Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Viertes Kapitel.

Hans Schmidt befürchtet einen ihm unbehaglichen Herzenszustand. Er ißt mit einem vortrefflichen Menschen zu Abend. – Eine ausländische Briefmarke. – Hans Schmidt träumt von einem schönen Garten und geht wohlgemut am andern Morgen zu seinem Freund Obrist und ist im Hause der Zwanglosen ein unbequemer Gast.

»So geht er also zugrunde!« murmelte Hans Schmidt, als er von Obrist die Treppe hinab durch den dunklen Garten getappt war und nun auf der stillen Schöneberger Straße ging, im Ostwind, der den Staub ihm entgegenwirbelte. »So geht er zugrunde, im Trübsinn, in elender Nervensucht? – Pfui Teufel!« Hans Ludwig Schmidt war mit dem Fuß an einen Stein gestoßen, der im Wege lag, und stieß diesen von sich.

»Als ob es nicht genug wäre, daß alles, was Körper ist, hier verwesen muß, daß das Beste hier unten auch so abscheulich zu Ende gehen kann.« Er drückte sich den Hut fester in die Stirn, der Wind blies heftig; die Scheiben der Laternen klirrten – der einzige Ton in der einsamen Nacht.

»Ein tolles Durcheinander«, murmelte er wieder, »dies köstliche Weib, dies prächtige Geschöpf, dieser Vampyr. Es ist nicht gut, wenn ein Mensch neben dem anderen allzusehr gedeiht und sich entwickelt.

Es ist ihm nicht zu helfen, er sitzt fest. Sie hängen an ihm wie eine Kette!«

Aber diese köstliche Person, jede Bewegung ist Grazie! – Vor Hans Ludwig Schmidts Augen bewegte sich die Gestalt Annas, ihr kleiner, fester, blonder Kopf entzückte ihn, die gedankenreichen Augen verfolgten ihn, und der schlanke, volle, lebendige Körper in dem sonderbaren blauen Kittel 66 erschien ihm so unschuldig urwüchsig. Er dachte nach, um sie mit irgendeinem Weibe zu vergleichen. Sie war nicht frauenhaft – es war nichts in ihr, was ihn an die trockene Sicherheit der meisten Frauen erinnerte, auch nichts von jenem Selbstbewußtsein und Befriedigtsein. Sie war Mutter von ganzer Seele und zugleich Kind und Mädchen und toller Bube.

Nichts schien die Kraft zu haben, ihr den reizvollen Hauch von Unschuld nehmen zu können, der mit ihr geboren war.

Hans Schmidt fühlte sich im innersten Herzen von ihrem Bild berührt. »Schade daß sie den besten Kerl auf dem Gewissen hat! Schade!« Und wieder umgaben seine Gedanken den Freund – und wieder drängte sich das Bild der schönen, heiteren Frau dazwischen und überströmte ihn wahrhaft wie warme, volle Frühlingsluft.

In der Dumpfheit unbewußter Gefühle war es ihm, als ginge all dies Empfinden von Sonne, Heiterkeit, Frühlingshauch und Duft, goldenem Blond, silbernem Lachen, von jenem Strauß Märzblumen aus, den Anna diesen Abend an der Brust getragen hatte.

Mit einemmal blieb Hans Ludwig Schmidt stehen und sagte auf eine merkwürdig mürrische Weise, die ihm eigen war: »Kurz und gut, da hab' ich mich in diesen Unglücksvogel verliebt. – Meinetwegen! – Macht nichts!«

Mit dieser Kritik seines Herzens trabte er weiter und wurde jetzt von dem Bild der schönen Frau weniger beunruhigt, denn eine aufkeimende Liebe will ihre gute Ruhe haben, Dämmerung und Unnahbarkeit, und will nicht gleich so angeschnauzt werden, wie Hans Ludwig Schmidt es tat. – Er hatte sie ja auch schon manch liebes Mal gesehen und erinnerte sich, jedesmal einen ähnlichen Sturm seiner 67 Gefühle durchlebt zu haben. Seine Gedanken beschäftigten sich schließlich mit seinem unglücklichen Freund. Er grübelte, wie ihm zu helfen sei, und ob die Einladung des Geheimrats irgendwelchen Nutzen haben könnte, ob er sie morgen noch anbringen sollte, oder ob es besser wäre, sie beiseite zu lassen und nach etwas anderem auszusehen.

So in Gedanken vertieft, ging er durch die Potsdamer Straße, kam aus der Stille immer mehr ins Leben hinein. Es leuchtete, rasselte, trabte, schlenderte, eilte um ihn her und an ihm vorüber.

Er begegnete einem Bekannten, einem jungen, vielbeschäftigten Arzte, der ihn ansprach, und mit dem er weiterging.

»Wo kommen Sie denn von da draußen her?« fragte dieser.

Hans Schmidt sagte ihm, daß er in Schöneberg gewesen war, und beide traten miteinander in ein Restaurant ein, wo sie sich an manchem Abend zusammengefunden hatten.

Als sie sich niedergesetzt hatten, sagte Hans Ludwig Schmidts Begleiter: »Wer ein gutes Werk, wie Sie, hinter sich hat, der kann es sich besten Gewissens wohl sein lassen! Sie waren draußen bei Obrist in Schöneberg. Sie verkehren ja wohl miteinander? Auch einer, der auf dem Aussterbeetat steht. Ich habe den Menschen vor kurzer Zeit getroffen; wenn da nichts Energisches geschieht, ist es wohl nur eine Frage der nächsten Zeit, bis bei ihm Entscheidendes ausbricht. Unter den Künstlern ist nun einmal die Pest, oder vielmehr die Kunst ist eine Art Pest, bei der die wenigsten durchkommen. Sie scheint mit Vorliebe nervöse Konstitutionen zu befallen. Einmal »Beefsteak aux champignons und pommes de terre sautées!« fuhr er fort und wendete sich zu einem wartenden Kellner. 68 Darauf weiter: »Von den meisten meiner jungen Künstlerbekanntschaften könnte ich Ihnen sagen, was mit der Zeit aus jedem einzelnen wird.«

»Sehr interessant«, sagte Hans Ludwig Schmidt kühl.

