Matthias Blank
Fluch dir, o Liebe
Matthias Blank

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2. Kapitel

»Also das geht nicht, Fräulein; ich muß dem Hausherrn ja auch zahlen, und der ist keiner vom Warten. Wenn am dritten die Miete nicht auf den Tisch gelegt ist, dann heißt es: »Hinaus!« Heute ist schon der achte, und Sie haben noch immer nichts gezahlt. Ich drücke ja gern ein Auge zu, wenn es menschenmöglich ist, aber ich kann mir das Geld auch nicht aus den Pfoten saugen. Zahlen muß sein; der Bäcker und Metzger warten auch und machen die Hände auf. Heut' müssen Sie doch was bekommen haben! Ich brauche wirklich das Geld, Fräulein, und ganz gewiß würde ich noch warten, wenn es halt nicht sein müßte.«

Frau Willametz, die Zimmervermieterin, breitschultrig und fast unförmig dick, mit aufgedunsenen, bläulich, erscheinenden Backen und ganz kleinen, im Fett fast verschwindenden Aeuglein stand an der Türe; sie trug einen schmutzigen, fettigen Morgenkittel, der prall die Fleischmasse ihres vom Biertrinken aufgedunsenen, unförmigen Leibes umspannte. Die kurzen, fleischigen Finger stemmte sie zu Fäusten geballt in die Hüften. Das aschgraue Haar war ganz flüchtig zu einem kleinen, dünnen Zopf aufgesteckt, der sich indes bereits wieder etwas gelöst hatte, so daß ein Ende nach dem rechten Ohr niederbaumelte.

Die Worte waren wie ein Sturzbach über die fleischigen Lippen gekommen; so behäbig und bedächtig Frau Willametz in allen Bewegungen und besonders bei jeder Arbeit war, um so unermüdlicher und schneller konnte sie reden.

Das Zimmer, in dem sie so energisch ihre Rechte als Vermieterin geltend machte, war ein ganz schmaler, sehr langer Raum mit nur einem Fenster, durch das aber eine Fülle von Licht hereindrang, denn die Dachbodenwohnung hatte kein Gegenüber.

Und der die Worte galten, sie stand vor einer Nähmaschine, auf der ein Barchent lag, der zu Hemden genäht wurde; ein schmales, dünnes Gesicht mit durchsichtigen blassen Wangen, aber mit großen, schönen, dunkelbraunen Augen, die das abgehärmte, vom Ertragen und von der Not gezeichnete Antlitz schön und eigenartig erscheinen ließen. Das Kleid war peinlich sauber, aber dünn und viel genäht und ausgebessert. Das Haar lag weich und glänzend braun wie eine Krone aufgesteckt auf dem hageren Gesicht. Die schmalen, feingliedrigen Hände zupften an dem Barchent. Verschüchtert gab Agnes Petrich Antwort:

»Ich kann morgen erst liefern, liebe Frau Willametz. Morgen! Und ich werde sie dann gewiß auch gleich bezahlen.«

»Ja, ja, das haben Sie vor ein paar Tagen auch schon gesagt. Und dabei war heute früh der Reisende wegen der Nähmaschine da, den ich aber mit guter Manier fortgeschickt habe. Das lernt man, wenn man so viel vermietet. Aber warten will er auch nicht mehr, er wird dann die Maschine wieder abholen lassen.«

»Mein Gott, wie soll ich dann arbeiten!«

Es war ein ganz leiser Stoßseufzer, den die Angst den Lippen erpreßt hatte, der aber nicht für Frau Willametz bestimmt war.

Doch sie hatte ihn gehört und wußte auch gleich mit ihrer aufdringlichen Geschwätzigkeit Bescheid:

»Sie sind viel zu ungeschickt, Fräulein! Sie machen alles verkehrt. Arbeit ist schön und gut, und Arbeit muß sein. Aber sie allein genügt nicht. Sie sind doch noch jung und hübsch, und gerade solche Feuerräder als Augen haben die Männer gern. Schauen Sie sich doch um nach einem, der mithilft.«

»Frau Willametz!« wehrte Agnes ab und warf dabei einen raschen Blick nach der Fensterecke, in der ein alter Korb mit bunten Kissen stand, aus denen fast verkrochen ein Kleinkindergesichtchen hervorlugte.

