Helene Böhlau
In frischem Wasser
Helene Böhlau

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Vierzehntes Kapitel.

Sie gehen über Land, begegnen des Wunderbaren, Erfreulichen genug. – Ferdös. – Briefe.

Den anderen Tag wurde mit Jacots Hilfe nach einer Wohnung gesucht, und diese fand sich in allernächster Nähe; ein leeres Haus mit großen Zimmern, unmittelbar an der See gelegen, auf der zu Fels gewordenen alten Stadtmauer, an der die Meereswellen anspülten. Die hohen Fenster des Hauses sahen in den Garten der Brunquell. Es war sogar ein Eingang vom Garten aus in das Haus.

Die Maler wählten ein Zimmer nach Norden, zu ebener Erde, mit dem Blick auf Feigen und Granatbüschen und dunkeln Lorbeer. Nach der See zu richtete sich ein jeder seine Ecke zum Schlafen ein. Die Brunquell sorgte für Decken, Matratzen, für ein paar Stühle und einen Tisch.

So waren sie Herren in einem großen, leeren Hause! Eine hölzerne Terrasse zog sich breit hinaus, über dem Wasser hin. Der mystische Olymp, die blauen asiatischen Berge, die Prinzeninseln lagen vor ihnen, und die Wellen umrauschten sie wahrhaft. Seeadler zogen weich und ruhig vorüber; Möwen schimmerten wie weißduftige Flaumfedern gegen den tiefblauen Himmel, und Delphine kugelten sich wenige Schritte von der Terrasse im Meere. Auf der alten Mauer wuchsen Granatbüsche; ihr noch rötliches junges Laub leuchtete in der glänzenden Sonne.

Beide Freunde wurden nicht müde, von einem Fenster zum anderen zu gehen, als wären sie mit diesem Hause vom Himmel herabgefallen und hielten zum erstenmal auf Erden Umschau.

Am Nachmittag fuhren sie mit dem Rittmeister in die Stadt, um ihre Koffer zu holen, und noch am selben Abend hatte Hans Ludwig Schmidt für sich und seinen Freund 235 das Atelier hergerichtet. Bei Sonnenuntergang standen sie miteinander auf der Terrasse. Ein wahrhaftes Farbengewoge umgab sie. Die Wellen spritzten unter ihren Füßen an die Mauern, und alles atmete Frische und Leben. Zum Abendessen fanden sich alle bei Lore Brunquell ein, und man plauderte wieder lebhaft und angeregt. Lore Brunquell gab ihnen guten Rat, wie sie den Tag hier am besten einteilen könnten, wie sie es mit den Mahlzeiten halten sollten. Sie schlug ihnen vor, daß sie für Essen und Trinken sorgen und ihnen dafür Rechnung führen wollte, und daß sie die Mahlzeiten in ihr Haus geschickt bekämen, damit sie ungestört wären. »Freilich«, sagte sie, »freut es mich, wenn Sie des Abends hin und wieder mit uns fürlieb nehmen. – In allem aber ganz so, wie es Ihnen paßt und recht ist.«

Alles äußere Leben gestaltete sich für die beiden Freunde heimisch, mühelos und angenehm, und sie waren freie und doch wohlversorgte Menschen.

Während des zweiten Abends, den sie bei Lore Brunquell zubrachten, kam Ferdös nicht zum Vorschein. Sie fragten nach ihr, und Iskender sagte ihnen, daß sie tagsüber zerstreut und unaufmerksam während des Unterrichts gewesen sei und daß man sie mit einer Frau spazieren geschickt habe, da sei sie müde geworden und schlafen gegangen.

»Wie alt ist Ferdös?« fragte Obrist.

»Sie mag achtzehn Jahre alt sein«, antwortete Iskender – »wird aber bis zu ihrer Verheiratung ihren vollen Unterricht beibehalten; die Mutter will es so. Sie soll nicht unbeschäftigt sein. Ferdös ist begabt, sie ist außerordentlich begabt«, setzte er auf seine trockene Weise hinzu.

236 »Wir haben ihr auch ein Stück Garten gegeben, da arbeitet sie. Sie führt ein Leben wie eine Blume«, sagte Iskender, ohne sich weiter zu erklären, und lenkte seine Aufmerksamkeit von den Freunden ab.

