!«

»Sei nur nicht gar so ergeben und bete ihn nicht so an, das verdient kein Mensch – und gar so ein böser Mann,« sagte Isebies kühl. »Das gefällt mir nicht. Ich hab' niemand gesehen, den ich anbeten möchte. Gomelchen mag so etwas auch nicht leiden.«

»Er ist nicht bös!« sagte das arme Ding rührend. »Wenn ich dir alles so sagen könnte!«

»Versprich mir, daß du ihn wenigstens nicht anbetest, das ist so dumm, mir tut's weh!

Ach, ich wollt', ich wäre deine Mutter! Dann würde ich wie mit einem feurigen Schwerte dastehen und dich beschützen, da käme kein hartes Wort von meinen Lippen, und niemand täte dir etwas. Aber das ist alles nichts, ich bin ein junger, elender Balg, und ich werde heute abend noch womöglich geschlagen werden; gar nicht unmöglich.«

»Du?« schluchzte Lilly.

Isebies lachte auf. »Das schadet mir gar nichts. Das ist auch ganz in der Ordnung. Sie wollen das Beste, und ich muß gegen sie handeln.«

»Wegen mir!«

»Herrgott noch einmal, wegen dir lass' ich mich halb tot, auch ganz tot schlagen. Überhaupt – überhaupt! Nicht nur wegen dir. Wenn ich irgend jemand liebte, dem es schlecht ging. Du wirst schon sehen, dein Kindchen bekommt etwas von mir. Sag' mir, wenn ich so spreche, fühlst du einen kleinen Trost?«

»Einen großen, Isebies.«

Sie hockten beieinander eng umschlungen. »Lach'! Lach'!« sagte Isebies. »Du bekommst ein wunderschönes Kindchen, das dich über alles lieben wird. Du hast jetzt schon einen Menschen, der dich und deinen Kummer über alles liebt!« Da wurde Lilly wieder geküßt, so wie eine Mutter ihr krankes Kind küßt, überströmend vom Helfen- und Tröstenwollen.

Auf dem einsamen Ettersberg, über dem die Dunkelheit lagerte, über dem die schwarzen Wolken hingen und der Wind strich, regte sich auf der kühlen Erde ein einziger Punkt in der großen, toten, schwarzen Stille, der so lebendig an Leid und Liebe war, daß er hätte leuchten müssen wie ein Stern. Diese beiden jungen, zusammengehockten Menschentierchen in weiter, nächtlicher Öde.

Isebies erfuhr nur wenig Tatsächliches. Er wollte sie später heiraten. Sie mußte jetzt fort. Ottomar wußte noch nichts.

»Ich schreib's ihm,« sagte Isebies. »Sie sollen ihn nicht erschrecken. Ach, ich wollte, ich wäre der liebe Gott und er liebte euch so, wie ich euch liebe, da solltet ihr einmal sehen!«

Sie streifte ein Ringelchen vom Finger und steckte es Lilly an, ohne ein Wort zu sagen. Nun brachte sie Lilly noch an die Hoftür und küßte sie und sprach ihr Mut ein und sagte: »Ich werde so lebendige Worte finden und werde sie schreiben zum Trost für dich und das Kindchen, du wirst sehen. Der alte Preller sagt, die Kunst nimmt einen Menschen her und verlangt Leib und Seele von ihm und jeden Tropfen Blut, und dann nimmt sie ihn und lädt die Welt auf seine Schultern, soviel er davon tragen kann. Wenn sie mir nur einen einzigen Sack voll wirklicher Erde auflüde, ich will ihn schon schleppen, ohne mich müde hinzuhocken. Du weißt doch, wie wir in der schweren, schweren Erde gruben, die auf den Toten liegt. Ich will eine Kunst finden, für dich und für mich. Sag' mir, daß es dir besser ist, sag' mir, daß du mutiger bist!«

»Ja,« sagte Lilly leise, »ich fühle deine Liebe.«

»Dann ist's gut. Wenn ein Mensch sich geliebt fühlt, ist's gut. Und ich will arbeiten. Zu mir sollst du um Hilfe kommen, zu niemand sonst.«

Wie eine Flamme lief Isebies nach heißem Abschied die gerade Landstraße hinab. Der Mond begann zu scheinen und ließ den hellen Kalkboden leuchten, und Isebies lief und lief. Ihre Seele flammte vor Liebe und Mitleid und ungeheuren Hoffnungen auf. Sie wußte gar nicht, wie ihr war. Sie hatte sich entflammt am tiefen Menschenleide. Es war ihr, als würde irgend etwas in ihr wach, ein Heimatgefühl in ihr selbst, eine Kraft, die etwas wollte und zu können glaubte, eine große, wache Seligkeit, die fast zu mächtig für den jungen Leib war. Und sie wußte, sie lief einem bösen Empfang entgegen.

Und es kam, wie sie vorausgesehen.

