Matthias Blank
Fluch dir, o Liebe
Matthias Blank

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4. Kapitel

Im grellen Sonnenlicht des Mittags lagen hinter Agnes die Mauern des Arbeitshauses; in blendendem Weiß, daß ihr die Augen schmerzten, als sie nochmals zurückschaute. In leuchtendem Zinnober schimmerten die Dächer. Ein prachtvoller Tag.

Ein qualvolles Jahr war überstanden.

Was hatte sie erlebt, gehört und gelitten! Was für Menschen! Und alle, mit denen sie gemeinsam gearbeitet hatte, mit denen sie in dem öden Hofe, der dem Auge keinen anderen Anblick bot als die hohen Mauern, den gepflasterten Boden und darüber den Himmel, den täglichen Spaziergang gemacht hatte und mit in einem gemeinsamen Schlafraum untergebracht war, alle hatten mit haßerfüllter Erbitterung von ihrem Leben gesprochen; alle menschlichen Leidenschaften hatte sie dort kennen gelernt, Haß, Neid, Sinnlichkeit, Rachsucht, Begehrlichkeit, Grausamkeit, aber nicht offen hatten sie sich gezeigt, sondern wie unter einer Asche glimmend, bereit in Flammen aufzulodern, wenn erst die Mauern hinter den Trägerinnen liegen würden.

In ihr war tiefste Erbitterung!

Sie hatte in diesem Haus den letzten Glauben an eine Gerechtigkeit, an eine Aussöhnung mit dem Schicksal verloren.

Mit einem Gefühl des Verlorenseins in einem Abgrunde, aus dem es kein Empor mehr gab, schaute Agnes Petrich zu den Mauern zurück.

Sie war nun eine Gezeichnete? In ihren Papieren stand es, daß sie aus dem Arbeitshaus entlassen worden war. Wer vertraute ihr da noch? Wer gab ihr Arbeit? Und doch mußte sie verdienen, mußte Geld gewinnen.

Ihre Hand griff unwillkürlich nach der Brust, wo unter dem hellen Blusenstoff ein Brief knisterte. Darin stand ein Drängen nach Geld, lagen nicht bezahlte Rechnungen und war noch eine Drohung, die ihrer kleinen Rose galt. Seit mehr als einem Jahre hatte sie ihr Kind nicht mehr gesehen! Und jetzt sollte über ihr und ihrem Mädelchen wieder das Elend und die Not zusammenbrechen.

Noch hatte sie zwar Sachen zu verkaufen, die ihr gehörten.

Und dann würde sie verdienen!

Aber wer nahm eine, die aus dem Arbeitshause kam, nach der alle Monate ein Schutzmann fragte?

Sie hatte Adressen von Winkelvermittlerinnen; eine davon würde schon etwas für sie ausfindig machen. Sie war ja zu jeder Arbeit bereit. Sie hatte sie von den Mädchen dort hinter den Mauern, von der »roten Jule«, von der »Schielmietze«, von der »koscheren Lotte« erhalten, und alle hatten es ihr mit Hohn, mit Haß, mit Verachtung gesagt, daß eine bekannte große Verdingerin niemals eine aus dem Arbeitshaus nehmen würde; Agnes hatte ja auch keine empfehlenden Papiere.

Grau und drohend sah sie die Zukunft vor sich.

Und dabei war sie ohne jeden Mut.

Der knisternde Brief, nur die Angst um Klein-Rose peitschten sie förmlich auf.

Bald hatte sie den Bahnhof erreicht und fuhr nach München; in einer schmalen Seitengasse der Altstadt, in einem Hause, dessen Flur selbst am Tage von einem Öllämpchen beleuchtet war, fand sie die erste Vermittlerin. Fragen nach Zeugnissen, nach Stellungen, nach einer Empfehlung; ein Kopfschütteln, und dann das Urteil der starken, großen Frau mit den knochigen, männlichen Zügen:

»Da wird sich nichts machen lassen! Wer nimmt heute jemand, der keine andere Empfehlung als das Arbeitshaus hat? Niemand mag den Schutzmann in seiner Wohnung haben.«

Bei der zweiten: der gleiche Verlauf; und zuletzt eine ähnliche Antwort:

