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Lisette

Eine Erinnerung von Rudolf Blaumann

Beinahe jedes Mal, wenn ich eine Sängerin höre, in deren Gewalt es steht, die menschliche Seele zu rühren, zu erheben, zu erschüttern oder mit eitel Sonnenschein zu füllen, wacht in mir die Erinnerung an ein Ereignis auf, das, obwohl in meine erste Jugend fallend, mir dennoch in seinen Einzelheiten noch lebhaft gegenwärtig ist.

Ich mochte etwa acht Jahre zählen, als eines Tages in dem Pachtgesinde meiner Eltern drei oder vier Zigeunerinnen erschienen und in ihrer bekannten, aufdringlichen Art um alles Mögliche bettelten. Trotzdem die Weiber das Lettisch auf Zigeunerweise eigentümlich gestoßen aussprachen, merkte meine Mutter doch bald, dass die eine keine richtige Zigeunerin war und machte eine darauf bezügliche Bemerkung. Die »Falsche« – mir ist nur noch ihr lebhaftes Auge erinnerlich, meine Mutter dagegen erzählt, sie sei recht hübsch, aber bereits ziemlich verblüht gewesen – erklärte darauf, es sei eine »preußische« Zigeunerin, die einen hiesigen Zigeuner geheiratet habe. Die anderen Zigeunerinnen lachten, kauderwelschten unter sich und machten sich über ihre Gefährtin offenbar lustig, woraus wir schlossen, dass sie die Zigeunersprache nicht verstehe. Diese Vermutung erwies sich auch als richtig, denn bald teilten die Weiber meiner Mutter mit, dass die »preußische« Zigeunerin aus der im Riga'schen Kreise gelegenen deutschen Kolonie Hirschenhof stamme, die Tochter eines dortigen Musikanten sei und Lisette heiße.

Ich weiß nun nicht mehr, aus welchem Anlass Lisette plötzlich erklärte, dass sie singen wolle. Wahrscheinlich wollte sie die Leute im Gesinde gebelustiger stimmen. Bestimmt jedoch erinnere ich mich ihrer stolzen Behauptung, dass sie die Fröhlichen traurig und die Traurigen fröhlich machen könne, die Leute zusammenrufen ließ und fragte, was sie zuerst singen sollte. Die Stube füllte sich und mir wurde etwas bang, ob Lisette ihre Versprechen erfüllen würde. Ich weiß nun wieder nicht mehr, was sie zuerst wählte, etwas Trauriges oder Heiteres, nur der Eindruck ihres Gesanges ist in mir unauslöschlich geblieben. Aufs tiefste ergriffen hat mich der Gesang einer Prevosti, einer Arnoldson, einer Klafsky, niemals jedoch nachher hat der Zauber einer weiblichen Stimme mein Inneres in so helles Entzücken versetzt, wie damals Lisette. Mir war, als müsste ich hüpfen, als würde ich auf goldener Schaukel in sanften Bogen von der Erde immer höher emporgeschaukelt!

Als sie geendet hatte, hieß es allgemein in der Stube, Lisette »hätte etwas im Munde«. Es hatte sich bereits rundgesprochen, dass sie die Tochter eines Musikanten sei – da konnte sie gewiss das Mundstück einer Klarinette irgendwo hinter den Zähnen versteckt haben. Mir schien die Sache auch nicht geheuer, allein da Lisette ganz natürlich sprach (und nicht etwa so, wie wenn man eine Kartoffel in den Mund genommen oder einen Bonbon unter die Zunge gelegt hat), so blieb ich bei der Meinung, es müsse ihre eigene Stimme gewesen sein.

Da das Interesse für die sonderbare Zigeunerin nun lebhaft angeregt war, so wurde sie gefragt, wo die Bande sich gelagert habe, und wie Lisettens Mann sei. Wir erfuhren, dass das Lager unweit unseres Gesindes in einem nachbarlichen Wäldchen aufgeschlagen sei und Lisette lud uns zu sich zu Gast. Sie schien sehr stolz auf ihren Mann zu sein und wollte ihn uns zeigen. Auch die anderen Weiber lobten Lisettens Mann in ganz überschwänglicher Weise.