Die Zwillinge waren schon zu Bett. Die Eltern und Frau Mutter saßen ganz besorgt im Wohnzimmer und warteten.

»Unbegreiflich, wo Isebies so lange bleibt, unerhört!«

Sie trat atemlos ein: »Ich war bei Lilly. Kein Mensch ist da, der sie tröstet.«

Heinrich Eigenbrodt erhob sich. »Wärst du ein Kind, würde ich dich schlagen. Du hast ehrlos gehandelt.«

»Ehrlos nicht, aber ungehorsam,« sagte Isebies.

Da saß der Schlag. Heinrich Eigenbrodt hatte seine Erregung nicht meistern können. »Ich verlange, daß meine Tochter mir gehorcht!« sagte er kalt, um seine eigene Erregung zu verbergen.

Isebies tat es weh, den Vater so erzürnt zu haben. Sie nahm seine Hand und küßte sie. Dann sagte sie allen Gutenacht und ging schlafen.

In ihrer Seele aber klangen ganz wunderliche Dinge. Es war ihr heute, als wäre sie zum ersten Male erwacht; aber sie wußte nicht recht die tiefe Erregung ihrer Seele zu deuten. –

Isebies schrieb noch in dieser Nacht an Ottomar.

 

»Ottomar, wir lieben beide Lilly über alles. Wir drei gehören zueinander fürs Leben und über das Leben hinaus. Wir finden einander wieder, auch wenn wir gestorben sind. Das weiß ich und glaube ich. Wir gehören viel inniger zueinander, als wir es selbst wissen. Vor uns sind Geheimnisse, und wenn wir uns umschauen, sind Geheimnisse, auch von allen Seiten sind Geheimnisse. Wenn Dinge geschehen, die uns erschrecken oder zum Erschrecken erfreuen, so kommen sie eigentlich ganz einfach und ruhig daher, nur daß wir den Weg nicht übersehen können, den sie gekommen. Wir würden uns nie erstaunen, wenn wir alles übersehen könnten, es ist alles ganz selbstverständlich. Das weißt Du so gut und besser wie ich.

Die einsame Lilly oben in Eurem Haus, in dem niemand mehr wohnt, der sie liebt, erwartet ein Kindchen. – Du wirst erschrecken. Niemand wagte, es Dir zu schreiben; aber ich bitte Dich, erschrick nicht, sondern werde ganz zu Liebe, laß auch die kleinste Kraft zu nichts anderem werden als zu Liebe. Erschreck Dich nicht, ich bitte Dich, fürchte die Menschen nicht. Es sind ihrer so viele, die auf die arme Lilly böse sind, und wir sind nur zwei, die sie lieben können. Ich war gegen den Willen der Eltern oben bei ihr. Du weißt es ja, wie kann sie etwas Böses tun? Wenn die Menschen wüßten, wie gut sie ist und wie rein ihre Seele ist, niemand würde ihr zürnen, Du und ich wissen es. Ich bitte Dich nur noch einmal, erschrick nicht, sondern werde ganz zu Liebe und Güte.

Ich liebe Euch beide über alles auf Erden. Ich denke nur, wie ich helfen kann. Es werden Kräfte kommen. Ich bin ganz voll Freudigkeit. Ottomar, sei Du's auch, der Welt zum Trotz – nein, nicht zum Trotz der Welt, zum hellen Licht.

Immer Deine Isebies.«

 

Isebies sagte ihrer Mutter, daß sie an Ottomar geschrieben habe. Marie Sibylle nahm ihr das Versprechen ab, sich jetzt ruhig zu verhalten, nicht mit Lilly zusammenzukommen, nicht wieder an Ottomar zu schreiben und den Dingen jetzt ihren Lauf zu lassen.

»Diese Menschen müssen sich jetzt in ihrer traurigen Lage selbst zurechtfinden,« meinte Marie Sibylle ruhig.

Ottomar schrieb an Isebies:

 

»Deinen Brief erhielt ich. Jeder trage es wie er kann. Von Dir verlange ich: Du gehst mit keinem Schritt auf den Ettersberg. Du schreibst keine Zeile an Lilly. Du schreibst keine Zeile wieder an mich, keinen Schritt vom Weg. Daß ich Lilly nie und unter keinen Umständen verlasse, daß ich ihr Schutz auf Erden bin, weißt Du. Wir brauchen keine Worte, wir kennen einander. Sei tapfer und brav, das verlange ich von Dir. Ich vergesse nicht, daß Du den blutigen Dorn, den Du der Alten aus dem Fuße zogst, zwischen den Lippen hieltest. So sehe ich Dich oft. Das tröstet mich, daß Du das konntest.

Denke aber immer, daß Du alles, was Du auch tust, mir solltest sagen können.

Sieh mir in die Augen, wie ich Dir in die Augen sehe.

Ottomar.«


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