Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Zehntes Kapitel.

Bei Siminitza haben sie ein Abenteuer. – Sie lernen Rittmeister Neunhütel kennen.

Es war ein tolles Wetter, das sich nach und nach ausgebildet hatte. Die gelben Wogen der Donau stürmten wie rasend vorwärts. Mächtig war sie aus ihrem Bette getreten; der Regen goß unausgesetzt in Strömen; der volle Sturm stemmte sich gegen das Schiff. Jeder, der irgend konnte, hatte sich in einem geschützten Winkel verkrochen.

Auch unsere beiden Freunde waren in der Kajüte geblieben. Es dunkelte. Die Öllampen mit ihrem vornehm weichen Schein wurden auf die Tische gestellt. Man machte es sich so behaglich wie möglich. Es wurde zu Abend gegessen. Es wurde gelesen und geplaudert. Ein angenehmes Behagen war in dem Raum verbreitet. Die sich darin befanden, schienen vergessen zu haben, daß um sie her die Einöden Bulgariens lagen, das rumänische Ufer, daß unter ihnen, neben ihnen die aufgeregten Hochfluten der Donau rauschten und stürzten. Wer die Stirn an eine der Fensterscheiben gedrückt hätte, würde in stockfinstere Nacht hinausgesehen und würde da erst gehört haben, wie durch diese schwarze, undurchdringliche Nacht der Sturm sauste, wie er über die Wasser hinfuhr, daß die Wellen mit dem strömenden Regen zusammen an die Scheiben schlugen; der würde da erst darauf geachtet haben, wie das Schiff erzitterte von der gewaltigen Anstrengung der Maschine, die gegen die übermächtigen Fluten ankämpfen mußte. Der würde vielleicht auch daran gedacht haben, daß oben auf dem Deck, über das der Wind und Regen fegte, das arme Volk eng aneinander gedrängt in Nacht und Grauen hocken mußte. Wer von denen irgend Platz 167 finden konnte, war zu der stampfenden Maschine herangekrochen und ließ sich die Hitze auf den Rücken prallen, daß der Pelz dampfte. Die anderen ließen die ungeheuere Nässe und den Sturm über sich hingehen ohne jeglichen Schutz, wie ein armer Teufel das Leben über sich hingehen lassen muß. Sie saßen da oben so elend wie nasse Ratten, um die sich auch niemand kümmert, an die niemand im warmen, beleuchteten Zimmer denkt, wenn sie aus überschwemmtem Keller in den triefenden, nächtlichen Hof huschen.

Es ist kein großer Unterschied, eine erbärmliche Ratte, oder ein erbärmlicher lieber Nächster! Sitzen wir im Behagen, so sind sie uns beide gleich weit entrückt, gleich unverständlich. In der Kajüte erster Klasse befinden sich gewiß vortreffliche Leute. Heinrich Obrist und Hans Ludwig Schmidt gehören wahrscheinlich mit zu den Entwickelten ihrer Rasse. Der eine war, was zu bedenken ist, schwer erkrankt an Überempfindlichkeit und kaum auf dem Wege der Genesung. Das Leben hatte ihn über die Grenzen hinausgedrängt, die unserem Fühlen und Denken vorgeschrieben sind. Der andere war einer wahrhaft freundschaftlichen Aufopferung fähig, und Freundschaft allein ist ein Vergessen des eigentlichen Lebenszweckes, das heißt, ein Vergessen des allgemeinen Gesetzes des Fressens und Gefressenwerdens. Dem Menschen ist nur die Mitte in allem ratsam, sagt Kon-fut-se. Also Obrist und Hans Ludwig Schmidt mochten immerhin zwei Leute von seltener Begabung sein; aber auch sie, wie alle anderen in der ersten Klasse, dachten im Augenblick nicht über die eigene Person hinaus. Der Raum, in dem sie sich befanden, schien ihnen der einzig beachtenswerte auf Gottes weiter Welt zu sein.

Hans Ludwig Schmidt und Obrist schauten nach einer 168 lustigen Gesellschaft hin, die um einen wohlgedeckten Tisch saß, bei Sterlet und Champagner. Die Leute waren zusammengewürfelt aus aller Herren Länder: Ungarn, Bulgaren, Rumänen, Österreicher. Die meisten sprachen deutsch untereinander. Zwei Damen saßen mit an dem Tisch, ein blutjunges Ding in Begleitung einer alten, elegant gekleideten Person. Die kleine trug rote, goldgestickte, orientalische Samtpantöffelchen, hatte das Haar halboffen nur ein wenig zusammengeschlungen, hatte beide Arme auf den Tisch gestemmt und war in dieser sorglos ungezwungenen Lage bereit, einem jeden mit Blick und Wort zu dienen. Sie gab den Mittelpunkt der Gesellschaft ab und wurde von ihrer Begleiterin kräftig unterstützt. Es schien der kleinen Person außerordentlich wohl zu sein. Aller Augen hingen an ihr, jedes Wort von ihr wurde belacht. Auf ihrem keck naiven Gesicht, dem die Jugend Anmut verlieh, sprach sich, wie gesagt, eine große Zufriedenheit mit ihrer augenblicklichen Lage aus.