»Schließlich läßt sich schon etwas finden, gewiß; es gibt solche, die Mädel sehr gerne nehmen, wenn sie von so wo herkommen, weil sie dann schlecht zahlen können, weil sie von solchen mehr verlangen, weil sich ihnen statt einem guten Frühstück leichter eine Drohung mit dem Schutzmann vorsetzen läßt. Ich bin alt und habe Erfahrung; eine gut bezahlte Stellung gibt es nicht, und dort, wo man unter dem Mantel der Sträflingsfürsorge solche nimmt, erhalten sie die Vergangenheit so oft aufs Brot gestrichen, daß sie daran mal ersticken. Mit Hungerlohn ja, aber das wird Ihnen kaum eine Hilfe sein!«

Zur dritten!

Alles kam so, wie es die »rote Jule«, die »Schielmietze« und die anderen ihr vorhergesagt hatten.

Das Urteil der dritten:

Nur mit elendem Lohn, aus Mitleid genommen, um dann um so mehr ausgenutzt zu werden.

Das schmale Gesicht, das in dem einen Jahr noch fahler, gelblicher geworden war, in dem aber die großen Augen immer noch das tiefe, glänzende Leuchten hatten, zeigte eine herbe Hoffnungslosigkeit; die dünnen Lippen waren dicht zusammengekniffen, die Mundwinkel nach abwärts gezogen.

Sie erwartete nichts mehr.

Ein anderes Haus, diesmal Treppenstufen, die mit einem Läufer belegt waren. Ein Türschild aus Messing. Ein nett gekleidetes Mädchen, das öffnete.

Agnes hatte schon wieder umkehren wollen, denn hier würde für sie nichts zu hoffen sein.

Doch da wurde sie schon in ein Zimmer geführt, in dem in der einen Ecke mehrere künstliche Fächerpalmen standen, und auf dem durchgescheuerten Teppich rote Plüschsessel waren, die auch schon dünne Stellen wiesen; zwischen zwei Fenstern prunkte ein schwarzes Piano, auf dessen Deckel vielleicht wochenlang nicht Staub gewischt war. Heruntergekommene Eleganz.

Was sollte sie hier? Agnes fühlte sich fremd.

Da trat auch schon Frau Mendolski ein; A. Mendolski hatte auf dem blinkenden Messingschild gestanden. Sie war groß und üppig, trug einen Hausrock aus dunkelblauer Seide, die allerdings an manchen Stellen gebrochen war; das braunschwarze Haar, in dem sich schon einige weiße Fäden bemerkbar machten, war nur flüchtig aufgesteckt und hatte fettigen Glanz. Die Augen von grünlichgrauer Farbe zwinkerten, und der Mund mit den vollen Lippen wirkte derbsinnlich.

»Sie suchen Stellung? Da sind Sie recht empfohlen worden, denn ich habe die besten Herrschaften, die nur bei mir anfragen. Glänzende Empfehlungen. Ich begnüge mich nicht mit kleinen Pöstchen. Was waren Sie denn zuletzt?«

Rasche, fast überstürzende Worte.

Agnes fühlte eine aufsteigende Verlegenheit; aber sie mußte etwas erklären:

»Ich bin gewiß an die falsche Stelle gekommen und falsch gewiesen worden. Ich war noch nie in Stellung, es ist zum erstenmal –«

Die Augen der Frau Mendolski kniffen sich zusammen, daß sie nur wie hinter einem schmalen Spalt hervorlugten.

»Ich verstehe. Sie haben keine Zeugnisse, keine Empfehlungen?«

»Nein!«

»Hm! das ist allerdings etwas anderes. Aber es läßt sich auch da manches machen, warum denn nicht? Wo waren Sie zuletzt?«

Nun mußte sie es sagen. Was half es auch? Es stand ja doch in ihren Papieren.

»Im Arbeitshaus.«

Der Spalt wurde noch schmaler.

»So! Aber so setzen Sie sich doch! Bitte! Wir werden dabei viel bequemer und kommen dann leichter zu einem Ergebnis. Im Arbeitshaus! Dort hat man mich genannt? Hm! Und was war dann vorher? Wie kamen Sie ins Arbeitshaus?«

Agnes saß auf einem der Plüschsessel; ihr war es, als glitten die graugrünen Augen dieser Frau gierig und abwägend über ihre Gestalt. Und sie gab Antwort.

