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Das Haus der Fremden

Isebies, das nachdenkliche Kind, stand mitten im Leben, ehe sie es sich versah. Schmerz und Sehnsucht hatten schon bei ihr angeklopft. Das treueste, bravste Herz war ihr schon entrückt. Sorgen um andere trug sie im Herzen, und sie erfuhr auch schon, daß Kummer schweigsam macht, daß der kummervolle Mensch einsam ist.

Gomelchen strich ihr manchmal übers Haar und sagte leise und zart: »Na, meine Alte.« Das hieß soviel wie: ich weiß, ich weiß. Ach aber, was wußte sie! Kannte sie Ottomars Augen, die ganz anders schauen konnten wie anderer Menschen Augen, so, als wenn er dem Sommer und der ganzen Natur näher verwandt wäre wie andere Menschen? Und seine Stimme kam so mitten aus dem Herzen, so warm und unmittelbar. Und Lilly mit ihrem Engelsgesicht und ihrer süßen Begrüßung und ihrer sehnsüchtigen liebevollen Nähe, sehnsüchtig auch, wenn man bei ihr war.

Ach, solches alles hatte sie verloren, die junge Isebies mit den großen, übermächtigen Kräften ihres Wesens.

 

Heinrich Eigenbrodt hatte seit kurzer Zeit Bekannte, mit denen er von Frau Mutter und Marie Sibylle hin und wieder geneckt wurde, denn sie sagten, daß er sie geheim hielte.

»Nein, keineswegs,« meinte er auf diese Anschuldigung. »Es war ein rein literarisches Interesse, was diese Leute nach mir sich umtun ließ, und ist es heute noch. Als er mir und noch einigen einen Akt seines Stückes vorlas, vielmehr die Frau las, war es auf einen Verkehr mit uns gar nicht abgesehen.«

Heinrich Eigenbrodt aber war nach dieser Vorlesung ganz erregt heimgekommen. Er hatte immer wieder von diesen Menschen gesprochen, wußte das Drama nicht genug zu rühmen, die Häuslichkeit und das eigentümliche Ehepaar.

Man hatte Heinrich Eigenbrodt selten von Menschen so hingenommen reden hören, kein Wunder, daß dies die Neugier aller im Hause erregte. Aber niemand bekam seine neuen Bekannten zu sehen.

Während des Mittagmahls, nach dem Abend der Vorlesung, hatte er den Seinigen aber ausführlich von seinen Erlebnissen erzählt.

»Es ist also so etwas, sagen wir, russische Wirtschaft, mit Zigaretten auf allen Tischen und Tischchen, und mir war, als hätte ich mitten in aller Eleganz ein zerrissenes Sofa bemerkt, das sich nicht im geringsten zu genieren schien, und es war sogar blauseiden, ich hab sogar darauf gesessen. ›Unsere weimarischen Sofas,‹ dachte ich, ›sind sehr schamhaft gegen dieses eingewanderte.‹ Es sagte gewissermaßen: Mir macht das gar nichts. Gerade so etwas liegt im Betragen des Herrn dieses Sofas. Ich glaube, er hat sogar noch nie bemerkt, daß sein Sofa überhaupt zerrissen ist, und mir kommt es vor, als wäre auch ihr diese Tatsache fernliegend, denn sie wies mir mit der reizendsten Liebenswürdigkeit meinen Platz gerade auf der allerzerrissensten Stelle an, und ich mußte annehmen, daß sie dies zweifellos für einen Ehrenplatz hielt, denn sie sah auf mich und das Sofa mit Befriedigung mit ihren großen schönen Feldherrnaugen, die unter der schmalen Stirn wie Edelsteine leuchten. Außerdem war sie von der Arbeit ihres Mannes so ganz erfüllt, die geborene Frau des berühmten Mannes, die Gnaden und Ungnaden verteilt, die den Ruhm des Mannes in Werte umsetzt. Wenn es ihr nur mit ihm glückt! Trotz allen seinen Talenten war er gar nicht so bei der Sache wie seine kleine, stahlharte, funkelnde Frau.

Statt vernünftig mit dem Intendanten zu reden, erzählte er ihm Dummejungenstreiche, die er mit seinen Vettern in dem einsamen Sommerhaus seiner Mutter mitten in den russischen Wäldern ausgeführt hatte, und von Bootfahrten und Entdeckungen, und daß er neunmal an einem Tag ins Wasser gefallen sei. Er überlegte nicht im geringsten, daß dies alles dem Intendanten höchst egal war. Mittlerweile mühte sich die Frau mit dem Regisseur ab.

Na ja, wollen einmal sehen, ob's ihr glückt,« sagte Heinrich Eigenbrodt nachdenklich. »Das kleine Souper war aber vortrefflich, einfach, tadellos, der Wein gut und jedes Glas auf dem Tisch vom andern verschieden, lauter schöne Nachahmungen alter Gläser. Das war nun wieder seine Idee gewesen.

Sie haben auch Kinder, von denen aber nicht gesprochen wurde. Sie sahen übrigens beide nicht nach Kindern aus. Ich hätte sie für kinderlos gehalten, wenn der Regisseur mir nicht gesagt hätte, sein Töchterchen ging mit diesen scheinbar nicht vorhandenen Kindern in die Schule.

Es schaute auch einmal ein reizendes Dingelchen zur Tür herein.

Der Intendant sagte mir: ›Kommen Sie, wann Sie wollen. Sie finden das Ehepaar im Salon sich montierend, Konversation machend. Eine anstrengende Ehe, weiß Gott!‹ Sein Stück ist gut,« meinte Heinrich Eigenbrodt. »Ich möchte aber nur wissen, wann er sein Geschäft führt, wieso er bereits fünf goldene Medaillen mit dem alten Wrack von Geschäft erlangt hat. Er hat das Ding, das nicht leben und nicht sterben konnte, wirklich in die Höhe gebracht. Alle Achtung.

Im Hause ist gewissermaßen ein wehmütiger, etwas beängstigender Duft nach Einsamkeit. Seine Unbeholfenheit stammt, glaube ich, auch aus Weltfremdheit, und sie montieren sich gegenseitig und machen Konversation miteinander auch jedenfalls aus diesem Grunde, denn mit seiner Frau ist's doch schön, nach getaner Arbeit gemütlich zu schweigen, wenn nicht gerade geredet sein muß.

Auf dem Nachhausewege dankte ich Gott und sprach zu mir: ›Ich danke dir, daß du mich hast werden lassen gerade so wie andere Leute auch sind. Amen.‹«

Ja, man beschäftigte sich im Hause der Eigenbrodts nach dieser Erzählung öfters mit dem Abenteuer des Vaters. Der angestammte, wenig wechselnde Verkehr des Hauses machte solche Neugier ganz begreiflich.

Da geschah es, daß Angelika Vogel, die Erzieherin, irgendwie mit Heinrich Eigenbrodts neuer Bekanntschaft zusammenkam und zu ihnen eingeladen wurde.

An dem Abend, an dem Angelika Vogel zu ihnen gegangen war, stand Isebies in dem stillen Schulzimmer am offenen Fenster und schaute auf die schwerlaubigen Baumwipfel, die in Junipracht wie ein grünes Meer sich vor ihr ausbreiteten. Der Himmel war von einer hellen, matt leuchtenden Wolkenschicht vollkommen überdeckt. Isebies dachte: Er sieht aus wie saure Milch, in der etwas herumgerührt worden ist. Noch nie hatte sie solch eine Wolkenbildung bemerkt. Das grüne volle Blätterdach unter ihr, das Weg und Platz ganz verdeckte, die mattweißliche, weich zerstückelte Wolkendecke über ihr, das war so ganz einfach und ruhig, nicht gerade bedrückend; aber die Seele machte Anstalten, in dieser Stille und Sanftheit der Umgebung zu erwachen, zu wünschen, sich unbestimmt zu sehnen, zu erinnern. Isebies hätte Angelika Vogel gar zu gern in das fremde Haus begleitet. Fern schaute der Ettersberg mit seinem Waldkamm über die Dächer, ein heißes Sehnen nach verlorenen Tagen und Menschen schlich sich in ihr Herz, und als sie müde ward und die Tränen ihr fast unmerklich über die Wangen getropft waren, bewegte ein wunderliches Verlangen ihr Herz. Es war ihr, als schliche sie leise Angelika Vogel nach, um zu sehen, wie die geheimnisvollen fremden Menschen sich mit dieser vertrugen.

Dann dachte sie daran, daß Angelika Vogel bald das Eigenbrodtsche Haus verlassen würde, und Wehmut überkam sie, wie sie sie ähnlich niemals noch empfunden: die Vergänglichkeit, das Kommen und Gehen der Dinge. Es versank Schönes und Wundervolles – und Neues, so war es ihr, hob das Haupt, tauchte auf und ängstigte in seiner Unbestimmtheit.