Obrist und Hans Schmidt streiften in der Gegend umher. Ihr erster Gang, den sie hier machten, führte sie vor das Tor von Yedykulé. Sie traten hinaus ins Freie: eine grüne, weite Landschaft lag vor ihnen. Der Weg führte sie westlich an der gewaltigen Stadtmauer hin, die zersprengt und zerfallen, von Feigen und uralten Bäumen umwuchert, einen großen Eindruck machte. An der anderen Seite des Weges dehnten sich dunkle Zypressenwälder aus, wie aus Marmor gehauen. Eine Größe und Einfachheit zeigte sich in der Landschaft, auf beide Freunde gleichmäßig ergreifend wirkend. Die Ausblicke in die gleichmäßig grüne Landschaft, darüber der dunkelblaue Himmel, all dies war einfach, ruhig und groß.

Obrist und Hans Ludwig Schmidt bogen den ersten Weg ab, der durch einen jener düsteren Zypressenwälder führte, die sich links des Weges ins Land hinein ausbreiteten.

Es war eine breite Straße, über und über mit Stroh bestreut. Wagenreihen, die mit schwarzen Büffeln bespannt waren, hielten hier. Diese mächtigen, grotesken Tiere lagen auf dem Stroh in träger Ruhe, über ihnen ragten die dunklen Wipfel der Zypressen.

Soweit man sehen konnte unter den Bäumen, Leichenstein an Leichenstein aus schneeweißem Marmor. Jeder Stein schlank aufgerichtet.

Weiber in weißen Schleiern wandelten unter den Zypressen, würdige Türken mit ihren kleinen Söhnen saßen auf den Sockeln der Grabsteine, vor sich ein Tuch ausgebreitet, 237 auf dem Obst, Brot und Käse lag, und sie verzehrten so miteinander auf dem Grabe ihrer Verstorbenen in ruhigem Behagen ihr Mahl.

Unter den Bäumen eine grüne, weiche Dämmerung, die von den Sonnenstrahlen durchblitzt wurde. Es war Freitag, der türkische Sonntag, und viele waren aus den Toren gekommen, um sich hier zu erholen.

Die Freunde verfolgten den Weg an der Mauer weiter.

Alle Augenblicke blieben sie stehen, um einen der Riesenbäume zu betrachten, die in von ihnen nie gesehener Größe und Breite emporstrebten.

Beide kannten Italien, waren aber einer Meinung, daß die Kraft der Erscheinungen die italienische Natur bei weitem überstieg.

Obrist hatten es die Zypressen vollkommen angetan.

»Sie haben etwas beinah Erschreckendes, Drohendes, dabei die wunderbarste Ruhe und Unbeweglichkeit, neben der größten Feinheit jeder Form. Wie sie sich aufbauen, schlank und massig zugleich, wie ihr ehernes Laub die aufstrebenden Zweige undurchdringlich verhüllt und hin und wieder einen Einblick läßt in das Gewirr der zierlich starken Äste, das alles ist einzig – vollendet!«

Das empfand Obrist, als er wie versunken auf dem weichen Grasboden ruhend sich ganz den schlanken, ernsten Bäumen hingab, die streng und fest in die weiche Luft hineinragen und trotz dieser Festigkeit und Strenge dennoch beinahe zart ihren Wipfel senken.

Es gibt keinen weihevolleren Ruheplatz für geliebte Tote als solch ein Zypressenhain. Wie im Hochwald ruhen sie unter Wipfelrauschen in ernster Dämmerung. Über manchem der weißen Steine hängt an einem leichtgewölbten 238 Dach, an dem sich Rosen emporranken, ein Lämpchen, das bei Sonnenuntergang angezündet wird, um den Toten etwas Heimisches zu lassen.

»Wie liebenswürdig ist das gedacht!« sagte Obrist – »und wie friedlich und harmlos, die verschleierten Frauen, die würdigen Türken, die sanften Kinder, alle zwischen diesen Steinen ihren Feiertag halten!«

Sie gingen weiter bis zu einem zweiten Tor. Aus diesem strömte eine ruhige Menge, die sich unter den nahen Zypressen zerstreute. Obrist und Hans Ludwig Schmidt ließen sich in einem der Kaffeehäuser nieder, die, leicht aus Holz gebaut, mit weiten Terrassen umgeben, sich unter Zypressen und Platanen erhoben.

