Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Sechzehntes Kapitel.

Auf Obrist regnet es Blüten. – Lore Brunquell schreibt an Anna.

Als sie an diesem Abend sich bei Lore Brunquell einfanden, war Ferdös nicht zugegen und ließ sich während der ganzen Zeit nicht sehen. Obrist war verstimmt und unruhig. Er hatte an diesem Tag Briefe von Hause erhalten, die ihm schwer auflagen. Dickchen war krank, und, wie es schien, aus Sehnsucht. Anna hatte von allerlei wunderlichem Getreibe im Hause berichtet – und hatte einen wahren Sturm auf Obrists Herz ausgeführt: er solle und müsse nun endlich zurückkehren. Es würde schon dies und jenes geredet und sie fühle sich haltlos und verzweifelt. Sie beschwor ihn wieder aufs neue. Er müsse zurückkehren. An sein Herz und seine Liebe wolle sie keine Ansprüche machen – nur vor der Welt nicht verlassen sein. Diese armselige Bitte solle er ihr gewähren. In der Erfüllung seiner Pflicht würde er Befriedigung finden.

»Lieber, guter, einziger Heinz«, schrieb sie, »halte mich nicht für roh und nicht für selbstsüchtiger, als ich bin. Ich weiß es, Deine Natur hat bei uns gelitten. Ich weiß es, Du brauchst Ruhe. Ich weiß auch, daß, wenn ich Vorsätze über Vorsätze fasse, ich dennoch die Ruhe, die Dir nötig ist, nicht schaffen kann. Es trägt nun einmal eine jede Familie ihr Gepräge wie der Esel seine Haut. Es ist, wie es ist. Ich glaube nicht, daß wir uns gänzlich bessern können Es hängt am anderen – und wir sind einmal da! Du mußt kommen, sei es, wie es sei. Kannst Du Deiner Kunst nicht so weiterleben, wie Du es ohne die Familie gekonnt hättest, so denke, daß dies Schicksal ist, wie ein anderes Schicksal auch.

Wenn Du arm wärest und müßtest Geld haben – und 261 nähmest es, wo Du es bekommen könntest, scheutest Dich vor keinem Diebstahl und hättest die Ausrede, daß Du alles tun müßtest Deiner Kunst zuliebe, so wäre das nicht viel schlimmer als das, was Du uns tust und tun willst!

Wer gibt Dir das Recht, uns zu opfern, uns zu schädigen, damit Du besser leben kannst! Du schreibst mir in Deinem letzten Briefe: ›Sieh mich für tot an! Das müßtest Du auch ertragen und kannst es ertragen, und würdest Dein Leben dir trotzdem gut gestalten können. – So tue das, was Du dem Toten tun mußt, dem Lebenden freiwillig und lasse ihm seinen Frieden!‹ Das schreibst Du.

Herrgott, Heinz, wie Du mich jammerst, daß Du um Deinen Frieden, um Dein Glück bettelst! – Und daß ich es Dir abschlagen muß! Ich habe für die Kinder zu sorgen. Eine geschiedene Frau aber teilt ihr Unglück den Kindern mit, und wenn Du zehnmal sagst: Es ist kein Makel, so kannst Du Dich in meine Seele, in die Seele eines Weibes nicht versetzen, die es als Makel fühlt. Ich bin mir klar, Heinz, vollkommen klar – Du hast ganz recht: im tiefsten Grunde ist es die verletzte Eitelkeit, daß ich Dich nicht freigeben kann. Deine Fürsprecherin, Mistreß Gwendolen Brown, sehe ich hin und wieder. Wir wagen beide nicht mehr über Dich zu reden. Aber laß Dir erzählen: es ist sonderbar bei uns hergegangen. Ich bin in Sorge um Dickchen! Das Leben wird immer vielgestalteter. – Wie soll ich beginnen? Mir ist der Kopf so voll, das Herz so unruhig, die Zeit wird immer kürzer, der Arbeit immer mehr. Menschen drängen sich in unser Schicksal ein, deren wir gar nicht bedurften, und bringen Zwiespalt ins Haus.

Mistreß Gwendolen ist es jetzt, die Verwirrung gebracht hat.

