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3. Unruhige Nacht.

Gern hätte ich bis in den hellen Tag geschlafen; aber es wurde nichts daraus: höchstens drei Stunden war ich fort. Da wurde ich durch ein starkes Getöse an unserer Kammertür geweckt, und darauf erfolgte ein derber Fluch, ein mehrstimmiges Gelächter und dazwischen Zischen und Rufen zur Ordnung und Ruhe.

Endlich ging die Tür richtig auf, und ein Mädchen kam herein, Licht in der Hand und Reisemäntel auf dem Arm. Hinter ihr kamen vier Männer – drei junge und ein älterer – mit Pelzen, Polsterkissen, Sofakissen und dito Rollen beladen, woraus ich schloß, daß ein gemeinsames Bett für diese lustigen Brüder gemacht werden sollte, die eben angekommen sein mußten und sich selbst keine Unruhe machen wollten.

»Wer liegt hier?« flüsterte einer dem Mädchen zu, während sie alle auf den Zehen ihr folgten.

»Das sind die beiden vornehmsten Lehrer«, erwiderte sie, indem sie eine Tür in der Tapete öffnete.

»Das konnte ich merken,« sagte ein andrer, »hier roch es so lateinisch.«

Und damit ging die ganze Schar hinein in das geöffnete Hinterzimmer. Das Mädchen kam gleich wieder zurück und überließ die Herren sich selbst.

Nun wollte ich mich wieder dem Schlaf überlassen, aber vergebens! Zuerst verursachten die drinnen einen unendlichen Lärm, indem sie einander die Stiefel abzogen, wobei bald der eine, bald der andre auf die Erde polterte, was auch nicht ohne Gelächter abging. Und als sie endlich zum Liegen gekommen waren, fing der Lärm von neuem an, indem man sich – wie ich hören konnte – um Mäntel und Felle balgte, was schließlich ein allgemeines Bombardement mit Sofarollen veranlaßte, was wiederum einen Bums nach dem andern an der Bretterwand gab. Schließlich schloß man Waffenstillstand.

Ich war bereits wieder nahe daran einzuschlafen, als ein schmetterndes Hahnenkrähn draußen auf dem Gang ertönte. Ein Kichern im Hinterzimmer ließ mich vermuten, wer den lebenden Wecker in unsre Nähe gebracht hatte.

Dabei blieb es aber nicht: der Hahn hatte seine Fanfar zum zweiten Male begonnen, als er durch einen Lärm von ganz andrer Beschaffenheit unterbrochen wurde, der ihn wahrscheinlich noch stärker erschreckte als mich; denn er stieß einen schneidenden Schrei aus. Es klang, als kämen mehrere wohlbeschlagene Pferde die Treppe heraufgaloppiert, die zum Korridor führte.

Das war zu toll. Mein Nachbar, der bisher nach der ungewohnten Anstrengung des Tages süß geschlafen hatte, erwachte endlich, setzte sich auf, lauschte und murmelte zu sich selbst:

»Lemures nocturnaque spectra!«

Ich antwortete nichts, weil ich wartete, was daraus werden sollte. Aber der Spektakel hörte auf; es folgte eine tiefe Stille darauf, die doch bald unterbrochen wurde, indem der eine Verrückte mit hohler und zitternder Stimme deklamierte:

»Und immer weiter, hop hop hop,
Gehts fort im donnernden Galopp –«

weiter kam er nicht; denn mit einem donnernden Stoß sprang die Tür angelweit auf, und mitten in der Öffnung erschien – ein Zwerg mit langem weißem Bart.

Mir wurde nicht recht behaglich, dem Konrektor ebenfalls nicht:

»Schläfst du?« flüsterte er.

Ich verneinte, doch in demselben Augenblick löste sich das Rätsel: das Männlein meckerte – es war – ein Ziegenbock.

Wie ich später hörte, ging der Betreffende frei umher, wo es ihm behagte, und mußte diese Nacht mit den Fremden, die wirklich hieran ganz unschuldig waren, in den Korridor gelangt sein.

Furcht geht oft, wenn ihre natürliche Ursache entdeckt ist, in Gereiztheit über. So erging es auch mir. Ich sprang auf und ergriff Mads an einem Horn; und da ich noch glaubte, daß das auch ein Streich der vier Spektakelmacher sei, schob ich ihn gegen ihre offene Tür, öffnete sie und stieß ihn hinein, worauf ich wieder zumachte. Dann ging ich zum Konrektor, erzählte ihm ganz leise alles, was vorgefallen war, während er geschlafen hatte, und legte mich wieder hin.