»Jetzt denke einmal«, sagte Schmidt, »an unsere Biergärten, in denen das Volk sich Sonntags belustigt, wie banal, wie wüst, wie gefräßig ist da alles, welcher Lärm, welche Gier! Und hier?« Obrist nickte.

Sie setzten sich miteinander. Der Kavédschi brachte jedem von ihnen ein Täßchen Kaffee, und sie sahen sich die Leute an, die aus dem Tore strömten und sich auf den verschiedenen Wegen unter den Bäumen und Leichensteinen zerstreuten. Da kamen Türken in Kaftan und Turban, wie Könige gingen sie einher. Oft sahen sie junge und alte Männer Hand in Hand miteinander wandeln wie Kinder, so einträchtlich. Zwei Greise fielen ihnen auf, die gebückt, in weißem Kaftan und weißem Turban und weißem Bart und Haar so miteinander aus dem Tore traten und unter den düsteren Bäumen verschwanden. Obrist sah ihnen lange nach und schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, sagte er, »daß es Wirklichkeit und Alltäglichkeit ist.«

Liebenswürdige, anziehende Gruppen und Gestalten zogen wie lebende Bilder aus dem Tore; ein Vater, der 239 sein Töchterchen, das einen rotseidenen Sonnenschirm über sich hielt, auf den Schultern stillvergnügt spazieren trug, zwei Brüder, die miteinander auf einem Pferdchen über Land ritten, der jüngere vertrauensvoll an den älteren geschmiegt. Ihnen folgten zu Fuß der Großvater, der Vater, hinter diesem die Mutter, die Großmutter, diesen Freundinnen und Sklavinnen und die jüngeren Geschwister. Alle begleiteten die beiden Buben auf ihrem Ritt; ganze Reihen von weißgekleideten Mädchen, die, wie Ferdös, Kittelchen und Schleier trugen, wandelten zufrieden und unbehelligt miteinander hinaus.

Auf einem umgestürzten Grabstein, ganz in der Nähe der Freunde, saß einer im braunen Kaftan mit seinen drei kleinen Söhnen. Den jüngsten hielt er an die bärtige Wange gedrückt, der schlief, und die beiden älteren hatten sich an des Vaters Seiten niedergelassen und schauten freundlich-ruhig den Vorübergehenden nach. Vor ihnen lag ein Bündel, in dem sie ihr Abendessen mitgebracht hatten, dessen sie sich bei gelegener Zeit bedienen wollten.

Nirgends hörte man Geschrei und Lärm, nirgends sah man etwas Widerwärtiges. Die Gäste im Café ließen ihre Wasserpfeifen friedlich gurgeln und bliesen blaue Wölkchen in die Luft und tranken vorsichtig und bedächtig. Ein Kamelzug, mit Kohlen beladen, bewegte sich durch das Tor und verschwand in einem großen, scheunenartigen Gebäude. Obrist und Hans Ludwig Schmidt gingen diesem Zuge nach und sahen zu, wie die riesigen, phantastisch gebauten Tiere in dem Stalle abgeladen wurden, wie sie in dem dämmerigen Raum nach ihren Raufen tappten, wie sie die langen Hälse bis an die Decke zwischen das Gebälk hineinreckten, wie sie mit den Köpfen umherfuhren, schwankend, unsicher, und wie sie unbeschreibliche Fratzen schnitten; Hals und 240 Kopf in ewiger Bewegung, der mächtige Leib ruhig wie ein Fels.

Hans Schmidt und Obrist nahmen ihre Skizzenbücher hervor, um den sonderbaren Anblick festzuhalten.

Auf dem Rückweg faßte Obrist den Entschluß zu einem neuen Bild, einem türkischen Friedhof.

Sie sprachen beide lebhaft darüber. Obrist sagte: »Das alte Tor, die Abendstimmung, der düstere Wald vor dem Tor, die schlanken Leichensteine, die beiden schneeweißen Alten, die friedlich und einträchtlich aus dem Tore treten und dem ersten Walde zuwandeln. Einer, dessen Gestalt bedeutungsvoll sein soll, geht vor ihnen her und spielt die Geige – Friede – Friede!«

»Bravo«, rief Hans Ludwig Schmidt, »bravo! Das ist gut.«

»Was mir gefällt, ist, daß es nicht aus Reflektion entsprungen«, sagte Obrist, »daran ist das gesegnete Land und Volk schuld! Wir haben es gesehen, wir haben es erlebt, es ist so! Welche Banalität müssen wir bei uns daheim von dem Gegenstande abstreichen, ehe er der Schönheit würdig ist! Wir müssen Maskerade spielen, Kostüme, Stimmung schaffen, Jahrhunderte zurückgreifen – und hier? Hier ist's, wie wir es brauchen, alltäglich wahr! Die ganze heilige Naivetät liegt darüber!