»Wegen Gewerbsunzucht? Sie hatten ein Verhältnis? Hm! Das ändert viel. Da wüßte ich wohl etwas, aber nicht hier. Für Köln! Etwas gut Bezahltes. Brauchen Sie etwa gleich Geld? Ich habe Verständnis dafür.«

Agnes dachte an Rose, an den Brief:

»Ja, ich habe ein Kind, und für das muß ich sorgen, nicht für mich. Ein kleines Mädchen ist es, das doch unter meiner Not nicht mit leiden soll.«

»Oh, ein Mädelchen! Ich verstehe das schon! Da sind Sie nun das Pensionsgeld schuldig, da sollen Sie zahlen.«

Agnes nickte; die schmeichelnde Stimme dieser Frau erschien ihr trotz aller Bemühungen abschreckend; sie spürte irgend etwas Unbekanntes, vor dem sie auf der Hut sein müsse.

»Hm! Es ließe sich auch das machen. Zwei – dreihundert! Warum auch nicht? da, wo ich Sie hinbringe, können Sie das in ein paar Wochen haben, ein pikfeines Haus, das erste in Köln. Ich vermittle nur an die besten, ganz noble Gäste.« Nun beugte sie sich zutraulich an Agnes heran, legte die fettige Hand auf den Arm von Agnes und sagte mit einem schärferen Augenzwinkern: »Wir können ja ruhig davon sprechen, denn wir verstehen uns. Wo sie auch hingehen, überall ist schon in den ersten vierzehn Tagen ein Polizist hinter Ihnen her, und Sie fliegen wieder und saugen Hungerpfoten. Sind Sie aber in einem so guten Haus untergebracht, dann haben Sie Ruhe und verdienen ein Vermögen. Ich habe da eine nach Baden-Baden gebracht, und die hat einer als seine Frau herausgeholt. Jedenfalls Geld ist Geld. Und Sie – geschmeidig wie eine junge Katze – mit so brennenden Augen – da müssen Sie überall die besten Kunden bekommen. Wie ist es nun?«

Jetzt erst verstand Agnes; sie schob die fleischige Hand von ihrem Arm und stand auf:

»Nein – das nicht!«

»Gut! Vierhundert! Sie können das Geld gleich von mir bekommen; ich bringe Sie dann selbst nach Köln. Vierhundert! Und dort erhalten Sie seidene Wäsche, alles erstklassig, wie Sie selbst es bestimmen. Es ist ein Haus am Ring.«

»Nein! Ich – ich will arbeiten.«

»Arbeiten? Sie können das ja versuchen! Aber verlassen Sie sich darauf, es geht nicht, dann nicht mehr, wenn eine vom Arbeitshaus kommt. Sie werden doch wieder den Weg zu mir suchen.«

»Nein! Nein!«

Sie drängte zur Türe, wollte fort, nur fort.

Auch Frau Mendolski war aufgestanden.

»Auf Wiedersehen dann – wir begegnen uns schon wieder.«

* * *

»Hast du den Polizisten gesehen?«

»Natürlich war er nur wieder wegen der da.«

»Wie sie dort steht, schaut uns nicht an, daß man glauben sollte, sie wäre eine Besondere.«

»Pah, und war im Gefängnis! So Eine! Und dann im Arbeitshaus.«

In dem großen, hellen Saal summten und surrten die Räder und Maschinen. Die breiten Transmissionsriemen schleppten und klatschten bei jeder Umdrehung. Ein rasselnder Lärm, der die einzelnen Stimmen verschluckte. Nur die zwei Arbeiterinnen, die beieinanderstanden, konnten sich solche Bemerkungen zuschreien; sie trugen schwarzblaue Arbeitsschürzen, die das ganze Kleid einhüllten; auch das Haar war in eine engschließende Haube gesteckt, damit nicht eine lose Haarsträhne von einem Riemen oder einem Rad erfaßt wurde. Es kamen schon so genug Unglücksfälle vor.

Etwa zweihundert Arbeiterinnen waren im Saal.