 

Angelika Vogel kam, wie Heinrich Eigenbrodt, leicht erregt und ganz befangen von den Fremden am Abend zurück.

»Na, sind sie denn wirklich so aparte Vögel?« frug Frau Mutter beim Abendessen.

»Die sind schon sehr eigentümlich. Vater würde fragen: ›Sind's gute Menschen?‹ Und ich glaube, es sind gute Menschen,« sagte die junge Erzieherin. »Er hat entschieden etwas Kindliches bei aller seiner Gescheitheit. Sie haben z. B. gebeten, ob ich mit meinen Schülerinnen am Sonntag im Rödchen mit ihnen die Sonne aufgehen sehen wollte.«

»Das ist wenigstens eine sehr harmlose Einladung,« meinte Frau Mutter.

»Ja, dürfen wir?« fragte Angelika Vogel erregt.

Heinrich Eigenbrodt war leicht verstimmt. »Höchst unnötig,« sagte er. Er gab keine direkte Erwiderung auf die Frage der Erzieherin.

»Wir danken!« sagte die kleine Weltdame. »Zu verrückt!«

»Mir kommt's vor,« meinte Biwi, »als hätten uns diese fremden Leute eingeladen, bei der Gomel mit uns zusammen nach dem Rühren die Biskuittortenschüssel auszulecken. Nee! Da muß mer sich schon sehr gut kennen zu so was.«

»Nein,« sagte Frau Mutter, »so übel find ich das nun gar nicht, wie oft haben wir einst da oben im Rödchen die Sonne aufgehen sehen in lustiger Gesellschaft. Jetzt reisen die Leute auf den Rigi, um dasselbe zu sehen. Wir machten das billiger: Jung und alt zog aufs Rödchen mit ganzen Körben voll Kuchen, im Wirtshaus wurde dann fröhlich gefrühstückt. Aber wie kommen diese Leute auf die altmodische Idee?« Gomelchen bewegte leise wehmütig den Kopf.

 

Früh um drei Uhr, in der grauen zarten Lichtstunde, wanderte das Ehepaar Dohrn mit den beiden jungen Mädchen, Lehrerin und Schülerin, dem Ettersberg, dem alten Rödchen zu.

Isebies sah zum ersten Male die Menschen, von denen sie in der letzten Zeit oft hatte sprechen hören. Isebies war sehr befangen und bewunderte Angelika Vogel, die ganz ohne Scheu sprach. Die Frau trug einen grauen, ungewöhnlich langen Reiseschleier um einen kleinen Hut. Die langen Enden waren um den Hals geschlungen und rahmten ihr feines, blasses Gesicht wie mit einer grauen Wolke ein. Ihre Augen leuchteten wirklich wie durchsichtige Edelsteine aus dieser grau umhüllten Bleichheit. Sie war sehr gut gekleidet, in einer Art Reisetoilette. Ihr Mann glich ihr. Sie waren einander ähnlich. Er hatte fast dieselben durchsichtigen Augen, aber das Edelsteinharte fehlte. Sein Gesicht war so schmal und bleich wie das ihre, fast bartlos; nur waren ihre Züge kleiner und fester. Zwei schöne Menschen.

Angelika Vogel war schon sehr vertraut mit ihnen, so schien es Isebies.

Sie sprach mit beiden über Dinge, über die Isebies niemals hätte sprechen können. Sie sprachen über die Aufführung des Stückes, die im November stattfinden sollte. Angelika Vogel war schon ganz eingeweiht und gebrauchte allerlei Ausdrücke Sachverständiger, die Isebies gar nicht verstand. Sie bekam Achtung vor ihr und begriff nicht, woher sie eigentlich den Mut genommen hatte, sie früher so zu quälen.

Jetzt ging die Lernerei bei Isebies viel besser, denn sie wollte vorwärts kommen. Isebies betete auch jeden Abend um eine gute Orthographie, das mochte sie ihrer Bildung schuldig sein.

So aufgeschossen Isebies war, hatte sie noch etwas sehr Kindliches im Betragen und Aussehen, unter Freunden etwas undurchdringlich Schüchternes.

Auf dem Weg zum Ettersberg, den Isebies so gut kannte, verließen sie die wehmütigen Gedanken an ihre Kameraden nicht. Ach, es ging diesmal nicht dem geliebten Rauchfußschen Gutshof zu. Sie wanderte die Landstraße, die Ottomar täglich gegangen war, und hatte das wehmütige Empfinden, als träte sie in seine Fußstapfen.

Ehe sie zum Rödchen einbogen, kam ihnen ein einspänniges Kütschchen entgegen, und Isebies erkannte Frau Rauchfuß, die stolz und in ihrer ganzen Drallheit lebendig wie ein gesunder Spiegelkarpfen in dem Wägelchen saß, mit dem Koffer auf dem Bock. Sie erkannte Isebies sofort, rief sie zu sich heran und sagte laut: »Na, Isebies, wohin so früh? Ich fahre zu Lilly. Weißt du auch, daß Lilly jetzt glücklich verheiratet ist, ein vornehmer, braver Mann ist er doch! Du kannst es allen sagen. Sie hat ein Kindchen und die Geschichte hat sich gehoben!«

»Und Ottomar?« frug Isebies.

»Der studiert, wird auch was Rechtes!«

Sie schien eine sehr stolze Stief- und Schwiegermutter geworden zu sein.

»Sag's nur allen, Isebies!« lachte Frau Rauchfuß mit ihrem wohlgemuten Lachen. Jochen klatschte mit der Peitsche, und das Kütschchen setzte sich in Bewegung.

Isebies stand ganz erschüttert mit Tränen in den Augen.

»Isebies,« rief Angelika Vogel mit einem etwas gouvernantenhaften Unterton in der weichen Stimme. Sie wußte sehr wohl, daß Isebies mit nichts Rauchfußischem mehr verkehren sollte, und dachte: Sie muß auch wirklich allen Dingen in den Rachen laufen.

»Lassen wir sie,« sagte Angelika zu dem Ehepaar, »gehen wir voraus,« denn sie kannte Isebies und wußte, wie schwer es ihr wurde, ihrer Bewegung Herr zu werden. Sie war dabei gewesen, als Heinrich Eigenbrodt sein Kind gestraft hatte, weil es nachts oben im Gutshof gewesen war, und wie Isebies ihm die Hand geküßt.

»Isebies hat einen Kummer mit Freunden gehabt,« sagte Angelika zur Erklärung.

»Das junge Ding?« meinte die eigentümlich schöne Frau und lächelte. »Sie hat merkwürdige Augen, das Kind. Sie ist die älteste Tochter von Eigenbrodt, nicht wahr?«

»Marie Sibylle, die Isebies, ist ein seltsames Geschöpf,« sagte Angelika Vogel. »Sie macht uns manche Not, kann rührend gut und liebenswürdig sein und dann wieder so schweigsam und verschlossen wie ein Buch mit sieben Siegeln. Man könnte sich ordentlich vor ihrer Güte und Weichheit fürchten, wenn man denkt, daß sie einmal wie andere Leute in der Welt stehen muß.«

»Sie sollten ihr eine Beschäftigung geben, die sie interessiert,« meinte Alexander Dohrn.

»Ja, aber sie ist ganz lernunbegabt. Das große Mädel schreibt heute noch eine Orthographie wie ein kleines Schulkind, und dabei ist sie jetzt voll guten Willens, was früher nicht der Fall war.«

Die Morgenstunde wurde lichter und lichter, die Lerchen hatten schon lange im blassen Dämmerlicht geschmettert, das Gras war tauschwer und weißgrau beperlt, die Wege feucht, der Himmel voll ungeheurer Ruhe über der totenstillen Erde hingewölbt. Als man am Rand des Rödchengehölzes stand, ging wirklich die Sonne auf, schaute wie ein glühender, sprühender Punkt über die flachen, langgestreckten, hügeligen Felder, ließ die Morgenwolken rosa aufleuchten und strahlen und war dann da in ihrer Herrlichkeit. Das hatte Isebies noch nie gesehen.

Wunderlich, daß diese Menschen mir die Sonne gezeigt haben, dachte sie. Wer sind sie denn und was wollen sie denn?

Mit Lilly und Ottomar sind sie natürlich nicht zu vergleichen, sie sind ganz anders und so viel, viel älter: aber wie die anderen Menschen sind sie auch nicht.

