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Herzgesichts Weihnachtsabend

Es lebte einmal in einer hübschen kleinen Stadt vor einer Reihe von Jahren eine junge Person, und es war Weihnachten.

Die junge Person war ein schlankes Mädchen und hatte eine etwas breite Stirn und ein zartes schmales Kinnchen.

Die Schwestern sagten früher, als sie noch Kinder waren: Sie hat ein Gesicht wie ein Herz, und zeichneten sie, während sie ihre Schularbeiten machten, auf das Löschblatt, was dem Mädchen immer ein rechter Ärger gewesen war, denn wozu sollte sie gerade ein Herzgesicht haben.

Der Mann, der sie liebte, sagte es dann später den Schwestern nach und nannte sie auch manchmal »Herzgesicht«. Das deuchte ihr aber aus seinem Munde ein sehr lieblicher Ausdruck, und sie hörte es nur zu gern – und hätte die Welt darum gegeben und noch einen Stern dazu, hätte der geliebte Mann heute, an diesem heiligen Tag, es wieder zu ihr sagen können. Das hatte aber gute Wege. Ihre Seele trug eine Wunde, die Entsagung geschlagen. Wer solch eine Wunde an sich selbst erlitten hat, wird mit Wehmut, ja mit Ehrfurcht von der jungen Person hören.

Sie war am Morgen des Heiligen Abends erwacht und hatte geträumt; ein schöner Garten, den sie gar wohl kannte, der die süßeste Liebe gesehen, flammende Worte gehört hatte, wäre öde und schaurig verwandelt worden. Die Rosen und die Sommerblumen braun und tot zur Erde gesunken und Zweige und Zweiglein beladen mit hellen gefrorenen Tränentropfen. Ein trauriger, toter Garten, nicht auszudenken wie traurig, und eingehüllt in einen weißlichgrauen kalten Nebel und bedeckt mit Schnee. Eine Welt für arme, in Sehnsucht irrende Geister.

Und als sie sich auf ihren Traum besann, war's Wirklichkeit. Als der Schlaf und die Traumbefangenheit ganz von ihr abfielen, war's Wahrheit, der sie nicht entrinnen konnte, bange, schwere Wahrheit. Der Garten lag wirklich kalt und tot vor ihrem Fenster.

»Wie ist denn die Welt?« dachte das arme Herzgesicht. »Wie kann man denn in solch einer Welt leben, in der starre Tränen an den Zweigen hängen, und in der das Herz so weh' tut?«

Früher hatte sie diese Welt zu dieser Zeit ganz anders gefühlt. Diese Welt hatte nach gebratenen Äpfeln gerochen, der weiße, kalte Nebel hatte wie eine Decke über lieblichen Geheimnissen gelegen, das Herz war erfüllt gewesen von all dem seligen Tummeln in frischer, lebendiger Kälte, von Schneeballwerfen und Winterwonne. Wer hätte da an Rosen denken mögen! Und wer an Geliebtwerden, an tödliche Sehnsucht nach den Liebesworten eines Menschen – Unsinn!

O du seelenfreie Welt, die du nach gebratenen Äpfeln und beseligender Winterkälte duftetest. Und nach frischgebackenen Weihnachtsstollen. Und welch ein Huschen, Rennen, Laufen war damals in dieser Welt! Wie Glucken unter den Flügeln hatten sie alle etwas geheimnisvoll Ausgebrütetes!

Die jungen Lungen tranken Tannenduft, der sich aus freien Wäldern ins Haus gedrängt hatte, der eigentlich nicht ins Haus gehörte. Fremd und geheimnisreich berauscht er die Herzen, die das ganze Jahr über durch nichts anderes wieder so zu erwecken waren.