Unsere beiden Reisekameraden betrachteten sich schweigend die Szene und sahen die Gesellschaft als eine gute Unterhaltung für sich an. Sie hörten, wie die Alte die Vorzüge ihrer Jungen ihren Tischnachbarn klar machte; wie sie erzählte, daß die Kleine bei irgendeinem Schauspieldirektor engagiert sei, wie hoch ihre Gage sich belaufe; was sie, die Alte, für ausgezeichnet tugendhafte Lebensregeln habe, wie sie sich in diesem und jenem heikeln Fall auf das ehrbarste und würdigste geholfen habe, und so weiter.

Die Stimmung der Gesellschaft wurde immer animierter. Ein junger Reisender, ein robuster Bursche, verschlang die kleine Person fast mit den Augen und war nach langem Bestreben endlich so glücklich, ihr Händchen zu erhaschen, über das er auf dem weißen Tischtuch seine große, braune 169 Pfote wie über einen Vogel deckte, ohne daß sie Miene machte, es ihm zu entziehen.

An demselben Tisch saß auch ein stämmiger Mann in den fünfziger Jahren. Er hatte ein militärisches Aussehen; sein rotblonder, schon etwas grau untermischter Bart war vortrefflich gepflegt. Ein Paar auffallend lebhafte, kleine graue Augen funkelten unter buschigen, fahlen Brauen. Er trug eine sonderbare graue Joppe mit Uniformknöpfen, ein Phantasiestück, rotwollene Pulswärmer, knapp anliegende Beinkleider, hohe Stiefel, vortrefflich sitzend, mit gewaltig dicken Sohlen, und nicht zu vergessen, eine schwarze Krawatte mit langen Fransen, auch ein Phantasiestück. Alles, was der Mann an sich hatte, war charakteristisch, alles getragen, aber nicht verschlappt und verdehnt, sondern stramm in den Formen.

Er rauchte eine kurze, zierlich gebogene Pfeife und belustigte sich, wie es schien, die Gesellschaft und das junge Frauenzimmer stillschweigend zu betrachten. Aus seinen Augen blitzte hin und wieder so etwas wie gutmütiger, harmloser Spott.

Er schien nur Gast hier in dem behaglichen Salon zu sein, so etwas wie blinder Passagier. Obrist und Hans Schmidt hatten bemerkt, wie der Mann sich in Orsova ein Billett dritter Klasse für die Fahrt bis Konstantinopel gelöst hatte.

Er war ihnen auch verschiedene Male auf Deck aufgefallen, hatte aber keinerlei Notiz von ihnen genommen. Jetzt tat er ein paar kräftige Züge aus seiner Pfeife und sagte wie zu sich selbst: »Das ist heute eine Fahrt, die mag doch dieser und jener! . . .«

»Wieso?« fragte sein Nachbar, ohne die Augen von der 170 kleinen, frechen Person zu wenden. Er fragte so beiläufig und vollkommen gedankenlos.

»Ja Teufel auch!« war die Antwort. »Wir kommen um gute vier Stunden später nach Rustschuck; der Sturm preßt auf das Schiff, daß die Maschine kaum dagegen ankann. Und um die Zeit ist die Reise böse auf der Donau, wenn man es hier in der ersten Klasse auch nicht merkt. Ich hab' sie schon ein paar Male gemacht, aber heuer sieht's schlimm aus.«

Seine Bemerkung wurde nicht weiter beachtet. Der Champagner und der Wein waren der munteren Gesellschaft zu Kopfe gestiegen. Sie waren außerordentlich lebhaft und ungeniert geworden. Die Alte hatte allem Guten gehörig zugesprochen und zeigte sich sehr aufgelegt.

Man lärmte und lachte. Der junge Mann, der die Hand der kleinen Person erwischte, hatte den Arm jetzt um sie geschlungen, und sie tranken beide abwechselnd aus ein und demselben Glase, was ihnen ein ganz besonderes Vergnügen zu bereiten schien.

Der kräftige, blonde Mann, der den beiden Freunden aufgefallen war, blies behaglich Wölkchen aus seiner kurzen Pfeife und hatte seine Stimmung, während er an dem wohlbesetzten Tische saß, keinen Augenblick verändert. Ein Gläschen Mastika hatte er auf einen Zug geleert und es nicht wieder füllen lassen.

»Da sind wir noch nicht einmal nach Siminitza gekommen«, sagte er, erhob sich stramm und schritt mit klirrenden Sporen auf eins der Kajütenfenster zu, schaute hinaus und brummte: »Das ist eine schauderhafte Nacht da draußen, die auf Deck werden sie zu fühlen haben! Teufel auch! Man sieht die Lichter von Siminitza noch nicht!« Jetzt schritt 171 er wieder zurück, stramm und klirrend, und ließ sich auf seinem Platz nieder.