»Im vollsten Ernste«, erwiderte der schneidige Arzt eifrig. »Sie glauben es nicht?«

»Gewiß«, antwortete Hans Schmidt und blätterte in einer Zeitung, die vor ihm lag. »Sie sollten ein Auskunftsbüro dafür errichten.«

»Nein, im vollsten Ernste, die unheilvollste Nervenkrankheit ist verletzte Eitelkeit, glauben Sie mir, und daran gehen die meisten zugrunde; der in Schöneberg auch, der Obrist; es ist eben eine unangenehme Erfahrung, sich in seinen Fähigkeiten getäuscht zu haben.«

»Eine sehr unangenehme Erfahrung«, sagte Hans Schmidt und blätterte in seiner Zeitung weiter. »Ich dächte aber, wir wären nicht die einzigen, die davon heimgesucht werden.« Hans Schmidt drehte sich eine Zigarette.

»Es tritt noch mancherlei hinzu«, sagte der Arzt, »was bei dem Künstler die Verletzung der Eitelkeit gefährlicher werden läßt als bei anderen. Wie gesagt, die nervöse Konstitution, die Arbeit mit der Phantasie, die für den geistigen Zustand unvorteilhaft ist.«

»Es gibt nur sehr wenig Künstler«, sagte Hans Schmidt.

»Nun, ich dächte, wir hätten keinen Mangel daran!«

»Doch, ich dächte«, meinte Hans Schmidt, erhob sich und brannte seine Zigarette an.

»Ein echter Künstler«, sagte er, als er langsam zurückkam und die Rauchwölkchen vor sich hinblies, »der kommt euch Ärzten selten unter die Finger – ich sage damit nicht, daß er sich nicht die Beine brechen könnte, oder daß 69 ihn nicht einmal ein Hühnerauge oder eine Lungenentzündung erwischte; aber außerdem erfahrt ihr nichts von ihm – er wird sich hüten, ist übrigens gar nichts vorhanden, was er Grund hätte euch zu gestehen – wird sich hüten. Im Gegenteil, Künstler, wie ich sie meine, sind innerlich gesunde Leute. Ihre Person tritt vor den Forderungen, welche die Kunst an sie macht, zurück, so etwas ist immer gesund.«

»Wohl eine etwas ideale Auffassung«, sagte der Arzt, sein Beefsteak aux champignons und die pommes de terre sautées mit bestem Appetite kauend.

»Das nicht«, sagte Hans Schmidt, »es ist so eine reale Sache wie Ihr Beefsteak; denn ein Künstler, der seine eigene Person nicht zurückdrängt, ist kein Künstler. Ich würde mich für einen verlorenen Menschen halten, wollte zum Beispiel eine Liebschaft sich so breitmachen, daß sie mir die Stunden, die der Kunst gehören, einengte; oder wollte mich ein Todesfall so erschüttern, daß ich an kein Arbeiten mehr denken könnte, oder ein Erfolg so befriedigen, daß ich nun glaubte, genug getan zu haben. Es darf für einen Künstler nichts existieren, was ihn aus der Bahn treibt. Er braucht deshalb nicht hartherzig zu sein, nur muß er den Fleiß heilig und unantastbar halten. So einen Kerl bekommt ihr nicht lebend in die Hände, und wenn ihr ihn seziert, ist alles in bester Ordnung.«

»Kann sein«, sagte der Arzt, »die Ausnahme tut hier wenig zur Sache.«

»Nicht Ausnahmen! Es ist die Sache selbst; die anderen sind Gott weiß was, aber keine Künstler, mit Obrist ist's etwas anderes, der ist ein närrischer Kerl!« Hans Schmidt sah vor sich hin und schüttelte den Kopf.

»Sie haben sich bei Monsieur Obrist besonders erbaut 70 heute, daß Sie in diese schwunghafte Laune gekommen sind.«

»Sie machen mir mit Ihrem Beefsteak Appetit, es scheint gut zu sein«, sagte Hans Schmidt und blickte nachdenklich auf den Teller seines Nachbars.

»Vortrefflich«, sagte der Arzt mit feucht glänzenden Lippen.

»Gut.« Hans Schmidt bestellte sich auch ein Beefsteak aux champignons.

»Donnerwetter!« fuhr der Arzt fort, »ich wäre in Verzweiflung, wenn mir irgendein dankbarer Patient Obrists Ladenhüter verehren wollte.«

»Überhaupt«, meinte Hans Schmidt, »wäre es nicht ganz taktvoll von dem Patienten, so einem vortrefflichen Menschen, wie Sie sind, irgendeine Art Ladenhüter oder Gemälde überhaupt zu verehren –«

»Für dieses wenigstens dankte ich. Für Obrist aber könnte es ein ganz nützlicher Gegenstand werden als Empfehlungsbrief an irgendeine Anstalt hochgradig Nervenleidender, gelinde gesagt.« Der Arzt lachte wohlgefällig über seine vorzügliche Bemerkung.

