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Im Schoße des Glücks

»Ja«, antwortete der alte Lausk, und seine Stimme klang durch die Kirche so trocken, als ob sie lange Zeit hinterm Ofen gedorrt hätte.

Der Pastor wandte sich an Eewa.

Während er in salbungsvollem Tone die Frageformel wiederholte, begannen dem Mädchen die Knie zu vertauben. Noch hatte sie Zeit … Noch konnte sie sich lossagen, und alles, was geschehen war, würde dann hinter ihr versinken wie ein vor Mitternacht geträumter Traum … Lausk mit seinem kahlen, glänzenden Kopfe, seine beiden Gesinde, Eewas künftiges Wohnhaus mit der braungestrichenen Diele und den blanken Fenstern, der neue Federwagen mit den kräftigen Schwarzen, die sie soeben noch vor dem Kruge mit heimlicher Freude betrachtet hatte – alles, alles konnte sie noch von sich weisen und weiterleben in dem halbdunklen Winkel der Leutestube, wo die Mutter vor fremder Kinder Lärm nicht einmal ruhig hatte sterben können und wo für den Stuhl noch Platz vorhanden war, für das Spinnrad jedoch nicht. Und im nächsten Jahre trifft sich der Dienst vielleicht wieder bei einem Wirte, in dessen Viehhof die Jauche bis an die Knöchel reicht und die Panscherei dauert den langen Sommer und Herbst … Und die Schwester wird ebenso warten, und beide werden warten müssen, bis irgendein Bursche kommt, vielleicht ein hübscher und anständiger, vielleicht aber auch ein Trunkenbold …

»… so antworte und sage: Ja«, schloss der Pastor.

»Ja« sagte Eewa laut und deutlich, so dass es selbst der Bälgetreter der Orgel vernahm. Und dann wurde ihr so leicht ums Herz, als ob sie über einen steilen Berg hinübergekommen wäre. Die Vertaubung schwand aus den Füßen, und als der Pastor die Hände des Paares ineinanderlegte und der Alte die Hand der Braut ein wenig drückte, erwiderte sie den Druck. Es war ja doch ihr eigener Wille gewesen, dass sie jetzt hier stand. Niemand hatte sie überredet, selbst hatte sie eine große Wirtin und dieses alten Witwers Erbin werden wollen. Denn wie lange konnte wohl mehr seine sehnige, kühle Hand die Schlüssel des Hauses in ihren Fingern behalten?

Das Paar sank vor dem Altar in die Knie, um den Segen zu empfangen, und in Eewas Herz ergoss sich heller Friede. Ihre freie Hand berührte ihr Brautkleid und sie fühlte von neuem, wie fein das teure Gewebe war. Er hatte diesen Stoff gewählt, nicht sie. Desgleichen den langen Schleier, der bis zur Erde hinabwallte. Und wer weiß, was er ihr noch alles gekauft, wenn sie es bloß gestattet hätte. So gut war er gegen sie.

Und Eewa gelobte sich auch in diesem feierlichen Augenblick, ebenso gut gegen den Alten zu sein, und die kurze Spanne Zeit, die ihm noch beschieden war, so glücklich zu scheinen, als ob sie den schönsten Jüngling gefreit hätte.

Mit schamhaft gesenkten Blicken verließ sie den Altar. Als aber der Hochzeitsmarsch des Organisten immer lauter zu klingen begann und plötzlich die Jubeltöne gleich einem mächtigen Strome vom Chore herniederrauschten, hob Eewa den Kopf und sah nach rechts und links. Und mit diesen wenigen Blicken fing sie so viel Bewunderung und Neid auf, dass sie den Kopf nicht wieder senkte. Lächelnd und mit heißen Wangen verließ sie die Kirche. Aber draußen war es ihr, als ob ihr noch jemand eine Krone auf den Myrtenkranz gedrückt hätte, denn sie vernahm die halblaut gesprochenen Worte: »Bei Gott, und er selbst sieht auch noch gar nicht so alt aus!« …

Sechs Musikanten empfingen im Gesinde die lange Reihe der Hochzeitsgäste und spielten auch, während diese beim Kaffee und Imbiss saßen. Die Knechte gingen mit Bierkrügen und Gläsern herum und nötigten zum Genießen. Bald war die kühle Stimmung verschwunden, die anfangs immer auf Festlichkeiten herrscht, an denen einander fremde Personen teilnehmen, und man begann fröhlich zu tanzen.

