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Der Pfarrer von Vejlby

Eine Kriminalgeschichte

(Aus dem Tagebuch des Hardesvogts Erik Sörensen, nebst zwei Aufzeichnungen des Pastors von Aalsö)

A.

Erik Sörensens Tagebuch.

In Jesu Namen! So bin ich Unwürdiger nun nach Gottes gnädigem Ratschluß und meines gnädigen Herrn Maßnahme zum Hardesvogt und Richter über dieses Volk berufen. Der Richter der großen Welt gebe mir Weisheit, Gerechtigkeit und Segen, mein schweres Amt so zu verwalten!

»Eines Jeglichen Gericht kommt vom Herrn.« Sprüche 29, 26.

*

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Da ich nun imstande bin, eine Frau zu ernähren, müßte ich mich wohl nach einer Hilfe umsehen. Die Tochter des Pastors von Vejlby hat einen guten Ruf bei all denen, die sie kennen. Sie hat seit dem Tode ihrer seligen Mutter mit viel Verstand und Sparsamkeit das Haus geführt. Und da außer ihr und dem Studenten keine Kinder sind, kann sie ein gutes Stück Geld erwarten, wenn der Alte einmal dahingeht.

*

Morten Bruus aus Ingvorstrup war heute hier und wollte mir ein fettes Kalb schenken; aber ich erinnerte mich Moses Wort: »Verflucht sei der, der Geschenke nimmt.« – Er ist ein Mensch, der Lust zu Rechtshändeln hat, ein großer Schacher und ein großer Prahler; ich will nichts mit ihm zu schaffen haben, ausgenommen, wenn ich zu Gericht sitze.

*

Ich bin nun mit Gott im Himmel und sodann mit meinem eigenen Herzen zu Rate gegangen; und will es mich klärlich bedünken, daß Jungfrau Mette Quist der einzige Mensch ist, mit dem ich leben und sterben möchte. Doch will ich in aller Stille noch einige Zeit auf sie achtgeben. Schönheit ist trügerisch und Anmut ein vergänglich Ding. Sonst ist es gewißlich und wahr, sie ist das schönste Weibsbild, das ich mein Lebtag gesehen habe.

*

Der Morten Bruus ist mir eine recht widerliche Person – ich weiß kaum selbst warum, doch wenn ich ihn sehe, kommt mir etwas wie ein böser Traum in den Sinn, aber so dunkel und undeutlich, daß ich nicht einmal sagen kann, ob ich jemals von ihm geträumt habe.

Kann auch sein, es ist so etwas wie eine Ahnung. Er kam gestern hierher, um mir ein Paar Mohrenkopper anzubieten – herrliche Tiere, und für einen Spottpreis! Aber gerade das fiel mir auf: ich weiß, er hat sie für 70 Taler zusammengebracht, und besprungen sind sie unter Brüdern 100 Taler wert. Ist das nicht auch eine gewisse Bestechung? Er hat sicher wieder einen Prozeß vor – ich will seine Mohrenkopper nicht haben.

*

Heute war ich zu Besuch beim Pastor in Vejlby. Er ist wohl ein gottesfürchtiger und braver Mann, aber gebieterisch und auffahrend. Er duldet keinen Widerspruch, und ein Pfennigfuchser dazu ist er.

Es war gerade ein Bauer bei ihm und wollte Nachlaß auf seinen Zehnten haben. Der Mann ist ein Spitzbube; denn seine Abgabe kann nicht zu hoch sein. Aber Herr Sören redete ihn an, daß kein Hund ein Stück Brot von ihm nehmen würde. Und je mehr er schalt, desto heftiger wurde er selbst.

Na, mein Gott! Jeder Mensch hat seine Fehler. Er meint doch nichts Böses damit; denn gleich darauf befahl er seiner Tochter, dem Mann ein Butterbrot und ein Glas gutes Bier zu geben. – Sie ist ein gar artiges und schönes Mädchen. Sie grüßte mich so freundlich und ehrbar, daß mein Herz ganz bewegt wurde, und ich nicht im Stande war, ein Wort zu ihr zu sagen.

Mein Großknecht hat drei Jahre dort gedient; ich will ihn doch vorsichtig ausforschen, wie sie gegen die Leute ist, und was er sonst vielleicht von ihr wissen mag. Vom Gesinde bekommt man oft die sichersten Nachrichten.

*

Potztausend! Rasmus, der Großknecht, erzählt mir, daß dieser Morten Bruus einmal vor nicht so langer Zeit auf dem Vejlbyer Pfarrhof angehalten, aber Abschlag bekommen hat. Der Pastor hätte es schon ganz gern gemocht; denn der Mann ist reich. Aber die Tochter wollte auf keinen Fall.

Herr Sören soll ihr wohl anfangs schwer zugeredet haben; aber als er dann sah, es war ihr so sehr zuwider, behielt sie doch ihren Willen. Aus Hochmut war es nicht – sagt Rasmus; denn sie ist ebenso demütig wie gut; und sie gibt sehr wohl zu, daß ihr eigener Vater ebenso von Bauern stammt wie der Bruus. –

*

Nun weiß ich, wozu die Ingvorstruper Mohrenkopper hier in Rasmus dienen sollten: sie sollten den Richter vom geraden Wege der Gerechtigkeit abziehen. Ole Andersens Torfmoos und Weide – die Birne war schon den ganzen Apfel wert.

Nein, nein, mein guter Morten! Du kennst nicht Erik Sörensen.

»Du sollst mit nichten beugen der Armen Recht.«

*

Herr Sörensen aus Vejlby war heute vormittag hier auf einen kurzen Besuch. Er hat einen neuen Kutscher, Niels Bruus, Bruder des Mannes auf Ingvorstrup. Selbiger ist offenbar faul und naseweis und hochfahrend dazu.

Der Pastor wollte ihn bestraft und ins Loch gesetzt haben, hat aber nicht die erforderlichen Zeugen. Ich riet ihm, er solle sehen, den Kerl loszuwerden und sich mit ihm bis zum Ziehtag durchzuschleppen. Zuerst antwortete er mir etwas unwirsch; aber als er meine Gründe hörte, gab er mir Recht, ja bedankte sich sogar für meine guten Ratschläge.

Er ist ein heftiger Mann, aber nicht schwer zur Vernunft zu bringen, wenn er Zeit findet sich zu beruhigen. So schieden wir als gute Freunde. Von Jungfer Mette wurde kein Wort gesprochen.

*

Ich habe einen sehr angenehmen Tag auf dem Vejlbyer Pfarrhof verbracht. Herr Sören war nicht zu Hause, als ich kam; aber Jungfer Mette empfing mich sehr freundlich. Sie saß und spann, als ich in die Tür trat; und es kam mir vor, als würde sie ganz rot im Gesicht.

Es dauerte hübsch lange, bis ich etwas zu sprechen fand. Wenn ich zu Gericht sitze, weiß ich immer, was ich sagen soll; und wenn ich einen Spitzbuben im Verhör habe, suche ich nicht lange nach Quästionen. Aber vor diesem frommen, unschuldigen Kind stand ich so schuldbewußt da wie ein Hühnerdieb.

Schließlich kam ich darauf, mit ihr über Ole Andersens Prozeß zu sprechen, um sein Torfmoor und seine Wiese. Aber ich weiß nicht, wie es kam, daß der Diskurs von der Wiese zu Blumen überging. Und so gab ein Wort das andre, von Rosen und Veilchen und Tausendschön, bis sie mich in den Garten nahm, damit ich ihren Blumenflor besehe. So verging die Zeit, bis Herr Sören nach Hause kam; und da ging sie in die Küche und kam nicht eher wieder, als bis sie das Abendessen hereinbrachte.

Gerade als sie in die Tür tritt, sagt der Pastor zu mir: »Das wäre wohl auch nicht zu früh, wenn Ihr jetzt auch daran dächtet, in den heiligen Ehestand zu treten.« (Wir hatten uns nämlich über die prächtige Hochzeit unterhalten, die kürzlich auf Högholm gefeiert worden war.) Da wurde Jungfer Mette wieder so rot wie Blut.