Aber Frau Willametz nickte nur desto eifriger:

»Doch! Das Kindchen da können Sie nicht immer behalten. So etwas ist ein Unglück, das manchem armen Mädel zustößt. Und schlecht ist keine, wenn sie einen Liebsten hat, der ihr das Elend etwas erleichtert. Man weiß nicht, was aus solchen Sachen werden kann, und manche ist erst die Liebste gewesen und dann eine ehrsame Frau geworden. Gerade jetzt im Karneval findet sich leicht einer, dem das Geld locker in den Taschen sitzt.«

»Frau Willametz, das – das kann ich nie! Was sollte mein Kind von seiner Mutter denken?«

Da lachte die Vermieterin, daß die unförmigen, fleischigen Brüste hinter dem prall gespannten, schmierigen Kittel auf- und niederwogten:

»Ha, ha, das Kindchen da! Das will Milch und Fleischsüppchen; das will zunächst nicht verhungern, Fräulein. Das will das Kindchen! Sieht schon halb verhungert aus.«

Agnes Petrich zuckte zusammen, diese Worte trafen sie wie ein grausamer Vorwurf; aber sie antwortete nicht.

Desto geschwätziger wurde die Frau:

»Es ist schon so, Kinder fragen nicht, woher die Mütter die Milch nehmen, Kinder wollen leben, nichts als leben! Und das arme Geschöpfchen brauchte mehr. Stecken Sie die Kleine irgend wohin, und dann denken Sie mal an sich. Schauen Sie mal drüben die blonde Käte an; die hat so ein festes Verhältnis; da werden die Rechnungen bezahlt, dann gibt es ein neues Kleid, ein Geschenk, wieder einmal Geld. Und wer will denn sagen, daß die blonde Käte deshalb schlecht ist? Sie ist ihm treu, und dann arbeitet sie immer noch. Um so einen sollten Sie sich umsehen, so einen bekommen Sie leicht, auch mit Ihrer Kleinen da. Dann gibt es Fleischsüppchen, dann mal ein Ei und Milch. Schlecht ist deshalb keine, weil sie das Leben nimmt, wie es ist.«

Als Frau Willametz endlich nach vielem Reden gegangen war, stand Agnes Petrich noch lange wie gelähmt vor ihrer Maschine; ein starrer, fast irrer Blick in den großen Augen, die Finger immer noch mit dem weißen Barchent spielend.

Erst als ein unwilliges Kreischen, ein schrilles Stimmchen von dem Korbe her drang, als sich dort das Leben regte, das Rechte forderte, da schreckte sie auf. Mit hastenden Schritten sprang sie hinzu und lag auf den Knieen vor dem Korbe; unendliche Zärtlichkeit, Hingabe und Liebe bis zur selbstlosesten Aufopferung sprachen aus den Worten, mit denen sie nun ihr Kind zu beruhigen und in neuen Schlaf einzulullen versuchte.

»Rose, kleine Rose, ja, deine Mutter ist da, deine Mutter ist bei dir und wacht und wird nie von dir gehen. Rose, kleine Rose, schlaf ein, und deine Mutter singt dir ein Wiegenlied. Eia, popeia, mein Kindchen schlaf ein.«

Aber das Kreischen des Kindes klang immer unruhiger; schwarze Tollkirschenaugen schauten die Mutter an; Tränen kollerten im Schreien aus den Kinderaugen. Ein dünnes, weißes Gesichtchen mit feinen Härchen, die einen goldigen Schimmer hatten.

Der zahnlose Mund mit einem rosigen Züngelchen stand weit offen.

»Eia – popeia!«

Aber das Kind hatte Hunger.

Und in der Flasche war nur etwas Zuckerwasser. Sonst nichts. Zuckerwasser!

Kinder wollen leben, nichts als leben, hatte Frau Willametz gesagt. Fleischsüppchen – Milch.

Wie irr suchten die Augen von Agnes durch das Zimmer; was konnte sie noch verkaufen? Wofür bekam sie noch Geld? Wer gab ihr, nicht um ihretwillen, um des Kindes willen, das vor Hunger schrie?

Nur Zuckerwasser! Und so oft sie die Flasche reichte, stieß sie das Kind mit der Zunge fort.