262 Was sage ich, Mistreß Gwendolen? Sie war es wohl nicht allein, welche die Schuld trägt! – Und doch. Sie war die allein Klarblickende. Sie hätte Einhalt tun sollen. Sie war die Gewalttätige, so nannte sie sich selbst – und sie trägt die Strafe jetzt! Sie nicht allein – wieder sie nicht allein, auch ich – Dickchen ist schwer krank.

In ihrem jungen, sechzehnjährigen Gemüt ist allzuviel vorgegangen. – Aber was rede ich? Ich muß erzählen. Ich beunruhige Dich. – Ich hatte ganz vergessen, daß die Zeit verstreicht und daß ich jetzt statt meines sanften, kleinen Kindes ein junges Mädchen zur Tochter habe, die Gefühle erregen kann und selbst stärker empfindet, als man es von dem armen Kinde erwartet hat.

Wir schrieben Dir, daß nachdem Mistreß Gwendolen ihren ersten Besuch mir gemacht hat, ihr Sohn William den Abend bei uns verlebte. Er hatte ein Briefchen seiner Mutter überbracht, worin diese um Verzeihung bat und mir sagte, daß sie eine unruhige Natur sei, die nicht umhin könne, dem Schicksal vorzugreifen. Sie habe zwar einen Wahlspruch, der folgendermaßen laute: ›Was du nicht erledigst, erledigt sich von selbst.‹ Aber dieser Wahlspruch sei ihrer Natur entgegen gewählt, sei nicht ihre eigene Überzeugung, sondern sie habe ihn sich von einem vernünftigen Menschen als Warnung zulegen lassen.

Wir alle fanden an dem jungen William großen Gefallen. Er spielte uns am Abend vor, fragte Dickchen, ob sie eine Melodie hören wolle, die er zu einem Gedicht ihres Vaters komponiert habe. Er trug sie ihr vor. Sie bat um die Worte. Wir kannten das Lied nicht.

Hättest Du das Kind gesehen, während es Deine Worte sprach – Deine Gedanken:

»Melodien allen Stürmen!
Melodien jeder Qual!«

263 Du entsinnst Dich Deines Liedes doch?

›So war er‹, flüsterte Dickchen, und Tränen liefen ihr über die Wangen. ›So ist er! Gott, laß ihn so wieder sein, meinen lieben Vater.‹ – Ich habe immer gelacht, wenn es so leicht heißt: überirdisch schön. Ich konnte mich nicht entsinnen, je ein Weib überirdisch schön gesehen zu haben. Meine eigene, liebe, kleine Tochter war es in diesem Augenblick.

Wie mir das Kind heilig und rührend ist in seiner unbeschreiblichen Liebe zu Dir!

Der junge William schaute sie an mit einem Paar so erstaunter Augen, reichte ihr seine Hand und sagte: ›Ich kenne ihn, er ist ein herrlicher Mensch.‹

Darauf wendete er sich wieder dem Flügel zu, und wir hatten eine wundervolle Stunde.

Am anderen Abend erschien er wieder, wieder mit Blumen, spielte wieder, aß mit uns zu Abend, vergnügte sich mit den Kindern und Dickchen.

Jedes Wort, das er sprach, war an sie gerichtet – jeder Blick hing an ihr. Ich bemerkte das wohl, dachte mir aber nichts dabei.

Von da an war er Tag für Tag bei uns. Auch Mistreß Gwendolen fand sich manchmal ein, nahm Dickchen oft mit zu sich. Sie, William und Dickchen, sind auch miteinander nach Dresden gereist, um die Galerie zu besuchen.

Mir war die Zerstreuung für das arme Kind recht, da sie sich in Sehnsucht nach Dir ganz veränderte. Ich war besorgt um sie. So ein hilfloser Ausdruck lag oft über ihrem Gesichtchen. Sie sprach wenig von Dir, sie weinte nicht, sie klagte nicht. Ich habe sie aber ein paarmal beobachtet, wie sie auf Deinem Lehnstuhl saß, so 264 rührend angeschmiegt, die Augen geschlossen. Man sah es ihr an, sie glaubte, bei Dir zu sein.

Das hat mich ins Herz getroffen.

War William hier, so schien er unzertrennlich von ihr. Wenn er sie nicht traf, saß er trübselig und geduldig am Flügel, bis sie kam.