Ihr Vater lächelte und sagte: »Man kann dir ansehen, meine Tochter, daß du am Herd gestanden hast.«

Ich werde die Mahnung des braven Mannes beherzigen; und es wird nicht lange dauern, daß ich in Gottes Namen zu ihm gehen und anhalten werde. Denn ich betrachte die Worte des Vaters als einen verblümten Wink, daß er mich gern zum Schwiegersohn haben möchte.

Und die Tochter – warum wurde sie wohl so rot? Ich darf das wohl als ein gutes Zeichen nehmen?

*

Nun behält also der arme Mann sein Torfmoor und seine Wiese; aber der reiche ist mir gewißlich sehr gram geworden. Bevor das Urteil verlesen wurde, sah er so recht höhnisch zu dem armen Ole Andersen hin.

Bei den Worten: »daher wird Rechtens erkannt« sah er sich nach allen Seiten um und grinste so hinterhältig, als ob er seines Sieges ganz gewiß wäre. Und das war er sicher auch; denn ich weiß, er hat verlauten lassen, es wäre ja töricht, der Bettler dächte daran, von ihm zu gewinnen.

Das geschah aber trotzdem.

Als er das Urteil vernommen hatte, kniff er Augen und Lippen zusammen und wurde im Gesicht so weiß wie die Wand.

Aber er bezwang sich und sagte, als er hinausging, zu seinem Widersacher: »Glück zu mit dem Handel, Ole Andersen! Die Torfpfütze wird mich nicht arm machen. Die Invorstruper Ochsen bekommen noch das Heu, das sie fressen können.«

Ich hörte ihn draußen lachen und, während er fortritt, einen Knall nach dem andern mit seiner Peitsche geben, so daß es im Walde widerhallte.

Es ist doch schwer, Richter zu sein. Bei jedem Erkenntnis, das man abgibt, kann man auf einen Feind mehr rechnen. Ach ja, wenn wir dennoch das Gewissen als Freund behalten könnten! »Ertrage Kummer um des Gewissens willen!«

*

Der gestrige Tag ist der froheste meines Lebens gewesen; da wurde das Jawort auf dem Vejlbyer Pfarrhof gefeiert.

Mein künftiger Schwiegervater sprach über die Worte: »Ich habe meine Magd dir beigelegt.« 1tes Buch Mose 16, 5.

Er legte es recht beweglich aus, wie er mir nun seinen liebsten Schatz hier auf Erden übergeben wolle, und daß ich vor allem gut zu ihr sein müsse. (Das will ich, so wahr mir Gott helfe!)

Ich hätte nicht geglaubt, daß der ernste, ja fast barsche Mann so weich hätte sein können: die Tränen standen ihm zuletzt in den Augen und seine Lippen bebten, wie wenn einer sich das Weinen verbeißen will. Meine Braut weinte wie ein Kind, namentlich als er von ihrer seligen Mutter zu sprechen begann.

Und als er dann die Worte sprach: »Vater und Mutter werden dich verlassen; aber Gott wird bei dir bleiben«, da brach auch ich in Weinen aus – ich dachte an meine eigenen lieben Eltern, die Gott schon seit langem zu sich in die ewigen Behausungen genommen hat, und der doch später so gnädig für mich armes Kind gesorgt hat.

Als die Verlobung vorüber war, erhielt ich von meiner süßen Braut den allerersten Kuß. Gott erfreue ihre Seele! Sie liebt mich über die Maßen.

Bei Tisch ging es sehr lustig zu. Es waren viele Verwandte der seligen Frau eingeladen, von seiner Seite niemand; denn es sind nur wenige und sehr entfernte und wohnen ganz oben bei Skagen. Es wurde weder an Wein noch an Essen gespart, und nach Tisch wurde tüchtig getanzt, fast bis in den hellen Tag.

Der Pastor von Lyngby, der von Aalsö und der von Hyllested waren auch zugegen; dieser wurde so schwer, daß er zu Bett gebracht werden mußte. Mein künftiger Schwiegervater trank auch gewaltig; aber es war ihm gar nicht anzumerken; denn er ist stark wie ein Riese und könnte gut alle Pastoren der Harde unter den Tisch trinken.

Ich merkte wohl, daß er auch sein Vergnügen gehabt hätte, wenn es sich bei mir etwas gedreht hätte; aber ich nahm mich in acht – außerdem bin ich auch gar kein Liebhaber starker Getränke.

In sechs Wochen soll unsre Hochzeit sein. Gott gebe dazu seinen reichen Segen!

*

Es ist recht übel, daß mein künftiger Schwiegervater diesen Niels Bruus in seinem Brot haben muß! Er ist ein störrischer Bursche, ein würdiger Bruder zu dem Ingvorstruper. Er sollte seinen Lohn haben und dann die Tür zugeschlagen! Viel besser, als sich die Finger mit solch einem Esel zu beschmieren. – Aber der gute Pastor ist so heftig und eigensinnig; und zwei harte Steine mahlen nicht gut. Er will absolut, daß Niels seinen Dienst abdienen soll; und das wird ja doch nur ein täglicher Ärger.

Vor einigen Tagen gab er ihm eine Maulschelle, worauf der Kerl drohte, die würde er noch heimgezahlt bekommen. Aber das war alles unter vier Augen.

Ich habe ihn zu mir bestellt und ihn ermahnt und ihm gedroht. Er hat mir so gut wie gar nicht geantwortet – er ist böse.

Auch meine Braut hat ihren Vater gebeten, ihn zu entlassen; aber davon wollte er nichts hören. Ich weiß nicht, was werden soll, wenn sie nun zu mir zieht – denn sie erspart dem Alten viel Verdruß und weiß so gut alles auszugleichen.

Sie wird mir gewiß eine liebe Hausfrau werden, ›ein Weinstock rings um mein Haus.‹

*

Schlecht ist es gegangen, und das war gut: nun ist Niels selbst davongelaufen. Mein lieber Schwiegervater ist so zornig wie ein Deutscher; aber ich freue mich im Stillen darüber, daß er so den schlechten Menschen losgeworden ist. Wahrscheinlich wird der Bruus bei passender Gelegenheit sehen, sich zu revanchieren; aber wir haben ja Recht und Gesetz im Lande, und das Recht tut uns allen genüge.

Der Pastor hatte Niels aufgegeben, im Garten draußen etwas umzugraben. Als er hinauskommt und nach ihm sehen will, steht er ganz behaglich da und ruht sich auf seinem Spaten aus und knackt Nüsse, die er da gepflückt hat; aber getan hat er nichts. Der Pastor beginnt ihn auszuschelten, der antwortet kurz, daß er nicht als Gärtner angestellt sei. Worauf er ein Paar Maulschellen bekommt, und darauf wirft er den Spaten fort und schimpft gröblichst zurück.

Der Alte geht nun hoch, nimmt den Spaten und versetzt ihm damit ein paar Schläge – das hätte er nicht tun sollen; denn ein Spaten ist eine üble Waffe zum Schlagen, vor allem in Wut und für einen handfesten Mann. Der Schelm läßt sich erst fallen, als wäre er tot; aber als der Pastor Angst bekommt und ihn aufrichtet, springt er selbst über den Zaun und damit in den Wald hinein. So hat mein Schwiegervater selbst mir diese unbehagliche Geschichte erzählt.

Meine Braut ist jedoch darüber so beunruhigt: sie fürchtet, er wird sich auf eine oder die andre Weise rächen, dem Vieh Schaden tun, ja vielleicht den Hof anzünden. Mit Gottes Hilfe, das hat keine Not.

Nur noch drei Wochen, dann werde ich meine süße Braut als Frau in mein Haus führen. Sie ist bereits hier gewesen und hat alles in Augenschein genommen, draußen wie drinnen. Sie war sehr zufrieden und rühmte unsre Ordnung und Sauberkeit. Das einzige, was sie bedauerte, war, daß sie ihren Vater verlassen sollte; und sicherlich wird er sie vermissen.

Doch will ich tun, was ich kann, um ihm seinen Verlust zu ersetzen; ich will mit ihm tauschen und er soll meine eigene gute Muhme Gertrud dafür bekommen. Sie ist eine tüchtige Frau im Hause und für ihr Alter noch recht rüstig.

Meine Braut ist ein richtiger Engel; das sagen auch alle Menschen – ich werde sicher ein glückseliger Mann – Gott allein sei die Ehre!