Wie sollte das enden?

Da klang von außen, vom Korridor her eine trällernde, lebenslustige, lachende Stimme, die das Lied sang:

»Ja, beim Souper,
Im Chambre separé
Erlebt man tolle Sachen,
Ja, beim Souper – –«

Das war die blonde Käte, die mit dem Liebsten wieder ausging.

* * *

»Na, Fräulein Agnes, haben Sie sich heute endlich anders besonnen? Heute ist Ball im Löwenbräukeller! Da werden Sie mit Ihren großen Augen auch wieder lachen, wenn erst die dritte Flasche Sekt aufmarschiert ist. Ich habe mal den Narren an Ihnen gefressen, und gerade mit Ihnen will ich auf die Redoute gehen.«

Hermann Bornhobel, einer der Aufsichtsbeamten der Firma Schweickhart & Söhne, blieb dicht vor Agnes Petrich stehen, die eben ein großes, in ein schwarzes Tuch eingeschlagenes Bündel auf den Tisch schob; da waren die genähten Hemden darin, die erst noch auf die Genauigkeit der Ausführung geprüft werden mußten, ehe sie die Kassenanweisung zur Auszahlung erhielt. Er hatte ein übernächtiges, gelbes Gesicht mit blauen Schattenringen um den graugrünen Augen, mit sinnlichen Lippen, fleischigem, glattrasiertem Doppelkinn und kurzer Stulpnase.

Er versuchte seinen Arm um ihre zierliche, immer noch mädchenhafte Gestalt zu legen; sie entwand sich ihm, schob seine Hand zur Seite und erklärte mit bedrückter Stimme:

»Herr Bornhobel, da liegt die Arbeit! Wollen Sie diese nicht prüfen, bitte. Ich – ich habe Eile.«

»Nur nicht so eilig! Wie ist es nun mit der Redoute? Es soll mir auf nichts ankommen, wenn es eine fidele Nacht wird. Ich bin nicht so!«

»Die Arbeit! Ich muß nach Hause!«

»Seien Sie doch nicht gar so zimperlich. Flott getanzt, fesch gelebt, gut getrunken, und zum Schluß heiß geküßt und geliebt. Die anderen Mädel, die abliefern, sind nicht so spröde.«

»Ich kann doch nicht. Ich bitte um die Anweisung zur Kasse.«

»Tun Sie bloß nicht so gekränkt! Das weiß man ja, daß Sie schon ein Kind haben; und da müssen Sie den Rummel doch kennen! Also heute Nacht im Löwenbräukeller?«

»Ich bitte, die Hemden nachzusehen.«

»Dummes Luder!« und Hermann Bornhobel drehte ihr den Rücken und rief den anderen Wartenden Aufträge zu; er gab Anordnungen, schrie und tat dabei, als hätte er Agnes Petrich noch gar nicht bemerkt, die mit zitternden Fingern das schwarze Einschlagetuch aufgeknotet hatte.

Nochmals drängte sie:

»Ich muß nach Hause, Herr Bornhobel.«

Da wandte er sich ihr wiederum zu:

»Ach so! Sie sind da! Es gibt hier wirklich mehr zu tun, als für jede Näherin immer schon auf der Lauer zu liegen. Geben Sie her!«

Er riß ein Hemd aus dem Bündel, zerrte es auseinander und hielt es mit beiden Händen hoch; dann schrie er mit lauter Stimme:

»Was sind das nun wieder für Nähte? Hier hat der Faden ausgelassen. Das ist ganz schlampig gearbeitet. Und das hier?« Er holte eine andere Arbeit heraus, die er nach flüchtigem Ansehen wieder auf den Tisch warf. »Genau so liederlich. Sie müssen doch wissen, daß die Firma Schweickhart & Söhne nur gediegene Arbeit brauchen kann. Das muß alles nachgenäht werden. Morgen, bis morgen werden Sie die Hemden dann schon besser ausgeführt haben.«

»Ich – brauche Geld! Eine Anweisung, Herr Bornhobel.«

»Sie denken doch nicht, daß ich für eine solche Schlamperei Geld anweisen darf? Ausgeschlossen!«

»Nur eine Vorschußzahlung.«

»Wir sind eine reelle Firma und zahlen prompt die fertige Arbeit. Das Zeug hier ist nicht fertig.«

»Ich – habe – keinen Pfennig –«

»Betteln gibt es nicht! Besser arbeiten, besser nähen!«

»Aber –«

Doch Hermann Bornhobel ließ sie stehen; er nickte flüchtig und ging dann einer anderen Abteilung zu.