Da mit einemmal schien es, als bewege das Schiff sich rückwärts. Ein sonderbarer Schwindel erfaßte alle – das war ein Augenblick, dann gab es einen Stoß, der das Schiff durch und durch erzittern machte, einen Stoß, der jedem durch Mark und Bein ging. Alles taumelte, die Hängelampen schwankten, die Champagnerflaschen waren umgestürzt und ihr Inhalt sprühte perlend über das weiße Tischtuch. Kaum war der Stoß erfolgt und hatte die munteren Blicke zu starren verwandelt, da erscholl ein Brüllen, Heulen, das den Atem in der Kehle stocken ließ.

Vom Deck her schien es zu dringen. Stärker aber noch brüllte und schrie es aus der Dunkelheit heraus, scheinbar neben dem Schiffe, aus dem dunkeln Wasser heraus.

Niemand fragte, man schaute sich sprachlos und bleich an. Der blonde, militärisch aussehende Fahrgast sagte ruhig, seine Pfeife ausklopfend: »Da sind wir angerannt – Teufel auch!«

Das Brüllen, Schreien und Lärmen dauerte fort und wuchs von Augenblick zu Augenblick.

Die meisten der Passagiere drängten nach dem Ausgang der Kajüte.

Mit einemmal schlug es auf die Decke der Kajüte auf, mit einer solchen Gewalt, daß das ganze Schiff bebte. Es krachte. Späne splitterten ab. Die Decke war geborsten. Eine schwere Last mochte darüber gestürzt sein.

In diesem Augenblick riß der Kapitän die Tür auf und rief: »Wir hatten einen Zusammenstoß. – Es wird getan, was getan werden kann! – Verhalten Sie sich ruhig! – Alle auf die linke Seite der Kajüte! – Der Mast eines Russen ist uns über Deck gestürzt! – Wir 172 bitten, den Raum nicht zu verlassen! – Herr Rittmeister«, wandte er sich an den, der unseren Freunden aufgefallen war, »haben Sie die Güte, auf Ordnung zu sehen!« Damit schloß der Kapitän die Tür.

Die Passagiere drängten nach der linken Seite. Die beiden Frauenzimmer schrien und jammerten und preßten sich in die äußerste Ecke. Die Personen, die sich schon zur Ruhe begeben hatten, kamen notdürftig bekleidet aus den Schlafkabinen hervor; Frauen und Kinder ganz schreckensverwirrt.

Schiffsleute mit Laternen und Äxten stürzten die Treppe hinunter in die Kabinen, rissen die Latten auf, um zu sehen, wo das Schiff ein Leck habe. Sie stürzten zurück. Die Verwirrung steigerte sich. Man sprach davon, in wie kurzer Zeit ein Schiff sinken könne; dieser und jener der Passagiere gab einen Zeitraum an. Der Sturm heulte; man hörte ihn über das Wasser zischen. Die brüllenden, jammernden Töne, die schauerlich aus der undurchdringlichen Dunkelheit drangen, schwiegen nicht, wurden immer unerträglicher, schreckenerregender.

Der Kapitän hatte die Tür besetzen lassen, damit die Passagiere nicht auf Deck kämen und die Verwirrung dort noch steigerten.

Auf die beiden Maler hatte die Situation auch stark gewirkt. Hans Schmidts gesunde Gesichtsfarbe war unbedingt ein paar Schattierungen heller geworden.

»Es ist doch ein verfluchter, sonderbarer Augenblick, wenn man denkt, daß es an den Kragen gehen soll«, sagte Hans Ludwig Schmidt zu Obrist.

»Es ist ein Augenblick wie alle anderen auch«, erwiderte dieser. »Man lebt bis zuletzt.«

173 »Hör auf zu philosophieren, das ist unausstehlich«, sagte Hans Schmidt ärgerlich.

»Wart es doch ab, so weit sind wir noch nicht.«

Der Rittmeister hatte seine Pelzkappe, die er während der ganzen Fahrt auf Deck und in der Kajüte getragen hatte, mit einem roten Fes vertauscht, das er aus seinem Reisetäschchen genommen. Seine Pfeife brannte wieder, und er hatte sich vor der Tür aufgepflanzt und wehrte einen jeden ab, der dem Befehl des Kapitäns entgegen handeln wollte.

»Lassen Sie das, haben Sie Geduld. Braucht man uns, wird man uns schon holen.« Er öffnete die Tür ein wenig und rief einen Vorübereilenden an, fragte und erhielt Antwort.

Darauf schloß er wieder sorgfältig und sagte zu den Anwesenden:

»Wir sind in einer Karambolage. Ein Russe lag quer am Eingange vom Siminitzaer Hafen und hatte keine Laternen angesteckt, da sind wir aufgelaufen. Dem Kapitän haben wir's zu verdanken, daß wir nicht zugrunde gegangen sind, der hat noch rechtzeitig Order zum Gegendampf gegeben, sind aber zwischen zwei Türken hineingefahren, und nun bringe der Teufel die Sache auseinander. Das hat sich eklig verfilzt. Dem Türken ist der Mast gebrochen und der liegt nun quer über Deck und alles ist ineinander und durcheinander geraten.«

»Wir sind noch in Gefahr!« rief das ältliche Frauenzimmer mit bleichen Lippen, das vor kurzem noch in allem Wohlsein schwamm.