*

Seltsam genug, wo der Bursche sich versteckt hat! Oder ob er außer Landes gegangen sein sollte? Auf alle Fälle ist es eine ärgerliche Geschichte: es wird allerhand unter den Leuten gemurmelt. Verdächtigungen, nehme ich an, die ihren Ursprung in Ingvorstrup haben. Indessen wäre es schlimm, wenn es meinem Schwiegervater zu Ohren kommen sollte.

Hätte er doch lieber meinen Rat befolgt! Der Zorn eines Menschen richtet nichts aus, was für Gott gut ist. Aber ich bin nur ein Laie und darf mich nicht erdreisten, einen Diener am Worte Gottes zurechtzuweisen, wenn er dazu so viel älter ist als ich. Nun, ich will hoffen, daß das Gerede von selbst verschwindet.

Morgen komme ich nach Vejlby und werde dort vernehmen, ob er etwas von dem Geschwätz gehört hat.

Das neue Armband, das ich vom Goldschmied bekommen habe, ist sehr schön und wird wohl meine herzensliebe Mette erfreuen. Wenn es ihr nur passen wird; denn das Maß wurde so heimlich und in aller Eile mit einem Grashalm genommen.

Muhme wird mit dem Bett Ehre einlegen; die Fransen sind besonders schön.

*

Mein lieber Schwiegervater war ganz niedergeschlagen und üblen Muts – ich habe ihn früher nie so gesehen. Dienstfertige Geister haben ihm leider das dumme Gerücht hinterbracht, das nun ein allgemeines Gerede unter den Leuten der Gegend hier ist.

Der Bruus hat geäußert, der Pastor müsse seinen Bruder zur Stelle schaffen, und wenn er ihn aus der Erde graben sollte.

Kann sein, er hält sich auf Ingvorstrup verborgen – fort ist er, und niemand hat seitdem etwas von ihm gehört oder gesehen. Meine arme Braut grämt sich allzu sehr; sie wird von Ahnungen und schweren Träumen geplagt.

*

Gott sehe in Gnade auf uns alle! Ich bin so benommen von Schreck und Betrübnis, daß ich kaum imstande bin, die Feder zu führen. Wohl an hundert Mal ist sie mir aus der Hand gefallen.

Mein Herz ist so bedrückt und meine Gedanken so voller Zweifel, daß ich fast nicht weiß, wo ich beginnen soll. Alles scheint mir ganz plötzlich gekommen zu sein, wie ein Donnerschlag. Die Zeit ist für mich aus den Fugen; Abend und Morgen ist eins, der ganze greuliche Tag ein rasches Aufblitzen, das das stolze Haus meiner Wünsche und Hoffnungen bis auf den Grund niedergebrannt hat.

Ein ehrwürdiger Mann, der Vater meiner Braut, in Haft und Banden! Und zwar als Mörder und Missetäter!

Nur die eine Hoffnung habe ich übrig, daß er doch unschuldig ist. Aber leider! Das ist nur ein Strohhalm für den Schiffbrüchigen. Ein schwerer Verdacht ruht auf ihm – und daß ich, ich Elender, sein Richter sein soll! Und die Tochter, seine Tochter, meine anverlobte Braut!

Herr, mein Erlöser! Erbarme dich unser! – Ich vermag nicht weiter.

*

Gestern den unglücklichen Tag – ungefähr eine, halbe Stunde, ehe die Sonne aufging – kam Morten Bruus hier auf den Hof und hatte mit sich Häusler Jens Larsen aus Vejlby sowie die Witwe des Hirten und deren Tochter ibidem.

Morten Bruus sagte mir, er habe den Pastor von Vejlby stark im Verdacht, seinen Bruder erschlagen zu haben. Ich erwiderte ihm, daß ich wohl dasselbe Gerede gehört, aber für eine dumme und boshafte Erfindung angesehen habe, da der Pastor mir selbst versichert habe, der Knecht sei davongelaufen.

»Wenn dem so wäre«, sagte er, »daß Niels hätte ausreißen wollen, wäre er zuerst zu mir gekommen und hätte es mich wissen lassen. Aber daß es sich ganz anders verhält, das können diese guten Leute bezeugen, und deshalb bitte ich, daß Ihr sie amtlich vernehmt.«

»Bedenkt Euch wohl!« sage ich, »bedenkt Euch wohl, mein lieber Bruus! und ebenso ihr andern guten Leute, ehe ihr einen ehrlichen und unbescholtenen Geistlichen und Seelsorger beschuldigt! Könnt Ihr nichts beweisen, was ich höchlichst bezweifle, kann es Euch teuer zu stehen kommen!«

»Pastor oder nicht Pastor«, rief der Bruus, »es steht geschrieben: Du sollst nicht töten! Es steht auch geschrieben: Die Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst. Wir haben doch Recht und Gesetz im Lande, und ein Mörder kann seiner Strafe nicht entgehen, und wenn er den Stiftsamtmann zum Schwiegersohn hätte.«

Ich tat, als merkte ich die Spitze nicht, und sagte: »Wohlan! Es geschehe, wie Ihr wollt! Was wißt Ihr, Kirsten Madstochter, von dieser Sache, deren Morten Bruus Euren Pastor beschuldigt? Sagt nun die reine Wahrheit, so wie Ihr sie vor dem Richterstuhl des Allwissenden vertreten könnt und die Ihr nachher mit dem Eid des Gesetzes bekräftigen werdet!«

Und gab sie da folgende Erklärung: Den Tag, an dem es hieß, Niels Bruus sei vom Pfarrhof entlaufen, war sie etwas über Mittag mit ihrer Tochter Else am Garten des Pastors vorbeigegangen. Als sie ungefähr mitten vor der Steineinfassung sind, die östlich um ihn herumläuft, hören sie jemand Else rufen. Es war Niels Bruus, der hinter der Haselnußhecke stand und nun die Zweige etwas zur Seite beugte und Else fragte, ob sie ein paar Nüsse haben wolle. Sie ließ sich eine Handvoll geben und fragte, was er da mache. Er erwiderte, der Pastor habe ihm zu graben befohlen, aber mit dieser Arbeit habe er es nicht so genau genommen, er pflücke lieber Nüsse.

In diesem Augenblick hörten sie, wie eine Tür drinnen im Hause aufgemacht wurde, und Niels sagte: "Paßt auf! Jetzt kriegen wir eine Schimpfpredigt!" Gleich darauf hatten sie gehört – sehen konnten sie es nicht: denn die Einfassung war zu hoch und die Hecke zu dicht – wie sie sich stritten, und blieb der eine nicht dem andern das Wort schuldig. Zum Schluß hatten sie den Pastor rufen hören: »Ich schlage dich, du Hund, daß du tot vor mir liegst!« worauf es zwei oder dreimal klatschte, als ob jemand Maulschellen bekam.

Dann hatte Niels den Pastor einen Henkersknecht und einen Spitzbuben gescholten. Darauf hatte der Pastor gar nicht geantwortet. Dagegen aber hörten sie zwei dumpfe Schläge und sahen gleichzeitig, wie das Blatt eines Spatens und ein Stück Schaft zweimal über der Hecke geschwungen wurde; aber wer den Spaten geschwungen hatte, konnten sie wegen der Höhe und Dichtigkeit der Hecke nicht sehen.

Dann wurde alles still im Garten; aber sie (die Hirtenwitwe und ihre Tochter) wurden ängstlich und sonderbaren Muts und gingen dann auf das Feld zu dem Vieh. Dieselbe Erklärung wie die Mutter gab auch die Tochter ab. Ich fragte sie, ob sie nicht Niels Bruus hätten aus dem Garten kommen sehen, was sie beide verneinten, obwohl sie sich mehrmals umgesehen hätten.

All dies stimmt vollständig mit dem Bericht des Pastors an mich überein; und daß sie den Knecht nicht hatten aus dem Garten kommen sehen, war ganz wahrscheinlich, da er auf der Südseite ebenso nahe zum Walde hatte, wohin er, wie der Pastor sagte, seinen Weg genommen hatte.

Ich erklärte nun Morten Bruus, daß das abgegebene Zeugnis nichts für den angeblichen Mord beweise, um so weniger, als der Pastor mir freiwillig die ganze Sache so erzählt habe, wie die Frauen sie jetzt angegeben hätten.

