Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

B.

Aufzeichnungen des Aalsöer Pfarrers.

Im siebzehnten Jahre meiner Amtszeit trug sich hier in der Nachbarschaft die Begebenheit zu, die alle mit Schreck und Entsetzen erfüllte und unserm geistlichen Stand sehr zu Schimpf und Schande geriet, indem der Pfarrer von Vejlby, der gelahrte Herr Sören Quist, im Zorn seinen Knecht erschlug und ihn darauf des Nachts in seinem Garten begrub.

Er wurde nach vorhergegangener gerichtlicher Untersuchung dieser grausamen Tat überführt, sowohl durch das Zeugnis vieler, als auch durch sein eigenes Geständnis und deshalb verurteilt, seinen Hals verwirkt zu haben, welches Urteil in Anwesenheit vieler tausend Menschen hier auf dem Aalsöer Felde exekutiert wurde.

Der Hingerichtete, dessen Seelsorger ich früher gewesen war, verlangte von mir, ihn im Gefängnis zu besuchen. Und muß ich der Wahrheit gemäß sagen, daß ich die heiligen Sakramente niemals einem bereiteren, reuigeren und vollgläubigeren Christen erteilt habe. Er erkannte selbst mit inniger Reue, daß er in fleischlicher Sicherheit gewandelt hatte und ein Kind des Zorns gewesen war, daher denn Gott ihn der Sünde und Gemütsverhärtung überantwortet, ihn tief gedemütigt und ihn sehr elend gemacht habe, so daß er durch Christo wieder erhoben werden konnte.

Er bewahrte seinen Freimut bis zuletzt und hielt auf der Richtstätte an das umstehende Volk eine Rede voller Kraft und Salbung, die er während seiner letzten Tage im Gefängnis ausgearbeitet und auswendig gelernt hatte. Sie handelte über den Zorn und seine schrecklichen Folgen mit beweglicher Anwendung auf ihn selbst und die grausame Tat, wozu der Zorn ihn verleitet und hingerissen hatte. Die Worte des Textes waren aus dem Buch Klagelieder Jeremiae 2. Kap., Vers 6 genommen: »Er hat in seinem Zorn den Priester schänden lassen.«

Darauf entkleidete er sich, verband sich selbst die Augen und kniete mit gefalteten Händen nieder, und als ich die Worte gesprochen hatte: »Sei getrost, lieber Bruder! Heute wirst du mit dem Erlöser im Paradiese sein!« fiel sein Kopf vom Schwert des Henkers.

Was ihm den Tod bitter machte, war der Gedanke an seine zwei Kinder, von denen das älteste, der Sohn, abwesend war – wie man glaubte, in Kopenhagen, aber, wie wir später erfuhren, in Lund, weshalb er auch erst denselben Abend eintraf, an dessen Morgen der Vater den Sold der Sünde bezahlt hatte.

Die Tochter, die, sich selbst und ihrem Bräutigam zur schwereren Herzensnot, kurz vorher dem Hardesvogt anverlobt worden war, nahm ich aus Barmherzigkeit in mein Haus, wohin sie mehr tot als lebendig früh am Morgen gebracht worden war, nachdem sie von ihrem Vater Abschied genommen hatte, den sie mit töchterlicher Zärtlichkeit im Gefängnis gepflegt hatte.

Als ich von dem schwersten Gange meines Lebens zurückkam, fand ich sie ziemlich ruhig und damit beschäftigt, die Leichenkleider des Hingerichteten zurechtzumachen; (denn es war gestattet worden, daß er in christlicher Erde, wenn auch in aller Stille, begraben werden durfte). Sie weinte nicht mehr; aber sie sprach auch nicht. Ich schwieg auch; denn was sollte ich zu ihr sagen? Und war ich nicht selbst von dunklen Gedanken bedrückt?