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte der Rittmeister kurz und ruhig.

»Ja, um Gottes willen«, rief die Alte in erneutem 174 Angstanfall, »wenn das Schiff ein Leck hat, weshalb setzt man uns denn nicht über?«

»Versuchen Sie's«, erwiderte der Rittmeister – »in diesem Wetter, bei Hochflut gegen den Strom – und in infernalischer Dunkelheit zweihundert Menschen, die wir an Bord sind!«

Jetzt gerieten verschiedene der Herren mit ihm ins Gespräch.

Man ermahnte ihn ernstlich, die Tür freizugeben. Man wollte auf Deck mit Hand anlegen.

»Bst« – sagte der Rittmeister und schmauchte ein paar Züge aus seiner Pfeife.

»Passagiere sind in solchem Falle nie am Platze. Sie nützen sowenig wie eine Hammelherde nützen würde, verzeihen Sie! – Es ist wahr«, setzte er mit einem biederen, ritterlichen Anflug in Wort und Gebärde, der seiner Erscheinung etwas ungemein Einnehmendes gab, hinzu. »Nur der einzelne kann etwas schaffen. Lassen Sie unseren Kapitän handeln, der ist ein tüchtiger Mensch. Was zu tun ist, tut er. – Nehmen Sie Platz, seien Sie ruhig.« So verging noch eine gute Weile in wunderlicher Spannung, da trat der Kapitän selbst ein und sagte:

»Unser Schiff ist nicht gefährlich mitgenommen. Es hat an einer einzigen Bewegung gehangen, daß wir noch über Wasser sind. Wir bleiben die Nacht über liegen, um uns frei zu machen. Sie können ruhig schlafen.«

Der Kapitän grüßte und ging wieder hinaus, ehe der Sturm von erregten Fragen über ihn losbrach.

Als die braven Passagiere den Griff des Todes leichter werden fühlten, sanken manche ermattet in die Polster zurück, ließen sich vom Kellner niederschlagende oder aufmunternde Getränke bringen, je nachdem, Sodawasser oder einen 175 Kognak, und gewöhnten sich so nach und nach wieder an eine aller Wahrscheinlichkeit nach längere Lebensdauer. Andere wieder liefen aufgeregt und unternehmend hin und her, schauten durch die Fenster in die pechfinstere Nacht und disputierten. Andere wieder machten sich jetzt hinauf aufs Verdeck, um die Sache in Augenschein zu nehmen, und kamen schnaufend und ächzend, vom Sturm gerüttelt, vom Regen durchnäßt, wieder herein.

Derjenige, auf den das verflossene Ereignis die größte Wirkung gehabt zu haben schien, war Heinrich Obrist. Hans Ludwig Schmidt beobachtete ihn mit Verwunderung. So hatte er ihn seit Jahren nicht gesehen; ja er hatte die eigentliche Natur seines Freundes, die heute zum Durchbruch kam, ganz vergessen gehabt. Obrist schien alles, was ihm die Lebenskräfte bedrückt hatte, Vorsicht, ängstliche Überwachung seiner Gesundheit, dumpfe Verzweiflung und Ungeduld über Unvermögen zu leben und zu schaffen, abgestreift zu haben. Der Dämon schien mit einemmal von ihm gewichen zu sein.

Im leichten Mantel lief er hinaus aufs Deck, ließ sich da oben vom Sturm durchblasen und rütteln und kam lebendig und heiter wieder zurück.

»Das ist ein Wetter draußen, ein göttliches Wetter«, sagte er zu Hans Ludwig Schmidt mit leuchtenden Augen, als er wieder eintrat.

Diesen fand er im Gespräch mit dem strammen, blonden Reisegefährten, den der Kapitän »Rittmeister« tituliert hatte.

»Hier stelle ich Ihnen meinen Freund, Herrn Obrist, vor«, sagte Hans Ludwig Schmidt zu diesem gewendet, »und hier: Rittmeister Neunhütel.«

Man schüttelte sich die Hände.

176 »Das ist er also, der Herr Obrist«, fuhr Hans Schmidt fort, »von de, ich Ihnen erzählte.«

»Nun gottlob«, erwiderte der Rittmeister, »der sieht ja wohl aus. Sie haben's abgeschüttelt, das ist recht. Ich sag' gar nichts, aber krank sein ist eine schlimme Geschichte!«

»Setzen wir uns. Wir sind doch bei Laune. Da müssen wir es uns etwas kosten lassen. Du hast doch nichts dagegen?« fragte Obrist zu Hans Schmidt gewendet.

»Ich?« erwiderte jener bedeutungsvoll.

»Also Champagner!« rief Obrist dem Kellner zu.

Obrist rückte dem Rittmeister einen Stuhl zurecht, und sie nahmen miteinander Platz.