»Euch Ärzten möchte man doch seinen Hund nicht anvertrauen, wenn man euch reden hört«, sagte Hans Schmidt. »Wenn ich einen fände, von dem ich wüßte, daß er Respekt vor dem empfände, was man Genialität nennt, der gern einen Funken Genialität dem Leben erhalten würde, ich ginge zu ihm, um mir Rat zu erbitten.«

»Ich weiß schon«, sagte der Arzt, »was Sie verlangen, gibt es gottlob nicht; einen berühmten Mann zu kurieren, wird sich ein jeder angelegen sein lassen, aber der Teufel bleibe uns vom Halse mit den verlorenen Genies. Es kommt für niemand dabei etwas heraus. Ich bin kein 71 Anhänger unserer übergroßen Humanitätsbestrebungen, die nicht dulden, daß man eine Laus da sitzen läßt, wo es ihr nicht zuträglich ist. Ich folge in meinen Ansichten den Wegen der Natur, und die ist ein für allemal nicht human, sondern in den Augen zartfühlender Seelen eine rechte Bestie, und eine grausame dazu. Millionen mögen untergehen, wie sie wollen oder nicht wollen, wenn die Rasse nur bestehen bleibt, am Individuum ist wenig gelegen. Lassen Sie Ihren Herrn in Schöneberg um Gottes willen seiner Wege gehen. Meinetwegen auch mag er ein ganz geschickter Mensch sein, aber ich rate Ihnen, mengen Sie sich dort nicht ein, glauben Sie meiner Erfahrung! Sie haben nur Ärger und Verdruß und werden nichts ausrichten; ich kenne solche Halbnaturen. Wozu sie künstlich auffüttern? Was haben wir davon, daß in unserer Zeit so vielen Krüppeln und Elenden das Leben mit Angst und Mühe hingefristet wird. Wir kommen schließlich dahin, daß die Welt aus Kranken und Krankenwärtern besteht. Ich spreche gegen mein eigenes Metier. Sie sehen, wie offen ich bin.«

»Was Sie da reden«, sagte Hans Schmidt, »ist ja ganz interessant. Schließlich handeln wir alle nach einem dunkeln Drange, für den es keine Regeln gibt.«

»Da haben wir den weitsichtigen Idealisten!« sagte der Arzt und blies, wie es schien, amüsiert die lustigsten Rauchwölkchen von sich – allerliebste kleine Ringel, denen er behäbig nachblickte.

»Eine verrückte Zeit!« fuhr er lächelnd fort. »Ich glaube nicht, daß jemals soviel gealterte, schwache, verdorbene Naturen aufgepäppelt wurden wie jetzt, und glaube auch nicht, daß jemals soviel junge, die nützlich werden könnten, zugrunde gerichtet werden wie jetzt. Ich meine, in unseren löblichen Schulen zum Beispiel. Bleiben Sie 72 mir vom Leibe mit Ihren Krankenwärtern für schwach organisierte Künstler. Jedes Ding muß beim Zipfel gefaßt werden, bei der Wurzel, wenn man von Grund aus handeln will. In die Brutstätten, in denen das Unheil gestiftet wird, da muß man hineinfahren! Das wäre mir, wenn man die Unglücksnester stehen ließ und an den verquickten Geschöpfen, die daraus hervorgegangen sind, herumdoktern wollte! Laßt die laufen, wie sie sind. Es ist eine Verschwendung an Zeit und allem möglichen Aufwande, sie einigermaßen wieder herzustellen – die Schulen sind nämlich mein ganz besonderer Sport«, sagte der Doktor und lehnte sich zurück.

»Übrigens zum Arzt bin ich verdorben, das sehen Sie, statt daß mir jeder hohe Schulrat die achtbarste, anerkennungswerteste Person wäre, nämlich mein Brotherr, Ernährer, der mir das beste Futter zuführt, dem ich einmal meinen Wohlstand zu danken hätte, habe ich einen wahren Abscheu gegen dieses Volk. Menschenfresser sind mir lieber.

Durch ihre Verdummungsanstalten werden die Generationen getrieben. Damit ja nichts Ursprüngliches an ihnen bleibt, wird dort fremdes Zeug mechanisch einfiltriert, in solchen Massen, bis jedes eigene Denken stockt, bis die Gehirntätigkeit insoweit gelähmt ist, daß die vortrefflichsten Maschinen für den Staat fertig dastehen, so daß er nur blindlings hinzulangen braucht, um so eine von der Prüfungskommission empfohlene Maschine hinzustellen, wohin es ihm beliebt, und sicher zu sein, daß sie unschädlich stampfen und treten wird.

Die Schule macht es mit dem Schüler genau so, wie die Bauersfrau mit der Gans. Die stopft und stopft und stopft das arme Vieh, bis es von seiner natürlichen 73 Anlage abweicht und sich das in ihm, was für gut und nützlich gehalten wird, eine große Leber, entwickelt. Aber es ist keine gesunde, kräftige Gans mehr.

Hier, sehen Sie her!« Der Arzt zog aus seinen Rocktaschen einen erstaunenerregenden Haufen von Manuskripten und langen Tabellen, breitete sie energisch und eifrig vor Hans Schmidt aus, schob den Teller zurück und sagte: »Da schauen Sie her, eine statistische Arbeit, die den Herrn die Augen öffnen könnte. Es ist schon eine Arbeit«, der Doktor zog ein paar kräftige Züge aus seiner Zigarre, »derentwegen man alle Hände über mich breiten sollte, als über einen Wohltäter der Menschheit, es ist nämlich meine Arbeit.«

»Ach so!« sagte Hans Schmidt.

Der Arzt fuhr fort und strich mit dem Finger an einigen Zahlenreihen mit Erläuterungen hin: »Hier haben Sie die Zahlen der Geschöpfe, die aus der Schule alljährlich mit Rückgratsverkrümmungen entlassen werden.