Meine Mutter, die noch jetzt, nach bald dreißig Jahren, einige Töne von Lisettens Marsch mit Entzücken summt, versprach ihr, sie am Sonntag zu besuchen, und die Weiber entfernten sich.

Mit großer Ungeduld erwartete ich den Sonntag, denn mich reizte sowohl das Verlangen, Lisettens schönen Mann zu sehen, als auch abermals ihren Gesang zu hören.

Am Sonnabend backte die Mutter Gerstenkuchen, um als richtiger Gast mit dem notwendigen Gastgeschenk bei Lisette erscheinen zu können, und am nächsten Nachmittag begaben wir uns in Begleitung einiger Mädchen ins Zigeunerlager.

Die Zelte waren am Rande eines Gebüsches, das eine mäßige Anhöhe abschloss, aufgeschlagen. Als wir am Fuße des Hügels angelangt waren, hatte uns Lisette bemerkt, kam aus dem Zelt, blieb oben stehen und begann einen Marsch zu singen oder vielmehr zu trällern, denn zu keiner Melodie gebrauchte sie irgendwelche Worte.

Mir war es, als würde ich den Hügel hinaufgetragen. Ich entsinne mich noch ganz genau jenes ungemein köstlichen Gefühls, das ich beim Emporsteigen hatte.

Wir begrüßten nun Lisette, die uns ihr Zeit zeigte und mitteilte, dass ihr Mann leider nicht da sei, sondern am Pakschen-See fische. Er werde aber bald kommen.

Es dauerte auch in der Tat nicht lange, als Lisette sagte, dass er nahe. Sie stimmte von neuem ihren herrlichen Marsch an und bei dessen Tönen trat in's Zelt ein – alter, gräulich hässlicher Kerl, dessen einzige Zierde ein langer weißer Bart war. Wir waren alle sehr enttäuscht und Lisette tat mir plötzlich herzlich leid. Wir blieben deshalb auch nicht zum Fischgericht, das sie uns kochen wollte, sondern traten bald den Heimweg an.

Seitdem habe ich Lisette nicht wiedergesehen. Ich erkundigte mich in späteren Jahren nach ihr bei der einen und der anderen Zigeunerin, welche die Erlaa'sche Gegend besuchten, allein keine von ihnen hat mir etwas von Lisettens Schicksal zu erzählen gewusst.

Was war dieses eigentümliche Wesen, das, aus einer Umgebung stammend, die dazumal und zum Teil auch noch jetzt mit dummstolzer Verachtung auf den » lettschen Pauer« herabblickte, bis zu der Gefährtin eines schmutzigen alten Zigeuners hinabsinken konnte? Es wäre töricht, die Frage nach dem, wenn auch übermächtigen Eindruck auf ein empfängliches Kindergemüt entscheiden zu wollen. Dennoch werde ich die Gedanken nicht los, dass Lisette ein aus seiner Bahn gewichener musikalischer Stern war. Ich bin nicht der Meinung, dass sich das Genie unter allen Umständen Geltung zu verschaffen wisse. Um »seine Hand auf Jahrhunderte wie auf weiches Wachs zu drücken«, dazu bedarf es genialer Begabung. Was hilft's dem Weinstock, dass er die köstlichsten Trauben hervorbringen kann, wenn die Hand des Winzers ihn nicht an den Stock bindet! Er kriecht am Boden dahin und die Säue zertreten ihn. Um durchzudringen, dazu muss die geniale Begabung mit einem stählernen Willen gepaart sein. Die Bewunderung der Welt zu erringen ist jedoch nur dem bestimmt, dem außer Begabung und Charakterstärke Gott Zufall noch das Glück in die Wiege gelegt hat. Der »preußischen« Zigeunerin war nur das erste Geschenk zuteilgeworden. Und wie so viele, deren Namen die Welt kennt, und Unzählige, die niemand zu nennen vermag, die aber alle bloß diese einzige Gabe erhalten haben, war auch die arme Lisette unter dieser unseligen Last in die Irre gegangen und verdorben.


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