Ganz kleinlaut, ganz verschüchtert knotete Agnes ihr Bündel wieder zu. Kein Laut kam dabei von ihren Lippen. Sie wußte, daß jetzt alles vergeblich sein würde. Das Leben hatte sie schon so derb angefaßt, daß sie nur schluckte, ein paar Tränen hinunterwürgte und ging.

Wieder kein Geld! Schlecht genäht!

Und wenn sie ja gesagt hätte, wenn sie ihr Mitkommen versprochen hätte, dann wäre die Arbeit gut gewesen.

Mußte das sein? Waren sie selbst und alle, die so wie sie in Not arbeiteten, so rechtlos, daß sie auch noch ihren Körper hinwerfen mußten, um ein Recht an dem schmählichen, armseligen Lohn zu bekommen?

Morgen –! Und würde es morgen anders sein? Da würde sie schließlich als ein Gnadengeschenk das Geld bekommen.

Aber heute?

Das Bündel mit den Hemden wieder unter dem Arm ging Agnes wie traumwandelnd weiter; sie sah die Menschen um sich wie durch einen Nebel; der Magen schmerzte ihr vor Hunger, die Augen brannten.

Ihr Gehen war mehr ein Taumeln.

Wieder kein Geld! Und bis tief in die Nacht hinein hatte sie an der Maschine gesessen und das Rad surren lassen. Nur drei Stunden Schlaf hatte sie sich gegönnt.

Warum war das Leben so grausam? Warum?

Wieder kein Geld! Und Frau Willametz würde kommen und fordern, der Reisende der Nähmaschinenfabrik wollte seine Raten holen oder die Maschine mitnehmen, und ihre kleine Rose, ihr armes, heißgeliebtes Kind, schrie nach Milch, schrie vor Hunger.

Was hatte sie gefehlt, was hatte sie gesündigt, daß sie vom Leben so mit Ruten geschlagen wurde?

Nur geliebt, einmal an Liebe geglaubt! Sie war betrogen worden!

Aber nicht, der sie betrogen hatte, mußte nun die Schuld tragen, nein, sie selbst! Sie trug schwer an dem Fluch eines harten, jähzornigen Vaters, sie schleppte sich im Elend, trug die Schande, hungerte, kämpfte wie verzweifelt, sie, nur sie allein –

So hetzten und jagten sich ihre Gedanken, während sie durch die Straßen hastete, um wieder nach Hause zu kommen.

War das Gerechtigkeit?

Was nützte dies Hadern, dies Grübeln?

Sie mußte leben!

In dem schnellen Vorwärtsdrängen blieb sie mit einem Male stehen, als schaute sie ein Gespenst, das ihr den Weg verstellte. Ihre Hand fuhr nach der Stirne, als wollte sie etwas fortstreichen.

Da stand auch schon der »Bucklige« vor ihr, der Kleine mit dem spitzen Höcker, mit dem nachschleifenden Klumpfuß, mit dem alten, runzeligen Gesicht, in dem die Augen tückisch zwinkerten; er tauchte plötzlich auf wie ein Gespenst aus der Vergangenheit.

Nicklas Geringer kicherte:

»Ei – ei, – schau, schau! Unser Fräulein Petrich hier in München! Geht Ihnen wohl nicht gut? Sehen etwas blaß aus. Ja, etwas blaß! Sind gar so schnell aus unserer kleinen Stadt verschwunden. Freut mich sehr, daß ich Sie da gefunden habe.«

Agnes hatte sich im ersten Augenblicke wehrlos gefühlt, wie durch eine unerklärliche Macht gelähmt. Sie stand da und zitterte in den Knieen.