Der Bräutigam führte der Braut, die in ihrem Schleier einer Rosenblüte im Nebel glich, den Gemeindelehrer zu und meinte scherzend, in der Tanzstube sei dieser sein Vertreter. Sie tanzten, dann näherte sich ihr der Schreibergehilfe, ihm folgten, dreister werdend, andere junge Leute, so dass Eewa beinahe gar nicht zu Atem kam. Zuletzt trat auf sie ein schlanker Bursche zu, mit dunklem Haar, von dem ein Büschel an der feuchten Stirn klebte. Er war mit Eewa verwandt und hatte unlängst seine Lehrzeit als Schuhmacher beendet. Er verbeugte sich stumm und zaghaft und streckte ihr seine beiden Hände entgegen. Eewa stand auf, tanzte und fühlte, dass er ihre Hand fester hielt als die anderen. Nachdem sie einmal die Runde gemacht hatten, blieb sie stehen. »Bin müde«, sagte sie.

»Du tanzest viel«, versetzte er, wie entschuldigend, und ließ sie los. »Erhole dich. Noch steht ja der ganze Abend bevor.« Er verbeugte sich ungeschickt und ging.

Eewa setzte sich und blickte ihm nach. Das war doch ein komischer Junge, dieser da … Niemals hatte er von ihr Geld weder für neues Schuhwerk noch für Flickarbeiten genommen. Deshalb hatte auch die Schwester darauf bestanden, dass er eingeladen werde. Und er hatte sich für die Hochzeit einen neuen, schlecht sitzenden Anzug machen lassen.

Nach einer geraumen Weile betrat der junge Schuhmacher wieder die Tanzstube. Er sah sich um, näherte sich Eewa aufs Neue und setzte sich auf den leeren Platz neben ihr. Sein Atem duftete nach Wein, als er, gegen Eewa geneigt, sagte: »Ich habe soeben mit deinem Alten auf dein Wohl getrunken.«

Der junge Bursche sprach das leicht und harmlos aus, Eewa trafen diese Worte wie ein Gertenstreich. Sie erwiderte nichts.

Nachdem er eine Weile stumm dagesessen, beugte sich der Schuhmacher noch tiefer hinab, legte behutsam seine warme Hand auf die ihre, suchte ihre Augen und fragte in weichem, traurigem Tone: »Nun, wie ist dir jetzt?«

Eewa machte eine Bewegung, dass die Hand des Burschen von der ihrigen wegglitt. Sie fühlte in seiner Stimme etwas Unstatthaftes, und auf ihren Lippen lag bereits eine harte, abweisende Antwort. Doch schnell sich fassend, unterdrückte sie dieselbe, lächelte und antwortete heiter:

»Wie mir ist? Wohl ist mir – sehr wohl! Willst du nicht wieder tanzen?«

Sie tanzten, und diesmal länger, als vorhin. Und unwillkürlich lehnte sich der Jüngling fester an Eewas Brust.

»Zum letzten Mal mit dir!«, dachte Eewa, als der Schuhmacher sie wieder losgelassen hatte, und ging in eine andere Stube.

Sie war erzürnt. Sie war ruhig und glücklich gewesen, und da kam dieser Junge mit seinen ungeschickten Händen …

Die Stube, die sie betrat, war voll von Papyros- und Zigarrenrauch. Um den Tisch saßen fast lauter bejahrte oder sehr alte Männer, plauderten, tranken und spielten Karten. Als Eewa die Tür öffnete, lachte gerade Lausk aus vollem Halse. Er saß mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt, so dass Eewa von seinem Gesichte nichts weiter unterscheiden konnte als eine schmutziggelbe Haut, die sich in gräulichen Falten um ein großes schwarzes Loch zusammengezogen hatte. Schnell ging sie durch die andere Tür wieder hinaus.

In Eewa war etwas erwacht, das sie beschwichtigen musste. Ungewiss, was sie beginnen sollte, schritt sie zur Kleete. Die Tür zum Aufbewahrungsraum der Kleider stand offen, die Kleete selbst war leer. Sie wurde augenscheinlich gelüftet, denn der Raum war zum Brautgemach umgewandelt worden. Auf der weißgescheuerten Diele stand im Hintergrunde an der Wand ein neues, glänzend lackiertes Bett mit hochaufgemachten Bettsäcken. Die Kopfkissen staken in neuen Bezügen, desgleichen waren die Laken neu und fest. Bedeckt war das Bett mit einer von Eewa selbst gewebten Decke, die einige Jahre in der Lade gelegen hatte. Nun sah man auf dem Bett die Stellen, an denen sie gefaltet gewesen war. Wie ein angestrichenes Stück Blech erschien Eewa diese steife Decke. Ihr fiel ein Büchlein ein, das ein Bursche einmal aus der Stadt mitgebracht hatte. Da waren verschiedene Marterwerkzeuge und Marterbänke aus alten Zeiten abgebildet gewesen … Die Lippen fest aufeinander gepresst, verließ sie die Kleete. Im Gehöft stand ihre Schwester Ilse, die suchte Eewa, denn der Schreiber wollte mit ihr eine Française tanzen. Aber Eewa verzog bloß das Gesicht, nahm die Schwester um die Mitte und zog sie mit sich fort aus dem Gehöft. »Was ist dir?«, fragte Ilse.