Hier haben Sie die Zahlen von denen, die um ihre gesunden Augen gekommen sind. Hier die Schwächlichen, die Nervösen – das nimmt kein Ende. Die Skrophulösen – sagen Sie einmal, sind Sie Markensammler?« unterbrach sich der Arzt ungeduldig und blickte auf Hans Schmidt, der sich geneigt fühlte, statt auf die Tabellen, auf ein Kuvert mit fremder Marke zu blicken, das mitten unter den Papieren lag.

»Hier die, die der Schwindsucht in die Arme laufen«, der Arzt fuhr mit Vehemenz über lange Zahlenreihen hin. »Hier die Blutarmen, im Wachstum zurückgebliebenen. Hier die Stumpfsinnigen, die früher nur Unbegabten, die sie bis aufs äußerste getrieben haben, um ihnen beizubringen, wozu sie nicht eingerichtet waren.

74 Aber was hat Ihnen denn die Briefmarke getan?« fragte der Arzt eifrig dazwischen und durchbohrte Hans Schmidt mit seinen Blicken. »Haben Sie noch keine solche gesehen? Es ist eine simple türkische, es ist eine türkische Briefmarke.«

»So!« sagte Hans Schmidt, dessen Gedanken sich umhertrieben.

Nirgends herrscht die Gerechtigkeit so schön und unbestritten wie da, wo zwei sich von ihren Angelegenheiten unterhalten. Zuerst spricht der eine von seiner Sache, da faselt und träumt der andere, dann ist der zweite daran und die Reihe ist an den ersten gekommen, nach Herzenslust unachtsam zu sein.

»Hier schauen Sie«, fuhr der Arzt fort, »so geht es weiter und weiter, so werden alljährlich die Krüppel vollendet entlassen und hinaus ins Leben getrieben, wo sie Unheil erdulden und anrichten. Ich habe mich fürs erste begnügt, die körperlichen Gebrechen zu verzeichnen, die jährlich in den Schulen großgezogen werden; vielleicht gelingt es mir auch noch, mich an die geistigen zu machen, und das würde eines der stattlichsten Register werden. Sie haben keine Ahnung, was an Kraft zerstört wird; mit jedem körperlichen Gebrechen treten zehn geistige ein. Das allein genügt. Die Hauptsache aber ist, die armen Kerle lernen samt und sonders nicht mehr denken, die besten Beanlagungen werden von sinnlos angehäuften Kenntnissen erstickt. Glauben Sie mir zum Beispiel: ich halte es ein und allemal für unmöglich, daß aus unseren Tagen ein großer Künstler hervorgeht. Es ist unmöglich. Die alten Meister haben mit zehn, zwölf Jahren begonnen, die Kunst, für die sie beanlagt waren, zu studieren. Jetzt ist keine Zeit vorhanden, eine Beanlagung überhaupt vor dem 75 zweiundzwanzigsten bis vierundzwanzigsten Jahre zu spüren. Mein Gott, die armen Teufel haben keine Muße, keinen Frieden, und entscheiden sie sich endlich, nachdem sie müde und matt gearbeitet, von geistlosen Wiederholungen stumpf geworden sind, für die Kunst, ist ihre beste Kraft schon verloren und sie sind Männer, die eigentlich schon die Hauptsache müßten erreicht haben.«

»Ja, es ist eine verdammte Geschichte mit dem Gelerne«, sagte Hans Schmidt, »und, sagen Sie, das haben Sie alles zusammengestellt? Das muß ja eine grenzenlose Arbeit sein, wenn sie nur zu etwas führte.« Jetzt hielt Hans Schmidt zerstreut das Kuvert mit der fremden Briefmarke in der Hand.

»Das Kuvert hat eine große Anziehungskraft für Sie«, sagte der Arzt, »gestehen Sie es nur, Sie sind doch Markensammler. Meinetwegen schneiden Sie sich das Ding heraus, wenn Sie wollen.«

»Durchaus nicht«, sagte Hans Schmidt, blickte aber zum ersten Male mit bewußtem Interesse auf den Brief. »Seit wann führen Sie so auswärtige Korrespondenz?«

»Ein Ausnahmefall«, erwiderte der Doktor. »Übrigens ein Ausnahmefall in jeder Beziehung. Wenn es Sie interessiert, lesen Sie den Brief. Hier«, der Doktor zog ihn aus dem Kuvert. – »Eine Person, die sich durchs Leben geschlagen hat und der es wirklich sonderbar ergangen ist, ein ganz interessantes Frauenzimmer. Da, lesen Sie. Es ist eine Art Cousine von mir, eine rabiate, kräftige Person. Gott sei Dank, die ist unverdorben durch die Schule gegangen. Sie sitzt seit so siebzehn bis achtzehn Jahren in einem Nest bei Konstantinopel. Da, lesen Sie!«

Hans Schmidt wußte nicht recht, wie er zu dieser 76 Auszeichnung kam. Er nahm den Brief zur Hand. »Ich soll ihn lesen?« fragte er.

»Wenn Sie wollen?«

Hans Schmidt begann mit der Lektüre, und der Doktor sagte:

»Sehen Sie, das ist noch eine Natur, die ich mir gefallen lasse, an der ist nichts Krankes, nichts Verdorbenes. Für solche habe ich nun einmal ein Interesse, Leute wie Ihr Obrist, so abgemergelt, sind mir widerwärtig. Ich bin eben als Arzt verdorben –«

»So seien Sie doch still, wenn ich lesen soll«, sagte Hans Schmidt.

Der Doktor raffte die um ihn liegenden Blätter wieder zusammen und packte seine Tabellen wieder in die Rocktasche, und Hans Ludwig Schmidt las wie folgt:

»Konstantinopel.    

Geehrter Vetter!