Ja, und weshalb war denn nicht alles so wie einst? Es lief und rannte doch auch heute, was Beine hatte, in einer süßen, warmen Duftwolke, die von den frischgebackenen Stollen ausgeströmt wurde und bis in die schneebleichen Straßen hinausdrang. Und benahmen sie sich zu Hause nicht alle wieder wie Glucken, die etwas geheimnisvoll Ausgebrütetes unter den Flügeln bargen – und dufteten nicht auch die Tannen und erweckten Seligkeiten, die sonst das ganze Jahr hindurch schliefen?

Mag sein, daß alles so war, – aber nicht für das Herzgesicht und für alle jene nicht, die eine Entsagungswunde im Herzen tragen, und für die Armen, Müden, Kranken und Sterbenden nicht. Unsere Erde ist für jeden, der da lebt, eine andere Erde.

So kam es auch, daß die junge Person das duftende helle Haus verließ, in dem alles so wichtig und selig dem Abend entgegengluckte, und daß sie hinaus in die kalte Dämmerung des schneeigen Winternachmittags flüchtete, und sie ging, wie die von neuem Schmerze Berührten gehen, wie die ohne Hoffnung, die in ihrem Herzen beten: Laß mich nicht den allzu Glücklichen begegnen, führe mich zu den Armen, – führe mich in meine Heimat.

So ging sie durch die hübsche, kleine Stadt, zwischen den geschäftigen Leuten hin, an den hellen Läden vorüber, deren Lichter heute schon früh wie zarte, breite Strahlen in den dämmerigen Nebel fielen.

Die kleine hübsche Stadt war aber keine gewöhnliche Stadt, wie so viele Abertausende in Deutschland, in denen die Generationen leben und sterben wie die Pflanzen im Walde.

Das Herzgesicht ging durch die Stadt der großen Toten, durch die Stadt, in der die Toten leben, durch diese einzige Stadt, in der die Toten lebendiger sind als die Lebenden, in der sie auf der Straße zu gehen scheinen, in der jeder Fremde, der die Stadt besucht, zuerst nach den verlassenen Häusern derer, die längst verstorben sind, fragt.

Das stille Mädchen wußte gar wohl, in welcher wunderlichen Stadt es lebte.

In den anderen Städten nimmt jede Generation ihre Erinnerungen mit ins Grab, die vorhergehende Menschenwelt stirbt noch einmal mit. Alles geht schlafen. Hier aber war eine Generation lebendig geblieben, war noch in aller Erinnerung.

Der Weg führte das Mädchen in ein kleines, niederes Haus, durch ein verschneites Gärtchen. Der Schnee lag so schwer und dicht auf den halbwüchsigen Tannen, die längs des Gartenpfades standen, daß diese sich tief geneigt hatten. Mit Mühe bog sie die Zweige zurück, um durch den stäubenden Schnee vorwärts zu kommen. Nicht viele mochten diesen Weg vor ihr gegangen sein. Welche Stille und Schneeeinsamkeit im heimlichen Garten.

In dem kleinen Haus, auf das der fast verschneite Pfad zuführte, brannte ein einsames trübes Licht und leuchtete einer armen vergessenen Seele, die in einem uralten Häutchen wohnte und wie eine Maus aus den beiden Augengucklöchern in die Welt schaute. Und das arme verschrumpfte Häutchen war das einzige Überbleibsel jener großen vergangenen Menschenzeit, die längst vorübergerauscht war. Und das arme Häutchen lag auf einem schmalen Bett, und die kleinen Mäuseaugen lebten und funkelten. Ja, sie funkelten wirklich in aller Einsamkeit und Unbeweglichkeit.

Das Mädchen trat ein. Nichts regte sich. Nur ein helles dünnes Stimmchen rief: »Was kommt denn da?«

»Ich bin's nur.«

»Wer ist das Ich?«

Da stand das Mädchen vor dem Bett.