»Herr Geringer.«

»Ja, ja. Sie staunen, daß ich auch mal fort komme. Ist ein toller Kreislauf, das Leben! Einer fällt, ein anderer fliegt, nur ein Buckel bleibt ein Buckel. Ich habe da Geld geerbt. Aber der Buckel bleibt, trotz dem Gelde. Geht Ihnen doch auch gut?«

»Ja, gewiß!«

»Freut mich! Ich höre das gern, wenn es anderen gut geht. Warum soll es anderen auch nicht gut gehen? Wie dem Möllendorf, zum Beispiel, dem Herbert Möllendorf. Der feiert heute seine Hochzeit mit der Mosentochter, der Alwine. Es geht ihm prächtig, seine junge Frau bekommt eine halbe Million mit. Dann baut er die neue Fabrik und das Stadthaus. Ja, ja, es gibt Menschen, die tanzen ins Glück. So müssen Sie es auch machen, Fräulein Petrich. Ins Glück tanzen, haha! Das kann man leicht, in München, wo jetzt alles tanzt«

Und als er wieder lachte, da klang dies wie das Kreischen eines Raben.

»Ich darf mich nicht lange aufhalten, Herr Geringer.«

»Ich begreife ja!« Und als sie aus seiner Nähe fortdrängte, da rief er ihr noch mit seiner schrillen Stimme nach: »Wenn ich wieder heimkomme, dann darf ich doch Ihren Herrn Vater von Ihnen grüßen und ihm sagen, wie gut es Ihnen geht –«

Das übrige verstand sie nicht mehr.

Sie hatte schon zu viel gehört.

Jene erste Begegnung mit dem Buckligen haftete noch in ihrem Gedächtnis, als er mit seinem Haß und mit seiner Bosheit das erste Gift des Zweifels an Herbert Möllendorf in ihr Herz geworfen hatte. Aber die Wahrheit war es damals doch gewesen. Weshalb sollte er heute nicht wieder wahr gesprochen haben? Weshalb konnte das nicht sein, daß gerade heute Herbert Möllendorf seine Hochzeit feierte? Warum sollte er es auch nicht tun?

Weil sie selbst hungerte, und ihr Kind – sein Kind vor Hunger schrie?

Es genügte doch, wenn eines büßen mußte, um einer Sünde willen, um der Liebe willen, die eine, die betrogen worden war!

Damals war das Elend über sie hereingebrochen, als der Bucklige an sie herangeschlichen war.

Bedeutete nun sein Erscheinen, sein gespensterhaftes, plötzliches Auftauchen wie aus einem Nebel abermals Unheil? War seine Gestalt für sie Verhängnis?

Sie lief.

Es war so bitterkalt, daß der Boden unter den Füßen knarrte.

Endlich daheim! Sie jagte die Treppe hinauf.

Im Flur stand die Frau Willametz, immer noch in dem schmierigen Kittel. Und das dünne Ende des Zöpfchens baumelte wieder nach dem Ohr zu. Die Fäuste in den Hüften.

»Endlich kommen Sie, Fräulein, aber der mit der Nähmaschine war schon da, und zwei Dienstmänner hatte er auch gleich mit, und da trugen sie die Maschine fort. Ich habe auch nichts zahlen können, denn woher soll ich das Geld haben? Wenn nicht die blonde Käte gut zahlte, müßte ich selbst hungern. Aber Sie wollen ja nicht, oder bringen Sie heute den Sack voll mit?«

»Die Maschine fort?«

Wie ein Hauch klang das Wort.

Das Unglück! Sie fühlte, wie es wieder über sie hereinbrach. Sie war ja seinem Boten schon begegnet.

»Ja! Aber wenn Sie selbst nach dem Geschäft gehen und die Raten nachzahlen, nur dreißig Mark, dann können Sie sich die Maschine gewiß wieder holen lassen.«

Dreißig Mark! Und sie hatte nicht einmal so viel Geld, um ihr Kind nicht hungern zu lassen. Das war blutiger Hohn!

»Und die Kleine, das Kindchen sieht auch ganz verdächtig aus, als wenn es Fieber hätte. Ich hab doch selbst mal Kinder gehabt. Wenn das nur nicht Scharlach wird – –«

Da war Agnes Petrich schon an ihr vorbei.

Ihr Kind! Nur um des Kindes willen lebte sie. Dem Kind gehörte sie.