»So ungefährlich war die Sache nicht, Teufel auch! Mit der Donau ist nicht zu spaßen, und gar bei Hochwasser, die fließt über so manches alte Schiffsgerümpel hin – ja, Sie kennen sie nicht.«

»Gottlob«, rief Obrist und hob sein Glas, »daß sie nicht über uns, sondern wir über sie hinschwimmen! Einstweilen wollen wir leben!« Das sagte er so kräftig und freudig, daß Hans Schmidt ihm treuherzig die feste Hand hinstreckte und sie eindringlich schüttelte. Der Rittmeister schaute wohlgefällig auf beide Freunde hin.

»Wenn es einmal«, sagte er zu Obrist gewendet, »den Menschen befällt, wenn es Sie wieder ankommt, muß man's gleich anfangs gehörig am Zipfel fassen; da hab' ich ein untrügliches Mittel, das rüttelt den Tod aus dem Leibe.« Er stützte den Arm auf den Tisch und schaute eine Weile schweigend in die weite Ferne, wahrscheinlich um die Ingredienzien seines Mittels zusammenzuholen. »Wenn Ihnen wieder etwas ankommt, da nehmen Sie ein tüchtiges Glas, füllen es halb mit Paprika, halb mit Kognak, dann gehörig Kayennepfeffer, Zimtöl, Angelikaextrakt, 177 Salmiakgeist, ein paar Tropfen Salzsäure – es kann auch Schwefelsäure sein –; das Ganze mit einem Zug hinunter, dann im Bett gut eingewickelt, und Sie sollen mal sehen! Einen gehörigen Laib Brot daneben auf einem Stuhl, daß es leicht zu erreichen ist: denn nachts wachen Sie auf mit einem Hunger, daß Sie die Welt verschlingen könnten, mit einem Hunger wie ein Wolf. Aber Sie sind gesund, gesund wie ein Fisch, und alle Teufel sind ausgefahren.«

»Ich glaub's schon«, sagte Obrist, »in dem Mittel steckt Leben!« Und er lachte herzlich und stieß mit dem Rittmeister an, der gar nicht aufhören wollte, sein Mittel anzupreisen, weil er anzunehmen schien, daß es keinen rechten Glauben finde.

»Teufel auch«, sagte er, »das ist so gut wie eine Wiedergeburt – das ist ein Mittel –, man ist ein neuer Mensch!«

In demselben Augenblick, während er die Vorzüge des herrlichen Medikamentes bekräftigte, war seine Aufmerksamkeit auf die muntere Tischgesellschaft, die sich wieder zusammengefunden hatte, gerichtet, und im besonderen auf das kleine Persönchen, das wieder neben dem großen, plumpen Jüngling saß und ihm allerhand Freiheiten erlaubte. Er hielt wieder den Arm um sie geschlungen. Die Furcht und Todesangst hatte ihn nur für ein paar Augenblicke aus seinem Taumel gerissen, jetzt schwamm er mit geschlossenen Augen dahin auf einem Strome von Verliebtheit und Sinnlichkeit. Sie tranken auch wieder aus einem Glase. Der Kleinen mochte die Erregung und der Champagner zu Kopfe gestiegen sein, und sie schwamm auch zur Belustigung der munteren Gesellschaft ebenso auf demselben Strome wie ihr Begleiter, und zwar eng an diesen angeschmiegt.

178 Die Alte, ihre Gefährtin, schien nicht auf sie zu achten und plauderte und trank und schwatzte.

Todesangst vergißt sich gar schnell – bei Menschen und Vieh. Die Herde weidet nach wenigen Augenblicken sorglos weiter, wenn der Wolf, der in sie eingebrochen war, sich wieder davongemacht hat.

Der Rittmeister schüttelte den Kopf und seine Blicke blieben auf dem Mädchen und ihrem Liebhaber haften. Mit einemmal stand er auf, trat zu der Alten und sagte: »Madame, bringen Sie doch das Mädchen zu Bett!«

Die Alte schaute verblüfft auf und ebenso die ganze Tischgesellschaft. Nur das Pärchen mochte in aller Verliebtheit die Aufforderung nicht bemerkt haben.

»Hören Sie nicht?« fragte der Rittmeister und seine kleinen, grauen Augen funkelten. »Sie sollen das Mädchen zu Bett bringen! Teufel auch!«

»Mein Herr«, fragte ein alter Graukopf, der nicht ganz fest mehr auf den Beinen stand, »mein Herr, was gehen Sie diese Damen an?«

»Gottlob, nichts«, erwiderte der Rittmeister. »Siehst du, Kröte«, sagte er weiter und stellte sich neben das Mädchen, »für dich ist's ewig schade, daß wir jetzt nicht unter Wasser stecken. Glaub' mir, ich hätte dich wie eine junge Katze tauchen lassen, bis dir der Atem vergangen wäre, und du hättest von Glück sagen können, daß dein elendes Leben sich früh abgehaspelt hat. Du hast mir eine schöne Zukunft vor dir. Wer hat dir dazu verholfen? Die Alte dort?«

Das Mädchen schaute mit einem sonderbaren Lächeln zu ihm auf; aber rotübergossen.

»Armer Narr«, sagte der Rittmeister, »armer Narr! Geh in dein Bett und schlaf!«

Die Alte spitzte die Ohren, lachte, kicherte, und die ganze 179 Gesellschaft fand es für gut, die Sache von der heitern Seite aufzufassen.