»Ich habe mich nicht in Dir getäuscht und bedanke mich herzlichst und ganz ergebenst. Für habgierig wirst Du mich ja wohl nicht halten, sondern hast mich verstanden, daß ich diejenige, die ich meine Tochter nenne, nach allen Seiten sicher stellen will und daß sie durch mich jeden Vorteil, der in meiner Macht steht, erlangen soll. Du hast mir altem Weibe sehr freundlich geantwortet und hast mehr als Deine Schuldigkeit getan. Ferdös bedankt sich durch mich bei Dir, die kleine Erbschaft wird zu ihrer Aussteuer verwendet werden. Es mag ja nicht mehr lange währen, da werde ich daran denken, sie zu verheiraten. Ebenso bedankt sich unser Iskender, der allerbeste Diener und Freund, bei Dir. Wir haben ihm von der Erbschaft, die wir durch Deine Verwendung für uns erhielten, einen kleinen Teil 77 für seine alten Tage ausgesetzt, für die alten Tage, die, Gott sei's geklagt, immer hereinbrechen, wenn der Mensch seine Zeit bis zu Ende lebt.

Bei uns steht und geht alles ganz wohl. Mir ist's zugute gekommen, daß ihr Franken, ihr Deutschen, ihr Europäer, wie soll ich euch nennen, daß ihr solche Barbaren seid, wie ihr seid!

Wäre ich damals nicht gegangen und hätte mich und das Kind vor euerer Torheit und Grausamkeit in Sicherheit gebracht, möchte ich wissen, wie es jetzt um mich stände! So gesund und frei und gutartig wäre ich schwerlich geblieben und einen so herrlichen Garten, wie ich ihn habe, hätte ich sicher nicht. Einen Garten, in dem dichte Feigenbäume stehen, Granaten, Lorbeer, Wein, Oleander und Rosen, in dem wir Gemüsearten ziehen, die ihr dem Namen nach nicht kennt, die aber teilweise gar wohl bei euch eingeführt werden könnten, wenn euch an gutem Gemüse gelegen sein würde und wenn ihr nicht so erschreckliche Fleischfresser wäret. Und so ein hübsches, lustiges Haus hätte ich sicher auch nicht, sondern steckte Gott weiß wo, erbärmlich bis an mein Ende beargwöhnt und ausgestoßen, und statt daß ich vereinsamt gelebt hätte, verbittert und gebrandmarkt, in Tränen und Klagen über euere Härte und Ungerechtigkeit, habe ich hier schon hundertmal mit guten Leuten gesessen und über die ganze Sache und über euch alle miteinander gelacht – und für mich im Herzen alle, die ihr opfert, bitter beklagt.

Masch Allach! - Masch Allach!

Das ist ›Gottes Wunder – er wird's so wollen!‹ sagen die Türken. ›Was sind Deine Franken für ein Volk! – Gott gebe ihnen Weisheit!‹

Das ist, was sie mir zu erwidern wußten, wenn sie 78 sich lange genug verwundert hatten über das, was ich ihnen erzählen konnte.

Wir sind hier glücklich und gesund. Das Meer leuchtet mir blau zum Fenster herein, während ich schreibe. Im Garten arbeiten meine Leute. Es ist ein gutes, schönes Land hier. Gott sei dafür gedankt! – Es ist das beste Land auf Erden. Noch einmal, Gott segne es.

Laß Dir es auch wohlergehen, Herr Vetter, und sei gegrüßt von

Lore Brunquell.«

»Wie es scheint, eine zufriedene Seele«, sagte Hans Schmidt, als er zu Ende gelesen hatte und den Brief dem Doktor zusammengefaltet wieder zurückgab. »Es liegt für mich etwas Eigenartiges in diesem Schreiben. Nach dem Schicksal der Cousine braucht man nicht zu fragen. Sie spricht es selber aus.«

»Ja«, sagte der Doktor und zog seine Uhr, »aber man schließt falsch, das Kind, von dem die Rede war, ist nicht ihr eigenes Kind.«

»Nicht?« fragte Hans Schmidt.

»Nein. Es ist schon spät geworden, ich habe noch einen Besuch zu machen«, fuhr der Doktor fort. »Wie war es, wollten Sie die Marke?« Er schob eben den Brief seinen Tabellen nach in die Tasche und hielt damit, indem er fragte, inne.

»Nein, durchaus nicht, behalten Sie Ihre Marke.«

»Gut.« Der Arzt erhob sich, klopfte sich auf die stramm gefüllte Brusttasche und nahm seinen Hut. Hans Schmidt machte sich auch zum Gehen bereit, und so brachen sie miteinander auf und trennten sich vor der Tür, der eine ging dahin, der andere dorthin.

79 Hans Ludwig Schmidt wandelte noch eine Zeitlang in der Potsdamer Straße auf und nieder, das Bild seines Freundes Obrist tauchte voll und ganz wieder in ihm auf, und zwar nach der Unterhaltung mit dem Arzte doppelt erbarmungswürdig. Es war ihm, als wäre Obrist auf das elendeste beleidigt und entehrt worden, seit der Arzt von ihm gesprochen hatte, ungefähr beiseite geschoben wie ein nutzloses, krankes Haustier, das sein Futter nicht mehr wert ist. Der Schmerz um diesen Freund, dem er, wie er fühlte, unendlich viel verdankte, den er hochgestellt hatte wie keinen anderen Menschen, dem er sich untergeordnet hatte, schüttelte Hans Schmidt förmlich. Er lief in Sturmesschritten durch die Straßen und hatte das Gefühl, daß er den Arzt erwürgen könnte mit tausend Freuden.

»Ich lasse dich nicht zugrunde gehen, rechne auf mich, Obrist, und morgen kommst du mit mir zum Geheimrat, du magst wollen oder nicht!«

Dieser Entschluß schien beruhigend auf Hans Schmidt zu wirken, und er machte sich auf den Weg, nach Hause zu gehen.

