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9. Schluß.

»Niemand weiß – wenn die Sonne aufgeht – wie sie untergehen wird«, ist eins der Sprichwörter des Ulstruper Küsters, womit er sich fast das Ansehen eines Wahrsagers erworben hat; und das ist ziemlich einfach, denn im Grunde ist es nichts andres als eine Weissagung, die weit öfter zutrifft, als fehlschlägt.

Dieser Gedankenspruch, den der Hardesvogt in den Rang der sieben Weisen Griechenlands erhob, der zeitungsbelesene Pferdehändler über Staatsrat Syrachs »Es kann nicht so bleiben« und der Küster selbst etwas unter den des weisen Syrach stellte: »Preise niemanden glücklich, ehe nicht sein Ende gekommen« – dieser Gedankenspruch, den er auch an dem für die Abreise bestimmten Tag anbrachte, da ein dicker, schwarzgrauer Taunebel den Himmel verbarg und die Erde verhüllte, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt, indem nämlich die physische Bedeutung, in der das Orakel gegeben wurde, eine moralische, unerwartete und frohe Auflösung erhielt – was alles in diesem Kapitel genauer erhellt werden soll.

Während wir alle drei noch am Morgen im Bette lagen und sprachen, schlug der Kapitän vor, wir sollten der Komtesse persönlich für die Benutzung ihres Zimmers danken.

Ich erzählte ihm, wie ich höflich abgewiesen wurde, stimmte aber zu, daß wir um Audienz bei ihrer Gnaden ansuchten.

Wir taten es, und wider Erwarten wurde sie uns gewährt.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich zuerst und allein ging – wurde ich vielleicht unwillkürlich von einer gewissen heimlichen Hoffnung getrieben? Amor ist ein Sophist; und was schlimmer ist: er spielt mit seinen Gefangenen wie die Katze mit der Maus.

Alice war nicht zugegen; doch daß sie trotzdem über mich günstig zu der Komtesse gesprochen hatte, konnte ich aus der besonders freundlichen Aufnahme entnehmen, die ich bei dieser wackren Dame fand.

Sie war von feiner, einnehmender Gestalt, und ihr Gesicht besaß noch viel von dem, das vor einigen Jahren sie zu einer ausgezeichneten Schönheit gemacht hatte. Ihre Rede war, wie sich vermuten ließ, geistvoll und lebhaft; und ohne Zurückhaltung ließ sie sich in ein höchst lobendes Gespräch über die schönen Künste und ihre Schätze in la bella Italia ein. Es zog sich sehr in die Länge, und ich fand es an der Zeit abzubrechen.

Ich hatte mich bereits erhoben, um Abschied zu nehmen, als der Diener den Kapitän meldete und dieser eingelassen wurde. Er trug zu meinem Erstaunen holländische Seeoffiziersuniform und einen russischen Orden auf der Brust.

Weit höher aber stieg meine Verwunderung, als er steif wie eine Ordonnanz dicht an der Tür oder auf der Schwelle selbst stehen blieb, mit einem Gesicht, worin sich etwas höchst Seltsames widerspiegelte – etwas, das unwillkürlich meine Augen von ihm auf den Gegenstand seine Aufmerksamkeit lenkte.

Da stand die Komtesse – ein ähnlicher Spiegel – doch ihr Erstaunen schien mit einem Freudenschimmer vermischt; auch kam sie zuerst zu Worte:

»Wenn ich nicht irre«, stammelte sie leise und mit bewegter Brust – »habe ich früher einmal –«

Mit einer tiefen Verbeugung gab und bestätigte er die Antwort.

»Es ist viele Jahre her!« fuhr sie fort, und ihre Augen sanken zu Boden.

»Elf!« sagte er und sah ebenfalls vor sich nieder.

Eine Weile schwiegen nun beide. Da drängten sich Tränen unter ihren Lidern hervor; sie blickte auf, legte die eine Hand unter den Busen – streckte die andre aus und warf einen verwirrten, unruhigen Blick auf mich. – Ich fühlte sogleich, daß ein Dritter hier überflüssig war. Mit einer tiefen Verbeugung zog ich mich zurück und stahl mich hinter dem Kapitän aus dem Zimmer.

Ich eilte, den Konrektor aufzusuchen, um ihm die nicht mehr zweifelhafte Auflösung jenes Geheimnisses mitzuteilen, dessen Mitwisser ich in der Nacht geworden war.