Der Rittmeister schaute mit einem wütenden Blick auf die Tischgäste.

»Lacht nur – lacht nur, ihr verfluchtes Volk«, murmelte er, ging zurück zu seinen Kameraden und setzte sich gewichtig nieder. »'s ist doch eine Schande bei euch Christen!«

Da blickten beide erstaunt auf ihn.

»Eh«, sagte er, »solche Frauenzimmer sind mir verhaßt, in den Tod verhaßt! Hören Sie mir auf, das ist eine Schmach, wie es ist, und damit gut. Ich bin nicht der Mann, darüber zu moralisieren, aber, Teufel auch! das ist nicht unmoralisch, meinetwegen; aber das ist widerwärtig. Ich steck' in der Türkei seit Jahren, da sieht man dergleichen nicht. Das gehört dem hochgelobten Europa. Gott möge es dafür segnen! Wo führt Sie die Reise hin?« fragte er die Freunde. »Nach Konstantinopel? Ja? Ist recht – ist recht!«

»Sagen Sie mir, weshalb vertauschten Sie vorhin mitten im Wirrwarr Ihre Mütze mit dem Fes da, wenn Sie mir die Frage erlauben?« begann Hans Ludwig Schmidt und bog sich über den Tisch zu dem Rittmeister hin.

»Warum nicht?« entgegnete dieser. »Es sitzt mir besser auf dem Kopf. Ich hätte es über die Ohren gezogen, wenn es zum letzten gekommen wäre; das würde mir die Donau selbst nicht abgespült haben. Und außerdem bin ich Muselmann und wäre halt als guter Muselmann im Fes abgefahren.«

»Sie, Muselmann, Herr Rittmeister?« fragte Obrist lachend. »Ich hätte gedacht, so etwas wie Bayer oder Österreicher!«

180 »Das nebenbei auch – ein guter Bayer«, antwortete er lächelnd.

»Nun, und Muselmann geworden?«

»Ja«, erwiderte er kurz und fest.

»Also der erste Türke!« rief Hans Schmidt, »Gott grüße Sie!« Er streckte ihm die Hand hin, und der Rittmeister schüttelte sie ihm kräftig und lachte aus voller Brust gutmütig und zufrieden.

»Eh, Sie haben wohl auch gemeint, ein Muselmann säh' anders aus?« fragte er und blickte listig mit den kleinen Augen.

»Nun«, erwiderte Obrist, »daß der erste ein bayerischer Rittmeister sein würde, hätte ich freilich nicht gedacht.«

»Macht nichts«, sagte der Rittmeister, »er ist aber doch ein guter – ein echter; auch ein alter und ist's sein Lebtag gewesen.«

»So, so«, sagte Hans Schmidt, »das ist ja sonderbar.«

»Eh, sonderbar ist's nicht«, erwiderte der Rittmeister, »es hat sich ganz natürlich gemacht.«

Sie sprachen weiter.

Da zog Hans Schmidt sein Taschenbuch aus dem Rock und entnahm ihm einen kuvertierten Brief: »Den soll ich in Konstantinopel an eine Deutsche abgeben«, sagte er. »Gott weiß, wie ich sie finde. Ihr Deutschen dort werdet ja ungefähr voneinander wissen.«

»Laß schauen.« Der Rittmeister steckte sein Augenglas auf, zog die blonden Augenbrauen so in die Höhe, daß sie unter das Fes rutschten und dort lange Zeit verborgen blieben; dann griff er nach dem Brief, hielt ihn gehörig von sich ab, um besser lesen zu können, und vertiefte sich in die Schriftzüge.

»Das ist ja«, rief er und sein ganzes Gesicht fing an 181 zu leben, »das ist ja an die Brunquell – an die Lore Brunquell! Ja, was dann! In Yedykulé. Freilich wohnt die in Yedykulé! Nun, und zu der wollen Sie? Die wird eine Hexenfreude haben!«

Beide Freunde lachten über das ganze Gesicht und beobachteten den Rittmeister, der den Brief immer noch weit von sich abhielt und sich von seinem Erstaunen gar nicht erholen konnte. »Das wird das erstemal sein, daß die so extra einen Besuch aus Deutschland bekommt! Na, und von wem ist denn der Brief, wenn man fragen darf?«

»Von Doktor Bärmann, ihrem Vetter«, sagte Hans Ludwig Schmidt.