Diese Nacht hatte er den Traum, daß er in einem wunderschönen Garten auf und nieder flöge. Es waren auch Personen zugegen, und allerlei Begebenheiten hatten sich abgespielt. Wer es aber gewesen und was es gewesen war, das hatte sich beim Erwachen vollkommen verwischt, nur der leere Raum gleichsam, den die Personen ausgefüllt hatten, war wie im Gedächtnis zurückgeblieben, aber der schöne Garten hatte eine wahrhaft erfreuliche Wirkung gehabt; es ist immer ein Glück im Traum wie im Leben, wenn das Schicksal uns gute Eindrücke vergönnt.

Hans Schmidt begann seinen Tag in bester Stimmung, beschloß aber, nicht zu arbeiten, sondern sich wieder zu 80 Obrist aufzumachen, um ihn am Morgen mit seinem Vorschlag zu überraschen.

Er machte den Weg nach Schöneberg zu Fuß und ließ allmählich das Menschengewirr und Wagengerassel hinter sich und war frisch und guter Dinge. Als er in das Atelier eintrat, kam er gerade zu dem erfreulichen Augenblicke, daß die Tanten das Jüngste daselbst badeten. Er war von einem der beiden Lockenköpfe ohne viel Umstände hereingeführt worden. Anna stand an der Staffelei und malte, die jungen Hühnchen trippelten immer noch im Zimmer umher, die Nachtlichter mit den Eiern und den leeren Schalen standen noch auf dem Fußboden.

Allgemeines Erstaunen, als Hans Schmidt eintrat. Anna sah etwas beschämt aus. Die Tanten hatten sich züchtig mit dem Rücken und ausgebreiteten Röcken um die Wanne gestellt, in den Lücken, die sie mit ihren hageren Armen und Schultern bildeten, schimmerte ein rosa Körperchen durch. Die Tanten schienen übrigens die Gewohnheit zu haben, ihre Röcke als spanische Wände zu benutzen. Alle Türen öffneten sich, es entstand ein Zugwind, der durch das ganze Atelier fegte, und aus jeder Türspalte guckten ein paar Kinderköpfe. Man wollte sehen, was es gäbe.

Anna stand mit voller Palette Hans Schmidt gegenüber und lächelte freundlich, währenddem sie im Zimmer Umschau hielt.

In dem Augenblick ertönte ein furchtbarer Schrei, und eine der Tanten sprang, als hätte sie eine Schlange gestochen, hoch in die Höhe. Das kleine rosige Badepüppchen hatte, als es die Tanten so verlockend und still stehen sah, der einen den vollen Schwamm im Nacken ausgedrückt. Die Ärmste war ganz verzweifelt, schüttelte sich und sprang. Die Köpfe in den Türspalten jubelten und lachten aus 81 vollem Hals, und das wilde kleine Ding im Wasser wurde wie des Teufels, schrie und spritzte Wasser in Strömen um sich und warf den nassen Schwamm vom Glück begünstigt Anna ins Gesicht. Die sprudelte und lachte und wäre sich mit der vollen Palette in die Haare geraten, hätte Hans Schmidt nicht das Unheil vorausgesehen und verhindert, indem er blitzschnell mit der Hand zwischen die drohenden Farben und den blonden Zopf gefahren wäre. So war mit einem Schlag alles in einen außerordentlichen Untergang verwandelt und schwamm und tropfte. Solcher Zusammensturz der heilsamen Ordnung tritt immer in absonderlichen Familien, in denen alles nicht ganz so ist, wie es sein sollte, in Vollkommenheit und überraschender Folgerichtigkeit auf. Ganz ruhige, gesittete Familien haben dergleichen zwar auch zu verzeichnen, doch stehen bei ihnen die Ereignisse nicht so gut im Einklang miteinander, und um sie auf eine gewisse Höhe im Wiederberichten zu bringen, tut es not, Lücken mit Hinzugedachtem zu füllen, damit die Sache eine annehmbare Form erhält, das war bei Obrists nicht nötig, die Ereignisse trugen hier etwas Geniales an sich.

Die Familie befand sich also im besten Durcheinander. Das Kind wurde von den Tanten in der allgemeinen Verwirrung, wenn auch nicht mit dem Bade ausgeschüttet, doch in der Wanne zur Tür hinausgetragen, was für alle drei Teile ein schwieriges Unternehmen war und nur mit viel Wasservergießen, Anecken und Geschrei vor sich gehen konnte. – Anna war indessen nach Tüchern gestürzt, um die Wasserfluten aufzuwischen. Sie tat das in ängstlicher Erregung, denn sie wußte, daß es für Obrist nichts Quälenderes gab, als am Morgen in ein feuchtes Zimmer zu treten.

»Sie glauben nicht, wie empfindlich er ist«, sagte sie 82 zu Hans Ludwig Schmidt gewendet – »das allein genügt, um ihn den ganzen Tag wie verstört zu machen. Er glaubt dann erkältet zu sein, ist verstimmt und für Tage verstummt«, dabei wischte und rieb sie aufs eifrigste.