Eine Stunde später kam mein Wagen mit der Leiche und kurz darauf eilte ein junger Mann zu Pferde auf den Hof – es war der Sohn. Er warf sich über den entseelten Körper des Vaters und darauf in die Arme der Schwester; beide Geschwister hielten einander lange umschlungen; aber keins von ihnen konnte ein Wort hervorbringen. Am Nachmittag ließ ich ein Grab gerade vor der Vorkirchentür der Aalsöer Kirche aufwerfen; dort wurden in der stillen Mitternachsstunde die irdischen Überreste des früheren Pastors von Vejlby beigesetzt. Ein Sandstein, auf dem ein Kreuz ausgehauen ist und den ich zuerst für mich selbst hatte anfertigen lassen, bedeckt das Grab und erinnert jeden Kirchgänger an den tiefen Sündenfall des Unglücklichen und die Verderbtheit der menschlichen Natur sowie an die einzige Erlösung der Sünde durch das Kreuz Christi.

Am nächsten Morgen waren die beiden vaterlosen Geschwister völlig verschwunden und hat seitdem kein Mensch das geringste von ihnen hören oder erfahren können. Gott mag wissen, in welchem Winkel sie sich selbst vor der Welt verborgen haben.

Der Hardesvogt kränkelt beständig und man glaubt nicht, daß er am Leben bleibt. Ich selbst bin sehr benommen von Sorge und Kummer und scheint mir der Tod das höchste Gut für uns allesammen sein zu müssen.

Gott handele gegen uns nach seiner Weisheit und Barmherzigkeit!

*

Herr, wie unerforschlich sind deine Wege!

Im achtunddreißigsten Jahr meiner Amtszeit und einundzwanzig Jahr, nachdem mein Nachbarpastor, Herr Sören Quist in Vejlby, angeklagt, verurteilt und hingerichtet worden war, wegen Mordes an seinem Knecht, begab es sich, daß ein Bettler hier auf den Pfarrhof kam. Er war ein ältlicher Mann mit grauem Haar und ging an einer Krücke. Niemand vom Gesinde war gerade anwesend, ich ging deshalb selbst in die Küche, um ihm ein Stück Brot zu geben, und fragte ich ihn da, woher er wäre.

Er seufzte und antwortete: »Von nirgendher.«

Ich fragte darauf nach seinem Namen; er seufzte wieder, sah sich furchtsam um und sagte: »Sie nannten mich Niels Bruus.«

Es durchfuhr mich und ich sagte: »Das ist ein häßlicher Name; so hat auch einer geheißen, der hier vor ungefähr zwanzig Jahren totgeschlagen wurde.«

Er seufzte noch tiefer und erwiderte: »Es war leider nicht so, daß ich damals gestorben wäre; es ist mir schlecht bekommen, daß ich außer Landes ging.«

Die Haare sträubten sich mir auf dem Kopf und ich begann vor Entsetzen zu zittern. Denn nun schien es mir so, als könnte ich ihn deutlich wiedererkennen; und dazu war es mir, als sähe ich den leibhaftigen Morten Bruus vor mir, auf den ich drei Jahre vorher Erde geworfen hatte. Ich schreckte zurück und schlug ein Kreuz vor mich; ich dachte, es wäre ein Gespenst.

Aber er setzte sich auf den Herdsitz und sagte: »Herr Gott, ich höre, mein Bruder Morten ist tot. Ich war in Ingvorstrup; aber der neue Mann jagte mich weg – lebt mein alter Herr, der Pastor von Vejlby, noch?«

Nun fiel es wie Schuppen von meinen Augen, und ich ahnte sofort den Zusammenhang in der ganzen grausamen Geschichte; aber ich war so benommen, daß mir die Sprache einige Minuten versagte.

»Ja«, sagte er nun und biß gierig in das Brot, »das war alles Mortens Schuld – aber ist der Pastor denn in Ungelegenheiten gekommen?«

»Niels! Niels!« rief ich in meines Herzens Schreck und Entsetzen, »du hast eine blutige Sünde auf deinem Gewissen. Um deinetwillen hat der unschuldige Mann sein Leben unter der Hand des Henkers lassen müssen.«

Das Brot und der Stock entfielen dem Bettler und selbst wäre er beinahe ins Feuer gestürzt.