Ich stürzte – unbegreiflich für alle, denen ich begegnete – von Stube zu Stube, Treppauf und Treppab. Schließlich fand ich ihn in unserm gemeinsamen Schlafzimmer.

Fast atemlos stieß ich aus: »Er hat sie – sie ist hier – sie ist es – kann nicht anders sein –«

»– Wer denn nur, humanissime?« sagte er verwundert.

»Wer anders«, versetzte ich, »als sie in Livorno – sie, Sie wissen doch –« Ich hatte den Namen vergessen.

»Helfe mir Gott!« seufzte er mit gefalteten Händen, »liebster Herr Kollega, wie verhält sich das? Insanis aut versus facis?«

»Oh nein, nein!« rief ich, »es ist, wie ich Ihnen sage. Kommen Sie, kommen Sie! –« Ich ergriff seine Hand – »Sie sollen selbst sehen – es ist sie – die Komtesse –«

Ich zog ihn mit mir in den Saal; doch hier hielt er mich zurück, blieb stehen und sagte:

»Warten Sie, mein Lieber. Ich muß mich etwas sammeln – sie – in Livorno – von der er heute nacht erzählte – haben Sie es gehört?«

»Etwas davon«, versetzte ich; »ich erwachte zufällig gegen Schluß der Geschichte.«

»Aber was sagen Sie?« rief er aus und schlug die Arme übereinander, indem er mich mit großen Augen anstarrte, »dieses französische Mädchen – hm – Rüseau – Rousseau – oder wie hieß sie nun – und die Komtesse? –«

»– Ist ein und dieselbe Person!« versicherte ich. »Sie werden sehen – sie leistet ihm sicherlich Abbitte für ihren unbegründeten Verdacht – kommen Sie!«

Noch wollte er nicht von der Stelle; der Zweifel gewann wieder Oberhand, er stemmte die Fäuste in die Seite und sah mich mit einem Lächeln an, das ungefähr so viel sagen wollte wie: »Du hast irgendeinen Scherz vor.« –

In diesem Augenblick hörten wir die Komtesse sagen: »Wenn Sie meine liebe Alice recht betrachten wollen, werden Sie selbst leicht die große Ähnlichkeit in Ihren Gesichtszügen entdecken können, die der Verdächtigung Nachdruck gab. Ich war bereits zwei Tagereisen von Livorno entfernt, als sie mir den Irrtum benahm; und als ich wieder dorthin kam, waren sie fort.«

»Per deum optimum maximum!« rief der Konrektor, »ita se habet res.«

Und damit lief er mir voran zu den Glücklichen hinein.

Nun erst wurde ich mir der süßen Hoffnung auf Alices Besitz vollkommen bewußt, und mit klopfendem Herzen ging auch ich hinein. –

Die Versöhnung zwischen den Wiedergefundenen war vollbracht. Alle drei standen Hand in Hand, und eine Freude, wie wir sie uns bei den Seligen vorstellen, strahlte in ihren Gesichtern.

»Bruder!« rief der Kapitän und fiel mit ausbrechenden Tränen dem Bruder um den Hals.

Ich näherte mich Alice. Sie errötete in lieblicher Verwirrung.

Ehe ich nun zum zweiten Male freite, las ich ihre Antwort ab, und das hob meinen Mut.

»Edle Alice!« sagte ich, »ist das Hindernis nun aus dem Wege geräumt? Und darf ich hoffen?«

Mit einem engelgleichen Lächeln erwiderte sie: »Da sind meine Eltern!«

Beide hatten meinen Antrag gehört, und die Komtesse sagte gleichzeitig und ergriff Alices Hand:

»Sie liebt Sie, Herr Rektor! Und sie ist Ihrer wert. Bereits vor zwei Tagen merkte ich etwas, sehe aber jetzt erst, was es zu bedeuten hatte« – sie legte ihre Hand in die meine, »nehmen Sie sie! Und lieben Sie sie, wie sie es verdient.«

Gott weiß, wie die Zeit verging; aber es war Mittag, bis Kammerrats und alle die übrigen erfuhren, was inzwischen vorgegangen war. –

Es herrschte allgemeine Freude, und diesen Tag dachte man nicht mehr an Reisen.