Aber ohne zu antworten, ging Eewa weiter, nahm den Weg durch den Garten zwischen einer langen Reihe von Apfelbäumen und warf sich endlich auf dem Feldrande hinter dem Garten nieder. Ilse glitt ebenfalls zur Erde.

»Was ist dir?«, wiederholte sie besorgt.

»Still, still!«, stieß Eewa hervor, drückte mit den Händen die Schläfen und barg ihr Gesicht an der Brust der Schwester.

Die Sonne war im Untergehen, der Abend warm und friedlich. Einzelne Schwalben schossen noch hoch in der Luft hin und her, und irgendwo in der Nachbarschaft lockte eine Frauenstimme in langgezogenen Tönen die Schweine nach Hause.

Ilse umarmte Eewa und begann zu weinen. Ihre Tränen fielen Eewa ins Haar und auf den Hals.

Plötzlich brach auch Eewa in ein unbezwingbares Schluchzen aus.

»Ach, Ilse, Ilse!«, flüsterte sie einmal um das andere, »wenn ich das gewusst hätte, wenn ich doch das gewusst hätte!«

So saßen sie umschlungen, eine die andere liebkosend, bis die Nacht die Abendröte auslöschte und die Schnarrwachtel auf der Wiese das Lied ihrer Einsamkeit begann.

»Lass uns gehen«, sagte Ilse.

Doch Eewa rührte sich nicht.

Unterdessen verschwanden die Gäste einer nach dem anderen, indem sie sich still ins Heu und Stroh der Wirtschaftsböden verkrochen. Die Brautmutter fragte nach der Braut und wollte sie zu Bett führen. Zuletzt war ihre Stimme über das ganze Gehöft hin vernehmbar. Ob die Braut etwa davongelaufen sei? rief sie scherzend.

Ilse erhob sich. Schwerfällig, wie halb erstarrt, folgte ihr Eewa. Sie antwortete nichts auf die Frage der Brautmutter, wo sie denn gesteckt hätte, und schritt schweigend, von den Musikanten mit einem lustigen Marsch begleitet, zur Kleete. Dort brannte ein Licht, und Lausk saß und wartete. Nachdem die Begleiter noch einige Scherze mit dem Brautpaar ausgetauscht, verließen sie die Kleete, der Brautvater verschloss die Tür, die Musikanten spielten noch eins auf und begaben sich dann zur Ruhe.

Am folgenden Morgen wurden die Neuvermählten um die Frühstückszeit geweckt. Die Spielleute ließen die Weise: »Wie schön leuchtet der Morgenstern« ertönen, und gleich darauf folgte ein entsetzlicher Lärm, den die Burschen mit Pfannen und allerhand sonstigem Küchengeschirr veranstalteten. Dann schloss der Brautvater die Kleete auf und das Paar trat heraus. Eewa war so bleich, als ob sie mit dem Tode gerungen hätte. Sie küsste Ilse und flüsterte ihr ins Ohr, sie möge schnell Wein besorgen. Nachdem sie einen tüchtigen Schluck genommen, wurde sie wieder munter und zeigte sich ebenso gut gelaunt wie gestern. Lausk strahlte vor Glück. Er scherzte viel, trank und war von einer Behändigkeit, dass einige Spaßvögel bereits lachten, der junge Ehemann werde zuletzt auch noch tanzen. Das geschah jedoch nicht.

Als am Abend wieder die Schlafenszeit gekommen war, weinte Eewa nicht mehr, sondern trank zwei Gläser Wein. Und so tat sie es auch am dritten Hochzeitsabend.

Dann dampfte auf den Tischen Sauerkohl mit Schweinefleisch, zum Zeichen, dass das Fest zu Ende sei. Die Gäste brachen auf. Jedermann behauptete, eine so fröhliche Hochzeit seit langem nicht mitgefeiert zu haben, und alle drückten Lausk und Eewa herzlich die Hand und schieden mit der Überzeugung, dass sie wohl ein sehr ungleiches, im ganzen aber glückliches Paar zurückließen.

Ilse blieb noch einige Tage bei Eewa und half die Reste des großartigen Festes wegzuräumen und dem Hause die Werktagsordnung wiederzugeben. Dann machte auch sie sich zum Fortgehen bereit. Eewa begleitete sie eine Strecke Weges. Beim Abschied übergab die junge Wirtin der Schwester alles Geld, das ihr die Gäste geschenkt hatten. Ilse wollte danken, Eewa jedoch umarmte sie und begann zu schluchzen.