* * *

Die Petroleumlampe schwelte; ein schmaler, dünner Rauchfaden stieg auf. Der trübe, rötliche Schein beleuchtete das Wachstuch eines Tisches, auf dem zerknittert ein Brief lag, mit zittrigen Buchstaben.

Auf die Kante des Tisches stützten sich zwei Arme, auf ihnen lag ein Kopf gebettet, von dem aber nur das üppige, schöne Braunhaar zu sehen war.

Geschäftig schnell tickte die kleine Wanduhr, als gelte es, ein Schicksal möglichst rasch vorwärts zu treiben.

Spät war es!

In der letzten Nacht hatte sie nur drei Stunden geschlafen. Nun war der Kopf wider ihren Willen, gegen ihre Kraft auf die Arme niedergesunken. Ein gehetztes Schlafen mit angstgepeitschten Traumbildern.

Minuten und Sekunden, in denen sie nochmals alle Schrecken des letzten Jahres durchlebte: da lag sie wieder vor der verschlossenen Türe ihres Elternhauses, dessen Riegel die Hand des Vaters vorgestoßen hatte; und durch die Türe drang das wimmernde Weinen der Mutter, die sich ohne den Willen des Vaters nicht zu ihrem Kinde hinauswagte. Dann stapfte sie wieder müde die ganze Nacht hindurch fort aus der kleinen Stadt ins Unbekannte. Und im Traume durchlebte sie nochmals die schweren Tage, bis sie dann in einer Klinik, unter den Ärmsten und Verstoßensten, ihrem Kinde das Leben gab. Kämpfe – Not – bis sie nun hier gelandet war.

Im Schlaf murmelte die Unglückliche:

»Die Maschine – laßt mich arbeiten, ich muß. Mein Kind verlangt mich, mein Leben, mein Blut – Leben will leben – was fragen Kinder, woher die Mütter die Milch nehmen –«

Dumpfes, verworrenes Traumgespräch.

Und auf dem abgescheuerten Wachstuch lag immer noch der zerknitterte Brief mit den zittrigen Schriftzügen; der rötliche Lampenschein bestrahlte wie zum Hohn gerade die eine Seite, damit sie aufdringlich jedem sichtbar war. Und die unsicheren Zeilen, bei denen an mancher Stelle die Schrift von einem salzigen, nassen Tropfen wie ausgelöscht aussah, berichteten:

»Du weißt, wie Vater ist. Nun berechnet er mir jeden Pfennig, und in der Küche sperrt er mir die Vorratskammer und gibt mir nur, was ich für einen Tag brauche. Deinen Namen darf ich nicht nennen. Und so kann ich nichts tun als beten. Den Brief habe ich ganz verstohlen schreiben müssen, ganz in Angst. Ich glaube, er würde mich schlagen, wenn er es wüßte. Doch das tut mir nicht weh, was mir geschieht, aber das, was ich nicht für Dich tun kann. Wenn es auch Sünde sein mag, was Du gefehlt –«

Da brach die Seite ab.

Agnes aber träumte immer noch in einem fiebergleichen Schlaf.

Und mehr im Dunkel stand der Korb mit dem Kinde. Die Backen des mageren Gesichtchens glühten in heißer Röte; Schweißtropfen klebten auf dem Kopfe mit dem dünnen, golden schimmernden Haar und auf der Stirn. Die Augen waren geschlossen, der halbgeöffnete Mund röchelte.

Ein fieberndes Kind.

Die kleinen Händchen und das Gesicht waren mit dunklen, roten Flecken bedeckt, die sich scharf von der Fieberröte abzeichneten.

Dann ein Kinderschrei!

Da fuhr Agnes taumelnd auf. So hatte sie nur geträumt! Irr suchten die großen Augen, die das schmale Leidensgesicht zur Schönheit verklärten, und fanden zu ihrem Kind.

Sofort sprang sie an den Korb, und ihre Hand griff nach der feuchten, glühenden Stirne des Mädels.

Da schlug auch das Kleine die Augen auf, die glänzend, tollkirschenschwarz auf die Mutter schauten, wie ein Vorwurf, wie ein Verlangen, wie ein anklagendes Begehren; dann verzog sich das rote, flammende Kindergesicht in Schmerzen, und von den so dünnen, welken Lippen, von denen spröde, braungetrocknete Haut in Rissen absprang, kam ein jammervolles Schreien.