»Du bist's – gutes Kind?« sagte das helle Stimmchen matt – nach einem Weilchen – »daß ich deinen Namen immer wieder vergesse und die anderen Namen auch – und du bist so gut!«

»Nenn' mich Herzgesicht,« war die Antwort, – sie wollte das Wort aussprechen, als spräche es der, den sie liebte, – sie wollte es hören. »Wie geht's denn?«

»Wie es einem geht, den der liebe Gott zu holen vergaß.«

»Heute ist Weihnachten«, sagte das Mädchen …

»So – so – ich weiß, ich weiß –« Ganz matt: »Was ihr so Weihnachten nennt –«

Da nahm das Mädchen unter ihrem Mantel ein Sträußchen von Maiblumen und Veilchen hervor und legte es dem armen Häutchen in die welken, kühlen Finger und eine Tüte mit allerlei Frischgebackenem auf das Deckbett.

»Wir hatten keine frischen Blumen damals – nein, – das gab's nicht. – Wenn's Winter war, – war's Winter,« sagte das Stimmchen zitterig, kaum hörbar. – »Aber sonst – sonst, – da hatten wir mehr als ihr –«

Der Strauß fiel der kleinen Alten aus der Hand – »Alle waren sie schon hier – alle. Wo sollen sie denn auch hin? Die Ehr' ist freilich zu groß; – aber die einzige bin nun doch einmal ich, – die noch da ist.«

»Wer war hier?« fragte das Herzgesicht. – Sie wußte ja wer dagewesen war. Sie hatte es in ihrer hoffnungslosen Sehnsucht nicht unter den robust Lebendigen aushalten können und war zu der uralten gelähmten Träumerin gegangen, die jeden Tag den lieben Tod zu kommen bat. Zu der, die nur mit Toten verkehrte, die die Namen der Lebendigen nicht behalten konnte, die die Lebendigen verachtete wie etwas, was sich unverschämt eingedrängt hatte, was nichts verstand und konnte, alles falsch anfaßte, Unnötiges trieb – und die Alte mit Neuerungen ärgerte. Das alte Häutchen war eine weitläufige Verwandte von Christiane Vulpius. Und alles lebte noch heute in ihr, – aller Ärger jener Zeit, – und alle Freude und Ehre und Schande und aller Hof- und Stadtklatsch.

Sie hatte die Ehrfurcht vor dem Goetheschen Haus, nicht die literarische, sondern die wirklich menschliche, urwüchsige der entfernten Verwandten. Sie hatte den Ärger noch heute auf Frau von Stein und ließ an ihr keinen guten Bissen. Sie kannte alles und wußte alles.

Sie erzählte unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit Klatsch und Geheimnisse, über die mancher Goethekenner schon seine Doktorarbeit gemacht hatte. Sie war eine kleine Flamme, die von dem großen Feuer jener Tage übrig geblieben war, und die heute den armen Falter angezogen hatte durch ihr sehnsüchtiges Flackern nach Tod und Vergangenheit.