Der Werkmeister mit hartem, knochigem Gesicht, das tiefbraun wie altes, gegerbtes Leder aussah, mit gelblichen Augen, sehnig und groß, ging durch die Reihen der Maschinen, um die Arbeiterinnen anzutreiben und die Leistungen zu überwachen; er warf seine Worte, die von den rissigen Lippen wie ein heiseres Bellen kamen, nach allen Seiten.

»Schau doch wieder! Natürlich treibt es ihn zur Petrich.«

»Er weiß, was da zu holen ist.«

»Daß wir auch mit so Einer zusammenarbeiten müssen, die gesessen hat.«

»Wir sind keine solchen und brauchen uns das nicht gefallen zu lassen.«

»Pah, der Werkmeister weiß schon, warum er sie behält.«

Ein häßliches Lachen.

»So Eine!«

Der Werkmeister war nun stehen geblieben; er mußte ganz nahe hintreten, um verstanden zu werden.

Das bleiche Gesicht wandte sich ihm mit unsicherem Blick zu, wie erschreckt.

»Der Schutzmann war wieder mal da, Petrich.«

Ein Zucken huschte über das weiße Gesicht, das auch hier immer noch die zarten, feinen Züge hatte, den verträumten und dunklen Blick. Ihre zierliche Erscheinung fiel unter den anderen derben Gestalten auf.

Sie würgte an einer Antwort, brachte aber kein Wort über die Lippen.

Sie wußte es schon, hatte ihn ja selbst gesehen. Es war dies nicht das erste Mal. Und von den anderen Arbeiterinnen hatte sie es bereits fühlen müssen, daß diese um ihre Vergangenheit wußten.

Schon dreimal hatte sie eine Arbeitsstätte verlassen müssen, weil diese sich wiederholenden Anfragen eines Schutzmannes über ihr Verhalten die Kolleginnen gegen sie aufgehetzt hatten.

»So Eine!«

Nun fürchtete sie sich und schwieg.

Nur die schmalen, dünnen Hände verrichteten mechanisch die Funktionen an der Maschine weiter.

»Ich habe ihm natürlich Bescheid gegeben. Guten, sehr guten, daß er für länger ausbleiben dürfte.«

Sie blickte nicht auf; nur ganz leise die Antwort:

»Ich danke Ihnen auch, Herr Werkmeister.«

Aber er ging noch nicht; er beugte sich noch näher:

»Für so etwas dürften Sie aber liebenswürdiger sein, Petrich! Einen Schatz haben Sie ja nicht, der eifersüchtig werden könnte.«

Ihre Lippen kniffen sich zusammen; sie hörte das nicht zum erstenmal, sie hörte es auch nicht vom ersten. Wo sie bisher gewesen war, wo zum erstenmal der Schutzmann mit seinen Fragen aufgetaucht war, überall hatte einer dann geglaubt, nun ein Recht darauf zu haben, daß ihr Leib ihm gehören müsse. Sie blieb immer nur: »So Eine«.

Und jetzt wieder!

Alle glaubten, sie wie ein willenloses Stück Fleisch nehmen zu können.

Hastender arbeiteten ihre Hände.

Heiser bellte die Stimme des Werkmeisters:

»Ich bin allein und möchte gern lustige Gesellschaft. Auch im Bett! Sie haben darin doch Erfahrung; was liegt da an einem mehr? Wie ist es nun? Ich bin dann auch zu anderen Gefälligkeiten bereit. Ich stelle Sie dann an einen Platz, wo es leichteres Arbeiten gibt.«

Keine Antwort.

»Und den anderen stopfe ich schon die Mäuler, wenn sie nicht still sein wollen. Heute Nacht, Petrich! Es soll mir auf eine Flasche Wein nicht ankommen.«

»Nein – nein – ich will nur arbeiten.«

»Blödsinniges Geschwätz.« Seine Stimme klang jetzt noch brutaler: »Früher hast du dich auch nicht gespreizt, sonst wärst du nicht im Arbeitshaus gesessen. Ich richte da keinen Schaden mehr an; wo viele schon –«

Und unter Lachen machte er einen unflätigen Witz.

»Nein!«

»Dann nicht, närrisches Weibsbild!«

Mit schweren Schritten ging er weiter.

Dröhnen und Rasseln, Klappern und Surren; Lärm der Arbeit.