Nun hatte ich es noch schlimmer gemacht; denn wenn die Burschen sich vorher mit weichen Gegenständen geschlagen hatten, ergriffen sie nun den Bock und schoben ihn zueinander hinüber, von einer Seite der Kammer auf die andre, zur unendlichen Belustigung für sich selbst, doch weniger für den ehrwürdigen Herrn Mads, der halb aus Angst, halb aus Gereiztheit, mit seiner schönsten Stimme in den Lachchor einstimmte.

Doch auf die Dauer wird man jeder Sache überdrüssig. Einer von ihnen schlug schließlich vor, daß man dem Bock einen Mantel geben und ihn darauf zur Ruhe einladen sollte. Da darauf alles vollkommen ruhig wurde, mußte ich glauben, daß er das Angebot angenommen hatte.

»Tandem!« seufzte ich und legte mich zurecht; aber mit meinem Schlaf war es vorbei. Ich war nun einmal allzu munter geworden.

Wohl eine halbe Stunde lag ich da und wartete vergebens: da ertönte ein langer, tiefer Seufzer von dem andern Bett. Ich sah hinüber, und da der Mond nun so hoch am Himmel stand, daß er das Zimmer ziemlich erleuchtete, sah ich meinen Nachbarn halb im Bette aufgerichtet, die eine Hand an der Bettquaste und den Kopf auf der andern.

»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte ich.

»O ja,« versetzte er wieder seufzend, »es sind nur alte Erinnerungen.«

Nach einer Pause sagte er auf lateinisch – welche Sprache er ebenso gut und gern sprach wie dänisch:

»Lieber Freund! Sie wissen wohl, ich bin Witwer und kinderlos; aber wissen Sie, wie ich es wurde?«

»Nein!«

»Wollen Sie es hören?«

»Ja! – Wenn«, fügte ich hinzu, »es nur nicht Ihre Herzenswunden aufreißen wird?«

»Ach!« sagte er, »meine Herzenswunden schließen sich doch nicht mehr in dieser Welt – sie können es nicht und sollen es nicht – sie sind für mich Gottes offene Briefe auf eine fröhliche Wiedervereinigung mit denen, nach denen ich seufze. – Als ich das große Philologicum gemacht hatte, machte ich eine Reise nach den norddeutschen Universitäten. In Kiel sah ich meine selige Frau. Wir begannen einander zu lieben; und als ich das Jahr darauf mein jetziges Amt bekommen hatte, reiste ich dorthin, um Hochzeit zu halten.«

Hier schwieg er, drückte seine Augen gegen das Betttuch und fuhr fort:

»Fünf Jahre lebten wir zusammen – mein Freund, es gab kein böses Wort zwischen uns in diesen fünf Jahren – entsinnen Sie sich des letzten Kapitels aus den Sprüchen Salomos? Da haben Sie ihre Beschreibung. Ja, sie tat mir Liebes und kein Leides mein Leben lang!«

Hier sank er auf das Kissen zurück und weinte, aber nicht lange; wieder erhob er sich und sagte:

»Mein Schwiegervater war Kaufmann – ein innig guter Mann; er war gebrechlicher Gesundheit, brustschwach. Nach Verlauf der fünf glückseligen Jahre kam ein Brief von seiner Frau, seine Tage wären gezählt, er habe nur noch den Wunsch vor seinem Tode, seine einzige Tochter zu sehen – sie hatten noch einen Sohn, der aber kurz vor dem Vater gestorben war. – Sie wollte davon – sie mußte wohl auch; aber es war mir nicht möglich, sie weiter als bis nach Kolding zu begleiten. Da trennten wir uns. Da sah ich sie zum letzten Male, doch nicht sie allein. Unser einziges Kind, einen gesegneten Jungen, vier Jahre alt, hatten wir mit dorthin genommen, doch ohne daran zu denken, daß er weiter sollte. Aber als er nun Abschied von der Mutter nehmen sollte, da wurde es Klage und Jammergesang, und der eine konnte nicht von dem andern lassen, und das Ende war, daß sie beide miteinander fuhren, und ich allein nach Hause reiste. –

Mein guter Mann, wissen Sie, was das heißt: zu warten? Dann wissen Sie nicht, wie langsam die Zeit vergehen kann. Den Tag nach meiner Heimkehr lief ich selbst zur Post, denn ich hatte ausgerechnet, daß sie mir aus Flensburg geschrieben haben könnte. Aber da war kein Brief. Doch beruhigte ich mich; denn ich zweifelte nicht daran, am nächsten Posttag einen zu erhalten. Er kam auch nicht. Ich war dahin geflogen, aber ich schlich zurück. Nun begannen die Tage länger zu werden, die Nächte ebenso. Ich schwankte zwischen Hoffnung und Furcht, zwischen Glaube und Zweifel; eine Möglichkeit nach der andern nahm ich an und verwarf ich. Den folgenden Posttag auch nichts.