Bei Tisch wurde die doppelte Verbindung feierlich mit den nötigen Zutrünken, Trompetenstößen und Gesängen begangen, unter denen sich einer, stehenden Fußes von dem lächerlichen Küster gedichtet, durch seinen altmodischen Zuschnitt und seine unverblümten Andeutungen auf die erwarteten Opfer auszeichnete.

Jeder war auf seine Weise lustig; doch niemand mehr als der alte Konrektor. Er konnte nicht einmal ruhig auf seinem Stuhl sitzen, und ging bald zu dem einen, bald zu dem andern und deklamierte lateinische Verse, gelehrte wie ungelehrte. Es ging sogar soweit, daß er »Gaudeamus igitur!« anstimmte.

Als es gesungen war, sagte er zum Bruder:

»Christian, dieser Tag ist der schönste meines Lebens; nichts in der Welt könnte mich froher machen, als ich nun bin.« –

»Darauf sollst du nicht schwören!« versetzte der Kapitän mit einer ganz seltsamen Miene und flüsterte darauf seiner Braut etwas zu.

Beide standen auf und gingen mit dem Diener des Kapitäns hinaus, der den Tag vorher mit den Sachen seines Herrn angekommen war, bei Tisch mit Aufwarten geholfen und soeben etwas zu ihm gesagt hatte, das ihn plötzlich ganz ernst gestimmt hatte.

Sie kamen nicht zurück, und nun wurde ich hinausgerufen. –

Als ich das Zimmer betrat, in dem sich die drei befanden, wandte sich der Kapitän zu mir, ein großes Seidentuch in der einen Hand haltend und ein Stück beschriebenes Papier in der andern.

»Es scheint ein Licht aufzugehen«, sagte er mit tiefsinniger Miene, »doch was es uns sehen läßt, erscheint mir so seltsam, daß ich fürchte, es könnte ein Irrlicht sein. Sehen Sie, mein Diener hier – Sie können an seiner Wahrheitsliebe nicht zweifeln, er ist mehrere Jahre bei mir gewesen – Sie kennen doch Alices Geschichte, so weit nämlich sie selbst und wir beide (er wies auf die Komtesse) sie kennen?«

Ich bejahte. –

»Wohlan«, fuhr er fort, »mein Diener behauptet auch, sie zu kennen, ja, daß er sie länger gekannt habe als wir andern und daß er ihre Spur bis an die Gestade der Ostsee zurückverfolgen kann. – Als ein armer und verwandtenloser Junge ließ er sich bei Rolettis Truppe als Aufseher anwerben, und als er größer wurde, als Maschinist. Er erzählt, er und ein Springer seien, als sie vor einigen zwanzig Jahren Vorstellungen in Rostock gegeben hatten, eines Tages aus der Stadt hinaus und an das Meer gegangen, um Strandvögel zu schießen. Da sehen sie etwas dunkles an Land getrieben kommen. Sie gehen hin, um es in Empfang zu nehmen, und entdecken, daß es ein Schiffsroof ist. Sobald sie es ganz auf den Strand gezogen hatten, untersuchten sie es und fanden darin ein erwachsenes Frauenzimmer und ein kleines Mädchen mit einem Tuch zusammengebunden – eben das, das ich hier habe. Das erste war tot und blieb tot und wurde auf dem nächsten Dorfkirchhof begraben. Aber in dem Kind war noch Leben, und es blieb am Leben. Sie nahmen es mit sich, und Roletti, der sah, daß es hübsch und wohlgebildet war, eignete es sich an, um es zu equilibristischen Künsten abzurichten. Und das ist eben unsre liebe Alice.«

»Darauf will ich einen Eid ablegen«, fiel der Diener ein. »Ich war noch bei dem Mann, als sie in Livorno ins Wasser sprang, und erkannte sie gleich wieder, als ich sie hier sah.«

»All das weiß ich auch«, fuhr der Kapitän fort, »aber nun weiter!«

»Hier ist das Tuch, mit dem sie aneinander gebunden waren«, sagte der Diener; »das nahm ich an mich und habe es seitdem aufbewahrt. Und dieser Brief lag auf der Brust der Toten; ich trocknete ihn gleichfalls mit dem Gedanken, daß er vielleicht einmal von Nutzen sein könnte.«

Der Brief war unvollendet und lautete folgendermaßen:

»Mein geliebter Mann! Wir sind in Seenot, der Schiffer fürchtet, daß wir nicht gerettet werden können. Ist es denn der Wille des Himmels, daß ich und unser Kind so weit von dir, mein Teuerster ...«

Mehr stand nicht da. Wahrscheinlich ist das Schiff in diesem Augenblick zerschellt und gesunken.