Wer von ihnen beiden ist auf diesen Gedanken gekommen? fragt sie sich und beobachtet. Sie nicht, kam Isebies sehr bald zum Schluß, denn Frau Dohrn sprach über alles mögliche mit Angelika, als gerade die Sonne sich hob. Sie sagte, daß der dritte Akt nach ihrem Dafürhalten der bei weitem beste sei. Da stand die Sonne in voller Glorie, und es war, als wenn ein Freudenton über Erde und Himmel ging. Er, der Mann, schwieg, als dies geschah. Kurz darauf beugte er sich nieder, pflückte einige blühende Gräser und sagte zu Isebies gewendet: »Dafür sollten Sie sich interessieren, die Gräser und Moose sind eine ganze Welt für sich, und man könnte steinalt werden, ehe man sie ergründet hätte.«

Isebies sagte: »Nein, das könnte ich – glaube ich – nicht, mich besonders für Gräser und Moose interessieren.«

»Lieber,« sagte er, »tausendmal lieber, als sich etwa für literarisches oder künstlerisches Zeug der Menschen zu interessieren. So wenig, so wenig ist da vollendet, und hier! – Ein paar Gedichte Goethes, ein paar göttliche Zeilen Shakespeares, ein paar hinreißende Töne in einem Musikwerk. Im höchsten Menschenwerke immer nur ein Götterblitz oder einige, die das Ganze erhellen. Alles andere im Grunde Mühseligkeit und in der Natur alles vollendet! Sehen Sie nur diese Grasblüte an! Da ist Vollendung der Idee. Wir Menschen sind Stümper, auch die herrlichsten von uns. Lesen Sie den Faust, der ist von allem, was mir bekannt ist, das harmonischste Menschenwerk, durch und durch gesund und schön. Glückseliger Kerl! die alte weimarische Exzellenz. Dafür hat er aber auch Bände und Bände geschrieben, die er einfach hätte sein lassen können. Menschenschicksal.«

Darauf erzählte er Isebies dasselbe, was er dem Intendanten erzählt hatte, Dummejungenstreiche aus seiner Jugendzeit, und daß er an einem Tag neunmal ins Wasser gefallen sei.

Da mußte Isebies lächeln. Es schien ihm dies das Wichtigste aus seinem Leben zu sein. Eine wunderliche Weise hatte er, ganz unvermittelt zu seufzen, als wenn er tief unglücklich wäre, ließ sich aber von diesen Seufzern und Ausrufen durchaus nicht stören, mit bestem Appetit seinen Kaffee im Rödchen zu trinken und soviel Butterbrot und Kuchen wie ein Junge zu essen. Das beruhigte Isebies, die schon geglaubt hatte, er sei krank.

Die Frau war an dieses Seufzen auch gewöhnt, wie es schien, und ließ sich dadurch keineswegs aus ihrem Gleichmut bringen.

Isebies war ganz erstaunt, diese Menschen bald über Liebe, bald über Shakespeare, bald über Gut und Böse reden zu hören. Sie hatten immer etwas zu besprechen und versenkten sich beide eifrig und feurig in jedes Thema. Das war sie von zu Hause nicht gewöhnt. Man besprach da nur die nächstliegenden Dinge. Es wurde hin und wieder über ein Theaterstück gesprochen, über etwas, das in der Zeitung gestanden hatte, sonst besprach man, was der Tag brachte, und das war immer allerlei und genug. Niemand langweilte sich dabei. Über Liebe aber war noch nie gesprochen worden. Das Wort Liebe hatte Isebies noch nie aussprechen hören.

Daß sie über Liebe redeten, kam ihr wie ein großes Unrecht vor. Niemals hätte Marie Sibylle, ihre Mutter, dies getan, und nie hätte dies ihr Vater getan. Sie sprachen so anders wie andere Menschen, mit einem besonderen Wohllaut der Stimme. Es hörte sich beiden gut zu. Ja, und Isebies kam sich ungeheuer dumm vor, wie vor den Kopf geschlagen. Sie konnte eigentlich nur nein und ja sagen.

Es gab also eine Kunst des Sprechens und des Unterhaltens, des Plauderns. Das hatte sie gar nicht gewußt.

Angelika Vogel hingegen konnte ganz gut mittun.

»Nun, was wollen wir denn eigentlich?« frug Frau Elise Dohrn mit einmal unvermittelt während des Frühstücks im Rödchen. »Wollen wir tanzen und herumschmetterlingen bis zum Tage, an dem sich der Allerliebste einstellt?« Sie hatte sich der stillen Isebies zugewendet. »Oder soll irgend etwas geleistet werden? Arme Kinder unterrichten oder Porzellan malen, so etwas, um das Zwischenreich zu überbrücken?«

Isebies wurde dunkelrot. Zwischenreich? War sie im Zwischenreich? So hatte sie noch niemand gefragt. Waren das Menschen, die ihr helfen konnten? Sie wollte ja etwas, heißen Herzens wollte sie etwas! So, sie war also im Zwischenreich. Es war also ganz recht, daß sie nach Arbeit für ihre Kräfte verlangte. Und so sagte sie leise und schüchtern: »Ja, wenn ich wüßte, ich möchte schon was tun; aber nicht Krankenschwester werden.« Da lachte Alexander Dohrn und die eigentümlich schöne Frau.

»Nun, was wollen wir dem Fräulein Isebies lehren?« sagte sie.

Angelika Vogel aber meinte übermütig: »Ich könnte sie verraten, wenn ich wollte. In ihren Heften steht wunderliches Zeug mit vielen Fehlern. Ich glaube, sie dichtet.«

Kaum aber war das ausgesprochen, beugte Isebies den Kopf tief und preßte das Gesicht wie ein Kind auf die Arme, die sie auf dem Tisch ineinander verschränkt hielt, und ihre Gestalt war von leidenschaftlichem Schluchzen erschüttert.

»Isebies!« rief Angelika ganz bestürzt. »Meine Isebies! Das war ja nicht bös gemeint.«

Isebies aber blieb verborgen, ganz versteckt, und als sie den Kopf hob, hatte sie ihr verschlossenes Siouxindianergesicht, wie es Heinrich Eigenbrodt nannte.

»Wenn Sie etwas dichten,« sagte Alexander Dohrn, »müssen Sie es von ganzer Seele tun, mit allen Kräften, wie die Natur ihre Dinge tut; aber das werden Sie nicht können und auch gar nicht wollen.«

»Doch,« sagte Isebies kurz.

»Beschreiben Sie für uns den Spaziergang, den wir heute machten.«

»Ich kann das nicht tun, was man mir so sagt,« antwortete Isebies kurz. »Deshalb hab' ich auch nichts lernen können.«

»Sie haben nichts gelernt, trotz ihrer liebenswürdigen Lehrerin?« lachte Frau Dohrn.

»Nein, ich habe nichts gelernt,« sagte Isebies wieder kurz.

»Isebies, übertreibe nicht, wir haben doch so manches miteinander fertig gebracht?«

»So gut wie nichts,« war die ernste Erwiderung.

»Sie ist unbestechlich,« sagte Frau Dohrn.

Das arme ernste Kind saß wortlos und verschlossen da und war bös auf Angelika Vogels Verrat.

Alexander Dohrn aber wußte Isebies auf eine gütige und freundliche Art bald auf andere Gedanken zu bringen, so daß sie ihm auf dem Heimweg ein wenig ihr Vertrauen schenkte.

 

Am Nachmittag dieses Tages war Isebies im Hause des alten Preller und saß mit ihm im Garten, und Dohrns kamen zufällig vorüber, erkannten Isebies und grüßten sie.

»Mit denen,« sagte sie zu ihrem guten Freunde, »habe ich heut morgen die Sonne aufgehen sehen.«

»I, der tausend,« meinte der alte Preller, »was du nicht sagst. Die Menschen stehen der Natur so fern in unserer Zeit, daß man sich fragen muß, wie kommt ihr denn darauf, die Sonne aufgehen zu sehen?«

»Herr Dohrn ist in seiner Jugend jeden Sommer von Anfang bis zu Ende in den russischen Wäldern gewesen in einem kleinen Dorf, nah und weit keine Menschen, und da sagte er mir: ›Die Sehnsucht nach dieser Stille ließ ihn manchmal so früh aufstehen und hinausgehen. Vor Sonnenaufgang sei auch bei uns, wo doch alle zehn Minuten ein Wirtshaus steht, dieselbe Stille.‹«

»Hat recht.

Ich kenne sie auch, diese Stille, habe sie auch aufgesucht in meiner Jugend oben in Norwegen und dann unten in Sizilien, und jetzt hab' ich sie in mir selbst gefunden. Merk' dir's, Isebieschen. Die Jungen suchen das außen in der Welt, was die Alten in sich selbst finden.

Es ist eine schöne Welt, und ich freue mich, daß ich voll Dankbarkeit ihre Schönheit so tief hab' in mir aufnehmen dürfen.«

Es war ein guter Tag, dieser Sonnenaufgangstag mit diesem Abend im Glanze des schönsten Sonnenuntergangs eines großen reinen Menschen und Künstlers.