»Schwester, Schwester!«, rief sie zuletzt aus, »weshalb stießest du mir nicht ein Messer ins Herz, als ich dir zum ersten Mal von Lausk erzählte?«

Weinend ging Ilse davon.

Aber mit einer heiteren Melodie auf den Lippen kehrte Eewa ins Gesinde zurück. Da sie sich nun einmal gelobt hatte, glücklich zu scheinen, so mochte die Komödie auch weitergehen. Sie verbarg ihren Kummer in der Tiefe ihres Herzens und schaltete im Hause mit geradezu freudigem Eifer. Mit nimmermüder Aufmerksamkeit sorgte sie für die Bedürfnisse des Alten und nahm Rücksicht auf seine Schwächen. Das fiel ihr nicht schwer, denn sie war von klein auf an Arbeit gewöhnt, war fleißig; aufgeweckt, und Lausk erschien ihr auch mit der Zeit nicht mehr so unerträglich widerwärtig, wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Überdies hatte der alte Mann Vernunft und einen trefflichen Charakter. Als er sah, wie er geschätzt wurde, wusste er gar nicht, in welcher Weise er »Eewas Liebe«, wie er es nannte, vergelten sollte. Er kaufte ihr teure Tücher und allerlei sonstigen Putz, und gab zuletzt seine ganze Barschaft in Eewas Hände. Doch Eewa putzte sich nicht. Sie zeigte zwar den Dienstboten und Freundinnen, was ihr der Alte schenkte, ließ aber alles in den Schränken und in der Kommode verliegen und unmodern werden. Für wen sollte sie sich putzen? Doch nicht für den kahlköpfigen Greis? … Und die Freundinnen und andere Wirtinnen bewunderten sie noch mehr, wenn sie mit einem Kattuntüchlein um den Kopf irgendwo erschien. Wussten sie doch, dass Eewa sich in reine Seide kleiden konnte, dass sie es nur nicht wollte. Diese Einfachheit inmitten der Fülle des Reichtums hob Eewas Ansehen mächtig in den Augen der Leute, und sie wusste es – und war bestrebt, ihren Ruhm zu mehren.

So vergingen zwei Jahre.

Lausk war dank der sorgsamen Pflege und dem friedlichen Leben in dieser Zeit keineswegs schwächer geworden, eher noch hatte er sich gekräftigt. Eewas Glück pfiffen die Spatzen sogar von den Dächern in den Nachbargebieten. Man pries sie als eine musterhafte Hausfrau, und so manches arme Mädchen seufzte bei sich: »Ach, hätte ich doch auch solch ein Leben wie die im Lausk-Gesinde! Bin ich denn schlechter als sie?«

Niemand jedoch wusste, wie oft Eewa in stiller Nacht die Hände ineinander gekrampft und verzweifelt gejammert hatte: »Gott! Erlöse mich! Nimm ihn von meiner Seite oder lass mich sterben!«

Aber Lausk starb nicht. Auch Eewa erfreute sich guter Gesundheit, obwohl auf ihren Wangen keine Rosen mehr blühten und um ihren Mund sich zwei scharfe Furchen gebildet hatten.

Abermals vergingen zwei Jahre.

Der alte Wirt fühlte sich frisch wie ein Jüngling. Wenigstens behauptete er dies von sich selber.

Im fünften Jahre ihrer Ehe trat zu Georgi bei Lausk ein junger Knecht, mit Namen Jahnis, in Dienst. Er war ein großer, schöner Bursche mit breiten Schultern, blauen lieben Augen und blondem Haar. Er hatte eine Mutter, die zu Feldarbeiten nicht mehr fähig war und die, sich selbst beköstigend, in ihrem Winkel Hede spann, flickte oder strickte.

Anfangs beachtete Eewa Jahnis wenig. Lausk war noch kräftig genug, um selbst den Knechten die Arbeit anzuweisen, und sie mischte sich nicht in seine Angelegenheiten. Aber die Mädchen fingen an, ihr von Jahnis zu erzählen. Wie gut er sei! Wie er seine Mutter pflege! Das sei das reine Wunder!

Nun begann auch die Wirtin Jahnis zu beobachten und sah, dass die Mädchen recht hatten. Mit geradezu rührender Liebe bediente der große Bursche das alte Frauchen, ertrug geduldig ihre kleinen Launen und machte ihr sogar das Bett auf, wenn sie es bisweilen nicht selbst vermochte.