Nun wurden die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Tagen. Ich hatte weder Ruhe noch Rast. Ich ging in meiner öden Kammer auf und ab. Ich ging von Zimmer zu Zimmer im ganzen Hause wie einer, der sucht und weiß nicht, wonach. Ich sah auf die Sonne; sie stand still. Ich sah auf die Uhr – wäre der Pendel nicht gewesen, ich hätte auch geglaubt, daß sie in Unordnung war. Bald warf ich mich auf mein Lager, bald ging ich mit raschen Schritten hierhin und dorthin, als könnte ich dadurch die bleischwere Zeit vorwärtsschieben.

Ein Monat hatte sich dahingeschleppt; es war mir, als hätte ich mich vor einem Jahr von Frau und Kind getrennt. Ich konnte es nicht länger aushalten. Ich reiste – Tag und Nacht. Ich kam nach Kolding und wußte nicht, wie ich dahin gekommen war. Ich kam nach Hadersleben. Der Gastwirt, der mich von meinen früheren Reisen kannte, fragte mich, ob ich nun hinunter wollte und meine Frau holen, und erzählte, als sie vor einem Monat mit ihrer Tochter hier gewesen sei, hätte gerade ein Schiff nach Kiel segelfertig gelegen. Da sei sie an Bord gegangen, um Wagenmiete zu sparen; und da der Wind gut war, hoffte sie, das Ziel der Reise um so schneller zu erreichen.

Bei dieser Nachricht lief mir ein kalter Schauer über den ganzen Körper; ich war kaum imstande, den Wagen zu bestellen. Ich kam nach Kiel – in das Haus meines Schwiegervaters – er war eine Leiche – seine Frau lag auf den Tod, und meine – von ihr konnte niemand etwas sagen.«

Er schwieg, aber ein tiefer Seufzer sagte mir das übrige.

»Herr Gott!« sagte ich, »das Schiff muß untergegangen sein.«

»Ohne jeden Zweifel,« erwiderte er, in einem ruhigen und ergebenen Tone, »der Schiffer war in Kiel zu Hause, der Wirt in Hadersleben hatte seinen Namen nennen hören, ich erinnerte mich dessen – ich tat mich dort nach ihm um – seine Witwe trug bereits Trauer um ihn. Ein andrer Schiffer hatte die Nachricht gebracht, daß er in einem Sturm gekentert und mit Mann und Maus gesunken war.«

Hier legte der alte Mann sich wieder hin und faltete die Hände über der Brust.

Diese traurige Geschichte machte einen so tiefen Eindruck auf mein Gemüt, daß mir meine Einbildungskraft keine Ruhe ließ, sondern mich von einer Jammerszene zur andern führte, von der leeren Wohnung des Witwers bis zum Leichenzimmer in Kiel, zu der unglücklichen Frau auf dem sinkenden Wrack, wie sie verzweifelt das Kind an ihren Busen preßt und den Himmel um Rettung anruft, bis die Wogen ihre Stimme ersticken und sich über beiden schließen – mir wurde schließlich so benommen, daß ich mich gern aus dem Bett erhoben hätte, um die furchtbare Vorstellung loszuwerden.

Ich setzte mich wirklich auf und sah zu dem beklagenswerten Manne hin – er schlief!

»Gott sei gelobt!« seufzte ich mit leichterem Herzen, »der uns Linderung und Trost selbst für die schwersten Sorgen schenkt. Er läßt die heilende Zeit hingleiten über sie alle; sie gleicht aus, streicht aus und verdeckt, wie das Meer diejenigen, die es in seinen tiefen Schoß hinabholt.« –

Nun genoß ich endlich eine Stunde Schlummers. Als ich erwachte, kam mir die Erzählung wohl gleich wieder ins Bewußtsein; aber es kam mir jetzt vor, als sei das Ereignis viel älter geworden, als hätte ich es bereits vor längerer Zeit gehört, und seelenstark stand ich auf, um einige Bemerkungen über die Jagdvergnügungen der alten Römer niederzuschreiben.

Während ich schlummerte, war Feuer im Ofen gemacht worden und die Kammer bereits warm. Ich zündete Licht an, setzte mich und schrieb und war gerade fertig geworden, als der Diener kam und meldete, daß der Tee bereitstände. Die Uhr schlug sieben.

