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Dort, wo niemand gewesen ist

Ich stieg ein steiles, tief beschattetes Gelände hinan. Unten rauschte ein unsichtbarer Strom über unsichtbaren Steinen, von oben her tönte es wie ferne Festglocken. Ich stieg, stieg und befand mich auf einmal vor einer großen Pforte. Zwei Wacholderbäume, deren Wipfel an das Blau des Himmels stießen und ganz bedeckt waren mit schwarzen Beeren, standen zu beiden Seiten der Pforte. Zu jeder Seite stand ein Zaun aus runden geschälten Zweigen, der über und über mit wildem Hopfen bewachsen war. Das war der große Garten, und ich wusste nicht weshalb, es war aber verboten, diesen Garten zu betreten. Jedoch mein Herz brannte danach und ich ging hinein. Ein Wächter war nirgends zu erblicken, ich schritt weiter und mir ward immer leichter in der großen Stille, die mich umfing. Ringsum standen Felder mit langem, blauem Flachs, Roggenähren wiegten sich ob meinen Häupten und in den Hanfgärten standen die Hanfstauden wie kleine Tannen. Auf kaum fühlbarem Lüftchen schwamm weißer Blütenschnee dahin und das Gras schien so unberührt, als ob soeben der Morgentau verschwunden wäre. Die Ferne jedoch erschien völlig nahe gerückt, denn da, wo sich Erde und Himmel berühren, stand Stern an Stern in ungeheurer Größe. Ihren Glanz hatten sie verloren, sie sahen aus wie die Erde, und Menschen in buntleuchtenden Trachten stiegen auf und nieder gleich emsigen Ameisen.

Meine Seele jedoch wünschte diesen Eifer nicht zu beachten.

Da stand an meiner Seite ein Mann in weißem Leinengewande mit gelbem Gürtel. Ich wusste, das war der Gärtner selbst, und ich wurde verwirrt, als er mich hier erblickte. Er jedoch nahm mich bei der Hand und führte mich weiter. Ich wollte etwas sagen, wagte es jedoch nicht, denn ich entsann mich, dass man Herrscher nicht anreden, sondern nur antworten darf, wenn sie fragen. Und ich schämte mich meines Rockes, denn er war abgetragen und fleckig. Ich wagte nicht, mich zu entschuldigen, doch er antwortete mir ohne Worte:

»Fürchten Sie nichts, es wird alles gut sein.«

Ein Schmerz durchzuckte mich. Er sprach zu mir und nannte mich Sie. War ich ihm denn so fremd!

Doch er antwortete meiner Seele abermals ohne Worte:

»Das war nur ebenso … Hast du mich denn lieb?«

Wie feurige Lohe entzündete es sich in meinem Herzen. Ich wandte meinen Kopf und blickte in seine tiefen Freundesaugen. Ich wollte es aussprechen, wie lieb ich ihn habe, aber eine seltsam süße Scheu verschloss mir den Mund.

Er aber sprach zu meiner Seele: »Ich weiß es«, und legte seinen Arm um meinen Leib.

Ich blickte an mir nieder und sah, dass ich jetzt auch einen weißen Rock trug wie er, und ich schritt so leicht, mir schien, wir flögen über grüne Baumwipfel dahin.

»Das ist der Baum der Erkenntnis«, sagte er und zeigte mir einen uralten Apfelbaum, mit tausend Ästen und Zweigen. Ringsherum hatte ein Zaun gestanden. Doch jetzt war er niedergetreten und verfallen. Alle Äpfel waren abgepflückt, nur ganz oben glänzten mir noch einige entgegen.

»Die bleiben für den Vater«, sagte er. »Komm, ich führe dich zu ihm.«

Eine Bangigkeit erfasste mich.

»Noch nicht«, antwortete ich.

»Du fürchtest dich?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Er ist so – alt.«

»Und du selbst?«

»Ich fühle mich noch so jung. Und er kennt mein ganzes Leben.«

»Kenn ich es denn nicht?«

»Du verstehst mich. Du bist mir immer so nahe gewesen.«

»Du hast an mich geglaubt?«

»Immer. Doch wozu fragst du, du weißt doch alles.«

»Ich frage dich, weil ich dich liebe. Denn die Liebe spricht gern. Ich weiß alles und – weiß es auch nicht. Das ist ein Geheimnis …«

Ich wunderte mich, dass der Garten nicht so aussah, wie ich ihn von Bildern her kannte. Ich wollte es jedoch nicht sagen.