Immer noch machte Agnes Petrich gedankenlos die gleichen Handgriffe an der Maschine, während im Kopf ein Stechen bohrte.

Sie wußte ja, daß auch hier wieder das Ende da war.

Ein schrilles, heulendes Pfeifen, das Feierabend ankündete. Mit einem Ruck standen die Maschinen still, der Lärm verstummte.

Um so lauter wurde das Stimmengewirr der Arbeiterinnen, die jetzt vom Saal in die Garderoberäume hinausdrängten, um die Arbeitskleider und Hauben abzulegen.

Unter den vielen Agnes Petrich.

Keine redete mit ihr, keine suchte sie; viele stießen sie an und lachten dabei noch höhnisch.

Sie hörte das Tuscheln hinter sich, das laut genug war, um vernommen werden zu müssen.

»Das ist sie!«

»Wir brauchen so Eine nicht.«

»Die im Gefängnis war.«

»Dabei ist sie so stolz, als wäre sie was Besseres.«

»Wir brauchen doch nur zu sagen, daß wir mit so Einer nicht arbeiten und eher streiken. Ja, guck nicht so dumm, dich meine ich!«

Agnes antwortete nicht darauf; nur die Lippen preßte sie fester aufeinander – – –

Als am nächsten Sonnabend bei der Lohnauszahlung der Werkmeister ihr das verschlossene Kuvert mit dem Gelde aushändigte, sagte er mit niederträchtigem Lächeln:

»Vom Montag ab können Sie feiern, Petrich. Wir haben keine Arbeit mehr für Sie.«

Um sie war ein Kichern, ein Tuscheln und dazwischen auch ein lautes Lachen.

Was sollte man vor so Einer auch ein Geheimnis daraus machen, daß man sie nicht wollte?

 

Das Hochwasser der Isar wälzte schmutziggraue Wassermassen in starken, reißenden Wellen dahin; Baumstämme tauchten auf, die sich wie schwarzgrüne Arme aus den Wellen emporreckten und dann wieder untersanken. Das Dach einer Holzhütte schaukelte auf dem breiten Bett dieses wilden Hochgebirgsflusses. Balken kamen, Äste, das Geländer einer irgendwo losgerissenen Brücke.

Dabei gurgelten die Massen grollend, wie unzufrieden, wie hungrig nach Beute.

Gegen den Hochwasserdamm drängten die Wellen, zerschlugen sich im Anprall, spritzten zu Wasserstäubchen auf und leckten noch schlammig über den Damm auf den Kiesweg.

Die alten, mächtigen Weiden auf dieser Uferseite ließen ihre Kronen so tief niederhängen, daß sie in der trüben, schmutziggrauen Flut untertauchten.

Auf einer Bank in diesem menschenleeren Teil der Isaranlagen saß zurückgelehnt Agnes Petrich, neben ihr die kleine Rose, die sie eng an sich drückte. Die Kleine, die nun etwa vier Jahre alt war, wehrte sich nicht dagegen; das Köpfchen mit dem goldenen Haar, mit den weichen Locken lehnte sich an die Mutter.

Und die großen, schwarzen Augen des Kindes schauten ebenso unverwandt auf die dahinwälzenden Wassermassen wie die großen, dunkelbraunen von Agnes.

Beide sahen dem Spiel dieser Flut zu.

Aber die Tollkirschenaugen des Kindes strahlten, wenn plötzlich ein losgerissener Baum emporragte und dann doch wieder verschwinden mußte. Es sah so spaßhaft aus. Und als auf den Wogen eine Hundehütte getrieben kam, da lachte die Kleine hellauf.

Agnes starrte auf das gleiche Spiel; doch ihre Gedanken sehen wellentreibend nicht den Baumstamm, nicht den Balken, nicht den losgerissenen Zaun, sondern einen graublauen Frauenrock, einen Arm, einen goldblonden Kinderkopf.

Wäre das nicht am besten so?

Dann wurde man in das letzte Vergessen getrieben . . .

Schweres, Schweres lag nun wieder hinter ihr!

In Gern hatte sie die kleine Rose holen müssen; sie hatte nicht einmal die alten Schulden ganz zahlen können und besaß kein Geld mehr, um anderswo eine ähnliche Unterkunft für ihr Kind zu erhalten. Sie selbst war wieder ohne Arbeit!