Ich ging hinunter und fand die ganze Familie auf; und nun kamen die Gäste, der eine nach dem andern, zuletzt mein Konrektor. –

Unter den ersten Fragen war wie gewöhnlich: wie wir geschlafen hätten. Ohne Umschweif erzählte ich die Begebenheiten der Nacht und fragte natürlich, wer meine munteren Nachbarn wohl wären. Niemand wußte es bestimmt; man riet auf den und jenen. Denn die Schelme hatten dem Mädchen urverrückte Namen angegeben, deren sie sich nicht erinnern konnte.

Als wir davon sprachen, kamen drei von ihnen – – die jungen nämlich.

Als der vorderste in die Tür trat, rief der Kammerrat mit einem ordentlichen Trumpf: »Das dachte ich mir gleich!« und lief ihnen entgegen.

Aber er und all die andern brachen gleichzeitig in ein krampfartiges Lachen aus; denn wen hatte er neben sich? Den Ziegenbock! Mit der Perrücke und dem schäbigen Hut des Küsters auf dem Kopfe. Das eine Vorderbein lag auf dem Arme des Spaßvogels und nun trippelte er ganz hübsch auf den Hinterbeinen vorwärts.

»Hier«, sagte er, »stelle ich Ihnen meinen Konterbunal, den wohlehrwürdigen Herrn Mads Bock, priveligierten Schlafstörer auf Ulvedal sowie Vizegärtner ebenda vor, als auch cum spe successus beim Küster von Ulstrup adjungiert.«

Was ist es doch für eine gesegnete Gabe, diese geschwätzige Munterkeit, die sich wie ein elektrischer Schlag allen mitteilt und selbst den Betrübten zwingt, mit Tränen in den Augen zu lachen! Die lichte Seite an allen Dingen hervorzuheben, jede Freude im Fluge zu ergreifen, mit Witz zu spaßen und zu scherzen, ohne jemanden zu verletzen!

Der Hardesvogt – trotz seines jugendlichen Aussehns war er ein Mann in den Vierzigern – besaß in hohem Maße dieses glückliche Talent und wurde deshalb mit Recht als die Seele aller Gesellschaften betrachtet. Unsere erhielt nun erst durch seine Ankunft rechtes Leben; und es kam mir wirklich vor, als hätten wir ihn bisher vermißt.

Die beiden andern waren schöne Jünglinge, mit einem Teil seiner Laune und seiner ganzen Gutmütigkeit begabt.

Als nun endlich eine Pause im Lachen entstand, erinnerten wir uns des vierten Mitreisenden.

Keiner von den dreien kannte ihn weiter, als daß er Kaufmann sei und Andersen hieße. Er war auf sie im Gasthof in Vejle gestoßen; und da er sich sogleich als ein gebildeter und sehr angenehmer Mann erwies, hatten sie kein Bedenken gehabt, ihm einen Platz in ihrem Wagen anzubieten, da er gerade denselben Weg wollte.

In diesem Augenblick trat er ein; und nachdem er auf seinen Wunsch Wirt und Wirtin vorgestellt worden war, sagte er mit dem Anstand eines Weltmannes:

»Wenn Entschuldigungen meine Aufdringlichkeit entschuldigen könnten oder wenn ich glaubte, daß sie verlangt würden, würde ich sie gern vorbringen; aber diese Genien haben gelobt, für mich einzutreten« –

Hier wurde er durch das herzliche Willkommen des liebenswürdigen Ehepaares unterbrochen, und noch ehe er sich mit uns andern bekanntgemacht hatte, fuhr er fort:

»Ich bin Kaufmann – in meiner Jugend Seemann – und komme vom Kap, um meine Heimat zu besuchen, die ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe; doch hauptsächlich, um meinen einzigen Bruder zu sehen, von dem ich in der ganzen Zeit gar nichts gehört habe. Er wohnt hier in der nächsten Stadt und ist Konrektor –«

Hier wandten sich alle Blicke zu diesem; bleich und zitternd saß er da und vermochte nicht, sich zu erheben, kaum die Worte hervorzubringen:

»Christian, bist du es?«

Die Brüder sanken einander in die Arme.

Die Überraschung meines edlen Freundes war um so größer und freudiger, als er bereits seit vielen Jahren den Bruder für tot gehalten hatte, da seit seiner ersten Ausreise nach China keine andre Nachricht von ihm eingelaufen war, als daß er in dem ungesunden Batavia verblieben sei. Sein ständiges Schweigen hatte seinen Grund zunächst im Leichtsinn der Jugend und dann in dem Entschluß nur etwas von sich hören zu lassen, wenn er als reicher Mann zurückkehrte, was nun der Fall war.


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