Eines Abends hat er sie von seiner Mutter heimgebracht. Ich höre sie kommen. Da stürzt sie zu mir herein, verbirgt den Kopf an mir und weint und weint ohne Ende.

Ich frage, doch es kommt zu keiner Antwort. Ich warte geduldig, sie rührt sich nicht vom Fleck, bleibt vor mir knien, nach und nach wird sie ruhig. – Es ist so still im Zimmer, da ist sie mir eingeschlafen. Ich warte und warte, um sie nicht zu stören, die Zeit vergeht. Mit einem tiefen Seufzer wacht sie auf.

›Nun, was ist dir denn, mein Dickchen?‹ frage ich. Da erzählt sie mir ruhig und fest, daß William ihr gesagt habe, daß er sie liebe. – ›Oh, und wie er es sagte!‹ Sie hielt die Hände auf ihr Herz gedrückt: ›Als wollte er vergehen. Es hat noch kein Mensch so gesprochen!‹ flüsterte das rührende Kind. ›Ich habe William noch nie so gesehen, und ich dachte, daß er sterbend hinfallen würde. Du glaubst nicht, welche Angst ich um ihn hatte; aber wie konnte ich lügen? Selbst in meiner Sorge um ihn nicht. Er fragte mich, ob ich ihn über alles lieben kann, mehr als irgendeinen Menschen sonst.

Da sagte ich ihm ruhig, daß ich ihn sehr liebhabe; ihm aber nicht sagen könnte, daß ich andere nicht noch lieber hätte als ihn –

Dabei dachte ich mir: wenn ich den mir liebsten Menschen auf Erden so fragen würde, wie William mich fragte, und die Antwort bekäme, daß er andere mehr liebte als 265 mich – daß ich mich hinlegen und sterben würde; und doch habe ich es gesagt – und habe gewußt, was kommen würde. Ich sah, wie Williams gutes, liebes Gesicht sich veränderte, wie es mit einemmal mir fremd wurde und wie alles Glück darin ausgelöscht war!

Ach, mein liebes Muttchen, ich vergesse es nie, daß Liebe so grausam ist! Ich glaube, sie ist nur auf Erden, um Sehnsucht zu geben und Schmerzen!‹

Heinz, hättest Du das Kind in diesem Augenblick gesehen! Tagelang hörten wir von William nichts – Dickchen war unruhig und befangen. In ihren Augen stand immer die Frage, wie es ihm wohl gehe? In dieser Zeit fiel mir auch auf, daß das Kind wahrhaft leidend aussieht. Ich sprach mit ihr von Dir. Sie wich meinen Fragen aus. Ich drang in sie, ob sie sich sehr nach Dir sehne. Da sah sie mich unbeschreiblich an, legte den Finger auf die Lippen und lächelte unter heißen Tränen. Was ist das für ein Kind? Aus lauter Gefühl und Zartheit zusammengesetzt. Wie soll die leben? Mistreß Gwendolen Brown fuhr endlich vor, wollte mich allein sprechen. Sie trat ein, wahrhafte Seelenangst im Gesicht.

›William ist schwer krank‹, sagte sie kurz. ›Ich komme mich anzuklagen. Ich habe gewußt, daß er Ihr süßes Kind liebt; ich glaubte, daß auch sie Neigung zu ihm zeigte. Mir war eine solche Jugendliebe recht. – Ich begünstigte sie. Ich hoffte ihn dadurch vor anderen leichtsinnigen Verhältnissen zu bewahren und hielt es so für nützlich und gut. Eine erste, reine Liebe feuert einen jungen Künstler zum Schaffen an. Ich habe an das Wohl und Weh Ihrer Tochter dabei nicht gedacht und habe an die Möglichkeit nicht geglaubt, daß sie seine Liebe unerwidert lassen würde. Jetzt bin ich ratlos, seine leidenschaftliche Natur verzehrt 266 ihn. Ich selbst habe ihn hineingehetzt in diese Leidenschaft, und sehe ihn jetzt ganz gebrochen, ganz verstört.‹

Mistreß Gwendolen brach in Tränen aus, warf sich an meine Brust und weinte.

Ich versuchte, sie zu trösten. Ich sagte ihr, daß ihre Sorge grundlos sei, daß ein junger Mensch von einer unglücklichen Liebe nicht zu Tode getroffen werde.