Wo sie noch den Versuch gemacht hatte, war sie bald wieder fortgetrieben worden.

Sie war zur Gefallenen gestempelt worden, und man mied sie wie eine Aussätzige.

Waren alle anderen, die sich zum Richter über sie aufspielten, besser? Aber in ihren Papieren stand ihre Schmach, und wo sie sich auch meldete, da erschien dann immer der Schutzmann. Diese Polizeiaufsicht war es gerade, die als Hindernis auf ihrem Wege lag, so daß sie nicht mehr frei wie die anderen sein durfte.

Wieder ohne Arbeit, wieder suchen müssen, wieder Demütigungen schlucken, dann Beschimpfungen hören, um zuletzt doch wie ein müde gehetztes Wild vertrieben zu werden!

Und die Kleine!

Einmal schon war sie mit den Füßen in der Flut gestanden, als das Kind noch nichts vom Leben wußte.

Hätte sie es doch damals getan!

Aber was damals versäumt wurde, das konnte sie jetzt nachholen. Das Kind im Arm; dann trieben die Wogen bald zwei Leichen!

Wo sollte sie hin? Sie hatte nur eine Kammer, die sie mit einem anderen Mädchen teilte. Konnte sie dort ihr Kind behalten?

Wie still die Stämme auf den Wellen schaukelten.

Fester preßte sie die Kleine an ihren Körper.

Da machte die Kleine den Kopf frei; mit dem Händchen strich sie eine Haarsträhne aus der Stirne:

»Du, Mammi, gehen wir jetzt wieder zu Wolfertmutti? Ich mag mit dem Hüttepferdchen spielen und der Liesepuppe.«

Zur Wolfertmutti! So nannte die Kleine die Frau, bei der sie bisher gewesen war.

Dahin wollte sie zurück; dort war ein Zimmerchen, in dem sich spielen ließ, ein Garten, in dem sie in der Sonne liegen und ihr Püppchen spazieren tragen durfte. Kinderwünsche.

Agnes zuckte zusammen!

Von dort kamen sie! Frau Wolfert hatte Geld gefordert und ihr das Kind gegeben, weil sie das Mädchen nicht umsonst behalten konnte.

Und dahin wollte die Kleine zurück.

Ganz klug schauten nun die schwarzen Augen, als sie wieder erzählten:

»Die Liesepuppe braucht ein neues Kleid, Mammi. Das darfst du nicht wieder vergessen. Und Schokolade mußt du der kleinen Rose auch bringen.«

»Ja, ja.«

Was sollte sie entgegnen? Würde das Kind eine andere Antwort verstehen? Wohl nicht!

Immer war es so und blieb es so: Kinder fordern, Kinder verlangen, Kinder fragen nicht –

War es nicht alles Elends Ende, von den Wassern fortgetragen zu werden?

Wo sollte sie hin? Sie hatte selbst keine Arbeit, sie konnte das Kind nicht in ihrer Kammer unterbringen, es konnte auch nicht wieder zu jener Frau Wolfert zurück.

»Komm, Mammi, Klein-Rose wird müde und mag in ihrem Federbettchen popeiaschlafen.«

»Schlafen, ja, das sollst du.«

»Und von Engelein träumen.«

»Ja, ein Engel werden, ein goldlockiger –«

Das klang wie ein Schluchzen, so daß die Kleine ganz verwundert aufschaute und dann ängstlich fragend rief:

»Mammi, Mammi!«

Da fiel ein Schatten über den Weg; und als Agnes eben aufschaute, da hörte sie eine rasche, süßliche Stimme:

»Das ist wohl das kleine Mädelchen, von dem Sie mir erzählten? Ein hübsches, reizendes Kind. So lieb!«

Eine üppige, große Frau in einem blauseidenen Straßenkleid stand vor der Bank; die grünlichgrauen Augen zwinkerten, die vollen, sinnlichen Lippen ließen die stark mit Goldplomben durchsetzten Zähne sehen. Sie beugte sich über das Mädelchen:

»Wie heißt du denn?«

»Rose Petrich« antwortete ohne Scheu die Kleine, die durch Fremde nicht eingeschüchtert wurde.