Hierzu lächelte er bitter und bat mich nur, auch den dritten Zeugen zu verhören, was ich nun auch tat.

Jens Larsen erklärte, daß er eines Abends sehr spät (aber so weit er sich erinnerte, war es nicht derselbe Abend, nachdem Niels Bruus entlaufen war, sondern der nächste) von Tolstrup heimgegangen sei und den gewöhnlichen Fußweg östlich vom Pastorgarten genommen habe. Darin hatte er das Geräusch von einem, der grub, gehört. Im ersten Augenblick war er wohl etwas ängstlich geworden; aber da es heller Mondschein war, wollte er doch einmal nachsehn, wer das war, der im Garten etwas um diese Zeit zu tun habe. Er zog seine Holzschuh aus, kletterte auf die Einzäunung und machte sich mit den Händen ein kleines Guckloch in die Hecke. Hier sah er nun den Pastor in seinem täglichen Schlafrock und mit seiner weißen baumwollenen Nachtmütze auf dem Kopfe stehen und die Erde mit einem Spaten glattmachen; aber etwas andres hatte er nicht gesehen. Da der Pastor sich in diesem Augenblick plötzlich umdrehte, als hätte er jemanden bemerkt, war der Zeuge ängstlich geworden, hatte sich eilig von der Einzäunung heruntergleiten lassen und war ebenso eilig davongelaufen. Obgleich es mir allerdings auffallend war, was der Pastor so spät im Garten vornehmen konnte, fand ich doch noch nichts Besonderes dabei, das den Verdacht des imputierten Mordes wecken konnte, was ich auch dem Kläger mit der ernsten Vermahnung sagte, er solle nicht allein die Beschuldigung zurücknehmen, sondern auch öffentlich das umlaufende Gerücht für unbegründet erklären und gleichzeitig sich jeden Anteils daran enthalten.

Darauf antwortete er: »Nicht, bevor ich gesehen habe, was der Pastor in seinem Garten vergraben hat.«

»Da«, erwiderte ich, »dürfte es zu spät sein, und Ihr setzt da Eure Ehre und Euer Wohlergehen auf ein gefährliches Spiel.«

»Das bin ich meinem Bruder schuldig«, versetzte er, »und ich erwarte von unsrer gesetzlichen Obrigkeit, daß sie mir nicht die Hilfe und den Beistand des Rechts versagt.«

Diese Aufforderung war ich gezwungen zu befolgen.

Ich ging also, zusammen mit dem Kläger und den Zeugen, nach Vejlby sehr bekümmerten Gemütes, weniger aus Furcht, den genannten Flüchtling im Garten zu finden, als aus Besorgnis über den Schreck und den Ärger, der dem Pastor und meiner Braut dadurch verursacht werden würde.

Unterwegs dachte ich nur daran, wie ich den Verleumder die volle Strenge des Gesetzes fühlen lassen würde. Ach, du mein lieber Himmel! Es stand mir die grausamste Entdeckung bevor.

Zuerst hatte ich den Pastor beiseite nehmen und ihm damit Zeit geben wollen, sich zu fassen und Herr seiner selbst zu werden; aber Morten Bruus kam mir zuvor.

Denn als ich in den Hof fuhr, jagte er auf seinem Pferd an mir vorbei und gerade auf die Tür zu, und als der Pastor sie öffnete, rief er:

»Die Leute sagen, Ihr habt meinen Bruder erschlagen und ihn in Eurem Garten vergraben; ich komme hier mit dem Hardesvogt, um nach ihm zu suchen!«

Der Pastor wurde durch diese Anrede so verblüfft, daß er nicht ein Wort zu sagen vermochte, bis ich vom Wagen sprang und zu ihm sagte: »Ihr hört also die Beschuldigung, und zwar ohne Umschweife. Ich bin von Amts wegen genötigt, das Ansinnen dieses Mannes zu erfüllen, und erfordert es nun Eure eigene Ehre, daß die Wahrheit an den Tag kommt und der Verleumdung der Mund gestopft wird.«

»Das ist aber hart«, sagte er nun, »daß ein Mann meines Standes gezwungen werden soll, eine so grauenhafte Beschuldigung von sich abzuwälzen. Doch kommt nur! Mein Garten und mein ganzes Haus stehen Euch offen!«

Wir gingen nun durch das Wohnhaus und in den Garten. Da begegnete uns meine Braut, sie wurde erschrocken, als sie den Bruus sah.

Ich flüsterte ihr hastig zu: »Sei nur ruhig, mein Herz! Geh hinein und ängstige dich nicht! Euer Feind geht seinem eigenen Verderben entgegen!«

Morten Bruus ging nun voran nach der Ostseite des Gartens bis an die Dornhecke, wir andern hinterdrein zusammen mit den Leuten des Pastors, die er selbst beordert hatte, mit Spaten und Hacken mitzukommen.

Der Kläger blieb stehen und sah sich um, bis wir ihn erreicht hatten.

Dann wies er auf eine Stelle und sagte: »Das sieht so aus, als wäre hier vor kurzem gegraben worden; hier müssen wir suchen.«

»Grabt!« rief der Pastor zornig.

Die Leute gruben und der Bruus, der meinte, daß es nicht rasch genug gehe, riß einem den Spaten fort und arbeitete voller Eifer.

Als sie ein paar Spatenstiche tief gekommen waren, war der Grund so fest, daß man deutlich sah, hier war vor kurzem nicht gegraben worden – vielleicht seit vielen Jahren nicht.

Wir freuten uns alle – bis auf einen – und der Pastor am allermeisten; er begann bereits über seinen Ankläger zu triumphieren und sagte spottend zu ihm: »Habt Ihr etwas gefunden, Ihr Ehrabschneider?«

Der antwortete ihm nicht; nachdem er sich aber einen Augenblick bedacht hatte, rief er: »Jens Larsen! Wo habt Ihr den Pastor stehen und graben sehen?«

Jens Larsen hatte bisher, während gegraben wurde, mit gefalteten Händen dagestanden und der Arbeit zugesehen.

Bei der Anrede des Bruus wachte er auf wie aus einem Traum, sah sich etwas um und zeigte dann auf einen Winkel, etwa drei, vier Faden von der Stelle, an der wir standen.

»Da glaube ich, ist es gewesen!« sagte er.

»Was sagst du, Jens?« rief der Pastor zornig, »wann habe ich gegraben?«

Ohne hierauf Acht zu geben, rief Morten Bruus die Leute in den angegebenen Winkel. Hier lagen ein paar verwelkte Kohlstrünke, Zweige und andres Zeug, das er erst aus dem Wege räumte.

Das Graben fing wieder an.

Ich stand ganz ruhig und höchst zufrieden da und sprach mit dem Pastor über die Sache und die Strafe, die der Kläger sich zugezogen habe, als einer der Knechte rief: »Jesus! Gott behüte!«

Wir sahen dahin – ein Hutkopf war zum Vorschein gekommen.

»Hier finden wir schon, nach dem wir suchen!« schrie Bruus, »das ist Nielsens Hut; ich kenne ihn.«

Da war es mir, als würde all mein Blut zu Eis; meine ganze Hoffnung war plötzlich zu Boden geschlagen.

»Grabt! Grabt!« rief der fürchterliche Bluträcher, indem er sich selbst aus allen Leibeskräften anstrengte.

Ich sah auf den Pastor: er war wie eine Leiche, aber seine Augen waren weit aufgerissen und unverwandt auf die schreckensvolle Stelle gerichtet.

Wieder ein Schrei: eine Hand streckte sich gleichsam den Grabenden aus der Erde entgegen.

»Seht!« rief Bruus, »er greift nach mir. Ja, warte nur, Bruder Niels! Du sollst deine Rache bekommen!«

Bald war die ganze Leiche ausgegraben – es war wirklich der Vermißte. Sein Gesicht war nicht mehr ganz zu erkennen, da es in Verwesung überzugehen begonnen hatte und das Nasenbein außerdem zerschlagen und plattgedrückt war; aber seine ganzen Kleider, bis auf das Hemd mit seinem eingenähten Namen, wurden sofort von all den andern Knechten erkannt; sogar ein Bleiring im linken Ohr wurde von allen Umstehenden als Niels Bruuses wiedererkannt, den er seit ein paar Jahren ständig getragen hatte.