»Von dem?« rief der Rittmeister. »Nun, hat er denn die Erbschaft vollends geordnet? Das steht wohl darin? Hat sie die Erbschaft, so gibt's bei der Brunquell ein Fest; dann wird sie auch allernächstens die Ferdös verheiraten, das Prachtmädel. Sie wissen, Sie sind mit den Verhältnissen bekannt?«

»Durchaus nicht, gar nicht«, erwiderte Obrist. »Ich wußte nichts, als daß mein Freund einen Brief an eine Deutsche abgeben sollte. Übrigens ein hübscher Name; wie hieß sie? Brunquell?«

»Ja, natürlich Brunquell«, wiederholte der Rittmeister, »Lore Brunquell – und die Tochter Ferdös. So haben sie sie genannt. Ferdös heißt persisch oder arabisch Paradies und sie ist Paradies. Sie wissen schon, Firdusi, der Dichter, der paradiesische. Sie werden sehen oder auch nicht sehen, wie es der Alten in den Kopf kommt, die hält alle Hände über das Mädel. Ja, Sie glauben nicht!«

»Ich habe von der Lore Brunquell vor einigen Wochen einen prächtigen Brief an ihren Vetter gelesen«, sagte Hans Ludwig Schmidt.

182 »Glaub' ich, wenn sie einmal einen Brief schreibt, wird's schon ein guter Brief sein. Die Frau ist des Teufels. Ein altes, häßliches Weib; das heißt, häßlich gerade nicht, aber alt; das heißt, alt gerade nicht, aber für ein Weib nicht mehr jung. Eine Frau, die mir aber lieber ist als zehn junge; eine forsche Person, ich sage Ihnen: durch und durch brav. Sie hat in Yedykulé ein Haus und einen großen Garten.«

»Ja, einen schönen Garten«, unterbrach ihn Hans Ludwig Schmidt. »Ich weiß es aus ihrem Brief, und ihr Brief trägt eigentlich die Schuld, daß wir hierhergekommen sind. Sie hat mir Lust gemacht.«

»Was Sie sagen! So schön hat sie's geschrieben? Nun, es geht ihr auch gut. Das Frauenzimmer hat Glück gehabt. Alles gedeiht bei ihr, man gedeiht selbst bei ihr. Wenn es Ihnen recht ist, zeige ich Ihnen den Weg nach Yedykulé zu ihrem Garten. – Sie würden sie nicht leicht auffinden. Ja, wie sollten Sie sie eigentlich finden? Das ist ja, wenn Sie nicht türkisch können, rein unmöglich. Bei uns ist alles, gottlob, nicht so geordnet wie bei euch da draußen, wo man alle Huber und Schmidt und Maier auf jedem Polizeiamt an den Fingern herzählen kann, und wo der ärmste Lausbub überall bekannt und registriert ist, wie ein Erbprinz, und wo man sich auf Schritt und Tritt vorkommt wie ein numerierter Sträfling. Wie lange wird's dauern, und ihr werdet Täfelchen auf dem Rücken tragen müssen mit dem Verzeichnis über euer Alter und euern Stand, euern Geburtsort, Impf- und Taufzeugnis, euern Katechismus, Straßen- und Wohnungsnummer«, sagte der Rittmeister und fuhr erregt, gutlaunig fort: »Paßt's auf, das ist nicht mehr fern, und geht ihr dann auf der Straße, dann springt's euch ein Polizeispitzel, der euch allweil 183 nachschleicht, bald von hinten nach vorn, bald von vorn nach hinten, und fragt's euch: ›Sind Sie auch der Franz Christian Emil Aloys Nazi Huber, wie's allweil da hinten auf'm Täfelche steht? Sind's auch so alt, wie's dasteht? Haben sich wohl lang kein Täfelche mache lassen? He? Das ist ordnungswidrig! Steht da, sind Protestant, und schauen's doch katholisch aus. Steht da, korpulent; hab' aber, dächt eh, schon Korpulentere g'sehen. Steht's da, tragen ein Brillen; tragen aber keins! Steht's da, wären geimpft. Wie soll ich da nachkommen! Bitt' schön, da muß ich schon bitten, daß Sie mit mir gehen und sich ausweisen.‹ Nun, wird's nicht so?« sagte der Rittmeister, treuherzig lachend.

»Da leben wir, gottlob, im Lande der Freiheit«, fuhr er fort, »mich müßt der Deixel plagen, wenn ich mich bei euch wieder numerieren und registrieren ließ. Masch Allach! Gott soll mich bewahren! Nun, Sie werden's ja sehen. Jetzt empfehl' ich mich, ich will mal beim Kapitän nachschauen. Auf Wiedersehen, Gott grüß' Sie.«

»Noch eins«, fragte Hans Schmidt. »Wie ist es Ihnen denn eingefallen, Mohammedaner zu werden? Verzeihen Sie die Frage!«