Hier ist man frei – hier kann ein Künstler wahrhaft leben. Sehen und schaffen ist beinahe eins. Kommt hier einer der besten realistischen Maler, der mit allen Sinnen Wahrheit sucht, ängstlich an der Scholle klebt, bei uns Schmutz, Unvollkommenheit, Langeweile, Gebrechen und Banalität sieht und danach greift, der würde hier ohne jede Not und Mühe zum Künstler werden können, zum wahren Künstler, und würde schaffen, wie die alten Meister 241 es taten, ohne daß er sich deshalb aufs hohe Pferd zu setzen brauchte, ohne daß er eine vornehm gelangweilte, affektiert heilige, gelehrte, kunstgeschichtliche Miene aufsetzen müßte, wie unsere gottverlassenen Idealisten jetzt, die sich Naivetät wie einen falschen Zopf angehängt haben – die ihre Gestalten vom Theaterschneider kleiden lassen, die in die Farben Museenstaub mit hineinmischen und Museenluft statt starker, gesunder Atmosphäre.«

Auf dem Rückweg fühlten sich die beiden Freunde noch tausendfach angeregt.

An diesem Abend wurden bei Lore Brunquell die Erlebnisse erzählt, und die Maler fanden warmherzige Zustimmung.

Ferdös kam wieder auf eine Stunde ins Zimmer, hörte ruhig und aufmerksam zu, musizierte wieder mit Iskender und machte denselben blumenhaften Eindruck wie das erstemal.

»Das ist schön, daß du die beiden alten Leute malen willst«, sagte sie zu Obrist, als sie neben ihm stand, »die so zufrieden und mit einem, der ihnen vorspielt, zu den Gräbern gehen. Wer stirbt und Musik hört dabei, der stirbt gar nicht, da ist's nicht schrecklich, glaub mir. Ich weiß das«, sagte sie gedankenvoll und so, als wenn sie Obrist ein Geheimnis anvertraute.

»Wenn die Mutter es mir erlaubt und wenn es dir recht ist, darf ich einmal zusehen, wie du malst, ich möchte wohl wissen, wie das geschieht.«

»Gewiß«, sagte Obrist.

Den anderen Morgen zogen die beiden Maler hinaus vors Tor, um Studien zu machen, und kamen erst um die Mittagsstunde wieder heim.

Da fanden sie, als sie in ihr Atelier traten, einen Brief 242 auf dem Tisch liegen. Über Obrists Züge ging ein Schatten.

»Von Anna«, sagte Haus Ludwig Schmidt.

Obrist erwiderte nichts darauf, ließ auch den Brief fürs erste unberührt liegen. Nach einer Weile griff er danach, ließ sich auf einen Stuhl nieder und las.

»Am 11. Mai.    

Lieber, teurer Mann!