›Sie kennen ihn nicht, Sie kennen ihn nicht!‹ sagte sie trostlos.

Sie sprach viel und erregt.

Als sie ging, fand ich Dickchen still am Fenster sitzen, auffallend bleich sah sie aus. ›William ist leicht krank‹, sagte ich.

Da sah sie mich starr an und sagte: ›Er ist schwer krank. Ich habe alles gehört.‹

Sie hatte nach ihrer bösen Gewohnheit gelauscht.

›Ich werde‹, sagte sie wunderbar ruhig, ›gehen und ihm sagen, daß ich ihn liebe.‹

›Was fällt dir ein?‹ sagte ich.

›Ich will das tun‹, erwiderte sie hart.

›Ohne ihn zu lieben, willst du ihm das sagen. Das ist gelogen und kann ihn nicht glücklich machen.‹

›Gibt es Sehnsucht, die nie aufhört?‹ fragte sie.

›Nein‹, sag' ich, ›eine jede hat ihr Ende.‹

›Ja, wenn wir sterben, hörte eine jede auf.‹

›Auch eher‹, sage ich.

Mir lag etwas auf dem Herzen, das ich noch fragen mußte. Ich schloß das arme Kind an mich. ›Dickchen, liebst du einen anderen?‹ sagte ich. ›Du kleines, dummes Kind?‹

Da sah sie mich forschend an und schwieg; ihre Augen schwammen in Tränen. Sie legte mir die Hand auf den Mund und schmiegte sich an mich. Ich wußte nicht, was 267 ich von ihrem Benehmen denken sollte, und wußte auch nicht recht, ob es gut sei, weiterzureden. Ich sagte nur: ›Laß das Schicksal seinen Weg gehen! Bleibe du bei der Wahrheit, folge deinem einfachen Gefühl, und die Dinge entwickeln sich von selbst. Laß William ruhig seinen Schmerz überwinden. Es wird keinem Menschen Leid auf Erden erspart; willst du ihn vor dem einen schützen, so wirst du ihm ein anderes damit schaffen. Du bist mein liebes Kind, tue nichts, ohne daß ich davon weiß.‹

Sie versprach es mir, ist aber tief erregt und erschüttert von all dem, was ihre junge Seele in den letzten Jahren bewegt hat.

Und ich selbst erkenne mich kaum wieder, war so friedlich und wohlgemut sonst, und jetzt ist mein Herz voller Bitterkeit; auch gegen Dich voller Bitterkeit. Ich fühle mich betrogen, ich denke daran, meine Rechte zu wahren. Ich verstehe Dich nicht. Ich finde, daß Du grausam bist, an uns nicht denkst; aber ich hoffe auf Dich, Du kommst, Du mußt kommen und wirst wieder mit uns leben.

Anna«

Dieser Brief hatte einen tief erregenden Eindruck auf Obrist gemacht und er sorgte sich um Dickchen.

Hans Schmidt hatte ihm keine Ruhe gelassen, hatte ihn um Annas Brief gebeten und ihn endlich erhalten.

Den Nachmittag war er damit zu Lore Brunquell gegangen, diese um Rat zu fragen und sie zu bitten, an Anna zu schreiben, und er fand sie bereit dazu.

»Schreiben Sie«, sagte der junge Maler, »und denken Sie, daß Sie zwei seltenen, guten Menschen damit vielleicht einen großen Dienst tun. Wer weiß, vielleicht können Sie in etwas helfen. Ich fürchte, wenn die Frau 268 sich tiefer und tiefer in ihren Eigensinn und ihr Unglück hineinrennt, daß wir nie zu Ende kommen und ewig in Unfrieden und Erregung stecken werden. Versuchen Sie zu wirken, Sie haben eine glückliche Hand.«

An dem Abend danach fiel allen Obrists Schweigsamkeit und sein trübes, zerstreutes Wesen auf.

Jacot kam auch in trübseligster Stimmung noch in später Stunde.

»Pech! Pech! Pech!« brummte er wieder, als er eintrat. »Jetzt ist mir es auch mit dem Rittmeister schief gegangen.«

Der Rittmeister war nicht zugegen.

»Was haben Sie denn angerichtet?« fragte Lore Brunquell.