»Na, Pastor!« rief Morten Bruus, »kommt und legt die Hand auf den Toten, wenn Ihr es wagt!«

»Allmächtiger Gott!« seufzte der Pastor und schlug seine Augen nach oben. »Du bist mein Zeuge, daß ich unschuldig bin; geschlagen habe ich ihn, aber doch nicht mehr, als daß er davonlaufen konnte. Geschlagen habe ich ihn; das muß ich nun bitter bereuen. Doch wer ihn begraben hat, das weiß der Allwissende.«

»Jens Larsen weiß es auch!« rief der Bruus, »und vielleicht gibt es noch mehr. – Herr Hardesvogt! Ihr werdet wohl auch sein Gesinde verhören; aber zunächst erwarte ich, daß Ihr diesen Wolf im Schafspelz in sicheren Gewahrsam setzt.«

Ach, du gerechter Gott! Nun durfte ich nicht länger zweifeln; die Sache war allzu offenkundig. Aber ich war dicht daran, vor Schreck und Abscheu in die Erde zu sinken. Ich wollte gerade dem Pastor sagen, er müsse sich darauf vorbereiten, ins Gefängnis zu gehen, als er selbst mich ansprach – er war bleich und zitterte wie Espenlaub.

»Der Schein ist gegen mich;« sagte er, »denn das ist ein Werk des Teufels und seiner Engel! Doch lebt noch einer, der meine Unschuld an den Tag bringen wird – kommt, Herr Hardesvogt! In Fesseln, und Banden will ich darauf warten, was er über mich armen Sünder beschlossen hat. Tröstet meine Tochter! Und denkt daran, sie ist Eure Braut!«

Kaum hatte er das gesagt, als ich einen Schrei und einen Fall hinter mir vernahm – es war meine Braut; sie lag dort ohnmächtig an der Erde – Gott gebe, wir hätten beide dagelegen und wären nie mehr erwacht! Ich hob sie auf und nahm sie in meine Arme – ich dachte, sie sei tot; aber der Vater entriß sie mir und trug sie hinein; und gleichzeitig wurde ich wieder zu dem Erschlagenen gerufen, um eine Wunde an seinem Kopf zu besichtigen, die allerdings nicht tief war, aber die Schädeldecke zerbrochen hatte und sichtlich mit einem Spaten oder einem derartigen stumpfen Gerät beigebracht worden war.

Darauf gingen wir alle ins Haus. Meine Braut war nun wieder zu sich gekommen. Sie flog mir an den Hals und beschwor mich bei Gott und allem, was mir heilig sei, doch ihren Vater aus dieser großen Not zu erretten, und bat mich dann um unsrer Liebe willen, daß sie ihn ins Gefängnis begleiten dürfe, was ich ihr auch zugestand. Ich folgte ihnen auch bis Grenaa; aber der Herr weiß, wie mir zu Mute war. Keiner von uns sprach ein Wort auf dieser traurigen Reise. Ich trennte mich von ihnen mit einem zerbrochenen Herzen.

Die Leiche ist in einen Sarg gelegt, den Jens Larsen bei sich selbst stehen hatte, und morgen wird sie auf dem Vejlbyer Kirchhof ehrlich begraben.

Morgen wird das erste Gerichtsverhör abgehalten. Gott stärke mich elenden Menschen!

*

Gott gebe, daß ich niemals diesen traurigen Posten erhalten hätte, dem ich Tor so eifrig nachstrebte! Es ist ein schweres Amt, Richter zu sein – könnte ich doch mit einem der Kerkerknechte tauschen!

Als dieser Diener am Wort mir vor Gericht vorgestellt wurde, von Hand bis Fuß gefesselt, da dachte ich an unsern Herrn, wie er vor Pilati Gericht gestellt wurde. Und es war mir wie lebendig, daß meine Braut – Gott bessere es, sie liegt krank in Grenaa – daß sie zu mir flüsterte: "Befasse dich nicht mit diesem Gerechten!"

Ja, Gott gebe, er wäre es! Aber ich entdecke noch nicht die entfernteste Möglichkeit.

Die drei ersten Zeugen bekräftigten mit erhobenem Finger ihre ganze Aussage im Verhör, und zwar Wort für Wort; es wurde nichts zurückgenommen und nichts hinzugesetzt.

Und auftraten außerdem drei neue Zeugen: die beiden Knechte des Pastors und das Mädchen vom Hof. Die beiden ersten hatten an jenem Tage, als der Mord geschah, in der Gesindestube gesessen und, da das Fenster offen stand, hatten sie deutlich den Pastor und den Ermordeten heftig miteinander schelten hören, und daß der erste gesagt hatte – wie auch die Hirtenwitwe und ihre Tochter angegeben – »ich schlage dich, du Hund, daß du tot vor mir liegst.«

Außerdem hatten sie den Pastor zweimal Niels Bruus drohen und herausfordern hören. Sie gaben weiter an, daß der Pastor, wenn er zornig wurde, oft genug mit dem ersten besten, was ihm in die Hände fiel, zuschlug, und daß er so einmal seinen vorigen Knecht mit einer Keule geschlagen habe.

Das Mädchen erklärte, daß sie in derselben Nacht, in der Jens Larsen den Pastor im Garten gesehen hatte, wach lag und nicht schlafen konnte, und sie hatte die Tür vom Gange in den Garten knirschen hören, und als sie aufstand und hinaussah, sah sie den Pastor in Schlafrock und Nachtmütze in den Garten gehen. – Was er da tat, hatte sie nicht gesehen; aber eine Stunde darauf ungefähr hörte sie wieder das Geräusch von der Gartentür.

Nachdem die Zeugen vernommen waren und ich den unglücklichen Mann befragte, ob er die Tat eingestehen wolle oder was er andernfalls zu seiner Verteidigung zu sagen habe, faltete er seine Hände über der Brust und sagte: »So wahr mir Gott und sein heiliges Wort helfe! Ich will die Wahrheit sprechen. Ich bin mir selbst nichts andrem bewußt, als was ich bereits zuvor bekannt habe. Ich habe den Verstorbenen mit dem Spaten geschlagen, doch nicht mehr, als daß er danach mir aus dem Garten entlaufen konnte; was ihm später zugestoßen oder wie er in meinen Garten zu liegen gekommen ist – das weiß ich nicht. Wenn Jens Larsen und das Mädchen bekunden, daß sie mich nachts in meinem Garten gesehen haben, so lügen sie das entweder oder auch es ist ein Blendwerk der Hölle. Ich elender Mensch habe niemanden zu meiner Verteidigung hier auf Erden, das fühle ich deutlich. Will Er im Himmel schweigen, dann muß ich mich unter seinen unerforschlichen Willen beugen.«

Hierauf ließ er sein Haupt und seine Hände sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Viele der Anwesenden konnten sich nicht des Weinens enthalten. Es entstand ein leises Gemurmel, daß er vielleicht doch unschuldig sei; aber das war ja nur eine Wirkung der Gemütsbewegung und des Mitleids. Auch mein Herz hätte ihn gern freigesprochen; aber das Gefühl darf ja nicht über den Verstand des Richters gebieten; weder Mitleid noch Haß, weder Gunst noch Groll sollen das kleinste Quäntchen in der Schale der Gerechtigkeit wiegen.

Meiner Überzeugung nach kann ich nicht anders als folgendermaßen schließen: Der Angeklagte hat Niels Bruus erschlagen, doch kaum mit Vorsatz und Überlegung; wohl weiß ich, daß er die Angewohnheit hatte, die zu bedrohen, auf die er zornig war, daß er es ihnen noch an dem Tage gedenken werde, an dem sie am wenigsten daran dächten; aber es ist mir nicht bekannt, daß er jemandem gegenüber seine Drohungen wahrgemacht hätte. Nun will ein jeder Mensch, wenn es geht, ja gern sein Leben erhalten und seine Ehre retten, und deshalb bleibt er bei seinem Leugnen, solange er vermag.