»Du hast wohl deine alte Mutter sehr lieb?«, wandte sich Eewa einmal an Jahnis.

Der Bursche senkte die Augen und wurde verlegen. Sein einfacher Sinn missverstand diese Frage und fasste sie als gelinden Spott auf. Die Burschen pflegen ja im Allgemeinen gegen ihre Mütter nicht so sanft zu sein. Vielleicht meinte die Wirtin, dass sich das nicht schicke.

»Sie ist alt und kränklich«, antwortete er, sich gleichsam rechtfertigend. »Wer weiß, wie lange ich sie bei mir noch habe.« Und dann setzte er nach einem Stillschweigen hinzu: »Ihnen geht es ja ähnlich wie mir. Sie haben ja auch Ihren Alten sehr lieb.«

»Ganz recht, ganz recht«, antwortete Eewa, und lächelte freundlich. »Wir beide müssen fürchten, dass heute oder morgen die Trennungsstunde schlägt.«

Dann wandte sie sich ab und biss die Zähne aufeinander. O, du ungewollter Hohn! Er verglich sein Mütterlein mit ihrem Alten!

Seit dieser Unterredung goss Eewa fast alle Tage von dem warmen Dienstbotenessen auch für die Alte ein Schüsselchen voll. Und wenn sie für Lausk und sich etwas Besonderes zubereitete, vergaß sie Jahnis' Mutter erst recht nicht. Die Wirtin verweilte gern in ihrem Winkel und hörte zu, wenn sie mit redseligem Munde von ihrem Sohne erzählte. Jahnis trug die Züge der Mutter, und wenn Eewa die Alte anblickte, sah sie des Burschen liebe blaue Augen …

Unruhe kam über Eewa, und sie schlief des Nachts schlecht. Sie wurde noch bleicher als sonst, so dass der Wirt über ihr Aussehen besorgt wurde und fragte, ob Eewa nicht etwas fehle? Sie arbeite zu viel, sie möge sich doch mehr auf ihre Hilfsmagd verlassen.

Eewa erbebte. Sich auf die Hilfsmagd verlassen! Sich zurückziehen von der Arbeit, die doch ihr einziger Schutz gegen allerlei Gedanken war!

Und sie antwortete, dass sie sich vollkommen gesund fühle, und schaffte noch mehr als bisher, vom Tagesgrauen bis zum späten Abend.

Aber der Friede zog nicht in ihr Herz.

Sie ging häufiger zur Kirche, doch Frieden brachte sie nicht heim. Und es wurde ihr immer schwerer, ihr Leid zu verbergen.

So kam die Heuzeit heran.

Jahnis war ein geschickter und aufmerksamer Bursche, aber wer weiß, wie es zugegangen sein mochte – während er einmal zu Hause die Sense schärfte, schnitt er sich tief in den Finger. Das Blut floss heftig, und die Mutter, die sich in der Nähe befand, begann zu schreien.

Eewa trat aus der Stube, und wie sie Jahnis bluten sah, erstarrte sie beinahe vor Schreck. Sie lief zurück, suchte Leinwandlappen hervor, nahm Sandzucker, den der Bauer gern auf dergleichen Wunden streut, und eilte über das Gehöft zu Jahnis. Mit zitternden Fingern verband sie die Wunde und beruhigte sich innerlich erst dann, als der Bursche wiederholt versicherte, dass er fast gar keinen Schmerz fühle. Und wie zur Bekräftigung seiner Worte lächelte er Eewa an und sagte in heiterem Tone: »Ich danke, Wirtin, ich danke!«

In der Nacht nach diesem unbedeutenden Ereignis konnte Eewa nur wenig schlafen. Ihr war es, als ob sie noch immer Jahnis' warmes Blut an ihren Händen verspüre. Sie rieb sie am Laken, legte sie wie zur Kühlung auf die Decke, wälzte sich im Bett und weinte.

Was tun … was tun?

Als der Morgen gekommen war und Eewa aufstand, sah sie ernst aus, wie jemand, der einen unabänderlichen Entschluss gefasst hat. Ruhig trat sie die Arbeit des Tages an, wechselte jedoch nicht den Verband an des Burschen Finger, sondern hieß es die Hilfsmagd tun. Ihr sei gestern von dem Anblick des Blutes schlecht geworden, entschuldigte sie sich.

Nicht lange danach, als Jahnis' Finger verheilt war, erhob Eewa einen großen Lärm nach einem halben Laib Brot, den sie zu vermissen vorgab. Da sich das Brot trotz allen Suchens nicht wiederfand, ließ Eewa gegen Lihse, eine sehr verklatschte Magd, die Bemerkung fallen, ob nicht etwa in den Winkel von Jahnis' Mutter das Brot verschwunden sei. Noch an demselben Tage betrat Jahnis mit gerötetem Gesicht die Stube des Wirtes und fragte, ob die Wirtin in der Tat so gesprochen habe und seine Mutter für eine Diebin halte?