»Ganz allerliebst. Beneiden müßte man Sie. So nett! Und wie geht es nun Ihnen selbst, meine Liebe? Sie kennen mich doch noch?«

Nur ein kurzes Besinnen, dann sah Agnes wieder das Zimmer mit den künstlichen Fächerpalmen, den roten Plüschsesseln und dem alten Piano, dann erinnerte sie sich wieder dieser schmeichelnden Stimme, die ihr zum Schluß noch den Gruß nachgerufen hatte: »Auf Wiedersehen dann!«

Und nun war sie wieder da!

Frau Mendolski! Das war der Name! Und schon saß sie neben Agnes.

Frau Mendolski streichelte dem Kind das Haar:

»So ein Goldpüppchen, und dabei Augen wie Kohlen. Eine kleine Prinzessin.« Dann wieder ein Blick auf Agnes. »Sie sehen noch kränker aus. Schlimme Erfahrungen, wie?«

Agnes fühlte diese kalten Blicke; die waren wie die starren Augen einer Schlange, die ihr Opfer wehrlos machen will. Sie selbst war nun das Opfer. Sie fühlte es und hatte doch keinen Willen mehr zum Widerstand.

»Ja!«

»Immer die Polizei hintennach, die mit neugierigen Fragen niedertrampelt, was man sich aufrichten wollte, nicht wahr? Habe ich es nicht vorausgesagt? Sie kommen nicht mehr frei!« Und wieder zum Kind. »Hast deine Mutter wohl recht lieb, Klein-Rose?«

»Das ist nicht meine Mutter, das ist meine Mammi. Und Mammi habe ich ganz fest lieb.«

»Mammi macht dich auch zu so einer hübschen Prinzessin. Mammi bringt dir wohl immer ein Püppchen, und dann was Schönes, oder gar einmal Schokolade?«

»Ja! Mammi, Liesepuppi muß ein neues Kleidchen haben. Du Mammi!«

Und die Frau wieder:

»Ihr entzückendes Mädelchen haben Sie doch noch an der alten Stelle?«

»Eben habe ich sie mir geholt, ich kann sie nicht zurückbringen.«

»Oh, wie schade um das Kind; das arme Püppchen, dies kleine Goldprinzeßlein. Ist es so schlimm?«

Die Augen einer Schlange; Agnes hatte keinen Willen mehr. Es kam ja doch alles, wie es kommen sollte.

»Ja!«

»Gar kein Geld?«

»Nein!«

»Sind denn die Schulden so groß?«

Wie ein Auflehnen noch, ein Wehren, ein Schweigen.

»Das Mädelchen hatte gewiß einen gut behüteten Platz. Schade, schade um das Kindchen, das gar nichts ahnt. Sind es wohl mehr als zweihundert Mark?«

»Nicht so viel!«

»Dann bringen Sie die Kleine doch zurück.«

Als hätte das Kind etwas verstanden.

»Mammi, ich bin müde, ich mag ins Heidibettchen bei Wolfertmutti – ich mag schlafen.«

»So viel Geld habe ich bei mir; und ein Wagen bringt uns schnell hin. Vierhundert! Ich sagte es damals schon. Da können Sie gleich für die nächsten Monate vorausbezahlen. Da wird Sie nichts mehr stören, und niemand wird fragen, woher das Geld kommt. Es ist ein gutes, feines Haus; ein Zimmermädchen ist da, eine Beschließerin, eine Friseuse. Etwas ganz Gutes! Ich verschaffe Ihnen schon nichts Schlechtes!« Dann ein Blick zu den Wassern, die gurgelten und grollten, und wieder einen auf Agnes: »Sie haben sich allzu nahe an den Fluß gesetzt. Das ist nicht nötig. Wo Sie doch so ein Goldengelchen haben. Also Köln! Eine schöne, reiche Stadt! Gleich dort drüben, nur ein paar Minuten von hier, da stehen Autodroschken. Nun bringen wir das Prinzeßlein schlafen, dann mag es von Englein träumen, von all den Wunderdingen, die ihr die Mammi noch bringt. Und wir – wir schließen dann mit Köln ab, ein sicheres – ein gutes Geschäft.«



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