Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Achtes Kapitel.

Und Dickchens Traum erfüllt sich.

An einem Morgen, früh vor Sonnenaufgang, ging es in der Krankenstube, in der Obrist schwere Tage durchlebt hatte, heimlich zu. Es wurde geflüstert und geschlichen, als läge ein Schwerkranker hier, ein Sterbender, dessen letzte Augenblicke durch kein irdisches Geräusch mehr gestört werden sollten. Dem aber war nicht so, das Bett stand verlassen, und Obrist saß im vollen Reiseanzug am Fenster vor einem Tisch, den Kopf aufgestützt. Hans Schmidt goß ihm eben eine Tasse Tee ein und nötigte ihn, zu trinken. In demselben Augenblick aber hatte er schon wieder etwas anderes ins Auge gefaßt, war beschäftigt, den Deckel des wohlgefüllten Koffers zu schließen, schnallte Plaids und Decken und war an allen Ecken zugleich.

Jetzt faßte er den Koffer und öffnete vorsichtig die Tür. Er ging in Strümpfen wie ein Schleicher und Dieb, und so trug er selbst den Koffer hinab, unhörbar, kräftig und geschickt, so daß der ausgezeichnetste Einbrecher ihn um seine Begabung hätte beneiden können.

Die Haustür war nicht geschlossen. Sie öffnete sich leise, und der Koffer wurde von zwei starken Armen draußen in Empfang genommen. Hans Schmidt hatte alles vortrefflich angeordnet, das verkündete sein selbstzufriedenes, von Reiselust belebtes Gesicht.

Alle seine Empfindungen waren an die Oberfläche gekommen, wie Fische, die im Sonnenschein bis zum Spiegel ihres ruhigen Sees aufsteigen und da glitzern und aus dem Wasser schnicken und hin und her fahren.

Kaum, daß er den Koffer abgegeben hatte, schlüpfte er 147 in Strümpfen die Treppe wieder hinauf, schlich bei Obrist ein und sagte lebendig: »Er ist schon auf und davon – Gottlob! Nun komm du auch und sei ruhig und vernünftig.«

Hans Schmidt nahm das Paket mit Schals und Decken auf, klopfte Obrist treuherzig auf die Schulter: »Ermann' dich, ermann' dich nur! Die paar Schritte bis zum Wagen um die Ecke werden schon gehen, soweit sind wir ja endlich.«

Obrist erhob sich. Er sah noch angegriffen aus. Eine wohltätige Ermüdung schien über seinem ganzen Wesen zu liegen, wie sie vielleicht einer empfinden mag, der nach langem, mühseligem Lebenskampf, nach schwerer Wanderung matt und erschöpft in seiner lang vermißten Heimat wieder angelangt ist.

Ein wehmütiges Lächeln flog über Obrists Züge. Er hing sich den Mantel um, schob noch ein Schiebefach, das weit offen stand, sorglich zu, rückte den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, unter den Tisch und blickte auf das Zimmer zurück. Hans Schmidt stand wartend an der Tür. »Komm – komm«, sagte er ungeduldig. »Sie schlafen noch alle. Für sie und für dich wird alles gut und ruhig werden – komm, komm.«

Beide Freunde gingen ruhig miteinander die Treppe hinab.

Der frühe Morgen war angebrochen, die Sonne eben aufgegangen. Die ersten Strahlen schienen durch das Fenster über der Haustür, gerade auf die letzten Stufen der Treppe, rosig herein.

Und als Hans Schmidt die Tür öffnete, flutete das Licht eines schönen Frühlingsmorgens beiden entgegen, und mit ihm aller Zauber des vollen Frühjahrs, der Duft 148 frischer, eben ausgebrochener Laubmassen, erster Vogelsang, wohliges Zwitschern.

Hans Schmidt zog sich die Stiefel an, die er bis jetzt vorsorglich in der Hand getragen hatte. Er hatte das Aussehen wie ein glückseliger Junge, der aus langem, widerwärtigem Zwange endlich vor den Ferien steht und dabei ist, sich kopfüber in ihren Reichtum an Freiheit und Leben zu stürzen.

Die rechte Reiselust bringt jedem Alter erste Jugendwonne zurück. Er warf sich den Reisesack über die Schulter und ging kräftig, unternehmend den Gartenweg entlang seinem Freunde voraus, der langsam folgte, sich umschaute, nach den Fenstern blickte – und wieder ging und wieder blickte.

Oben an einem der Fenster stand, allein wach von allem im Hause, eine zarte Gestalt, in ein rosa Röckchen gehüllt. Sie stand einsam in dieser Morgenfrühe und hielt sich versteckt hinter dem Vorhang, damit er sie nicht sähe, wenn er ging.

Sie allein wußte Tag und Stunde der Abreise ihres Vaters. Sie hatte Hans Schmidt ruhig und bestimmt darum befragt, und er hatte ihr die Antwort nicht versagen können. Er wußte, daß von diesem Kinde keine Erregung und keine Erschwerung zu befürchten war.

Sie stand angedrückt an den Fensterpfosten. Ihr armes, junges Herz schlug sehnsuchtsvoll, als sollte es zerspringen, während sie ihren Vater gehen sah.

Heiße, unaufhaltsame Tränen kamen ihr mehr und mehr in die Augen, und die Sonne drang übermächtig zum Fenster ein, strahlend, ein Meer von Licht, so daß sie es nicht bemerkt hatte, wie ihr Vater verschwunden war. So hatte sich ihr Traum erfüllt, und sie war traurig und trostlos, 149 wie sie es schon voraus empfunden hatte. Ganz aufgelöst in Schmerz, mit einer Leidenschaft, wie man sie dem sanften Kinde nicht zugetraut hätte, warf sie sich auf die Erde und verbarg ihr Gesicht in die Hände und weinte, als sollte sie ganz zu Tränen werden.

 


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