»Für eine Diebin halte ich sie nicht«, versetzte Eewa, »aber wunderbar ist es, wo das Brot bleiben konnte.« An diesen Worten war es genug. Jahnis sagte seinen Dienst auf und ging sogleich fort, um sich eine neue Stelle zu suchen.

»Man müsste ihn besänftigen« sagte Lausk. »Er ist ein so tüchtiger Arbeiter, und seine Mutter hat das Brot sicherlich nicht gestohlen.«

»Natürlich nicht. Wenn er aber solch ein Hitzkopf ist – mag er denn auch gehen!«

»Wenn du es so willst, meinetwegen«, versetzte der Alte, und sagte weiter kein Wort zugunsten Jahnis', als dieser mit einem fremden Pferde ins Gehöft einfuhr und seine Sachen auf den Wagen zu laden begann.

Bei der Abrechnung, die Eewa vollzog, legte sie ihm den ganzen Jahreslohn auf den Tisch.

»Damit wir nicht unnütz ins Gerichtshaus laufen müssen«, bemerkte sie.

»Ich habe dort nichts zu tun« versetzte Jahnis, zählte das Geld und legte es wieder auf den Tisch. »So viel kommt mir nicht zu.«

»Nimm nur. Wegen meiner Heftigkeit gehst du fort, dann ist's nur recht, dass ich den Schaden leide.«

»Nein, ich nehm' es nicht«, sagte der Bursche bestimmt.

Eewa zählte das Geld und teilte es auf die Hälfte.

»Nicht, nicht, – begnüge dich denn auch bloß mit der Hälfte.«

Dem Burschen kam jedoch kaum das Drittel davon zu und er zögerte von neuem mit dem Empfangen. Schließlich ergriff er dennoch das Geld und strich es schweigend in den Beutel.

Dann nahm er Abschied.

Eewa reichte ihm die Hand und drückte sie herzlich. »Helfe dir Gott, Jahnis. Helfe dir Gott! Lebe glücklich!« Und dann fuhr der Bursche zusammen mit der Mutter davon.

Obwohl im Hause bloß ein Winkel leer geworden war, schien es dennoch Eewa, als ob alles Gesinde fortgegangen sei. Eine unsagbare Wehmut überkam sie. Nichts gefiel ihr mehr. Die Arbeit auf den weiten grünen Wiesen, die Wirtschaft im Hause, all das große Vermögen, Lausks Pflege, – alles war ihr bis an den Hals zuwider geworden. Da traf zum Glück Ilse auf Besuch ein. Sie hatte sich verheiratet und verwaltete gemeinschaftlich mit ihrem Manne unter dem Namen von Hälftnern Lausks zweites Gesinde, das ihm von seinem durch eine Seuche dahingerafften Schwiegersohn und seiner Tochter zugefallen war. Ilse hatte ihren Erstgeborenen, ein vier Jahre altes Bübchen, mitgenommen, das durch seine Munterkeit Eewas Schwermut allmählich verscheuchte. Die unglückliche Wirtin gewann den Knaben so lieb, dass sie ihn gar nicht mehr fortlassen wollte. Aber der Kleine wollte ohne seine Mutter um keinen Preis bei ihr bleiben. So führte denn Ilse das Kind wieder fort, und Eewa versank in die frühere Schwermut. In ihrer Seele war eine neue Saite schmerzlich berührt worden. Weshalb gehörte nicht auch ihr solch ein Blondköpfchen wie Ilses Söhnchen? Würde sie denn niemals von einer fröhlichen Kinderschar umschwärmt werden? … Nein, niemals, niemals …

Wie verstört ging sie umher. Wollte denn ihr Alter ewig leben? Er hatte sie betrogen … Sie entsann sich dessen unklar, dass er bei der Ansprache gesagt hatte, er wolle nur noch ein paar Jährchen leben. Etwas Derartiges hatte er gesprochen. Und nun – weshalb starb er nicht? Musste Eewa selbst den Tod herbeirufen? … Und mit einem Hass, der tödlich gewesen wäre, wenn die Kraft dem Wunsche entsprochen hätte, sah sie dem achtzigjährigen Greise nach, wie er von der Kleete zum Stall und vom Stall zum Wohnhaus mit kleinen, aber sicheren Schritten trippelte. Der sah noch so munter aus, als ob er seinen hundertsten Geburtstag erleben wollte!