 

Als Dohrns und Isebies sich wieder trafen, war es im Eigenbrodtschen Hause, in einer kleinen Gesellschaft. Isebies stand nachdenklich an der offenen Gartentür. Sie hatte sich eben vorgestellt, wie viel schöner es damals war, als sie in der Kinderstube alle drei auf das Stimmengewirr der Gesellschaften ihrer Eltern gelauscht hatten, auf das Meeres- und Windbrausen und die Glocken, die großen und die kleinen, und als es ihnen so erschienen war, Gott Vater käme zu Adam und Eva und all ihren Tieren. Ach, das war geheimnisvoll, so verheißungsvoll, so unergründlich gewesen.

Alexander Dohrn trat auf Isebies zu und sagte: »In Oberweimar, auf einer Bauernhochzeit, tanzte neulich der Pastor, siebzig Jahre alt, tanzte und drehte sich, daß es eine Pracht war. Ich trat zu ihm, als er verschnaufte und sagte: ›Na, Herr Pastor, ich denke, die Welt ist ein Jammertal.‹

›Ach was, Jammertal!‹ Da wischte er sich mit seinem blauen Schnupftuch den Schweiß von der Stirn und drehte sich weiter.

›So ist's recht, Herr Pastor.‹ – Na, und Sie?«

»Ich?« fragte Isebies.

»Sie haben's viel zu gut! Unverdient genug, so eine kleine Kröte!«

»Verdient ist's freilich nicht,« sagte Isebies.

»So, weiß man das? Merkwürdig, merkwürdig, wenn man überhaupt irgend etwas weiß, außer, daß man der Mittelpunkt der Welt ist! Eine schöne Welt, in der es nur Mittelpunkte gibt, eine schöne Wirtschaft. Und jeder Mittelpunkt ein Maul, ein gefräßiges Maul. Was folgt daraus?«

»Streit,« sagte Isebies befangen wie in der Schule.

»Bravo!

Einen Preis demjenigen, der eine Welt auf fürchterlicheren Grundlagen denkt als die sind, auf denen unsere liebe Erde ruht; auf Fressen und Gefressen werden, auf Gier und Todesangst. Die Nahrung lebt und liebt, kein Gott und kein Teufel wird sich finden, der diesen Preis gewinnt.«

»Ja,« sagte Isebies wieder.

»So – einfach ja! Sie machen's sich leicht.«

»Es ist so,« sagte Isebies leise, kaum hörbar. »Aber man spricht in Weimar nicht darüber.«

Isebies lächelte. »Wenn Sie hier heimisch werden wollen, dürfen sie nicht so sprechen. Jeder will seine Seelenruhe.«

»Ja, ich möchte heimisch werden, und wär's hier in Weimar!«

»Da fangen Sie's aber nicht richtig an, wenn Sie so etwas wollen. Sie erschrecken die Leute.« Isebies lächelte wieder, fast mütterlich. »Hat Ihnen denn das Ihre Mutter nicht gelehrt? Das verstehen doch Mütter sonst sehr gut?«

»Meine Mutter, o heiliger Gott, das war eine echte Orientalin. Mein Vater freilich, das war ein guter Deutscher, der hätte sich sogar in Weimar behaupten können. Selbst habe ich ihn nie gekannt. Ich bin von dem Stück Fremde, das er aus dem Orient mitgebracht hatte, erzogen worden. Eine Katze hätte es ebensogut und besser gemacht. Goethe sagt irgendwo: Gottlob, daß alle Erziehung nichts nützt. Dann schadet sie vielleicht auch nichts.«

Frau Eigenbrodt rief nach Isebies, die von den sonderbaren Worten, die sie so unvermittelt gehört hatte, ganz erregt war.

Dohrns hatten an diesem Abend bei Eigenbrodts nicht festen Fuß gefaßt. Sie waren für Heinrich Eigenbrodt entschieden die rechten Leute nicht, die er regelmäßig in seinem Hause zu sehen wünschte, auch ohne daß er Alexander Dohrns Unterhaltung mit Isebies gehört hatte. Auch Frau Eigenbrodt konnte sich in das Sprunghafte, in Dohrns Art zu sprechen, nicht gewöhnen. Sie meinte: Der Mann hat etwas Jungenhaftes, und die Frau war Marie Sibylle zu sonderbar, ihre Toilette, die etwas Fließendes, wie aus grauen Schleiern Bestehendes hatte, ihre Art zu sprechen, ihr überlegenes, fremdartiges Lächeln, wenn über Haushalt oder Kinder gesprochen wurde.

»Und dabei kennt sie unsere eingestammten Geschäftsleute fast besser wie wir,« sagte Frau Eigenbrodt. »Als sie aber von einer Macbethaufführung sprach, war mir's, als wäre Lady Macbeth ihre allernächste Anverwandte, da wachte sie auf, da leuchteten die Feldherrn-Edelsteinaugen, wie Heinrich sagt, da wurde sie endlich warm, als ob es sie zum ersten Male selbst anginge. Ungemütlich.«

Angelika Vogel und Isebies waren anderer Meinung. Sie hatten nichts an Dohrns zu kritisieren und konnten von einem zum andern Mal gar nicht erwarten, sie wiederzusehen.

Und sie sahen sie oft, sie begegneten ihnen auf der Straße, sie huschten miteinander nach dem Unterricht zu ihnen hin. Sie fühlten sich dort sehr wohl in der eigentümlichen Umgebung, in der ein so feiner, außergewöhnlicher Geschmack, verbunden mit einer gewissen Nachlässigkeit, herrschte.

Das blauseidene, zerrissene Sofa thronte stolz mit vollem Selbstbewußtsein im Salon, Vergangenheit und Gegenwart ignorierend.

Ein wundervolles strahlend grünes Malachitschreibzeug von großem Wert stand auf einem Tischchen davor, es steckten aber Bonbons in der Tintenschale und keine Tinte, und zwar sehr gute Bonbons, von denen Dohrns bei jeder Gelegenheit sich eins zulangten. Es fanden sich übrigens überall Bonbons in den verschiedensten Behältnissen. Isebies dachte darüber nach, wer wohl den Salon immer von neuem damit versorgte. Jedenfalls doch Frau Dohrn, und ob sie diese guten Sachen immer wie Ostereier versteckte, oder ob sie nach und nach überall hin vertragen wurden. Das schien beinah so, denn auch hinter dem Spiegel steckte eine vergessene Tüte und guckte nur ein wenig hervor. Überall lagen Zigaretten, offen und in allen Arten eleganten Etuis, eine Puderschachtel mit Puderquaste hatte ihren Platz auf einem Büchergestell, und woher der Staub, der meist auf demselben lag, kam, wußte man nicht. Frau Dohrn ging oftmals, wenn sie erregt sprach, an dies Pudergestell und puderte ihr bleiches Gesicht, trotzdem es des Puderns gar nicht bedurfte, es war so eine Angewohnheit und schien ihr wohl zu tun. Während der Unterhaltung liebten beide Dohrns sich mit Bonbonessen und mit Teetrinken zu beschäftigen, es wurde endlos Tee getrunken. Sie wollten die weimarischen Dienstmädchen gern daran gewöhnen, den Tee nicht draußen in der Küche aufzugießen. Sie wünschten ihren Samowar im Zimmer zu haben, um den Tee sich selbst zuzubereiten, bekamen ihn aber höchst selten, denn dieses fremdländische Wesen verstand keine weimarische Köchin zu behandeln. Der Samowar wurde die Ursache von Unruhen, Verzweiflungen, Dienstentlassungen und Mißhelligkeiten aller Art im Haushalt. Sie bekamen ihn einfach nicht, den Samowar, und wenn sie ihn bekamen, nur im desolatesten Zustande. Das blanke Messing mit den verzweiflungsvollen Fingerabdrücken der zornigen Köchin geschmückt, die Kohlen am Ausgehen oder so im Brand, daß sie das ganze Zimmer ausräucherten.

Der Samowar war schuld, daß Dohrns schon zweimal gerichtlich verklagt worden waren, einmal wegen fahrlässigen Brandschadens vom Hausherrn, und einmal hatte Frau Dohrn sich an der Köchin vergriffen und hatte dieser eine Ohrfeige gegeben. Und doch war sie keine Russin, war in Deutschland aufgewachsen, mochte aber russische Traditionen im Blute haben.

Beide Dohrns sprachen ein reines weiches Deutsch, nur Alexander Dohrn hatte das rollende R, weil er in seiner Kindheit zuerst Russisch gesprochen. Er war aber in die deutsche Schule in Petersburg gegangen.