Hans Schmidt erwiderte nichts. Endlich sagte er: »Sie sollten nicht dulden, daß er so spät aufsteht, das ist nichts für ihn, es lohnt nicht der Mühe, noch etwas zu beginnen, wenn man nach dem Aufstehen schon mitten im Tage ist.«

Anna seufzte auf. Indem kamen aber ein paar Kinder, um nach diesem und jenem zu fragen, und die Gedanken der hübschen Frau erhielten sogleich eine lebendige und heitere Richtung. Ein anderes stürmte herein und erzählte ganz erregt, daß die Tante mit dem Jüngsten, das noch in der Badewanne säße, sich in einem erschrecklichen Kampfe befände. Es wäre ganz verrückt und frech geworden, und niemand könnte mit ihm fertig werden. Wieder eine andere Botschaft meldete, daß die Köchin unten nicht wüßte, was beginnen – und daß die Buben ihr in den Haaren lägen und daß der Reis angebrannt sei, daß Anna neuen herausgeben möchte. Das Leben schien in allen Ecken dieses Hauses auf das geräuschvollste und heftigste zu wirken. – Anna hatte eben wieder die Palette zur Hand genommen, um in ihrer Malerei fortzufahren, da entschloß sie sich kurz, da die verschiedenartigsten Töne wahrhaft bedrohlich in das Atelier eindrangen, legte die Palette beiseite, wickelte ihren Zopf, der sich gelöst hatte, energisch im Hinausgehen um den Kopf, was eine charakteristische Angewöhnung zu sein schien, und bald war ihre wohllautende Stimme da und dort zu hören. Hans Schmidt, um den sich niemand sonderlich gekümmert hatte, ja den man im Hause der Zwanglosen kaum bemerkt zu haben schien, setzte sich ganz schwindelnd von alledem, was sich in Zeit von zehn Minuten 83 begeben hatte, nieder und stützte den Kopf in die Hände.

Er hatte den Eindruck, als wäre diese ganze Familie auf das unsinnigste ins Kraut geschossen und wollte alles, was zwischen sie geraten war und auch gen Himmel wachsen wollte, ersticken.

Jetzt öffnete sich die Tür und Obrist trat ein. Um ein Haar hätte er, als er die Tür wieder einklinkte, eins der umherhuschenden gelben Küchel ganz zerklemmt. Es schrie und piepte jämmerlich und war einen Augenblick mit den Krällchen zwischen Tür und Schwelle geraten. Obrist wurde erschreckend bleich, glaubte sich allein im Zimmer und lehnte sich kraftlos mit dem Kopf gegen die Wand. Mit einemmal fuhr es wie Heftigkeit durch seine Gestalt, er schlug mit der Faust gegen den Türpfosten und rief: »Sei verdammt, was mir in den Weg läuft!«

Da sah er Hans Schmidt sitzen.

»Du empfängst deine Gäste gut«, sagte dieser ruhig.

»Was willst du?« fragte Obrist.

»Nichts – ich sagte dir, daß ich wiederkommen würde. Da bin ich.«

»Nun, und um diese Zeit – was fällt dir ein, du bist wohl angesteckt und hast das Faulfieber.«

»Wieso, weil ich einmal wieder nach dir sehe«, war die gemessene Antwort.

»Bediene dich.« Obrist zeigte auf ein Tischchen neben Hans Schmidt, auf dem alles zum Rauchen Nötige stand und auf dem eine Auswahl der zierlichsten Pfeifenköpfchen aus rotem Ton lag. Diese Pfeifenköpfe hatte Obrist sonderbarerweise von einem umherziehenden Araber in Tirol auf einer Studienreise gekauft und hatte seinen Spaß daran. Er bediente sich dieser Pfeifchen schon seit einer Reihe von Jahren.

84 Hans Schmidt langte nach einem davon, füllte es in aller Ruhe und zündete es an, während Obrist sich, in seinen Mantel gehüllt, niedergesetzt hatte. Es schien ihn zu frösteln und er blickte unverwandt und beunruhigt auf die feuchten Dielen.

»Sie haben die Badewanne darüber gegossen«, erklärte Hans Schmidt trocken.

Obrist blickte ihn verwundert an.

»Du hältst nicht gut Ordnung, Obrist. Sie sind alle toll und verrückt hier.«

»So«, sagte Obrist, als wenn Hans Ludwig Schmidt ihm etwas vollkommen Neues mitgeteilt hätte. Darauf trat ein langes Schweigen zwischen beiden Freunden ein.

»Ich werde heute wahrscheinlich ziemlich lange hierbleiben«, begann Hans Schmidt nach einer Weile mit größter Ruhe.

»Solang du willst«, sagte Obrist und ließ einen beobachtenden Blick über seinen Freund gleiten.

»Übrigens«, fragte Obrist, »was führt dich jetzt mit einemmal zu mir her? Es sind ja, dächt' ich, vordem fast zwei Jahre vergangen, daß du dich kaum blicken ließest.«

»Ich werde meinen Grund haben.«

Obrist sah ihn mit einem sonderbaren Blick an – zündete sich eine Zigarette an. Und so blieben sich die beiden Freunde schweigsam gegenüber.

Hans Schmidt saß wie aus Holz geschnitzt, ohne jede Bewegung und vollkommen ausdruckslos.

Obrist schien über diese Situation nervös und ungeduldig zu werden, stand auf, ging im Zimmer auf und nieder und setzte sich dann wieder, fuhr sich über die Stirn und fragte: »Sag einmal, Hans, seit wann bist du dämonisch geworden?«

85 »Jeder, der auf ein bestimmtes Ziel losgeht, ist für die anderen dämonisch«, antwortete Hans Ludwig Schmidt trocken.

»Gut«, sagte Obrist.

Und wieder schwiegen sie beide.

Hans Schmidt unterbrach das Schweigen und fragte:

»Gehst du heute abend mit mir zum Geheimrat?«

»Dummes Zeug«, war Obrists Erwiderung.

»Gut«, sagte Hans Schmidt in derselben Betonung, wie Obrist vordem, und lehnte sich zurück.

Nach Verlauf von einigen schwer dahinschleichenden Minuten fragte er wieder:

»Sag einmal, willst du heut abend mit mir gehen?«

»Ach, laß mich! Du hast ja vom falschen Tabak genommen, hier von diesem hättest du nehmen sollen.«

In demselben Augenblick faßte Hans Schmidt einen der zierlichen Pfeifenköpfe und warf ihn mit Heftigkeit gegen die Wand, daß er in tausend Stückchen zersprang.