Grässliche Gedanken wachten in Eewa auf. Der Alte musste aus der Welt geschafft werden. Wenn er plötzlich starb, wer würde wohl nach der Todesursache forschen! War seine Zeit nicht schon längst um? Hatten sie nicht so friedlich miteinander gelebt, dass böser Verdacht gar nicht aufsteigen konnte? Und wenn das auch geschah – konnte sie denn nicht auch sterben? Was nützte denn solch ein Leben?

So umhüllte sich ihre Seele mit immer tieferem Dunkel. Sie begann über Schlaflosigkeit zu klagen und machte sich zuletzt auf, um zum Arzt zu fahren. Das Pferd stand bereits angespannt, als jemand mit großer Hast ins Gehöft hereinraste und Eewa meldete, Ilse liege im Sterben, sie möge sogleich hin, um Abschied zu nehmen.

Wie ein kräftiger Schlag ins Wasser die Blasen zerstört, die aus der schlammigen Tiefe an die Oberfläche gestiegen sind, so verscheuchte die plötzliche Unglücksbotschaft Eewas furchtbare Gedanken. Sie setzte sich in den Wagen und fuhr zur Schwester.

Der Bote hatte recht, Ilse war tödlich erkrankt. Sie starb jedoch nicht. Mit der größten Sorgfalt von Eewa gepflegt, überstand sie den gefährlichen Wendepunkt der Krankheit und begann dann langsam zu genesen. Nach einigen Wochen konnte sie schon das Bett verlassen.

Eewa entsann sich nicht, seit langem so süß geschlafen zu haben, als nach diesem frohen Ereignis. Nachdem sie aufgestanden, fühlte sie sich so leicht und frisch wie ein junges Mädchen. Sie blieb noch einige Zeit bei der Schwester, und als sie endlich wieder nach Hause fuhr, war es ihr, als ob sie nicht bloß einige Wochen, sondern lange Monate fortgewesen sei. Sie sehnte sich nach ihrer Wirtschaft und fuhr mit gehobenem Gefühl ins Gehöft hinein. Lausk hatte um ihre Ankunft gewusst und die Außentür des Wohnhauses mit einem Gewinde von Eichenlaub schmücken und in den Stuben Kränze aufhängen lassen. Dieser unerwartete grüne Gruß rührte Eewa tief, und herzlich drückte.sie dem Alten die Hand. Doch ach! was half das alles – alt und hässlich war und blieb er trotzdem!

Mit erneuter Kraft begann Eewa wiederum zu wirtschaften. Arbeit, Arbeit war ihre Rettung gegen allerlei Anfechtungen, das hatte sie erkannt. Sie schaffte gleich einer Magd und erhielt sich solcherart eine geraume Weile den Gleichmut der Seele. Doch ganz allmählich senkte sich von neuem der graue Schleier der Schwermut auf sie … Für wen arbeite ich? Wem spare ich? Wer erbt dies alles? fragte sie sich bitter. Sie war überzeugt, dass Lausk so lange leben würde, bis ihr keine Zeit mehr bleiben würde, zum zweiten Mal zu heiraten. Der Widerwille gegen den zähen Greis begann sich wieder zu regen.

Müde geworden der Verstellung, gleichgültig gegen das Gerede der Leute, verbarg sie ihr Gefühl nicht mehr mit der ehemaligen Sorgfalt, Lausk bekam dann und wann ein unfreundliches Wort zu hören. Aber er nahm das nicht übel. Er sah, wie Eewa ging und arbeitete, und er wusste, dass der, welcher alle Hände voll zu tun hat, sich keine Zeit nehmen kann, die Worte jedes Mal fein abzuwägen. Er sah, dass sein Vermögen wuchs, und das machte ihm Freude. Vollauf hatte er es ja freilich auch ohne dass Eewa sich so abplackte, aber alter Leute Sinn steht nun einmal im Allgemeinen aufs Sparen, und wenn sie es selbst nicht mehr vermögen, dann sehen sie wenigstens gern, dass andere ihren Wünschen gemäß handeln.

Deshalb schwieg auch Lausk, als Eewa auch auf die Zubereitung des Essens nicht mehr jene Sorgfalt verwandte, wie früher. Ihm schmeckte ja, Gott sei Dank, noch alles. Weshalb sollte sie sich denn auch mit dem Kochen und Braten so viel plagen!

Mit der Zeit jedoch merkten auch die Dienstboten, dass das Essen schlechter wurde. Die Ursache war, dass Eewa zu geizen begonnen hatte. Beständig mit dem Sparen und Zusammenhalten beschäftigt, hatte sie zuletzt die Gewohnheit angenommen, alles, was ihr gehörte, wegzulegen, zu verschließen, aufzuheben, zu mehren und wiederum zu mehren, ohne Zweck, ohne Sinn …

Verstummt waren die Fragen: Für wen spare ich? Erkaltet war Eewas Verzweiflung. Nicht die trieb sie mehr beim Zwielicht aus dem Bett und hieß sie erst bei hereinbrechender Nacht mit der Arbeit aufhören, sondern blinder, krankhafter Eigennutz.