Das Ehepaar hatte etwas Kühles, Eigentümliches im Verkehr miteinander. Sie wurden aber warm, wenn es sich um Kunst, Literatur und allerlei Ergründungen handelte. Die Kinder kamen manchmal in den Salon, zwei reizende Mädchen und ein kleiner Bub. Es war ein sehr liebenswürdiger höflicher Ton zwischen ihnen und den Eltern. Sie bekamen eine kleine, geistige Anregung vom Vater, eine kleine, liebenswürdige Ermahnung von der Mutter, ein Lächeln, ein Streicheln über die Wange. Sie unterhielten sich auch sehr wohlgesittet ein Viertelstündchen im Salon, die Unterhaltung wurde dann für kindliche Gemüter gestimmt.

Die ganze Familie aber hatte, in Gegenwart von Fremden wenigstens, kein scherzhaftes Wort füreinander. Sie lachten aber alle gern mit denen, die sie zum Lachen anregten. Das Lachen aber war etwas, was sie untereinander nicht hervorbringen konnten.

Isebies sagte zu Angelika Vogel: »Ich möchte wissen, ob sie ein Kind durchwichsen können, ob sie sich ordentlich satt essen, ob sie einen Spaß miteinander machen. Sie haben kein Nest.

Ich möchte wissen, ob sie sich wirklich einmal einen gemütlichen Kuß geben, wie Mama und Papa morgens beim Kaffee. Am Sonntag ist auch gar nichts bei ihnen los, nicht das Geringste.

Und Kind möchte ich nicht bei ihnen sein, das wär' mir zu anders.«

»Ach,« sagte Angelika Vogel und dachte an vergangene Zeiten, »meinst du, überall müssen die Kinder so unverschämt ungezogen sein, wie ihr wart, als ich zu euch kam.«

Nach dem Gespräch beim Sonnenaufgang hatte man Isebies doch eine Aufgabe gegeben. Sie sollte etwas beschreiben, und zwar ein Weihnachtsfest in Weimar, bei sich zu Hause oder bei andern, ganz wie sie wollte. Alexander Dohrn hatte gesagt: »Wir wollen doch einmal sehen, was sie zustande bringt. Auf Orthographie kommt's nicht an, aber sie soll alles so klar als möglich zu sagen versuchen.«

Isebies war tief erregt, als ihr diese Aufgabe, die wohl gar nicht so ernst gemeint war, gegeben wurde. Eine Dankbarkeit sondergleichen erfüllte ihr Herz. Es war, als gäbe ihr jemand die Hand, um ihr zu helfen.

Sie saß zu Hause und träumte und grübelte und verwarf. Es kamen andere Gedanken, die sie viel mehr anzogen. Ihr ganzes Herz begann zu leben und zu blühen. Sie träumte nachts Wundervolles, und es war ihr, als wenn sie nur nach den Dingen greifen dürfte, damit sie ihr gehörten. Es war ihr, als wenn sie große herrliche Worte sagen konnte. Sie lebte vom Kopf bis zu den Füßen.

Ihre Seele war wie eine Flamme, aber sie entschloß sich nicht, ein einziges Wort niederzuschreiben. Alle Schönheit war dann fort, alles Leben ausgelöscht. Sie lief allein durch die Felder auf dem Horn, sie dachte an Lilly und Ottomar, und ihre Gedanken wurden zu Sehnsucht. Wenn es ihr schien, als hätte sie etwas Wundervolles empfunden, war es bei Licht besehen nur Sehnsucht nach ihren lieben beiden Kameraden. – So kam nichts zustande.

»Nun, wie steht's?« wurde sie bei Dohrns gefragt. »Sind Sie wirklich eine so unfolgsame Schülerin?«

Da schaute Isebies auf, wurde dunkelrot, und Angelika Vogel sagte: »Ja, geben Sie ihr nur einen Aufsatz! Da werden Sie was erleben!«

»Aufsatz? Soll das ein Aufsatz sein?« fragte Isebies hart. »Dann mach' ich ihn nicht!«

»Nein,« antwortete Alexander Dohrn, »das soll kein Aufsatz, das soll eine Dichtung sein!«

»Pfui!« rief Isebies. »Dann tue ich's auch nicht!« Sie war zornig, ging in das andere Zimmer und sah durch die Scheiben. Alexander Dohrn trat ein. »Sie nennen alles so beim Namen, das ist zum fürchten.«

Isebies verabschiedete sich bei allen und lief draußen in dem alten Weimar durch die stillen, spätherbstlichen Straßen.

 

Im November kam die Zeit, daß Alexander Dohrns Stück aufgeführt werden sollte.

Sie waren sehr erregt und beschäftigt, und wenn Isebies und Angelika zu ihnen kamen, roch es nach Baldriantinktur.

Als endlich der Tag der Aufführung kam, hatte Isebies wie ein Neufundländer erschnuppert, daß Alexander Dohrn die Baldrianflasche bei sich trug, und wie ein Neufundländer wollte sie ihn schützen und sagte bellig: »Ach, lassen Sie die zu Haus! Jeder kennt Baldrian. Weshalb sollen denn die Leute alles wissen?«

Isebies war diesen Abend mit klopfendem Herzen in Frau Mutters liebem Theater; die roten Seidendamastwände leuchteten. Die Weimaraner waren gerade so behaglich wie an jedem Abend, die Sorgen waren hinter den Logentüren zurückgeblieben. Frau Mutter saß auch gemütlich in ihrem Sessel und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Alle Eigenbrodts waren da; aber Isebies schien der trauliche, tief rot leuchtende Raum wie ausgewechselt. Das waren keine harmlosen Gesichter, die da um sie her saßen, Gesichter, die nur zum Lachen da waren und ein bißchen zum Weinen, Gesichter, die man sich nur bei harmloser, gutartiger Beschäftigung vorstellen konnte und bei guten netten Mahlzeiten. Ganz gleichmäßig schienen sie zu Richtergesichtern geworden zu sein, zu kühlen, gleichgültigen Richtergesichtern, vor denen man sich fürchten mußte.

Wie schrecklich, dachte Isebies, es könnten ebenso böse Hunde da sitzen. Sie sind zum Fürchten.

Ein Mitleid sondergleichen überkam sie mit Dohrns. Niemanden hatten sie doch eigentlich als Angelika und die dumme Isebies. Und gelinde gesagt: Diese beiden waren soviel wie nichts, eigentlich kein Verkehr für Dohrns. Zwei Gänse, dachte Isebies. Eine Gans hat der andern nicht einmal das bißchen Orthographie beibringen können. Du lieber Gott. Sie hätte Dohrns ein ganzes Regiment starker braver Freunde gewünscht. Auf Eigenbrodts war auch nicht zu zählen – gar nicht.

Isebies hörte jedes Wort von der Bühne, als der Vorhang aufgegangen war, mit tiefem Mitleiden, und es war alles so schön, so ergreifend. Und o Wunder! Keiner von den bösen Hunden rings umher zerrte an seiner Kette und wollte beißen, als der Vorhang fiel. Es ging alles ganz ordentlich. Es wurde applaudiert wie bei andern Stücken auch. Sie waren ganz ruhig, es geschah nichts Schreckliches.

Isebies warf einen Blick der Erleichterung in die kleine dunkle Loge, in der Dohrns saßen. Ihre Gesichter schimmerten bleich und unbestimmt hervor. Es waren dieselben länglichen Umrisse. Wie sie einander gleichen, dachte sie. Sie wußte es ja, das Stück war wunderschön. Wie gut kannte sie es!

Bei jedem Akt wurde mehr oder weniger geklatscht. In den Zwischenakten war eine rege Unterhaltung. Und zuletzt wurde Dohrn hervorgerufen. Er kam auf die Bühne, verbeugte sich dankend, sah bleich aus. Man sah ihm an, er litt. In Isebies regte sich wieder ein tiefes Mitleiden, daß er da auf der Bühne stehen und vor den fremden Leuten seine Verbeugung machen mußte.

Die waren schon längst mit ihrem Eindruck fertig, als sie sich draußen in der Garderobe ihre Mäntel umtaten, und dachten an ihr Abendbrot.

 

Von dem Abend nach der Vorstellung hatte sich Isebies ein wundervolles Bild gemacht! Blumen, Champagner, Händedrücke, Glückwünsche, Künstler, Schauspieler, Reden, ein Rausch, ein herrlicher Rausch, und sie hatte gedacht: Jetzt wird er einmal ganz herzhaft vergnügt sein, ganz außer dem Häuschen und wird seiner Frau einen Kuß geben und sagen: »Siehst du, wer hat mir dazu verholfen? Wer hat mir so treu und gut beigestanden? Du! Nur du!«

In dieser erwartungsvollen Stimmung, wie vor einem großen Ereignis, stieg sie die Treppe zu Dohrns hinauf. Aber als sie eintrat – – Alles wie sonst!