Du bist fort von uns, und dennoch bist Du da, mehr als je. Wir reden von Dir – wir hoffen auf Dich, hörst Du – wir hoffen auf Dich! Ich glaube an Dich, und was Böses geschehen ist, Dir Unliebes, alles, alles ist wie nie geschehen. Mir unglaubhaft! Alles ganz unglaublich! Dein Atelier ist so still wie eine Kirche. Es ist einsam, kühl und ruhig und wartet auf Dich. Laß es nicht zu lange warten, genieße die schöne Zeit jetzt, dann komme zurück, gesund und froh. Laß Dir etwas sagen: Als ich Dich elend sah und krank, ehe Du gingst, da war es mir nichts, da schien es mir leicht, Dich aufzugeben, auf immer – nur solltest Du gesunden. Ich fühlte mich ganz von Dir losgelöst, getrennt. Seit Du aber gegangen bist, seit ich Dich vermisse, da weiß und empfinde ich, daß ich ein heiliges Recht an Dich habe. Niemand soll es mir antasten. Niemand soll Dich mir entreißen können! Ich werde um Dich kämpfen, ich werde Dich halten, halten mit aller Kraft, gegen Deinen Willen – gegen aller Willen! Ich muß Dich halten! Hörst Du? – Vergiß uns nicht, Du kannst und darfst und sollst uns nicht verlassen! Ich weiß es, daß ich Dich bis auf den Tod gequält habe. – Ich weiß, daß Du meiner Natur im innersten Herzen feindlich gegenüberstehst. Ich weiß, daß Du Dich in Rücksicht und Freundlichkeit zu mir erschöpft hast. Ich weiß alles; 243 ohne daß Du es ahnst, hast Du es mir furchtbarer gesagt, als Du es je bei vollem Bewußtsein hättest tun können, und als ich es je wiederholen würde. Ich weiß alles, alles. Aber wir sind Mann und Weib. Wir müssen für die Kinder leben – wir gehören zueinander – ewig zueinander. Du wirst und kannst und darfst mir das nimmermehr antun, daß Du nicht zu uns zurückkehrst! Ich werde den Gedanken nicht ertragen, daß Du mich verläßt. Mein Stolz verträgt es nicht. Ich würde mich nicht mehr trauen, über die Straße zu gehen, wenn Du es tätest und damit sagtest: Lieber an der Welt Ende als bei ihr! Ich bin erregt, sitze in Deinem Atelier und es ist schon tief in der Nacht, das Fenster steht offen, ein Licht brennt und flackert. Und wer hat mich so erregt, so zornig und verzweifelt gemacht, wie ich es jetzt bin? Noch vor wenigen Stunden war hier in Deinem Atelier ein Besuch, der mich erstaunte, Mistreß Gwendolen Brown, die uns noch nie aufgesucht hat, kam, um sich nach Deinem Befinden zu erkundigen. Sie war bezaubernd, wie Du sie kennst, plauderte dies und jenes auf ihre Art. Mit einmal wurde sie ruhig und kalt, ging langsam im Zimmer auf und nieder und erzählte mir das, was an jenem Abend bei dem Geheimrat mit Dir vorgefallen ist. Sie benahm sich, wie nur eine Engländerin sich benehmen kann, rücksichtslos und kalt. Jedes Wort, das Du gesprochen haben sollst, wiederholte sie mir wie ein Rechenexempel. Ich hörte kaum, was sie sagte, ich hätte sie niederschießen können. Sie fragte mich, ob ich Ehre habe, ob ich Stolz habe – nicht weibische Ehre, wie jede Näherin sie hat – Ehre und Stolz wie ein weitsichtiges, starkes und geniales Weib. ›Ist es so, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben. Ist es nicht so, können Sie ertragen, um der heiligen Tradition und 244 der bequemen Rechte halber einen Menschen durch ihre drückende Last weiter zu vernichten. Gibt es in Ihnen nichts als den Gedanken: Halten! – Halten! – Den Vorteil halten! Dann . . .‹ Sie sprach nicht weiter. ›Was dann?‹ rief ich. ›Wie können, wie dürfen Sie so reden, wie Sie reden?‹

›Ob ich es darf oder kann oder soll – danach frag' ich selbst nicht‹, sagte Mistreß Gwendolen. ›Ich mußte so reden, wie ich es tat. Ich weiß, ich bin eine gewalttätige Natur – hassen Sie mich –, werfen Sie mich zur Tür hinaus; – aber ich mußte reden.‹ Ich konnte nichts erwidern, Heinz. Sie hatte mich ins Herz getroffen. Ich habe nichts getan, worüber Du zürnen würdest; ich habe mich nicht vergessen. Ich hätte in ihre Kälte, Ruhe und Schönheit hineinschlagen können. Alle Teufel waren bei mir im Kampfe. – Ich habe mich aber gehalten. Was fällt denn allen ein, daß sie Dich mir entreißen wollen? Du warst doch immer so herzensgut mit mir – Du mußt mich doch gern haben, sonst wäre es ja ein Betrug, wenn Du mich mit Deiner Freundlichkeit hintergangen hättest. Bin ich denn so ein abscheuliches Geschöpf? Mag alles sein, wie es sei – nur verlaß mich nicht –, nur das nicht! Ich will kein weitsichtiges, stolzes, geniales Weib sein. Das will ich nicht, ich will auch an Dir hängen – und nicht von Dir lassen – nie von Dir lassen – und müßten wir beide darüber zugrunde gehen.