Unterdessen jedoch hatte Lausk sein sechsundachtzigstes Lebensjahr vollendet. Sein Körper war vollständig ausgetrocknet und seine Haut hatte einen erdigen, ins Grünliche spielenden Ton angenommen. Aber »sterben tut er noch nicht«, sagten die Leute. Eewa war zu einer fetten, bleichen Matrone geworden und sah so aus, als ob sie an keinem Blümlein hätte vorübergehen können, ohne es niederzutreten.

Eine ihrer liebsten Beschäftigungen war das Jäten, Pflücken, Abpflücken, Ausreißen und wieder und wieder Ausreißen und auf einen Haufen legen, das gefiel ihr …

So saß sie einmal im Garten zwischen jungen roten Rüben. Ein Berg von Vogelgras, Ringelblumen und Kamillen lag hinter ihrem Rücken. Soeben riß sie eine junge Quecke aus, zugleich aber kam auch eine Rübe mit. Indem sie dieselbe wieder zurückpflanzen wollte, stieß sie die Finger der linken Hand in die Erde und verwundete den Mittelfinger an einer Glasscherbe, die sich im Beete befunden hatte. Zwei dunkle Tropfen Blut flossen über die Handfläche nieder, und beim Anblick dieser Tropfen fiel Eewa eine andere blutende Hand ein und zwei liebe, blaue Augen sahen sie an.

»Ich danke, Wirtin, ich danke …«

Sie versank in Erinnerungen.

Als sie wieder zu jäten begann, hatte sie die Verletzung vergessen und beachtete sie auch nicht während des ganzen Tages. In der Nacht jedoch erwachte sie und fühlte Schmerz in dem verwundeten Finger. Am folgenden Tage wurde der Schmerz heftiger, der Finger war geschwollen und sah dunkelblau aus. Eewa umwickelte ihn mit frischen Wegerichblättern, allein der Schmerz ließ nicht nach und wurde zur Nacht ganz unerträglich.

Am Morgen darauf wollte Lausk, dass Eewa zum Arzte fahre oder dass er geholt werde. Aber Eewa behauptete, entweder die Kosten scheuend oder die Wahrheit redend, der Schmerz lasse nach. Gegen Abend konnte sie es jedoch nicht mehr aushalten und sagte, man möge den Doktor holen. Nach Verlauf von mehreren Stunden erschien der Arzt. Nachdem er die Hand sorgfältig untersucht, verzog er ein wenig das Gesicht und sagte, die Sache stehe nicht gut. Fette, gut gedüngte Erde sei reich an faulenden Stoffen und dem Blute schädlichen Keimen, die es leicht vergiften könnten. Eine solche Vergiftung habe sich leider die Wirtin zugezogen. Die Hand habe den Brand bekommen und müsse bis zum Ellbogen abgenommen werden. Die Wirtin möge sich unverzüglich ins Hospital des Nachbararztes begeben, eine derartige Operation könne er weder hier, noch bei sich zu Hause ausführen.

»Geben Sie Medizin, Herr Doktor!«, sagte Eewa. »Die Hand lass' ich mir nicht abschneiden.«

Der Arzt erklärte noch einmal, dass das unbedingt und schleunigst geschehen müsse, und bat, um Gottes willen ja keinen Augenblick mit der Abfahrt zu zögern.

Aber starrsinnig verharrte Eewa bei ihren ersten Worten, dass sie sich die Hand nicht abnehmen lassen werde, und der Arzt fuhr davon, nachdem er versprochen, irgendetwas zur Linderung der Schmerzen zu senden.

Einige Tage darauf lag Eewa im Sarge.

Mit ungewöhnlicher Selbstbeherrschung war sie eines qualvollen Todes gestorben. Lausk zerfloss in Tränen.

»Weshalb musstest du nun schon sterben!«, klagte er verzweifelt. »Konnte ich denn nicht statt deiner heimgegangen sein! Was soll ich nun noch hier allein, was beginne ich ohne dich? … Ach, du warst gegen mich so gut, so gut … Du liebtest mich viel mehr als meine erste … Ruhe nun, ruhe sanft … Ich werde dir ja auch bald folgen. Ich werde dir eine große Beerdigung ausrichten … ja, die werde ich ausrichten …«

Und er beugte sich über den Sarg, und seine ausgetrockneten Lippen küssten Eewas stummen Mund.


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