»Rose, kleine Rose!«

Aber alle tröstenden Worte einer Mutter können keine Krankheit bannen, können kein Fieber beschwichtigen

Immer jammervoller wurden die Schreie des Kindes, das noch mit Erstickungsnöten zu kämpfen schien.

Ein Arzt! Nur der konnte helfen.

Gehetzt lief Agnes aus dem Zimmer nach der Tür, hinter der sie Frau Willametz wußte. Sie weckte die Frau aus dem Schlaf; mit der Faust schlug sie gegen die Tür.

»Frau Willametz, meine Rose – sie stirbt – sie erstickt. Ich weiß keine Hilfe. Ein Arzt, so holen Sie doch einen, so helfen Sie mir –«

Alle Angst um das bedrohte Leben zitterte in ihrer Stimme.

Die dicke Frau in ihrem Schlafrock tauchte auf, der sie noch unförmiger machte; eine brennende Kerze hielt sie in der Hand und zwinkerte schlaftrunken mit den kleinen Augen.

»Was gibt's denn?«

»Meine Rose – ich weiß keine Hilfe – sie fiebert und erstickt – ein Arzt – um Gotteswillen holen Sie einen –«

»Scharlach oder Masern, irgend so etwas. Ich hab es mir ja gleich gedacht!«

»Ein Arzt!«

Aber Frau Willametz verlor darüber ihre Ruhe nicht, als sie nach dem Zimmer von Agnes hinüberschlürfte:

»Für so ein armes Wurm ist es doch am besten –«

»Sie darf mir nicht sterben! Was tu ich nur? Mein Leben will ich gern hingeben!«

»Zunächst werden wir schon Geld haben müssen, denn ohne Geld kommt zu unsereinem kein Doktor, und auch der Doktor hilft uns nichts, wenn wir wieder kein Geld für die Apotheke haben.«

»Versuchen Sie es doch, um der Barmherzigkeit willen, Frau Willametz.«

»Ich würde es gerne tun, Fräulein, aber Geld hab ich keins, gar keins! Wenn wenigstens die blonde Käte da wäre, die würde es schon geben. Aber in der Apotheke haben wir schon gar keinen Kredit.«

»Das Kind stirbt mir noch diese Nacht!«

»Versuchen Sie es doch, Fräulein! Sie sind schon angezogen. Ich werde schon gern bei dem Kindchen bleiben. Sie sollen nicht glauben, daß ich nicht helfe, wenn ich kann. Wachen werde ich schon! Aber einen Doktor bringen Sie sicher eher als ich.«

»Eilen Sie, damit Rose nichts geschieht.«

Und Agnes lief wieder auf den Korridor und dann die Treppe hinunter.

Auf der nächtlich stillen Straße fegte ein eisiger Wind um sie; aber sie fühlte ihn nicht.

Nur einen Arzt! Das Kind durfte nicht sterben. Kinder wollen leben, nichts als leben. Dies Wort jagte immer wieder durch ihre Gedanken. Das Kind hatte ein Recht am Leben.

Und wenn der Arzt nicht mitkam? Und wenn er ihr auch folgte, so hatte sie immer noch kein Geld für die Apotheke. Und die Nähmaschine war fortgeholt worden. Sie konnte nicht einmal mehr arbeiten für ihr Kind.

Kein Geld!

Und sie hastete durch die Straßen; gehetzt blickten ihre Augen nach dem Schild eines Arztes.

Wenn aber keiner mit ihr ging? Kein Geld für den Arzt, keins für die Apotheke, keins für Milch – –

Und flüchtig drängte sich aufreizend ein anderer Gedanke dazwischen, wie ein Blitz, der aus wolkenlosem Himmel niederfährt: er aber – der Vater des Kindes – er feierte heute seine Hochzeitsnacht!

Geld – nur Geld! Ein Arzt!

Wie ihr die Schläfen trotz der Februarkälte brannten.

»Heda, du Braune mit deinen Feueraugen! So komm doch mit!«

Ein Mann in dickem Mantel und mit Pelzkragen schob sich zudringlich an sie heran; ein rotes rundes Gesicht. Der Atem, der von seinen Lippen kam, roch nach Weindunst.