»Woher wußtet Ihr, daß das Kind Alice hieß?« fragte nun die Komtesse.

»Soviel konnte es selbst sprechen«, erwiderte der Diener; »allerdings kommt es mir vor, daß es Else und nicht Alice war; aber so nannten Roletti und die andern sie.«

»Hat sie denn niemand gefragt«, fuhr die Komtesse fort, »wer ihre Eltern waren, woher sie stammte und dergleichen?«

»Oh doch!« erwiderte er, »aber sie konnte keine Erklärung geben; ihr Vater hieß Vater und ihre Mutter Mutter und von dem Ort, an dem sie wohnten, wußte sie keinen andern Namen als »zu Hause«.«

Bisher hatte ich mit zunehmender Aufmerksamkeit gelauscht; doch nun schien mir der Zweifel vor der freudigen Gewißheit weichen zu müssen.

»Herr Kapitän!« rief ich, »es kann nicht anders sein: meine geliebte Alice muß Ihre Brudertochter sein.«

»Ich bin dicht daran, es zu glauben«, versetzte er, »doch ganz entschieden ist das nicht – wissen Sie auch, wie er Frau und Kind verloren hat?«

»Er hat es mir hier auf Ulvedal erzählt – auch die Zeitangabe stimmt –«

»– Aber«, unterbrach der Kapitän, »es ist doch sonderbar, daß Alice selbst sich nicht an ihre Kindheit erinnern konnte, sie war doch an vier Jahre –«

»– Es war alles nur wie Träume für sie«, sagte die Komtesse, »und das Gepräge dieser dunklen Schrift verwischte sich allmählich. Sie entsann sich ihrer Eltern, doch nicht, wie sie aussahen; sie erinnerte sich, daß sie in einer großen Stadt mit vielen roten Häusern wohnten, aber nicht, wie sie hieß; daß sie auf einem großen Wasser gefahren war, aber nicht, woher das Schiff gekommen war. Und ihre Muttersprache muß sie unter den Gauklern völlig vergessen haben; denn dänisch verstand sie kein Wort.«

»Sind denn keine Buchstaben in dem Shawl?« sagte der Kapitän.

»Zwei«, versetzte der Diener; und wirklich sahen wir in der einen Ecke ein A und ein E. –

»Wie hieß die Frau Ihres Bruders?« fragte ich eifrig.

»Das sagte er mir nicht«, erwiderte er; »aber hier ist der zuverlässige Schlüssel dazu.«

Inzwischen war man vom Tisch aufgestanden, ohne länger auf uns zu warten. Der Konrektor suchte seinen Bruder, Alice mich. Er kam zuerst und gerade in dem Augenblick, als der Bruder das Tuch mit den angeführten Worten hochhielt.

»Wo zum Teufel steckt ihr jungen Menschen?« rief er, »was für Pläne schmiedet ihr hier?«

Ich war unbedacht genug und wollte ihm unvorbereitet das ganze erzählen; aber der besonnene Seekrieger ergriff meine Hand und sagte:

»Nicht so hitzig, mein Freund! Lassen Sie mich allein am Ruder stehen!«

Er trat nun dicht an den Bruder heran und redete ihn folgendermaßen an:

»Es ist eine Notwendigkeit – ich bitte dich, das zu bemerken! – daß ich deine Heiterkeit trübe und ernste Erinnerungen wecke – wie hieß deine selige Frau?«

Der Konrektor machte große Augen und sagte:

»Mein Gott, warum fragst du mich jetzt danach? – Sie hieß Adolphine Ewers.«

In diesem Augenblick fiel sein Auge auf das Tuch und es schien, als finge er an, es wiederzuerkennen, und gleichzeitig kam Alice hinzu. Ich fiel ihr um den Hals, der Kapitän dem Bruder, doch die Komtesse rief: »Aber sanft doch! Und bringt sie nicht um!«

Ich war von Freude berauscht; nichts vermochte sie aufzuhalten: wenige Augenblicke danach lagen Vater und Tochter einander in den Armen.


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