»Die Schüttchen, die sie jetzt dumm genug Stollen nennen,« lispelte das Stimmchen, »waren zu meiner Zeit gerad' noch einmal so groß wie jetzt. Die Müllern drüben hat mir die ihren heuer gezeigt, als sie vom Bäcker kamen, 's war aber rein gar nischt! – Das hätt'n wir mal versuchen sollen, die Schüttchen unnötig 'rumzuschleppen! Wenigstens Frau Geheimderat Goethe ihre hätten sie nicht nur so zum Herzeigen zu mir 'reintragen können. Wenn eins wegen Schüttchen berühmt werden könnte, so wär' 's die Tante Christiane geworden. Überhaupt, wer da zuerscht kommt! – Sie oder Er? Natürlich, Exzellenz wäre sie wegen der Schüttchen nicht geworden; aber ich habe immer gesagt: Die beste Frau für ihn, das war die Tante Christiane. Du lieber Gott, wie die Weihnachten gerichtet hat! Wie die feiern gekonnt hat, – davon macht sich keiner eine Idee jetzt mehr. Ich seh' sie noch vor mir. Ich war ein kleines Mädchen. Zwei Bäckergesellen hatte sie in der Küche vor'm Backtrog, – der war aus 'nem alten Eichenbaum. Wir sagten immer: nach Amerika könnt' eins d'rin überfahren. – Die Tante Christiane stand in der Küche und lachte, – und die Berge von Rosinen und Mandeln – und Zitronat warf sie allemal selbst in den Teig und sagte allemal: ›Jetzt kommt der Reichtum und die Kraft vom gelobten Lande über euch, ihr Gesellen!‹ Und mit einem schneeweißen Taschentuch wischte sie von Zeit zu Zeit den Bäckergesellen, die mit aller Kraft kneteten, den Schweiß von der Stirn. Und wie sie so dastand und die schwarzen Augen funkelten – und diese bloßen kräftigen Arme! – und so rund und stark, und ein Lachen, wie jetzt keins mehr lacht, – da war sie für keinen König auf Erden zu schlecht. Und die Gesellen schauten auf sie allemal. Ob sie jung war, ob sie alt war, das tat nichts zur Sache. Meine Tante war meine Tante! Die war lustiger als alles. Wie die die Treppe hinaufflog, ohne Rast und Ruh, um jeden Tannenzweig; und jedes arme Kind, das ins Haus kam zu Weihnachten, empfing sie wie eine Mutter, – und was ein jedes von ihr bekam! In einem Zimmer saß sie und packte Paketchen für die Armen, und ein jedes sah aus wie ein Liebesgärtchen und war besteckt mit lauter Lustbarkeiten. Und sie lachte dabei wie ein Kind. Nie hab' ich so einen seligen Menschen geseh'n. Ich hab' ihr als Kind mal geholfen, gold'ne Sterne und Papierchen an woll'ne Röckchen zu stecken, – da kam der Herr Geheimderat herein und blieb in der Tür stehen und schaute ihr zu, wie sie sang und pfiff und behaglich hantierte, – und da hat's ihm wohl sehr schön gefallen. Ich hör' noch, wie er sagte – und seine Augen leuchteten nur so: ›Ei du ausgelassenes Fett!‹ Und ich hab' damals gemeint, wie so Kinder sind, es sagt's der liebe Herrgott selbst zu seinem allerschönsten und lustigsten Engel, der für die ganze Welt Weihnachten macht.

Ja, und es war, als machte meine Tante Christiane für die ganze Welt Weihnachten. Ich weiß noch, sie hatte neue Weihnachtsschuhe an! Das waren himmelblaue Sammetsöckchen mit Katzenfell, – und in denen lief sie lautlos durchs ganze Haus, denn gestört durfte der Geheimderat natürlich nicht werden. Funkeln und strahlen tat meine Tante Christiane vor Herzensfreude, – die hat nur der gekannt, der sie zu Weihnachten gesehen hat. Da war so viel Liebe drin – Gott verzeih' mir die Sünde –, als in unserem Herrn und Heiland. Wenn sie unter dem Weihnachtsbaum stand und dem ganzen Hause bescherte, da ist kein Herz dagewesen, das ihr nicht zuflog.

Und wenn der Geheimderat noch so ein großer Dichter war, die Tante Christiane hätte er nicht beschreiben können – und hat's auch nicht versucht. Aber wohl gewärmt mag er sich an ihr haben. Der liebe Herrgott hat es gut mit ihm gemeint, nicht weil er gar so berühmt geworden ist, sondern weil unsere Tante Christiane bei ihm war, – da hat er wohl lachen können.«

Die kleine Seele, die wie eine Maus aus den Augengucklöchern schaute, hatte jetzt das ganze armselige Häutchen belebt und erwärmt. Es dehnte sich am eigenen Feuer. Ein Funke aus Tante Christianes Temperament glimmte in dem alten Nichtchen, das der liebe Gott zu holen vergessen hatte.