»Gott vergebe dir, Morten!« stöhnte er, »das habe ich nicht gewollt – Gott vergebe mir meine große Sünde! – aber Ihr wollt mich doch wohl nur erschrecken? – Ich bin nun hierher gewandert, gerade von weither, hinter Hamburg, und habe kein Wort davon gehört. Es hat mich auch sonst keiner gekannt außer dem Pastor, und ich habe mich vor keinem andern offenbart; aber als ich durch Vejlby kam, und fragte, ob der Pastor noch lebte, antworteten sie: »ja.«

»Das ist der neue«, sagte ich, »aber nicht der, den Ihr und Euer gottloser Bruder ums Leben gebracht habt.«

Da begann er die Hände zusammenzuschlagen und zu heulen und sich anzustellen, daß ich wohl merkte, daß er nur ein blindes Werkzeug in der Hand des Teufels gewesen war, ja, ich fing an, noch inniger mit ihm Mitleid zu bekommen. Und nahm ich ihn deshalb mit in meine Studierstube, sprach zu ihm ein paar tröstliche Worte und brachte sein Gemüt so weit zur Ruhe, daß er in stockender Sprache mir alle Dinge in diesem Bösewichtsstück der Hölle erklärte und auslegte.

Der Bruder Morten – ein Belialsmann – faßte einen tötlichen Haß gegen Herrn Sören von Vejlby seit der Zeit, als er ihm seine Tochter als Frau verweigert hatte. Sobald daher der Pastor seinen früheren Kutscher entlassen hatte, veranlaßte er seinen Bruder, sich für ihn anstellen zu lassen. »Und paß nun ordentlich auf«, hatte er zu Niels gesagt, »wenn sich die Gelegenheit bietet, werden wir dem schwarzen Mann einen Streich spielen, und das wird nicht dein Schade sein.«

Niels, der von Natur steif und störrisch und dazu von Morten aufgehetzt war, kam bald mit seinem Herrn in Zwist, und sobald er die erste Züchtigung erhalten hatte, versäumte er nicht, das auf Ingvorstrup zu vermelden.

»Er soll dich nur noch einmal schlagen«, hatte Morten gesagt, »dann soll er das heimgezahlt bekommen; komm gleich zu mir und laß mich das wissen!«

Da kam der Streit mit dem Pastor im Garten und er lief darauf ohne Aufenthalt nach Ingvorstrup.

Die Brüder trafen sich vor dem Hofe. Niels erzählte das Vorgefallene.

»Hat dich jemand auf dem Wege hierher gesehen?« fragte Morten.

Niels glaubte, nicht.

»Dann wollen wir«, sagte Morten, "ihm einen Schrecken einjagen, den er die ersten vierzehn Tage nicht verwinden wird.«

Nun wurde Niels heimlich in den Hof geführt, wo er sich bis zum Abend verborgen hielt. Sobald alle zur Ruhe gegangen waren, gingen beide zusammen zu einer Feldmark, wo zwei Tage vorher die Leiche eines Knechts von Niels Alter, Größe und Aussehn vergraben worden war. (Er hatte auf Invorstrup gedient und sich dort selbst erhängt, wie gemunkelt wurde, aus Verzweiflung über die tyrannische Behandlung und die Drohungen des Bruus, obwohl andre sagten, aus Liebeskummer.) Diese Leiche gruben sie wieder aus, so ungern auch Niels wollte; aber der Bruder zwang ihn – und schleppten ihn heim auf den Hof; denn der war dicht dabei.

Nun mußte Niels sich all seiner Kleider entledigen, die der Leiche Stück für Stück wieder angezogen wurden; sogar ein Ohrring wurde mitgenommen. Darauf gab Morten dem Toten einen Hieb mit dem Spaten über das Gesicht und einen in die Schläfe und verwahrte ihn in einem Sack bis zum nächsten Abend. Da trugen sie den Sack nach dem Walde, der dicht bei Vejlby liegt.