Morten Bruus – das ist ein harter Kerl, böse von Anbeginn und schlimmer noch aus Ingrimm über den Mord des Bruders – fing an von Geräten zu sprechen, die einen verstockten Sünder zum Bekennen zwingen könnten; aber da sei Gott vor, daß ich gegen einen solchen Mann die Folter zu Hilfe nehmen sollte. Und was ist sie wohl anderes als ein Prüfstein für körperliche und geistige Stärke und Schwäche? Der, der die Tortur auszuhalten vermag, und der, der ihr unterliegt – lügen können sie beide. Ein erzwungenes Bekenntnis kann niemals verläßliche Wahrheit sein. Nein, eher würde ich meinen Richterstuhl verlassen und mein saures Amt niederlegen.

Ach, meine gute fromme Braut! Sie ist nun für mich verloren, was diese Welt anlangt. Ich habe sie doch so innig geliebt.

*

Ich habe einen harten Schlag auszustehen gehabt. Als ich noch die schreckliche Sache überdachte, in der zu urteilen mir bevorsteht, springt die Tür auf und die Tochter des Pastors – ich darf sie wohl kaum noch Braut nennen, die vielleicht niemals meine Gattin werden wird – sie stürzt mit aufgelöstem Haar herein, wirft sich mir zu Füßen und umfaßt meine Knie.

Ich hob sie in meine Arme auf und wir weinten beide eine gute Weile, bis einer von uns zu Wort kommen konnte.

Ich wurde zuerst Herr meiner großen Trübsal und sagte: »Ich weiß, was Ihr wollt, mein Herz! Ich soll Euren Vater befreien. Ja, Gott helfe uns armen Menschen! Ich kann doch nicht. Sagt mir selbst, Herzenskind, glaubt Ihr, daß Euer Vater unschuldig ist?«

Sie legte die Hand auf ihre Brust und sagte: »Ich weiß es nicht!« und darauf begann sie wieder ganz bitterlich zu weinen.

»Begraben«, sagte sie nun wieder, »hat er ihn doch kaum; aber daß der Knecht im Walde an den Schlägen gestorben ist, die er bekam, das kann schon sein, Gott helfe es!«

»Meine Liebe!« sagte ich, »Jens Larsen und das Mädchen haben ihn doch die Nacht auf dem Wege gesehen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf und versetzte: »Der Böse kann ihre Augen verblendet haben.«

»Da sei unser Herr Jesus vor«, sagte ich, »daß er eine solche Macht über Christenmenschen haben könnte!«

Nun weinte sie wieder.

»Sagt mir aufrichtig«, begann sie nach einer Pause, »sagt mir offen heraus, mein Bräutigam! Wenn Gott keine andre Erleuchtung in dieser Sache schickt, welches Urteil werdet Ihr fällen?«

Sie sah mich ängstlich an und ihre Lippen zitterten.

»Wenn ich nicht wüßte«, erwiderte ich, »daß ein jeder andere härter sein würde als ich, dann würde ich meinen Platz verlassen, ja mit Freuden mein Amt niederlegen. Das aber darf ich nun nicht verhehlen, da Ihr mich danach fragt: das mildeste Urteil, das Gott und der König verhängt haben, ist doch Leben um Leben.«

Jetzt sank sie in die Knie, erhob sich jedoch gleich wieder, wich einige Schritte von mir zurück und rief wie verwirrt: »Wollt Ihr denn meinen Vater morden? Wollt Ihr denn Eure Braut morden? – Seht Ihr den hier?« – sie trat wieder vor und hielt die Hand mit dem Ring mir unter die Augen – »Seht Ihr diesen Verlobungsring? Was sagte mein unglücklicher Vater damals, als Ihr ihn mir an den Finger stecktet? Ich habe meine Magd dir beigelegt! Aber Ihr, Ihr durchbohrt mich!«

Ach Gott, jedes Wort, das sie sagte, durchbohrte mich.

»Süßestes Kind,« seufzte ich, »sprecht nicht so! Ihr peinigt mein Herz mit glühenden Zangen. Was wollt Ihr, soll ich tun? Den freisprechen, den Gottes und der Menschen Gesetz verdammt?«

Sie schwieg und sah zum Himmel.

»Eins will ich tun«, fuhr ich fort, »ist es Unrecht, dann rechne Gott mir die Sünde nicht an! Hört nun, liebstes Kind! Geht die Sache hier zu Ende, dann ist sein Leben verloren; ich sehe keine andre Rettung als Flucht. Könnt Ihr hierfür etwas ausfinden, dann will ich meine Augen schließen und schweigen. Seht, ich habe gleich, als Euer Vater verhaftet wurde, an Euren Bruder in Kopenhagen geschrieben und wir können ihn nun jeden Tag erwarten. Sprecht mit ihm und versucht, den Schließer zum Freunde zu gewinnen! Habt Ihr nicht Geld genug, so verfügt über alles, was ich besitze!«

Als ich dies gesagt hatte, wurde ihr ganzes Gesicht flammend rot vor Freude; sie fiel mir um den Hals und rief: »Gott lohne Euch diesen Rat! Hätten wir nur meinen Bruder, dann wäre uns geholfen.«

»Aber wohin sollen wir?« sagte sie wieder und ließ mich los, »und wenn wir eine Freistatt in fremden Landen finden, dann sehe ich Euch niemals wieder.«

Dies sagte sie so kläglich, daß mein Herz zu brechen drohte.

»Allerliebste mein!« rief ich, »ich werde Euch finden, wie weit Ihr auch fahrt, und sollten Eure Mittel zu Eurem Unterhalt nicht ausreichen, werden diese meine Hände für uns alle arbeiten; ich habe in meiner Jugend die Axt und den Hobel zu führen gelernt.«

Da wurde sie abermals so seelensfroh und küßte mich unzählige Mal.

Wir beteten beide von ganzem Herzen zu Gott, daß er doch unser Vorhaben gelingen lassen möge, und so schied sie von mir in freudiger Hoffnung.

Auch ich begann das beste zu hoffen. Aber kaum war sie fort, als tausend Zweifel mein Gemüt erfüllten, und all die Schwierigkeiten, die mir vorher überwindbar erschienen, kamen mir nun wie ungeheure Berge vor, die meine schwache Hand niemals zu verrücken vermögen würde.

Nein, nein, aus diesem Dunkel und dieser Nacht des Elends kennt nur Er den einzigen Weg, vor dem die schwarze Nacht licht wie der Tag ist!

*

Wieder zwei neue Zeugen! Sie führen kaum etwas Gutes im Schilde. Denn der Bruus kündigte sie mit einer Miene an, die mir nicht behagte – er hat auch ein Herz wie Kieselstein und dazu voller Gift und Galle.

Morgen erscheinen sie vor Gericht; mir ist zu Mute, als wäre ich selbst es, gegen den sie zeugen sollen. – Gott stärke mich!

*

Es ist vorbei – er hat alles bekannt.

Das Gericht tagte und der Gefangene wurde vorgeführt, um die Aussagen der neuen Zeugen zu hören.

Sie erklärten, daß sie in der oft erwähnten Nacht den Weg entlang gegangen seien, der quer zwischen dem Wald und dem Garten des Pastors hindurchführt. Da war ein Mensch aus dem Walde mit einem Sack auf der Schulter gekommen und damit ein Stück an ihnen vorbei nach dem Garten gewandert; sein Gesicht konnten sie nicht erkennen, da es durch den Sack verborgen war. Aber als der Mond auf seinen Rücken schien, hatten sie deutlich gesehen, daß er einen langen grünen Rock (seinen Schlafrock nämlich) und eine weiße Nachtmütze trug; die genannte Person verschwand am Gartenzaun.

Kaum hatte der erste dieses Zeugnis abgelegt, als der Pastor im Gesicht wie Asche wurde und er konnte knapp mit schwacher Stimme die Worte vorbringen: »Mir wird übel.«

Man gab ihm einen Stuhl.

Da sagte der Bruus zu den Umstehenden: »Das hat dem Gedächtnis des Pastors aufgeholfen.«

Der hörte das nicht, sondern winkte mir und sagte: »Laßt mich in mein Gefängnis zurückführen! Da will ich mit Euch reden.«

Es geschah, wie er verlangte.

Wir machten uns nach Grenaa auf; der Pastor fuhr mit dem Schließer und dem Stadtknecht, und ich ritt.

Als die Gefängnistür geöffnet wurde, stand meine Braut da und machte ihres Vaters Bett; auf einem Stuhl am Kopfende hing der unselige grüne Schlafrock.