»Schau, Herzgesicht, oder wie du heißt, wie hätte denn die Steinin je solche Lust ins Haus gebracht wie die Tante Christiane? Ach, geh' mir – niemals! Mir macht keiner was weiß mit den vornehmen Weibsen. Für die kihleren Tage, da is eins schon besser dran mit den Frauen, die keine Vornehmheit drückt, die lachen können. Ich sage nischt gegen die Steinin, geliebt hat sie ihn, das muß wahr sein, und er sie auch. Davon wußte meine Mutter zu reden. Ich hab' sie nur gesehen in ihren alten Tagen im Park spazieren gehen; aber so ein bißchen sauer hat sie allemal drein geschaut. Meine Tante Christiane aber war Licht und Feuer im Haus. Und wenn sie allen Grund gehabt hätte, gegen ihren Herrn andere Saiten aufzuziehen, – ist das Licht und das Feuer drum nicht im Hause erloschen. Ei der Tausend! – Siehste, Herzgesicht, oder wie du heißt, und heut' sind sie alle bei mir gewesen, – die Fürschlichkeiten – und die großen Männer und die vornehmen Frauen, – und ich hab' meine Tante Christiane lachen gehört! – Und hab' Weihnachten gefeiert. Un wenn's ganze lebendige Weimar sich ereschpert (ein alter weimarischer Ausdruck), so was bringt ihr nicht zusammen, wie die Schatten ohne Haus und Hof und ohne Licht und Feuer.

Wie ich noch auf den Beinen war, da bin ich am Weihnachtsheiligenabend durch den Park gegangen und durch die Straßen, und da hab' ich so manches geseh'n, was mir nie über die Lippen kommen wird.

Der liebe Gott weiß, wo er unsere Seelen aufbewahrt; aber daß ihm die alten Weimaraner hin und wieder entwischen, – das ist sicher. Daß die ihres Schöpfers Erde geliebt haben, mehr als es gut war, das hat ein jeder sehen können. Jetzt is aber nischt … auch rein gar nischt los.«

Die Alte war matt geworden, das Sträußchen lag ihr unbeachtet auf der Brust, die Tüte mit Bäckereien sah so winzig aus, daß das arme Herzgesicht sich schämte, denn sie sah im Geiste Tante Christianes wundervolle Schüttchen vor sich, in die sie die Kraft und den Reichtum aus dem gelobten Lande gegossen hatte.

Das uralte Häutchen sank wieder in sich zusammen. Die funkelnden Mäuseaugen erloschen, das Seelchen verkroch sich.

Als das Herzgesicht durch den verschneiten Garten ging und die schweren Zweige der halbwüchsigen Tannen auseinanderbog, um hindurch zu kommen, war ihr bang und sehnsüchtig zumute. An ihrer eigenen Sehnsucht trug sie und an der Sehnsucht der alten Weimaraner, denen das vergessene arme Seelchen am heiligen Abend einst begegnet war.

Die Wege des stillen Parkes lockten fast vor dem kleinen Hause, und Herzgesicht betrat sie mit leichtem Schauer. Keine Menschenseele weit und breit – Schneestille –. Die kahlen Bäume ragten weich und nebelhaft in den grauen dichten Himmel hinein. Alles Leben im Städtchen, in den Straßen, in den hellen warmen Häusern zusammengedrängt, – hier kein Laut, kein Schritt außer ihrem eigenen. Hier störte sie nichts in ihren sehnsüchtigen, lebenabgewandten Gedanken. Hier feierte sie ihr Weihnachten. Ach, so anders wie sonst. Sehnsucht ist eine große, große mühselige Arbeit der Seele. Aber sie hätte nicht da gehen sollen, nicht in solche berückende Einsamkeit, die sie ganz mit ihrem eigenen Empfinden erfüllen konnte.

Schauer überrannen sie. Unheimlicher schien ihr die kleine, einsame Alte im verschneiten vergessenen Haus, unheimlich deren Schauen und Erinnern.

Ihr war, als wäre sie einem armen verlassenen Geist begegnet. Sie fühlte sich ganz wunderlich erschüttert. Nein, sie hätte nicht hierher gehen sollen. Und war es ihr nicht, als wenn leichte, zarte Schritte zögen – und zartes Bewegen um sie her?