»Was machst du da!« sagte Obrist unwillig.

»So«, sagte Hans Schmidt gleichgültig, sprang aber auf, stellte sich vor Obrist und rief: »Was sagt' ich dir? Was fragte ich dich? Was denkst du, willst du mir antworten oder nicht, bin ich ein Narr.«

»Um Gottes willen, Hans, was hast denn du, du bist verrückt!« fragte Obrist gedehnt.

»Nein!« Hans Schmidt ergriff beide Hände seines Freundes, hielt sie eisern fest. – »Auf Tod und Leben«, fragte er, »gehst du heute mit mir zum Geheimrat oder nicht?«

»Was fällt dir ein, was soll ich da?«

Hans Schmidt ließ die Hände, die er gefaßt hielt, nicht los. »Gehst du?« rief er.

86 Unvermerkt war Dickchen eingetreten und stand jetzt neben ihrem Vater, berührte ihn leise an der Schulter und sagte: »Geh' doch, wenn er dich bittet.«

»Mein Gott im Himmel – und deshalb solchen Lärm, sag' doch ruhig, was du willst.« Obrist entzog ihm die Hände, unangenehm berührt.

»Du gehst also?«

»Ja, ich gehe – laß mich in Frieden!«

Obrist blickte ganz überwältigt und verwirrt von dem Ungestüm Hans Schmidts um sich.

»Du versprichst es und hältst es also? Ein Mann, ein Wort«, rief dieser eifrig und wollte eben wieder Obrists Hände fassen.

»Laß, laß«, sagte Obrist abwehrend. »Ich habe es an der Gewohnheit, zu halten, was ich verspreche. – Eine Charaktereigentümlichkeit, oder wie man es zu nennen beliebt –«

»Du tust mir einen Dienst, wenn du mit mir gehst«, sagte Hans Schmidt wieder in seiner ruhigen, bedächtigen Weise.

»Gut also.« Obrist machte wieder eine abwehrende Handbewegung. »Es ist genug davon.«

Hans Schmidt ging eifrig im Zimmer auf und nieder.

»Ich kann dich also heute abholen, heute abend?«

Obrist hatte sich niedergelegt mit dem Kopf gegen die Wand und erwiderte nichts, und Hans Schmidt ging wieder auf und nieder, fuhr sich durch sein starkes Haar und sah außerordentlich unternehmend aus. Jetzt ließ er sich auf einen Stuhl neben Obrist nieder.

»Obrist«, sagte er, »Obrist, ich bin, weiß Gott, verliebt in deine Frau.«

87 »So«, sagte Obrist. – »Was ist denn in dich gefahren heute?«

»Sie hat gestern abend Eindruck auf mich gemacht; wär' ich jetzt ein ehrbar angestellter Beamter, Gutsbesitzer, Kaufmann, Bäckermeister, Kammerherr, Graf, Fürst, Strolch, Offizier, Geistlicher – nur nicht gerade Künstler, ich würde sie dir mitsamt den eigenen Kindern und den fremden vom Fleck wegheiraten, da kannst du dich darauf verlassen. – Eine köstliche Person!

Obrist«, rief er warm und bewegt – »und wenn ich wüßte, du wärest mit einemmal der alte Obrist wieder, ich wäre es um diesen Preis imstande und heiratete jetzt Anna als Hans Ludwig Schmidt.«

Indem Hans Schmidt diesen immerhin auffälligen Vorschlag machte, sah er unbeschreiblich treuherzig aus. Es hatte ganz den Anschein, als wäre er der Mann dazu, den Gedanken wahr zu machen.

»Sehr verbunden«, erwiderte Obrist. »Sag' einmal, Junge, hast du heute schon gefrühstückt?«

»Weshalb?«

»Mir schien es so.«

»Du meinst«, sagte Hans Schmidt, »du meinst? – Deine Nerven haben dich zum Philister gemacht, du meinst – es wäre nicht mein Ernst, was ich sagte? Du warst doch sonst ein närrischer Kerl, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden ließ. – Nebenbei gesagt, ich bin wahrhaftig in die prächtige Person verliebt – also wer weiß, Obrist. – Übrigens ich habe dein Versprechen wegen heut abend.«

Hans Schmidt ergriff Obrists Hand, schüttelte sie kräftig. »Rechne auf mich!« sagte er, »in was es auch sei, rechne auf mich. Ich habe gegen dich ein sehr anständiges 88 Gefühl; ich bin dir dankbar. Hörst du? Also auf Wiedersehen! Ich hol' dich heut abend.«

Als Hans Schmidt ging, war Dickchen, die alles mit angehört hatte, vor ihm hinausgeschlüpft, und als er die Treppe hinabstieg, fühlte er seine Hand ergriffen und zu gleicher Zeit den weichen Druck von zwei zarten Lippen, und er sah Dickchen, die die Augen zu ihm aufschlug wie ein gutartiges Tier, dem er wohlgetan.

Sie sagte kein Wort, aber in jeder Bewegung lag: »Ich danke dir, daß du gut mit ihm bist – daß du helfen willst.«

Hans Schmidt redete das Kind nicht an. Wie im Nu war sie verschwunden. Er sah sie in das Atelier zu ihrem Vater huschen.

Aber den Kuß von den unschuldigen Kinderlippen hatte Hans Schmidt bis ins innerste Herz gespürt, ja, es mochte ihm im Leben von irgendeinem menschlichen Wesen wohl noch nichts geschehen sein, was ihm so zu Herzen gegangen wäre.

 


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