Meine Braut stieß einen Freudenschrei aus, als sie mich kommen sah; sie glaubte, der Vater sei freigesprochen und ich würde ihn nun selbst aus dem Gefängnis führen. Sie warf, was sie in den Händen hielt, beiseite und hängte sich um seinen Hals. Der alte Mann weinte, so daß die eine Träne nicht die andre erwarten konnte. Er wagte ihr nicht zu sagen, was nun vor Gericht geschehen war, sondern gab ihr einige Aufträge in der Stadt, sie sollte allerhand einkaufen.

Bevor sie ging, lief sie zu mir, drückte meine Hand an ihre Brust und flüsterte: »Gute Botschaft?«

Um meinen Schmerz und meine Verwirrung zu verbergen, küßte ich sie auf die Stirn und sagte: »Liebe! Später sollt Ihr hören, was vorgefallen ist – weiß noch nicht, ob es von Belang ist – aber holt uns nun, was Euer Vater verlangt.«

Sie ging.

Ach, ach, welche jämmerliche Veränderung gegen früher, da dieses unschuldige Kind sorglos und froh in der heiteren Pastorswohnung lebte, und nun hier in diesem düsteren Gefängnis mit Sorge und Schmerz, ja mit eitel Angst und Beben.

»Setzt Euch, Lieber!« sagte er und setzte sich selbst auf den Bettrand. Er faltete seine Hände im Schoß und stierte lange zu Boden in tiefen Gedanken. Endlich richtete er sich auf und heftete seine Augen auf mich; ich wartete in ängstlichem Schweigen, als ob ich mein eigenes Urteil vernehmen sollte – ja, in gewisser Weise sollte ich das auch.

»Ich bin ein großer Sünder!« nahm er das Wort, »wie groß, das weiß Gott; ich selbst weiß es nicht. Er will mich hier strafen, daß ich droben Gnade und Seligkeit erhalten kann. Ihm sei dafür Preis und Ehre!«

Nun schien er mehr Ruhe und Stärke zu gewinnen und fuhr fort wie folgt:

»Seit meiner Jugend, solange ich mich entsinnen kann, bin ich immer streitsüchtig gewesen, jähzornig und stolz, konnte keinen Widerspruch dulden, sondern war stets bereit, mit dem Schwert zuzuschlagen. Doch habe ich selten die Sonne über meinem Zorn untergehen lassen, auch niemals Haß gegen irgendeinen Menschen genährt. Bereits als halbwüchsiger Junge beging ich in der Hitze eine Tat, die mich oft innig gereut hat und mich noch jedesmal schmerzt, wenn ich daran denke: unser Hofhund, ein frommes Tier, der niemals einem Tier ein Haar krümmte, hatte mein Vesper genommen, das ich auf einen Stuhl von mir gelegt hatte. In meiner Wut trat ich mit meinem Holzschuh so nach dem Hund, daß er unter jämmerlichen Schreien und Qualen starb. Das war nur ein unmündiges Tier, aber doch ein Anzeichen dafür, daß ich mich an Menschen vergreifen würde.

»Da ich als Student ins Ausland reiste, ließ ich mich in einen unnötigen Handel mit einem Bursch in Leipzig ein, forderte ihn und stach ihn so gefährlich in die Brust, daß er mit aller Not gerettet werden konnte. Bereits hierfür hätte ich verdient, was ich nun so spät erleiden muß; aber die Strafe fällt nun auch mit zehnfachem Gewicht auf mein sündiges Haupt – ein alter Mann – Geistlicher, Sendbote des Friedens – und Vater! Ach Gott, ach Gott! Da ist die Wunde am tiefsten – –«

Er sprang auf und rang seine Hände, so daß es in allen Gelenken knackte.

Ich wollte ihm etwas zum Troste sagen, fand aber nichts.

Als er sich ein wenig gefaßt hatte, setzte er sich wieder und fuhr fort:

»Euch gegenüber, einst mein Freund und nun mein Richter, will ich nun eine Schuld bekennen, die ich ohne jeden Zweifel begangen habe, deren ich mir jedoch nicht vollkommen bewußt bin.«

(Ich stutzte und wußte nicht, wo er hinaus wollte, oder ob er mit gutem Bewußtsein sprach; denn ich hatte mich nun auf ein reines und rückhaltloses Geständnis gefaßt gemacht.)

»Versteht mich recht und beachtet meine Rede! Daß ich den unglücklichen Knecht mit dem Spaten geschlagen habe, das weiß ich und habe ich offen eingestanden – ob es mit der Fläche oder mit der Schneide war, konnte ich in meiner starken Erbitterung nicht wahrnehmen – daß er dann fiel und fortlief – seht, das ist alles, was ich mit wahrer Gewißheit weiß. Das Übrige – Gott helfe es! – haben ja vier Zeugen gesehen, nämlich, daß ich die Leiche geholt und begraben habe; und das dem wirklich so sein muß, bin ich genötigt zu glauben. Hört meine Gründe:

Drei- oder viermal früher in meinem Leben ist es mir widerfahren, daß ich im Schlafe gewandelt bin.

Das letztemal – es kann jetzt neun oder zehn Jahre her sein – sollte ich den nächsten Tag einem Manne die Leichenpredigt halten, der auf plötzliche und elende Weise umgekommen war. Ich war verlegen um einen Text, als mir die Worte eines Weisen bei den alten Griechen einfielen: »Preise keinen glücklich, bevor er gestorben ist!«

Die Sentenz eines Heiden zum Text einer christlichen Rede zu nehmen, wäre nicht gegangen; aber es war mir so, als ob derselbe Gedanke mit ungefähr denselben Worten sich irgendwo in der Heiligen Schrift fände. Ich suchte und suchte und konnte die Stelle nicht finden. Es war spät, ich war von andrer Arbeit sehr ermüdet, kleidete mich deshalb aus, ging zu Bett und schlief ein.

Als ich am Morgen erwache und mich an den Schreibtisch setze, um einen andern Text zu wählen und einen Entwurf der Rede niederzuschreiben, sehe ich zu meinem großen Erstaunen vor mir auf dem Tisch mit großen Buchstaben auf einem Blatt Papier geschrieben: »Preise keinen glücklich, ehe sein Ende gekommen! Sirach, das 11te Kapitel, 34ter Vers.« Aber nicht allein das, auch eine Leichenpredigt, kurz, doch so gut ausgearbeitet wie nur je, – und alles das von meiner eigenen Hand. Im Zimmer war kein Mensch gewesen; denn vor die Tür hatte ich von innen einen Riegel geschoben, da das Schloß ausgeleiert war und von selbst aufspringen konnte, wenn es stürmisch war. Durch das Fenster hatte ebensowenig jemand kommen können; denn es war Winter und der Rahmen am Rand festgefroren. Nun wußte ich, wer die Predigt geschrieben hatte, niemand anders als ich selbst. Damals war es erst ein halbes Jahr her gewesen, daß ich in einem solchen sonderbaren Zustande des Nachts in die Kirche gegangen war und ein Taschentuch geholt hatte, von dem ich mich am Abend entsann, daß ich es bestimmt auf meinem Stuhl hinter dem Altar hatte liegen lassen.

Seht Ihr nun, Lieber, als die beiden Zeugen heute vor Gericht Ihre Erklärung abgaben, kam mir plötzlich das mit dem Schlafwandeln in den Sinn, und zugleich entsann ich mich, daß ich an dem Morgen, nachdem die Leiche vergraben worden war, mich darüber gewundert hatte, meinen Schlafrock am Boden bei der Tür liegen zu sehen, da ich ihn doch immer jeden Abend auf einen Stuhl vor mein Bett legte, was mir bis zu diesem Augenblick wieder entfallen war. Das unglückliche Opfer meines unbeherrschten Zorns muß also im Walde tot umgefallen sein und ich muß das in meinem träumenden Zustande gesehen und es dort gesucht haben. Ja, Gott sei mir gnädig, das ist – das muß so sein.«

Nun schwieg er, hielt die Hände vor die Augen und weinte bitterlich.