Er aber erriet mich.

»Er sieht wohl nicht so aus, aber du fühlst es, dass er es ist«, sagte er. »Bist du glücklich?«

»Glücklich, glücklich«, flüsterte ich.

»Aber es ist noch eine unerfüllte Sehnsucht in dir«, sagte er.

Und ich fragte meine Seele und antwortete:

»Es ist noch eine.«

Und er schlang von neuem seinen Arm um mich, und wir flogen wie über Baumwipfel dahin, und dann stand da ein weißes Schloss mit Lorbeerbäumen in Kübeln auf der Treppe, und an den hohen, offenen Fenstern erblickte ich sie alle, deren Taten und Werke ich so liebe. Und wir wandelten unter ihnen und verstanden uns alle, ohne Gruß, ohne Wort.

Und er fragte:

»Bist du jetzt glücklich?«

»Glücklich, glücklich«, flüsterte ich.

»Aber es ist noch eine unerfüllte Sehnsucht in dir?«

Und ich antwortete:

»Es ist noch eine.«

Und wir stiegen einen Hügel hinan, und da saßen am alten Kirchlein unter bemoosten Fichten sie, für die mein jugendliches Herz so heiß geglüht hatte. Und sie waren schön wie damals, und ich fühlte ihre süße Nähe wie damals.

Und dann schritten wir durch einen jungen Eichenhain zwischen eingesunkenen Johanniterritterkreuzen, und entgegen kam uns der, den ich unter dem Namen »Der Morastwater« beschrieben habe. Und auf dem Ufer der Perse saßen zwei Jünglinge, meine Musiker, und mein Schweizer Emigrant stand da und schwenkte mit blitzenden Augen den Hut.

Mir versagte der Atem.

»Sind denn die Perse und die Schweiz auch hier?« fragte ich.

»Hier ist alles«, antwortete er, »Bist du nun glücklich?«

Ich musste schluchzen vor unaussprechlicher Freude. Dennoch schwieg meine Seele noch nicht.

Er jedoch führte mich weiter. Und am Wegrande, als käme er vom Markte, saß mein Vater an einer großen Kiesgrube und wischte sich den Schweiß von der Stirn und vom kahlen Schädel. Und sein weißer Bart glänzte in der Sonne, und er winkte mir mit den Augen, ich möge nur weitergehen. Aber ich sagte: »Das ist mein Vater.«

Und er trat zu meinem Vater, legte ihm die Hand auf das Haupt und sprach: »Du hast viel gearbeitet. Erhole dich nun, Lieber. Du bist über wenigem getreu gewesen. Ich will dich über viel setzen.«

Und dann befanden wir uns weit weg, und ich dachte: bald werden wir uns schon wiedersehen.

Und er fragte:

»Ist noch eine unerfüllte Sehnsucht in dir?«

Und ich sagte: »Es ist noch eine.«

Dann bedeckte er wie scherzend meine Augen mit seinen schlanken Fingern. Als er sie sinken ließ, erblickte ich vor einem weißseidenen Vorhang meine Mutter. Eine Träne glänzte ihr noch im Augenwinkel, aber sie lächelte wie erlöst, und ich wusste es plötzlich, dass ihr schmerzbeladener Leib in Gesundheit gebadet und ihre zerrissene Brust wieder geheilt war. Und wo Blut auf die Erde gefallen war, da glühte herbstlich rotes Espenlaub. Er war ihr Arzt gewesen.

»Bist du nun glücklich?«

Aber bevor ich antworten konnte, teilte meine Mutter den Vorhang, und er verschwand. Und ich sah eine große Menge Männer und Jünglinge in Festgewändern. Weggewischt waren von ihren Gesichtern die Zeichen des Todes, die zerschossenen Körper durchflutete neues Leben. Und rings um sie glühte ein mächtiger Hain von roten Espen. Und eine Klarheit fiel auf sie herab wie von der Sonne, wenn sie im Mittag steht.

Ich wollte sprechen, doch meine Zunge versagte. Still sank ich vor ihm nieder, und meine heißesten Tränen netzten seine heilige Hand.


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