Keine Gäste! Kein Fest!

Ein einfaches Abendessen, wie immer hübsch hergerichtet. Der Samowar aber roch auch heute leider nach nicht ausgebrannten Holzkohlen.

Die ratlosen Griffe der Köchin waren auch heute auf dem blanken Messing in verzweiflungsvollen Fingerspuren zu sehen, den ganzen Gemütszustand des aufgeregten Wesens verratend.

Ein Gast nur schien anwesend, und ein steinerner dazu, und das war Alexander Dohrn, der Dichter, der während des Abendessens keinen Bissen anrührte, eine Tasse Tee nach der andern verlangte und sonst kein Lebenszeichen von sich gab.

Isebies schaute ängstlich und mitleidsvoll auf Frau Dohrn.

Angelika Vogel plauderte etwas gezwungen, und schwerfällig wagten sich ihre kleinen Bemerkungen hervor, und es kam eine Unterhaltung zustande wie in einem Sterbehaus.

Sie erzählte, wie sehr das Stück Frau Eigenbrodt gefallen habe, und wie diese sofort die zwei Verse, die der Regisseur eingeschoben hatte, bemerkt habe. Sie wußte lobende Urteile von allerhand Leuten. »Man kann sehr zufrieden sein,« sagte sie mehrmals.

Frau Dohrn sah ihren Mann mit großen glanzvollen Augen an, ihre Blicke hingen an ihm. Es war, als wenn diese Blicke sagten: »So trägst du es also? Weshalb, mein Freund?«

Alexander Dohrn erhob sich, trank stehend seine Tasse Tee, unruhig ging er im Zimmer auf und nieder.

»Das war das erste und das letztemal!« sagte er kurz und kühl.

Da schaute seine Frau wieder wunderlich auf.

»Ich will nicht unter die Stümper gehen,« das sprach er hart. »Wenn von der Bühne aus eine gewaltige Erregung über die Menschheit kommt, sie fortreißt von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, – wer solch ein Feuer anfachte, mag sich berufen fühlen. Große Herrlichkeit! ich hab' vielleicht ein paar gelangweilten Frauenzimmern und ein paar Kartoffelbauern das Gähnen vertrieben. Gebrandmarkt! – Wenn du ehrgeizig sein willst, sei's für dich allein!« wendete er sich an seine Frau. »Sonntags stehe ich nicht gern am Pranger, sagt das alte Weib.«

»Wenn du ein uralt nordisches Königsdrama schreibst,« antwortete Frau Dohrn, vollkommen gefaßt und Herr ihrer selbst, »dann erwarte doch nicht einen Weltenbrand. Greif' in das heutige Leben hinein! Nimm die wundeste Stelle!«

»Stümpere,« unterbrach er sie, »daran herum! Wenn du wüßtest, was ich weiß! Was ich von Kunst weiß! Hände weg! Heut' lebt keiner, der sich daran wagen soll mit gutem Gewissen. Ekelhaft alles, alles, was sie heute Kunst nennen, Theaterkunst! Wenn sie den rechten göttlichen Ekel hätten, den heiligen Ekel, würde endlich das große Schweigen eintreten und ein paar wundervolle, längst geschaffene Dinge würden allein aus dem Meer der Mittelmäßigkeit auftauchen, und man wüßte, was Kunst ist. Dann vielleicht, dann vielleicht fände sich wieder einer.«

»Dann müßte man ja die Theater schließen,« sagte Angelika Vogel.

»Für die Abonnenten wäre das fatal,« lachte Alexander Dohrn. »Einmal und nicht wieder, das gelobe ich!«

Eine ganz eigentümliche Kraft und Schönheit lag über diesem Menschen, der mit sich und seiner Kunst so streng ins Gericht ging.

In dem fast bartlosen, großgeschnittenen Gesicht leuchteten die Augen, die Züge schienen schärfer und noch reiner wie sonst.

»Ich könnte mir eins denken: Eine Zelle und einen Mönch, der sein Lebtag über einem Werke brütet, zeitlos, wie die alten Inder, einen Geist, der wie ein Kristall an sich selbst, d. i. an seinem Werke schafft, ruhmlos, ungekannt, still.« Er stand ganz in sich versunken. Niemand wagte ein Wort. »Schäbige Hanswurststimmung!« rief er heftig. »Gut, ich schreibe noch ein Stück – und noch eins – und noch eins – und noch eins! – Ich mache eine widerliche Gewohnheit daraus, ich bombardiere die Theater. Ich bin zäh und unabschüttelbar – fruchtbar wie ein Karnickel – immer ein neuer Wurf, der Ruhm der zudringlichen Ausdauer, der so wohlverdiente Ruhm bleibt nicht aus! Wer immer am Markte steht mit neuer Ware, von dem wird gekauft. Selbstverständlich! – Pfui Teufel!«

»So,« sagte Frau Dohrn, »da wären wir ja am Ende. Herr Dohrn versteht's mit einem Wort, einen Felsblock ins Haus zu stellen, den abzutragen fünfzig Jahre nicht reichen.

Ich erinnere dich an deine Doktorarbeit.«

»Es ist dasselbe.«

Die Züge der eigentümlich schönen Frau bekamen etwas Undurchdringliches. Die Edelsteinaugen wurden wie blind, und es war, als wenn sie ihren Blick nach innen und in die Vergangenheit richteten.

»Wir könnten ja,« wendete sie sich wie geistesabwesend zu Angelika Vogel, »mit dem Abtragen des Felsblockes immerhin dennoch beginnen.«

»Bemüh' dich nicht,« sagte er kurz. »Ich wollte freilich, ich wäre auch einer von denen, die den Ekel vor Mittelmäßigkeit nicht kennen und eigene Mittelmäßigkeit zärtlich lieben und verehren. Frau Dohrn würde viel mehr Vergnügen haben.«

Alexander Dohrn war von größter Unruhe an diesem Abend, ging von einem Zimmer ins andere, rief einmal nach Isebies. »Kommen Sie, sehen Sie!« Er stand an der offenen Türe des Kinderschlafzimmers. »Haben Sie je so etwas Gutes gesehen?« Er zeigte auf die Betten der schlafenden Kinder. Die lagen rosig warm und blond im süßesten Schlaf. »Das ist noch Frieden; sehen Sie nur! Wollte Gott, sie wären brave Bauernkinder. Die Erde ist unser gutes Recht, die wirkliche, schwere, fruchtbare Erde, unser Anfang und unser Ende. Wie schön, sein Lebtag mit ihr nah verbunden zu sein. Haben Sie einmal gesehen, wie urvornehm so ein alter rechter Bauer ist und so eine alte rechte Bauersfrau.

Die Renner nach Ruhm und Geld haben mit der schweren fruchtbaren Erde nichts zu schaffen, sind heimatlos und unruhig.

Senkt einer seine Wurzeln in die Herzen der andern, das ist auch gut – ist auch Erdenwachstum. So haben die Weiber zumeist ein gutes Leben; aber die Geldjagd, die Ruhmesjagd!

Gott hat mich davor behütet, der Ekel ist zu groß, zu widerlich! Nein, niemals! Frau Dohrn möchte mich anders, ich weiß es; aber mein Gott, niemand kann aus sich selbst heraus.«

Angelika sagte auf dem Heimweg zu Isebies: »War das nun eine Ursache, die Flinte so ins Korn zu werfen? Er hat, was man einen schönen Erfolg nennt; eine Sünde, sich so auf dem Absatz herumzudrehen und der ganzen Geschichte den Rücken zu drehen. Die Frau dauert mich. Und wie wundervoll hat sie das Stück wieder und wieder gelesen, ist ganz darin aufgegangen. Heute hätte er mir gestohlen werden können.«

»Heute hat er mir zum erstenmal gefallen,« sagte Isebies. »Liebenswürdig fand ich ihn auch nicht. Er ist aber durch und durch ehrlich und unbestechlich.«

»Mir tut die Frau leid,« dabei blieb Angelika Vogel. »Hast du die angstvollen, trostlosen Augen bemerkt, mit denen sie ihn ansah?«

»Ja,« sagte Isebies, »sie ist ehrgeizig.«

Von der Aufführung des Stückes wurde bei Dohrns, trotz den ausgezeichneten Kritiken und trotzdem es auch über die Stadt hinaus verlautete, daß ein gutes Stück geschrieben worden sei, kaum wieder gesprochen.

Nur wenn Alexander Dohrn nicht zugegen war, sprach die zarte Frau mit derselben Hingabe und Leidenschaftlichkeit wie früher davon und hatte einen neuen Plan, zu dem sie ihn geneigt machen wollte. Sie nahm Angelika das Versprechen ab, ihr beizustehen.