»Da bin ich gerannt und gerannt von einem zum anderen. Ich wollte ihm durchaus etwas ausfindig machen, und es wäre mir auch gelungen, aber das verdammte Pech – das verdammte Pech! – Ich Elender habe kein Glück. Habt ihr nicht ein Gläschen Wein?« sagte er aufseufzend. »Was soll der Arme, der Rittmeister, tun und die Kleine! Ich weiß es nicht! Hab' ihm nun ewig vorgeplauscht, und nun ist's wieder nichts. Fünf Jahr' sitzt er so da, ohne Aussicht, ohne alles, und das arme Ding, die Kleine!«

»Sie sind selbst ohne Stelle?« fragte Obrist.

»Ich? – Ja«, sagte r. «Was tut's? Ich finde mich durch.«

»'s ist ein prächtiger Kerl, der Jacot!« sagte die Brunquell und klopfte ihm auf die Schulter.

»Ach, geht's mir weg!« rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Mir ist's schlecht zumute.«

Obrist und Hans Schmidt sprachen mit Lore Brunquell, 269 wie allenfalls dem Rittmeister zu helfen sei; aber keiner wußte recht zu raten.

»Was glaubt's ihr, wie ich von einem zum anderen gerannt bin?« sagte Jacot. »Ich kann's und mag's ihm nicht sagen.«

Als die beiden Maler sich verabschiedeten, gab Lore Brunquell Obrist die Hand. »Leben Sie nur so fort wie bisher, arbeiten Sie, lassen Sie die Sorgen nicht überhandnehmen, alles wird ruhig und gut, glauben Sie mir.«

Obrist ging noch allein im Garten auf und nieder. Es war ein köstlicher Abend, kristallheller Mondschein. Über das Meer her glänzte es, spiegelte auf den breiten Kronen der Feigenbäume; die Pinien und Zypressen zeichneten sich scharf, wie an seinem silberwogenden Grunde, ab. Von dem rosenüberwucherten Haus zogen Düfte durch den ganzen herrlichen Garten.

Obrist war wie berauscht. In seligem Vergessen wandelte er auf und nieder. Vor ihm ragte eine Gruppe alter Zypressen auf, die sich auf einer leichten Bodenerhöhung aufbaute. Er ging darauf zu, angezogen von ihrer ernsten Majestät. Diese leichte Anhöhe gehörte nicht eigentlich zum Garten; aber er war hier durch keine Mauer und keinen Zaun begrenzt, und seine letzten Feigenbäume und Lorbeerbüsche machten den Eindruck ungepflanzter Natur.

Die Anhöhe, auf der die einzelnen Zypressen in die Höhe strebten, war früher als Begräbnisplatz benutzt, die hohen weißen Leichensteine standen noch und schimmerten im Mondschein.

Obrist blickte darauf hin und fühlte seine Aufmerksamkeit durch eine unbestimmbare Erscheinung gefesselt. – Ihm schienen die Formen, der Eindruck der Steine 270 wohlbekannt. Heute war etwas Fremdes hinzugekommen, etwas, das er noch nicht wahrgenommen hatte, eine Gestalt – eine Säule, der Mondschein flimmerte unbestimmt. Er stand und schaute, und um zu wissen, was es sei, trat er ein paar Schritt näher. Da bewegte es sich und flog auf ihn zu, eine weiße Taube, und hing an seinem Hals, ohne Laut, und schmiegte sich an ihn. Er hörte ein Herz an dem seinen angstvoll schlagen. – Er legte den Arm leise um die zarte Gestalt.

»Ferdös, kleine Ferdös«, sagte er zärtlich, freundlich und doch bewegt, wie zu einem Kinde, wie er es zu Dickchen gesagt haben würde.

Das junge Geschöpf schmiegte sich schweigend an ihn und verbarg den Kopf an seiner Brust.

»Was denn, Ferdös? Was denn, mein süßes Kind?«

Er erhielt keine Antwort, fühlte, wie die Gestalt leise zitterte.

Jetzt löste sie die weichen Arme von ihm, faßte seine Hände und küßte sie leidenschaftlich und innig.

Ohne ein Wort gesprochen zu haben, ließ sie ihn allein stehen, flog den Weg entlang, dem Hause zu, lief wie ein ausgelassenes Kind. Das Schleierchen umflatterte ihre Gestalt.