Aber ich war äußerst erstaunt und voller Zweifel. Ich hatte immer geglaubt, daß der Ermordete auf der Stelle gestorben und dort begraben worden sei, wo er fiel, obgleich es mir sonderbar vorkam, daß der Pastor am Tage diese Arbeit getan haben sollte, ohne daß es jemand gemerkt, und daß er Geistesgegenwart genug dazu gehabt hätte. Doch – dachte ich nun wieder – die Not hat ihn gezwungen; er hat nur in aller Eile die Leiche oberflächlich bedeckt und sie dann in der Nacht tiefer vergraben.

Nun sagen die beiden letzten Zeugen, daß sie ihn einen Sack aus dem Walde hätte tragen sehen; das war mir sogleich höchst auffallend, und flüchtig entstand bei mir der Gedanke, ob nicht dieses Zeugnis in Widerspruch mit den vorigen stehen könnte und damit die Unschuld des Mannes sich aufzuklären begänne.

Ach leider, nun stimmt das ganze nur allzu gut, und seine Schuld ist außer jedem Zweifel. Nur die besondere Wendung, die er der Sache gibt, verwundert mich. Daß er die ganze Tat begangen hat, ist sicher; doch ob die letzte und unwesentlichste Hälfte in wachem oder träumendem Zustande ausgeführt ist, das ist das einzige Ungewisse.

Die Aussage des Pastors von A bis Z, sein ganzes Auftreten trägt den Stempel der Wahrheit; ja um ihretwillen gibt er bereitwillig sein Leben auf; aber vielleicht kämpft er jetzt darum, etwas von der Ehre zu bewahren? Oder – vielleicht ist er auch hierin der Wahrheit treu? Eine solche Nachtwandlerei ist nicht ohne Exempel, ebensowenig, daß ein Mensch so lange mit einer tötlichen Wunde herumgehen kann.

Er ging wiederum einige Male rasch auf und nieder; dann stand er vor mir still und sagte: »Ihr habt nun hier innerhalb der Gefängnismauern mein Bekenntnis angenommen. Ich weiß, daß Euer Mund mich verurteilen muß; was sagt aber Euer Herz?«

»Mein Herz!« versetzte ich – ich konnte vor Beklemmung kaum sprechen – »Mein Herz leidet unsäglich und würde gern in diesem Augenblick brechen, wenn es Euch dadurch von einem schrecklichen und entehrenden Tode retten könnte –« (ich wagte nicht das letzte Rettungsmittel, die Flucht, zu nennen).

»Das könnt Ihr nicht!« fiel er rasch ein, »mein Leben ist verwirkt, mein Tod ist gerecht und ein warnendes Beispiel für alle Nachkommenden. Doch versprecht mir, daß Ihr nicht die Hand von meiner armen Tochter abziehen wollt – ich hatte einmal daran gedacht, sie Euch beizulegen.«

(Hier trocknete er die wieder hervorbrechenden Tränen.)

»Diese schöne Hoffnung habe ich selbst zerstört; Ihr könnt nicht das Kind eines Missetäters ehelichen; doch versprecht mir, daß Ihr für sie wie ein zweiter Vater sorgen werdet!«

In großer Betrübnis und unter vielen Tränen gab ich ihm meine Hand.

»Ihr habt wohl unlängst nichts von meinem Sohn gehört?« nahm er wieder das Wort. »Ich möchte auch hoffen, daß er von diesem ganzen Elend nichts erfährt, bis alles vorbei ist – ich könnte es nicht ertragen, ihn zu sehen.«

Hier verbarg er sein Gesicht in den Händen, wandte sich um und lehnte seine Stirn gegen die Wand – er schluchzte wie ein Kind.

Es währte etwas, bis er imstande war, zu sprechen.

»Nun, Lieber!« sagte er dann, »verlaßt mich jetzt und laßt uns einander nicht früher sehen als im Hause der strengen Gerechtigkeit! Und – erweist mir diese letzte Freundschaft! Laßt es bald geschehn – noch morgen! Ich sehne mich nach dem Tode; denn ich hoffe um Jesu willen, er wird mir ein Eingang zu einem besseren Leben als dem jetzigen sein, das mir jetzt nichts andres zu bieten hat, als Qual und Schrecken – geht, mein lieber, mitleidiger Richter! Laßt mich morgen zum Gericht abholen und schickt noch heute nach Herrn Jens in Aalsö! Er soll mich auf den Tod vorbereiten – Gott sei mit Euch!« Er reichte mir seine Hand mit abgewandtem Gesicht; ich taumelte aus dem Gefängnis – ich war wie betäubt, ja annähernd ohne Bewußtsein.

Ich hätte vielleicht gleich nach Hause reiten sollen, ohne mit der Tochter zu sprechen, wäre sie nicht selbst dicht vor dem Gefängnis entgegengekommen. Sie mußte das Todesurteil in meinem Gesicht lesen können; denn sie erbleichte und ergriff meine beiden Arme.

Sie sah mich an, als sollte sie um ihr Leben betteln; fragen konnte sie nicht oder wagte sie nicht.

»Flieht! Flieht! Und rettet Euern Vater!« war das einzige, was ich herauszubringen vermochte.

Ich warf mich auf mein Pferd und war hier zu Hause längst, ehe ich es wußte. – Also – morgen!

Das Urteil ist gefallen. Er hörte es mit größerer Standhaftigkeit an als der besaß, der es verlas. Alle Anwesenden, ausgenommen sein hartnäckiger Feind, zeigten auch großes Mitleid; einige flüsterten sogar, es sei streng – ja in der Tat streng! Es scheidet einen Menschen vom Leben und drei außerdem vom Lebensglück und Herzensfrieden. Der barmherzige Gott sei mir ein gnädigerer Richter, als ich Sünder es gegen meinen Mitmenschen sein kann!

Sie ist hier gewesen – sie fand mich auf dem Krankenbett – es gibt keine Rettung mehr – er will nicht fliehen.

Der Schließer war gewonnen; der Fischer, ein Schwesterkind ihrer seligen Mutter, hatte versprochen, sie nach Schweden zu bringen und hielt sein Segelboot bereit; aber der reuige Sünder war nicht zu überreden. Er will sich nicht dem Schwert der Gerechtigkeit entziehen, in der Hoffnung, sich durch seinen und Jesu Tod eine bessere Gerechtigkeit droben zu gewinnen.

Sie verließ mich ebenso trostlos, wie sie gekommen war, doch ohne ein einziges unfreundliches Wort.

Gott gnade ihr, der Armen! Wie soll sie den fürchterlichen Tag überstehen? Und hier liege ich, krank an Leib und Seele – kann weder trösten noch helfen – der Sohn ist noch nicht da.

Leb wohl! – Leb wohl, du meine verlobte Herzensbraut! Leb wohl für diese elende Welt, bis wir uns einmal in einer besseren treffen!

Bald vielleicht; denn ich fühle, daß der Tod mich erfaßt – vielleicht gehe ich dorthin vor dem, den hinzuschicken mein grausames Amt mich zwang.

»Lebt wohl, mein Herzensfreund!« sagte sie ja, »ich verlasse Euch ohne Groll! Denn Ihr tatet nur Eure strenge Pflicht; doch nun lebewohl! Denn wir sehen uns niemals wieder.«

Sie machte das Zeichen des Friedens über mich – Gott schenke mir doch bald den ewigen Frieden! Gott! Wo soll sie hin? Was hat sie vor? Der Bruder ist nicht gekommen – und morgen – auf dem Rabenberg.

*

(Hier bricht Hardesvogt Erik Sörensens Tagebuch plötzlich ab; doch zur weiteren Aufklärung und Ergänzung dieser ebenso wahrhaftigen wie schrecklichen Begebenheit führt der damalige Nachbarpfarrer von Aalsö seine schriftliche Aufzeichnung an. Sollte übrigens ein Leser die Echtheit dieser Aktenstücke in Zweifel ziehen, darf er doch nicht mit der Einkleidung das Wesentliche der Geschichte verwerfen, die – leider! – nur allzu wahr ist. Die Sage, die sich in der ganzen Gegend noch immer lebendig erhält, fügt weiter hinzu, daß gerade diese tragische Begebenheit Anlaß gab, daß Delinquentsachen künftig vor allen Instanzen verhandelt wurden; Rechtskundige müssen also wohl den Zeitpunkt dafür festsetzen können.)


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