Niels hatte wohl den Bruder mehrmals gefragt, was er im Sinne habe, und wozu alle diese Anstalten wären; aber der hatte immer geantwortet: »Darum brauchst du dich nicht zu kümmern – das bleibt meine Sache«

Im Walde sagt Morten zu ihm: »Jetzt mußt du mir einen gewöhnlichen Rock vom Pastor holen, am besten den langen grünen, mit dem ich ihn am Morgen habe gehen sehen.«

Niels antwortete: »Das wage ich nicht; denn die hängen in seiner Schlafstube.«

»Dann wage ich es selbst«, sagt der Bruder, »und geh nun deiner Wege und laß dich nie mehr sehen! Hier hast du einen Beutel mit hundert Talern. Die halten wohl solange vor, bis du eine Stellung im Süden gefunden hast, aber weit fort, hörst du! Wo dich niemand kennt. Gib dir einen andern Namen und setz' deinen Fuß nie wieder auf dänischen Boden. Geh in der Nacht und halte dich am Tage im Walde, und hier ist der Essenssack, den ich vom Hof mitgenommen habe; damit kannst du dich ernähren, bis du jenseits der Landesgrenzen unsres Königs kommst. Eil dich nun, und komm nicht wieder her, sofern dir dein Leben lieb ist.«

Niels gehorchte und damit trennten sich die Brüder, und sahen einander auch nicht mehr seit diesem Tage.

Der Geflüchtete hatte viel Böses in fremden Landen durchzumachen, war als Soldat angeworben worden, hatte viele Jahre gedient und war im Kriege gewesen, wo er seine Gesundheit verloren hatte. Arm, schwach und elend fiel es ihm ein, seinen Geburtsort aufzusuchen und hatte sich unter großer Not und Beschwer hindurchgefochten.

So lautete in Kürze der Bericht des fatalen Menschen, über dessen Wahrhaftigkeit ich leider keinen Zweifel hegen konnte. Und es wurde mir also klar, wie mein unglücklicher Mitbruder als Opfer der niedrigsten Bosheit gefallen war, der Verblendung seines Richters und der Zeugen und seiner eigenen leichtgläubigen Einbildungskraft.

Ach, was ist doch ein Mensch, daß er sich zum Blutrichter über seinesgleichen aufwerfen darf? Wer darf zu seinem Bruder sagen: Du bist des Todes schuldig? Nur Gott steht die Rache zu; nur der, der das Leben gibt, darf allein den Tod geben. Er belohne dich nun auch droben für den bitteren Märtyrertod, den du hier erleiden mußtest, mit der unendlichen Freude des ewigen Lichts!

Ich fühlte mich nicht befugt, den zerknirschten und reuigen Sünder anzugeben, um so weniger, als der Hardesvogt noch lebte, dem gegenüber es eine Grausamkeit wäre, ihn über seinen schrecklichen Irrtum aufzuklären, bevor er dahin gehen wird, wo all das ans Licht kommen wird, das unsern Augen noch verborgen ist.

Ich bemühte mich daher weit lieber, dem Zurückgekehrten den Trost der Religion zu spenden, und vermahnte ihn zunächst auf das Ernstlichste, seinen Namen und die ganze Begebenheit vor allen Menschen geheimzuhalten. Ich versprach ihm unter dieser Bedingung Obdach und Pflege bei meinem Bruder, der in einer weit abgelegenen Gegend wohnt.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Als ich spät abends von meiner Nebenpfarre nach Haus kam, war der Bettler fort; aber ehe es am folgenden Tage Abend wurde, war das Ereignis in der ganzen Nachbarschaft bekannt.

Getrieben von seinem unruhigen Gewissen war er nach Rosmus davongeeilt und hatte sich dem Hardesvogt und dem ganzen Gesinde des Hofs als der richtige Niels Bruus vorgestellt.

Der Hardesvogt bekam einen Schlagfluß und starb vor Ausgang der Woche, aber Niels Bruus fand man am Dienstag morgen tot vor der Aalsöer Kirchentür liegen, auf dem Grabe des seligen Sören Quist.


 << zurück weiter >>