Ach, die Alte hatte sie ganz behext, hatte sie in ihre Kreise gezogen. Sie mußte sich an alles süße, heiße Leben erinnern und danach sehnen, was fremde Seelen hier einst getrunken, wie feurigen Wein, wie Duft von Sommerrosen.

Sie trug die Erdensehnsucht fremder Seelen jetzt in sich. Vergänglichkeitsgefühl durchrann sie ganz und gar. Sie fühlte mit den Verstorbenen. Sie fühlte deren Vergangenheit und Geliebtsein, – ihr Lieben, ihre Erdenseligkeit, – deren Sommer und Winter, – ihre Weihnachtsfeste, ihr seliges Beieinandersein, ihr Behagen, ihr Lachen, alles Süße, was die Erde für sie hatte, und die weihevollen Vergangenheiten vieler, vieler Menschenseelen ließen sie leiden.

Die Weihnachtsglocken klangen tief und voll hoher Feier über die Wipfel der Bäume hin, erfüllten die ganze Luft. Die stille Erde begann wie mit dröhnenden Herzschlägen zu leben.

Jetzt lag die russische Kirche vor dem bangen Herzgesicht, das lange, heimische, altertümliche Haus, das mit vielen Augen in den alten Park hineinschaut. Dunkel das ganze Haus, in dem Charlotte Stein einst lebte, in dem sie ihre große Liebe gefeiert und gelitten. Helle strömt nur aus der hohen Glastür im Erdgeschoß, hinter welcher der Gottesdienst der griechischen Kirche gefeiert wurde. Eine Seelenmesse für die russische Fürstin, die hier einst regierte. Eine einsame Totenmesse wurde heute vom Geistlichen gehalten. Niemand war gekommen, ihr beizuwohnen.

Die Kirchensänger sangen schwerlastende, gewaltige, herzerschütternde Töne. Das einsame Mädchen sah durch die geschlossene Glastür, wie der Geistliche im goldstrotzenden Ornate sich am Altar beugte und neigte, wie er wandelte, und der Gesang flammte auf und flammte nieder, als bewege Sturm ihn.

Weh und Geheimnis, Grauen und Hoffnung. An den Stellen der Messe, wo das leise Schluchzen der Gemeinden im fernen weiten russischen Reiche die Kirchen durchzittert, kein Laut hier – denn niemand feierte heute diese Messe mit.

Draußen aber vor der Kirche stand ein armes Menschenkind, welches das Wissen der Vergangenheit trug. Alle Sehnsucht, die hier einst gefühlt wurde, von den lebendigen Toten, wogte auf.

Das war keine Totenmesse, die der Geistliche im goldstrotzenden Ornate und die Sänger der gewaltigen, geheimnisvollen Klänge hier feierten, das war eine Messe zur Erinnerung verklungener Liebesworte, zur Erinnerung verloschener, sonniger Seligkeiten. Und dem Herzgesicht war es, als hörte eine stille Geistergemeinde um sie her die schmerzvolle Erdenwonnenmesse mit ihr, die gewaltigen Klänge, die auf ihren breiten Fittigen das Weh der Vergänglichkeit in die Weltennacht hinaustrugen, einem geheimnisvollen Ziele zu.

Da dröhnten die Weihnachtsglocken wieder mächtig über die Einsamkeit hin, als schlüge das Herz der Erde, und verkündeten das heilige Fest des Erlösers für diese Welt, die des Trostes so sehr bedarf für Lebendige und Tote.

Und in ihrer Seele erschauerte das Herzgesicht und erkannte auch den Erlöser, der die unermeßlichen, wundervollen Klangfittige geschaffen, die das große Erdenweh der Vergänglichkeit geheimnisvoll erlösend emportrugen.

O, ihr Erlöser dieser Erde, voller Dank sollen die Menschen eure Feste feiern.


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