Obrist stand erregt, wie von einem Wunder berührt, und sah ihr nach, und stand noch lange und blickte in den Mondschein hinein.

»Glückselige Jugend«, sagte er leise und schüttelte wehmütig den Kopf.

Lange noch wandelte er im Garten auf und nieder und gedachte des lieblichen Abenteuers.

Welche Erregungen mögen in ihrem Herzen vorgegangen 271 sein, vergegenwärtigte er sich, und besorgt beschäftigten sich seine Gedanken mit dem schönen Kinde.

Gern hätte er Ferdös' zartes Geheimnis ganz für sich behalten, wie einen Gruß aus einer schöneren Welt.

Der Eindruck war so unaussprechlich, als das herrliche Geschöpf, von ihrem jungen Herzen getrieben, auf ihn zugeeilt war und er sie in seinen Armen gehalten hatte, aber er entschloß sich, die reizende Szene der mitzuteilen, der das Wohl des schönen Mädchens sosehr am Herzen lag.

An demselben Abend, zur selben Stunde, als Obrist erstaunte, daß es auf ihn in der Herbstzeit Blüten regnete, wandelte Lore Brunquell in ihrem Zimmer auf und nieder.

Auf einem Tisch lag Papier, Tinte und Feder und ein großer Bogen roten Löschpapiers. Lore Brunquell wollte einen Brief schreiben, und zwar an Anna Obrist, die Frau ihres Gastes. Es war ein schweres Vorhaben für sie. Nie hatte sie sich viel mit Schreiben abgegeben, und so befand sie sich in einer feierlichen und bedeutungsvollen Stimmung und konnte es nicht über sich gewinnen, zu beginnen.

»Meine liebe, verehrte Frau!« schrieb sie endlich mit großen, festen Buchstaben nieder. »Was ich hiermit tun will, ist weder gescheit, noch vernünftig, noch kommt es mir zu, noch glaube ich, daß es zu irgend etwas gut ist – und doch mache ich mich daran. Ich weiß nicht, inwieweit Ihr Mann Ihnen von seinen neuen Freunden hier berichtet hat. Ich bin eine alte Frau, habe meine Schicksale wie andere Leute auch und meine Gedanken dazu. Es könnte Sie wenig interessieren, wenn ich mich Ihnen genau und in aller Form vorstellen würde. Ihr Mann und sein Freund, beide sind mir und meinen Hausgenossen lieb geworden. Herr Obrist arbeitet und lebt wie ein gesunder, 272 kräftiger Mensch. Das wird beglückend für Sie zu hören sein. Ich weiß, wie sehr Sie um ihn gelitten haben – und noch leiden. Doch kann ich nicht viel reden, erklären und mich einführen. Ich muß schnell zum Ziele kommen, sonst fehlt mir die Geduld und die Kraft, und ich möchte gern das, worauf es mir ankommt, klar und deutlich sagen, es ist nicht eine plötzliche Gefühlsaufwallung, die zu schreiben mich antreibt.

Ich stecke hier im Orient, bin ansässig und heimisch hier. Wie von einer Warte aus schaue ich dahin und dorthin, in unsere und in eure Welt. Hier sehe ich diese Sitten und dort jene. Ich kann vergleichen, und dadurch, daß ich vor Augen habe: hier ist es so und dort so, verlieren die Sitten ihre Härten, ihre Unumstößlichkeit. Es ist ungefähr, als übersähe ich Jahrhunderte. In dem einen stand Tod und Feuer auf dem, was in dem anderen Jahrhundert erlaubt und löblich ist. In dem einen ist dieselbe Sitte so sehr geehrt, wie sie im anderen verlacht ist.

So im Überschauen verliert alles seine Bedeutung. Mit Wehmut und Lächeln blickt man auf die Märtyrer vergangener Zeiten zurück, die in der unseren unangefochtene Ehrenmänner gewesen wären. Die Sache selbst ist es nie, die Wert oder Unwert hat, sondern nur das, was im Augenblick dem Staat oder der Kirche nützlich und zweckmäßig erscheint, gibt die einzige Bedeutung. Die Sache selbst ist nicht gut und nicht böse, wie die ganze Natur nicht gut und nicht böse ist. Sie wird es erst, wenn wir sie mit unseren Augen betrachten und mit unserem Vorteil und Schaden in Verbindung bringen.