Angelika aber verließ wenige Monate nach der Aufführung das Eigenbrodtsche Haus unter heißen Tränen. Isebies hatte eine gute Kameradin verloren, und in der Stunde, als diese abgereist war, um eine neue Stelle anzutreten, hockte sie sich in Angelikas leeren Kleiderschrank und weinte bitterlich.

 

Sie wurde jetzt daheim Sibylle genannt, wenigstens hin und wieder, um den Kindernamen zu überwinden. Dohrns waren nach Angelikas Abreise gewissermaßen erst auf Isebies aufmerksam geworden, besonders Frau Dohrn. Sie lebten jetzt in einer ganz lebendigen Geselligkeit. Durch die Aufführung waren sie bekannt geworden, und dadurch, daß er sein Stück von der Bühne zurückgezogen hatte, wurden sie beredet, denn die vom zweiten Abonnement waren auf die Aufführung neugierig und wurden enttäuscht. Auch die vorzüglichen Besprechungen taten das ihre.

Trotzdem aber alle möglichen Menschen jetzt bei ihnen verkehrten, Adel, Bürgerliche und Künstler, auch Liszt besuchte ihre Montagabende, standen sie doch niemandem nahe.

Zu Dohrns an diesen offenen Abenden zu gehen, hatte Heinrich Eigenbrodt seiner Tochter untersagt. Desto mehr aber hockte sie, wie sie es nannte, an den stillen Tagen bei ihnen. Die Kinder waren auch ganz zutraulich geworden.

In ruhigen Stunden daheim versuchte Isebies die einst von Alexander Dohrn ihr gegebene Idee auszuführen. Was ein anderer uns vorlebt, leben wir nicht selbst. Trotzdem Alexander Dohrn seine schöne Schaffensflamme zertrat, weil sie ihm nicht rein und groß genug erschien, stürmten und wirbelten in Isebies die Funken, und sie schrieb, trotzdem sie lieber etwas anderes geschrieben hätte, einen Weihnachtsabend in Weimar und nannte ihn wunderlicherweise: »Herzgesichts Weihnachtsabend.«

Ängstlich brachte sie ihre Blätter in das Haus, von dem sie sicher war, daß diese dort wie eine gute Gabe begrüßt würden. Sie brachte sie verschiedene Male mit, ohne den Mut zu finden, davon zu reden. Wie bangte ihr vor dem Mann, der mit sich selbst so streng verfuhr.

Wer Alexander Dohrn um eine Gefälligkeit bat, war fast sicher, daß er sie mit Herz und Seele erfüllte, wie die meisten einsamen Menschen, die froh sind, wenn sie von anderen aus ihrer entrückten Lage in das Leben gerufen werden.

Isebies Sibylle fand also auch das wärmste und bereitwilligste Entgegenkommen.

»Das ist gut! Das ist im Grunde genommen gut!« rief er erstaunt, als das Mädchen mit bebenden Lippen las. »Aber um Himmels willen, haben Sie denn auch die Kraft zu arbeiten?« fragte er wieder. »So ist's natürlich nichts! Denn wer hätte die Geduld, aus diesem Durcheinander den lebendigen Funken zu finden, der mitten darin steckt. – Wollen Sie arbeiten? So ein dummes Mädel! Verzeihen Sie! Das wird Ihnen natürlich gerade einfallen!«

»Ich will arbeiten,« sagte Isebies Sibylle mit heißen Wangen.

»Arbeiten bis zum höchsten Maß der Kraftanstrengung, unerbittlich, unermüdlich wie die Natur, und wenn schließlich nichts als eine Gänseblume herauskommt?«

»Ja,« sagte das junge Geschöpf in voller Kraft und Freude.

Nun ging Alexander Dohrn mit ihr streng ins Gericht und zeigte ihr die Unzulänglichkeit ihres armen kleinen Werkes. Er war unnachsichtlich. Ihr traten die bitteren Tränen in die Augen. Sie hätte ihm die Blätter aus den Händen reißen können. Er fand jede Zeile unmöglich, und wie unmöglich! »Entweder – oder. Aushalten oder nicht aushalten. Bringen Sie mir die Arbeit in acht Tagen wieder. Ganz neu, ganz neu.«

»Ja, mein Fräuleinchen,« meinte Elise Dohrn und lächelte ihr Lächeln nach innen.

Isebies arbeitete daheim wie eine arme Seele. Las wieder mit bebenden Lippen und wurde wieder abgewiesen.

»Meine liebe Natur,« sagte er, »das ist keine richtige Gänseblume. Eine Rose auch nicht, ein Veilchen ebensowenig. Streng, streng, unerbittlich streng gegen sich selbst sein.«

So arbeitete das arme ungeschickte Kind zwölfmal ihr Werklein, erst beim elften Male, nach einem halben Jahr, sagte er: »Jetzt ist's die Knospe einer kleinen Blüte. Ich glaube ein echtes Veilchen sogar. In Ihnen steckt ein kleines Stück schaffender Natur. Das nächstemal lassen Sie Ihre Blume aufblühen; aber wehe Ihnen, wenn Staubfäden, Stempel und alles, was ein Veilchen haben muß, nicht in Ordnung sind.«

Sibylle war voller Dankbarkeit und Seligkeit, war so liebenswürdig, wie ein glücklicher Mensch es ist.

»Wie kann ich danken? Frau Dohrnchen, wie kann ich danken?«

»Kommen Sie so oft als möglich,« sagte diese lächelnd, »und bringen Sie uns Fröhlichkeit mit. Helfen Sie mir ein wenig, nur lachen helfen Sie mir!«

»Ihnen helfen? Ich?« sagte Isebies Sibylle. »Was fehlt Ihnen?«

»O – o – o,« sagte Alexander Dohrn, »wie sie fragt! Nicht wahr, es ist auf dieser Welt alles immer vollkommen in Ordnung? So ein Kind aus gutem Haus sitzt wie in einem Vogelbauer.«

»Es tun sich manchmal mitten auf dem Wege Abgründe auf, mein liebes Sibyllchen Isebieschen, in die es nicht gut hineinschauen ist,« antwortete Frau Dohrn.

»Sie sprechen rätselhaft,« meinte Sibylle leise.

Frau Dohrn lachte grell auf.

Hatten Dohrns Sorgen? Was war das? Beider Gesichter sahen oft so sorgenvoll und angestrengt aus, dachte das junge Mädchen, und fühlte sich sonderbar erschauern wie vor nahem Unheil.

Gleich darauf kam der Tee, und es wurde geplaudert. Literatur und Kunst, Zigaretten und tiefste Fragen des menschlichen Daseins!

Hin und wieder fielen Worte von merkwürdiger Prägung, aus der Tiefe leidenschaftlichen Erkennens.

Niegehörtes für Isebies.

Alexander Dohrn liebte, wie es schien, in solch unbürgerlicher Art zu denken.

Wie schwer mußte ihm sein geschäftliches Leben fallen, und dennoch sprachen seine Erfolge für eine starke Begabung zu diesem Beruf.

In der Art, wie die beiden Menschen sich zu jeder freien Zeit fast angestrengt unterhielten, lag etwas, als suchten sie Quälendes zu vergessen.

Diesen Eindruck hatte Isebies jetzt fast immer. Eines Tages sagte Frau Dohrn flüsternd zu ihr: »Herr Dohrn ist heute wieder einmal sähr nervös, schwär krank.«

Sie sprach manchmal ganz unvermittelt mit einer merkwürdigen Betonung und Aussprache, als genügte ihr die gewöhnliche Sprechweise nicht.

In demselben Augenblicke ertönte über die Stadt hin die Sturmglocke.

Es brannte irgendwo.

Der Mann, der sich vor jeder Zugluft hütete und wirklich oft und besonders heute sehr angegriffen und überarbeitet aussah, riß das Fenster auf, um hinauszuhören. Die Sturmglocken klangen gewaltig und schaurig. Alles lief und rannte draußen.

»Hä! Hä!« schrie Alexander Dohrn in das Gerenn und Gelauf. »Wo brennt's?«

»Unten die Burgmühle!«

»Eine Mühle!« sagte er lebhaft, stürzte aus der Türe, kam mit Hut und Mantel wieder. »Ich gehe hin. Warte nicht auf mich!« und fort war er.

Sein Betragen war das eines unbezwinglichen Jungen gewesen, der nicht aufzuhalten ist. Das schmale Gesicht, das oft so müde und nervös aussah, war straff und voll Energie.

»Vordem alles gelöscht ist, kommt er nicht zurück!« Wieder das seltsam nach innen gekehrte Lächeln der Frau, bei dem es Sibylle nie ganz wohl zumute war. Soviel Frau Dohrn auch plauderte, hatte sie dennoch etwas Unpersönliches, Schleierhaftes.