»Ist nichts zu verzeihen. Ich hab' schon gesagt, das ist lang her, daß ich's wurde. 's ist eine weitläufige Geschichte, von Kindesbeinen an hat's mir nahgelegen. Der Vater ist mit Napoleon in Ägypten gewesen, von da her hat er sich einen Schwarzen mitgebracht, einen Araber – einen Kerl wie Gold. Von dem her mag sich's schreiben. Der Vater hat mich nie einen Christen werden lassen – und später hab' ich mich alleweil im Orient herumgetrieben. Ich sagt's wohl schon, ich war auch in Algier, da wurd' ich's erst recht. Es hat mir halt Spaß gemacht. Sie waren all' sauber und reinlich, nicht besoffen, anständig, ruhig – 184 nit gerad' roh. Ich hab' soviel Mildherzigkeit nirgends gefunden. Da dacht' ich: Donnerwetter, das ist keine üble Sache. 's ist eine Religion ohne allen Firlefanz, für ruhige Leute, und hat einen großen, tüchtigen Zug. Wenn man sich wäscht, denkt man: Halt still, zur selben Stunde wäscht sich das ganze Volk. Das ist nicht wie bei uns, wo ein Stutzer sich badet, wäscht und parfümiert und denkt, Gott weiß, was er tut, und Tausende laufen dafür im ewigen Schmutz. – Hab' ich Lust, des Guten zuviel zu tun und ordentlich loszulegen, denke ich: halt still, ein ganzes Volk enthält sich wohlgemut des Saufens, und du Lump willst da Schnackerln machen und willst das ruhige, saubere Ganze mit deiner Völlerei stören?! – Und mit den Weibern, ja mit den Weibern, das ist eine eigene Sache – ps–t«, machte der Rittmeister, »das lob ich mir, alle Achtung! So etwas wie hier«, der Rittmeister zeigte ohne hinzublicken nach dem Tisch, an dem die alte und die junge Person unter den angetrunkenen Gästen saßen, »so etwas gibt's da nicht. Nur ehrbare Frauen und ehrbare Mädchen. – Was wollen Sie? Keine unglücklichen Geschöpfe – keine alten Jungfrauen und dergleichen. Ich sage, es ist ein gottgesegnetes Volk – und alle Achtung! Also auf Wiedersehen! Gott grüß' Sie!«

Damit rückte er seinen Stuhl energisch unter den Tisch und ging sporenklirrend durch die Kajütentür.

Beide Freunde blieben noch beieinander sitzen.

»Mein Herzensjunge«, sagte Obrist, »heute ist der erste Tag, an dem ich wieder fühle, was es heißt, zu leben und zu hoffen, und wem danke ich das? – Übrigens, was ist das für ein prächtiger Kerl, der Rittmeister! Es ist gut, er mag uns zu der Brunquell begleiten; es ist mir recht, wenn wir ihn weiter sprechen. Dir gefällt er auch?«

185 »Freilich, hat der Kerl Paprika!« sagte Hans Ludwig Schmidt und stieß mit seinem Freunde an. »Die Kunst soll leben!« sagte er ruhig. »Von heute an gehörst du ihr wieder, ihr ganz allein.«

»Ich werde an Anna schreiben«, sagte Obrist.

Hans Schmidt riß ein Blatt aus seinem Taschenbuch. »Ich auch«, sagte er lakonisch.

Und Hans Ludwig Schmidt schrieb:

»Der, der vor kurzem noch als ein vom Leben Ausgestoßener den Tod suchte, will jetzt leben. Ein paar volle Atemzüge, die er in der Freiheit tat, ließen ihn gesunden.

Wer gönnt es ihm nicht? Seien Sie über alles hinaus gut!«

»Du«, sagte Hans Schmidt, »du schreibst an dein süßes Kind, an Dickchen. Das arme Ding hat mit dir gelitten, mehr als du ahnst. – Wenn ich dächte, du könntest je undankbar gegen dieses Engelskind sein, du könntest ihre Liebe je vergessen, du könntest sie je wegen eines Unrechts strafen! Glaube mir, sie ist ganz Liebe, ihr Herz ist ganz Liebe. Ihre Art zu lieben wird über jedem Glück und Unglück, über jedem Recht und Unrecht stehen. Mit derselben Innigkeit und Unschuld wird sie Strafbares, von der Welt Verachtetes, wie von der Welt Sanktioniertes tun. Wenn du mir die je vergißt oder verläßt oder nicht wie deinen höchsten Schatz behandelst, weiß Gott, es täte mir leid, dich aus deinem Elend herausgerissen zu haben.«

»Nun sieh«, sagte Obrist lächelnd, »wie der mein kleines Vögelchen kennt! Da sei ruhig, wir bleiben gute Freunde. Gib mir ein Blatt, ich schreibe ihr.«

»Mein Dickchen«, schrieb er, »so ohne Abschied ist Dein Vater von Euch gegangen! Halt den Kopf hoch, mein Dickchen, sehne Dich nicht, es geht ihm besser, er ist 186 wohler – ganz wohl. Er denkt zu arbeiten, zu leben. Sitze nicht viel im Atelier allein, mein Kind, sonst könnte Deine liebe Seele die Sehnsucht überkommen. Hilf Mama, sei so gut gegen sie, wie Du gegen mich warst. Schreib mir, wenn sie lacht und den Kindern Geschichten erzählt. Und schau Dir an, was sie arbeitet, und berichte mir davon. Sie wird nicht Zeit haben, es ausführlich zu tun. Dein Vater.«

Als er den Brief geendet hatte, trat der Rittmeister wieder ein, tropfend und wahrhaft Sturm und Regen vor sich her pustend.

»Nun, morgen früh elf Uhr legen wir in Rustschuck an, dann acht Stunden per Bahn – dann die Überfahrt – und wir sind angekommen. – Jetzt aber ist es Zeit, schlafen zu gehen.«

 


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