Ja, was wollte ich damit?

Ich wollte sagen, daß keine Sitte an und für sich verwerflich oder lobenswert ist.

273 Hier in meiner jetzigen langjährigen Heimat ist zum Beispiel die Ehe und alles, was sich darauf bezieht, so gestaltet, daß wenig Unruhe daraus entstehen kann, daß die Leidenschaften nicht übermäßig erweckt werden und das Familienleben ungestört bestehen kann. Der Orientale strebt nach Ruhe und Freiheit und Familienfrieden, danach haben sich seine Einrichtungen gestaltet. Es ist so, und wenn es euch Europäern noch so drollig erscheinen mag. Die Orientalen haben klug den Leidenschaften ihre natürliche Grenzen gelassen.

Sie sind ihnen wie Bäche nachgegangen, deren Lauf und Eigenschaften sie beobachteten und danach ihre Gärten und Felder an den Ufern weise anlegten, ohne die Bäche unnatürlich künstlich einzuengen und ihren Lauf nach Willkür zu ändern.

Wird hier eine Ehe geschlossen, so ist der erste Bedacht, der vor der Schließung genommen wird: Wie gedenkst du es mit der Scheidung zu halten? Vor allem denke daran, dem Weibe eine Summe auszusetzen, für den Fall, daß eure Ehe getrennt wird.

Es ist die Scheidung hier keine Schande, sie braucht nicht mit Ansetzung aller Kräfte erkämpft zu werden. Jedem der beiden Gatten ist es gestattet, sich vom anderen rechtsgültig trennen zu lassen. Dem Orientalen ist es nicht erträglich, in Streit und Haß nebeneinander zu leben. – Für die Kinder halten sie Unglück zwischen den Eltern für verderblich. Es darf Unfriede nicht fortbestehen. Die Ehe soll keine Last, kein unentrinnbares Elend, keine ewige Kette für die Betreffenden sein, keine Sklaverei. Es sind freie Menschen, die beieinander leben wie Freunde. Sind sie sich zur Qual geworden, so sind sie nicht gebunden. Und 274 trotz dieser großen Freiheit ist eine Scheidung hier eine Seltenheit.

Und so sage ich, soweit meine Einsicht reicht: mögen die Gesetze einem Weibe das Recht geben, den Mann, der vielleicht unter ihrer Eigenart leidet, zu halten, solange sie will; oder mögen die Gesetze ihr dieses Recht nicht geben; ein natürliches, stolz denkendes Weib wird den Mann nicht halten, der von ihr frei sein möchte, so wenig ein Freund den anderen halten wird, wenn die Freundschaft erlischt und das Zusammensein quälend ist. Sie wird ihn nicht halten – und wird ihn gewinnen. Hält sie ihn aber, hat sie die Macht, ihn zu halten, so hält sie in ihm ihren erbitterten Feind. Weshalb soll ein Weib, dem unsere Gesetze das Recht zusprechen, den Mann nicht freizugeben, wenn er danach verlangt, ihr Recht nicht verleugnen und sagen: Du bist frei – ich will kein Sklaventum. Handle wie du willst. Geh und sieh, daß du mir gutgesinnt wirst.

Dieses Weib wird – auch wenn sie den Gatten verliert, den Freund gewinnen. So nimmt sie der Trennung, der Scheidung mit einemmal ihre die Eitelkeit schändende Bedeutung. Es gibt kein Verhältnis auf Erden, das auf Dauer gegründet ist. Weshalb das allerzarteste in Ketten legen?

Die Frau, die in dieser schweren Sache ruhig und gelassen und natürlich handelt, schafft sich, den Kindern und dem Manne Frieden und tut weit mehr, zeigt Tausenden den Weg, wie man in würdiger Freiheit miteinander leben und ebenso frei und ruhig voneinander gehen kann, ohne daß das Elend bis zur Spitze steigen muß und alles Gute in Feindschaft untergeht.

Das schreibt eine, die in ihrer Jugend ein hilfsbereites, 275 zu Mitleid entflammtes Herz hatte und noch hat, die gern Tausenden geholfen haben würde –

Lore Brunquell.«

 


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