»Ach,« sagte sie, »Isebieschen,« dabei streckte sie die zierliche Gestalt auf dem zerrissenen, blauseidenen Sofa aus. »Was für ein Kindchen Sie noch sind. So klein.« Sie zeigte eine winzige Größe an ihrem Finger, trotzdem Sibylle sie bei weitem überragte. »Ob Sie wohl jemand pflegen könnten, so pflegen wie eine junge Mutter ihr Kind, dann möchte ich von Ihnen gepflegt werden, das müßte ausruhen! Im Schoß der Erde ruht sich's wohl, wohl auch im Arm der Liebe,« summte sie halb singend.

»Wann bringen Sie Ihre Arbeit nun zum letztenmal?«

»Bald,« sagte Sibylle.

»Fürchteten Sie sich, wenn Sie mit mir auch zur Mühle gingen?«

Die Sturmglocken hatten wieder zu läuten begonnen, und schaurig klang es durch die dunkle Herbstnacht.

»Nein,« sagte das Mädchen, »fürchten gibt's nicht.«

»Könnten Sie für Dohrns etwas tun?« fragte die Frau, so etwas spielerisch verwöhnt. »Wenn Dohrns nun Sorgen hätten, denken Sie mal, würden Sie versuchen, Trost zu bringen? Würden Sie ein Engel sein und oft kommen, um zu zerstreuen?«

»Ja, gewiß. Aber was für Sorgen haben Sie?«

»Sorgen?« Frau Dohrn wiegte den Kopf. »Sorgen? Ein weiter Begriff. Denken Sie einmal für Dohrns, wie Sie für Ihre Kinderchen denken würden?«

Das war etwas viel verlangt von Isebies Sibylle.

»Dohrns sind müde – müde. Ach, was wissen Sie vom Leben? Aber nun voran, wenn Sie wirklich mit mir zur Mühle wollen.«

Sie war in Angst um ihn, das fühlte Isebies. Trotzdem sie nach Hause hätte gehen müssen, ging sie mit Frau Dohrn zur brennenden Mühle.

Der Feuerschein am Himmel glühte, Stimmen und Laute, Prasseln, Toben, Läuten, Trompetensignale wurden greller und lauter, je näher sie kamen.

Frau Dohrn ging bebend an Isebiesens Arm, die leicht dahinschritt.

Jetzt sahen sie die Feuersbrunst vor sich, die uralte Mühle brannte lichterloh. Der steinerne Giebel ragte starr aus dem Flammenneste, sonst war alles Bewegung, Rasen, Glut und Rauch. Die Mehlvorräte stoben wie glühende Funkenströme in die Höhe. Und das ungeheure Sturmläuten setzte wieder ein.

»Nun ist er natürlich mitten darin, wo es am tollsten zugeht. Wir können ihn gar nicht finden. Wo er ist, dürfen wir nicht hin,« sagte Frau Dohrn.

Und wahrhaftig, er war bei den Spritzen, er arbeitete mit. Isebies bemerkte ihn.

»Das kenne ich,« sagte Frau Dohrn. »Er sucht Leben, Leben unter Menschen.«

»Aber Sie haben ja jetzt Menschen,« meinte Sibylle.

»So, so,« murmelte sie, »ein paar Neugierige. Ich weiß es ganz genau, was ihn hierhertreibt. Und doch – doch – Er ist unmöglich für die Gemeinsamkeit. Er kommt aus Einsamkeit und zieht sich und die zu ihm gehören in Einsamkeit hinein. – Schicksal! Schicksal! Er denkt anders wie andere. Er handelt anders, weltfremd! Unheilbar weltfremd. – Und nicht zu verbinden mit Welt.«

Frau Dohrn hing ängstlich an des jungen Mädchens Arm, ängstlich und doch fest und sicher. Isebiesens Herz schlug. Sie hätte durchaus nach Hause gemußt, sie wußte, wie unliebsam ein Zuspätkommen daheim empfunden wurde. Frau Dohrn wollte aber hier bleiben und nicht allein bleiben.

Das Mädchen versuchte einigemale zaghaft loszukommen. »Ei, Isebieschen, ich denke, ich denke, ein gewisser Jemand will Dohrns helfen?«

»Ja, aber was tun wir hier? Wir können doch hier nicht helfen?«

»Dann freilich müssen wir gehen.« In Frau Dohrns Stimme lag ein solches Gekränktsein, daß es Sibylle ganz wirblig im Kopf wurde. Weshalb war Frau Dohrn gekränkt? Was dachte sie sich denn? Sibylle blieb. So erging es ihr in nächster Zeit oft. Ihr Gewissen trieb sie klar und deutlich nach Hause. Frau Dohrns sehnsüchtiges Verlangen und ihr eigener Wunsch hielten sie zurück.

 

Unruhe zog in ihre Seele ein. Die zwölfte, letzte Umarbeitung ihrer kleinen Arbeit beschäftigte sie. Niemand sollte davon wissen.

Zu Hause wollte sie gut und brav sein. Sie wollte auch liebenswürdig sein. Alle waren es daheim. Die Zwillinge blühten in süßer Heiterkeit. Frau Mutter wurde mehr und mehr einem heitern, guten Geiste gleich, den nichts mehr trübte, und Marie Sibylle, die Mutter, war so gut und besorgt, so ganz für alle lebend, sich selbst vergessend, und wenn der Vater ins Wohnhaus kam, wollte er volle Harmonie. Er verlangte von seiner Familie, daß sie ihn wie ein laues, sanftes Bad nach schwerer Arbeit umgab.

Und alles war, wie er wünschte.

Sibyllens Seele aber blieb geteilt. In Dohrns Haus hatte sie Pflichten übernommen. Dohrns waren gequälte Menschen, trotzdem Sibylle noch nicht sah, wo die Qual lag. Isebies Sibylle arbeitete, wie sie als Kind gespielt hatte, sah und hörte nicht vor Eifer. Da es am Tage selten möglich war, arbeitete sie nachts mit brennenden Wangen, und sie vollendete zu Alexander Dohrns Zufriedenheit ihr kleines Werk. Er lobte sie und sagte: »Der erste, der allererste Anfang ist gemacht.« Isebies Sibylle ging leicht, wie auf Wolken, vor Seligkeit, und sie dachte: Wer weiß, ist auch meine Seele ein Stückchen Erde, in der etwas wächst.

Sie ging, ohne es zu ahnen, den schweren Gang des Weibes, das nach geistiger Arbeit sich sehnt, nach geistigen Kräften und Gluten. Aber diese Sehnsucht des Weibes ist wie eine große Liebe, die kein Dach und kein Heim und keinen Herd hat. Verstohlen wie ein Dieb in der Nacht muß sie ihren Glückseligkeiten leben, fast außer Raum und Zeit. Mitten im Pflichtgewirr begann die erste ernste Arbeit. Bei Eigenbrodts hatte sie sich in ein schönes, ruhiges Ganzes still und heiter einzufügen mit vollem Behagen, bei Dohrns ein sorgenvolles, mühseliges, beunruhigendes, noch in Dunkel gehülltes Leben zu erheitern, zu zerstreuen, zu ermuntern, zu beruhigen, – etwas, das sie nicht kannte, das niemand nannte.

Sie fühlte aber ein Meer von Kräften, das sie trug, leicht und schwebend trug. Ihre Jugend war wie ein Rausch und ihre Seele wie eine Flamme. Dabei war sie die Isebies noch immer, von der ihre Mutter gesagt hatte: »Sie ist ein ganzes Dorf braver und ungezogener Kinder.« Ihr Betragen war oft sehr überraschend, besonders in Gesellschaften blickten die Zwillinge etwas besorgt, was Isebies Sibylle anzustellen beliebte; da war sie oft launisch und unberechenbar. Es steckte immer noch das böse Kind in ihr, das den Leuten Zettelchen mit allerhand Dummheiten an die Kleider steckte.

 

Hier nun Sibyllens kleine Geschichte, in der Frau Rauchfuß als Goethens Schatz Christiane vorkommt, in der ihr Onkel als Goethe erscheint und allerlei, was Gomelchen erzählt hatte, und die voller orthographischer Fehler steckte und voller Unzulänglichkeiten, die Alexander Dohrn ihr nachsah. Doch zeigt diese kleine Geschichte wohl auch, daß Isebies Sibyllens Seele tief wie ein Brunnen ist: Wehe, wenn solch ein tiefer Brunnen von Leid überquillt, und wehe auch, wenn solch ein Brunnen von Freude überquillt. Die Seelenbrunnen dieser Erde sollen nicht zu tief sein.


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