Dickchen ist still und gut, aber sie leidet. – Du hast ihre Seele mit Dir genommen. Es ist ein Ausdruck in ihrem Gesichtchen, der mir mehr zu Herzen geht als mein eigenes Leid.

Leb wohl.

Deine – ja Deine – ganz Deine

Anna.«

245 Ein Zettel von Dickchen lag dem Briefe bei.

»Mein liebes Papachen!

Es ist ein Vogel in die Luft geflogen, aus seinem Käfig heraus. Ich habe ihm nachgesehen und freute mich – und weinte dabei, denn sein hübscher Käfig ist leer. Das ist so, wie ich Dir schreibe. Die Buben haben meinem Rotkehlchen die Tür aufgelassen, da hat es sich davongemacht. Und noch jemand hat sich davongemacht – noch jemand. Ich habe ihn um die Ecke gehen sehen, in den Sonnenschein hinein – am frühesten Morgen. – Wird es Dir denn auch gut gehen? Wird es Dir denn auch wohl sein? Denkst Du etwas, was Dich freut – dann ist alles, alles – alles gut.

Dein Dickchen.

Noch etwas: Mama ist so himmlisch gut mit uns. Sie arbeitet den ganzen Tag, erzählt den Abend oft und hat jetzt mein Bild zu malen begonnen. Da sitzen wir miteinander in Deinem Atelier, und es ist so still, so still! Wie's nur mit einemmal so geworden ist? Ich glaube, Mama ist sehr traurig, aber sehr fleißig, da merkt sie's selber nicht, wie traurig sie ist. Vorgestern hatte sie einen großen Schreck. Da kam eine englische Dame, die Dich und Mama kennt, die hat so vielerlei gesprochen, da hat Mama mir in der Seele weh getan. Ich habe ein wenig an der Tür gehorcht. Mama hat kaum ein Wort erwidert und war so rührend – so rührend. Am anderen Tage kam ein großer Bub ins Haus und brachte einen ganz riesigen Korb voll lauter abgeschnittenen frischen Blumen, mit Rosen und Hyazinthen und Tazetten und kleine Veilchensträuße und Resedasträuße, und alles sah so wunderhübsch und merkwürdig aus, dazu brachte er ein Briefchen – das las 246 Mama, hat es mir aber nicht gezeigt. Der große Bub blieb den ganzen Abend bei uns und hat uns vorgespielt, ganz wunderschön. Mama und ich, wir haben jedes in einer Ecke von Deinem Atelier dabeigesessen. Mama hat geweint. Ich habe sie immer leise schluchzen hören. Und ich war ganz bei Dir. – Mama hat unserem Besuch am Abend ein Briefchen an seine Mutter mitgegeben. – Er ist der Sohn von Mistreß Gwendolen – Du weißt schon, und heißt William.

Grüße Deinen Freund von mir.

            Dein

altes Dickchen.«

Über Obrists Züge war, während er las, mehr als einmal ein Zug von Qual und Erregung gegangen. Sein Gesicht war bleich geworden. Jetzt legte er den Brief beiseite und ging auf die Terrasse.

Es wurde zwischen den beiden Freunden nicht über diese Briefe gesprochen. Die glückliche, weiche, lebensfrohe Stimmung war aber gewichen. Obrist ging an diesem Abend nicht mit zur Brunquell, sondern blieb allein zurück. Hans Ludwig Schmidt fand ihn, als er heimkam, gedankenvoll und bedrückt auf der Terrasse sitzend.

Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Werde hart, Landgraf. Du hast das Recht zu leben – jetzt lebe! Ich habe das Meine getan, nun tu du das Deine. Niemand hat jetzt ein Recht an dich als ich. – Denke nicht und laß alles gehen, wie es geht. Wir wollen hier arbeiten, alles andere ist Nebensache. Lassen sie uns nicht in Ruhe, verkriechen wir uns bis ans Ende der Welt. Wir wollen frei sein und müssen frei sein.

247 Kannst du dir denken, daß es je gut würde, wenn du zurückgingst?« fragte Hans Ludwig Schmidt.

»Nein!« sagte Obrist ruhig.

»Also – dann laß es jetzt. Das Schicksal wird sorgen.«

 


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