Agnes hatte kaum auf die Worte gehört; sie hastete weiter; aber dieser Begleiter blieb an ihrer Seite:

»So Feuerräder als Augen hab ich gern, und so Püppchen, so zierliche Figürchen, die man auf den Armen tragen kann! Soll mir auf ein Goldstück nicht ankommen. Hörst du?«

Der Wein sprach aus ihm.

Ein Goldstück! Wenn sie es hätte! Arzt und Apotheke ließen sich damit bezahlen.

Mein Gott! Das Kind! – Wie war es doch? Kinder fragen nicht, woher die Mütter die Milch nehmen – Kinder verlangen nur! Kinder haben ein Recht am Leben – und Mütter müssen sich opfern.

Das Kind – es darf nicht sterben!

»So komm! Sollst es gut haben! Und wie gesagt, ein Goldstück –«

»Ich – ich hab keine Zeit!«

»Pah! Gleich schräg da drüben ist meine Wohnung – und in einer halben Stunde laß ich dich wieder laufen. So komm –«

Ein schwaches Wehren!

In ihr war die Kraft gebrochen –

Geld – nur Geld –

Da zog er schon die zierliche Gestalt mit plumper Zärtlichkeit an sich.

»Gleich da drüben – –«

Ihr war es, als wankte sie in einen Nebel –

Hatte sie noch einen Willen?

Geld – für den Arzt – für die Apotheke – Geld für das Kind –

Und sie wehrte nicht, sie ließ sich führen.

»Aber lachen mußt du noch, du mit deinen großen Augen. Bist doch schön!«

Da war sie schon in dem fremden Hausflur – und wieder zuckte es durch ihr gequältes, armes Hirn: Kinder fragen nicht – –

Und da sperrte der Mann im Pelz schon die Wohnungstüre auf.

* * *

Der Arzt, ein Mann mit blondem Vollbart, mit einem Durchzieher auf der rechten Seite, stand im Mantel an der Tür:

»Also keine Sorge, das Kind wird leben. Besorgen Sie nur sofort in der Apotheke, was ich Ihnen aufgeschrieben habe. Wenn ich morgen mittag wieder nachsehe, dann ist das Fieber sicher schon vorbei.«

Und damit war er gegangen.

Die Lampe warf ihren rötlichen Lichtschein auf das im Schlaf röchelnde Kind; neben dem Korbe stand aufgerichtet, aber wie leblos, wie zu einem Steinbilde erstarrt, Agnes Petrich. Schlaff hingen ihr die Arme nieder. Die Lippen waren dünn und dicht zusammengepreßt. In ihren Augen ruhte eine weltabwesende Starrheit.

Frau Willametz, die den Arzt unterdessen die Treppe hinuntergeführt hatte, kam wieder in das Zimmer; mit ihrer lebhaften Gesprächigkeit redete sie im Flüstertone:

»Nun haben Sie es doch gehört! Das Kindchen wird schon nicht sterben. Es ist wirklich ein Glück, daß Sie einen so guten Arzt gefunden haben. Aber lange hat es gedauert. Fast zwei Stunden habe ich warten müssen. Ich dachte schon, es wäre Ihnen was zugestoßen.«

»Nein – nein! Was sollte mir zustoßen?«

»Sie haben gewiß lange erst suchen müssen?«

»Ja – lange – endlos lang.«

»Aber wie ist es nun mit der Apotheke? Da werden wir doch keinen Kredit haben. Ich gehe ja sonst gerne.«

»Da – da haben Sie Geld – gehen Sie – ich – ich kann nicht nochmals auf die Straße.«

»Wie? Sie haben ja doch Geld – und noch dazu ein Goldstück?«

»Der Arzt – ja – der Arzt hat es mir gegeben.«

»Wirklich? Er hat auch so gut ausgesehen. Ja – ja – manchmal gibt's noch gute Menschen.«

Als Frau Willametz dann mit dem Gelde gegangen war, um in der Apotheke das Rezept des Arztes ausführen zu lassen, und Agnes wieder allein war, da sank sie vor dem Korbe auf die Knie nieder, legte beide Arme auf die Kissen, in denen das Kind lag, wühlte ihren Kopf in die Kissen und stöhnte:

»Für dich – alles für dich –«



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