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Der Abschied von der Seeweid naht, und Lotti versucht, traurig zu sein.

Frau Völklein sass in ihrer Laube und schälte Bohnen aus. Lotti stand bei ihr. Die Laube war ein hölzerner Vorbau, der an der einen Seite des Hauses entlang lief; man war wie im Freien da und doch geschützt vor Sonne und Regen. Frau Völklein machte die meisten ihrer Hausgeschäfte in der Laube ab.

Lotti half beim Bohnenausschälen; es war eine sehr nette Arbeit: Aus den dürren, raschelnden Hülsen kamen alle möglichen Arten von Bohnen zum Vorschein: dunkelbraune, gelbliche, kleine schneeweisse, schwarze mit gelben Tupfen, flache rote oder violette mit weissen Sprenkeln.

Lotti schrie jedesmal vor Vergnügen, wenn sie wieder eine neue Sorte entdeckte. Sie durfte eine Menge Bohnen sammeln und erhielt von Frau Völklein ein weisses Säckchen dazu.

»Du kannst dann mit Hans und Marianne ›Grad oder ungrad‹ spielen«, sagte die alte Frau.

»Wie ist das ›Grad oder ungrad‹?«

»Das geht so –« Frau Völklein nahm einige Bohnen in die Hand. »Nun rate – hab' ich eine grade Zahl oder eine ungrade!«

»Ungrad!« sagte Lotti.

Aber als Frau Völklein die Hand aufmachte, waren es sechs Bohnen.

»So, das ist grad. Du hast verloren und musst mir sechs Bohnen geben.«

Nun kam das Raten an Frau Völklein.

»Grad!« sagte sie.

Und richtig, Lotti hielt vier Bohnen, welche Frau Völklein bekam. Dann gewann Lotti sieben Bohnen. So ging es hin und her. Lotti wurde sehr eifrig; einmal riet sie hintereinander immer ungrad, und jedesmal hatte Frau Völklein neun Bohnen in der Hand, so dass Lotti in kürzester Zeit sechsunddreissig Bohnen gewann. Sie lachte hell auf.

»Das ist aber lustig!« rief sie, während sie die Bohnen in ihr Säckchen steckte. »Finden Sie es nicht auch, Frau Völklein?« fragte sie und schaute in das Gesicht der alten Frau, das auf einmal ernsthaft aussah.

»Doch, doch, Lotti!« sagte Frau Völklein. »Mir ist nur eingefallen, dass ihr nun sehr bald fortzieht und dass es dann wieder so still und einsam wird in der Seeweid. Die langen Winterabende kommen, und ich sitze allein. Kein Werner, der mir durch alle Zimmer nachspringt, dass ich ihm Fritzens altes Holzpferd gebe; keine Marianne, die mir hilft Johannisbeeren pflücken; kein Hans, der mit zum Taubenschlag hinaufgeht; kein Lotti, mit dem ich das Bohnenspiel spielen kann –«

»Nächstes Jahr im Frühling kommen wir wieder«, sagte Lotti.

»Ja, Kind, das sagst du so leicht hin. Ich bin aber eine alte Frau; der Winter kann vieles bringen; wer weiss, ob ich den Frühling erlebe. Mir ist traurig zu Mut, dass ich euch jetzt dann nicht mehr sehe.«

Frau Völklein schwieg und sah in den dämmerigen Abend hinaus.

Lotti hatte Frau Völklein sehr lieb und wäre gerne länger in der Seeweid geblieben. Sie schaute die alte Frau an; dann aber fielen ihre Augen auf das Bohnensäcklein, und sie dachte an »Grad oder ungrad«, das sie Hans und Marianne zeigen wollte. Doch blieb sie bei Frau Völklein sitzen; es wäre nicht nett gewesen, sie allein zu lassen, wo sie so betrübt war.

Da kam Grite und rief Frau Völklein in die Küche. Die alte Frau stand auf.

»So geh jetzt, Lotti! Ich lasse Mama und den andern Gute Nacht wünschen.«

Lotti lief hinunter, um Hans und Marianne zu suchen. Es dunkelte schon stark.

»Wo seid ihr denn?« rief sie.

»Da!« tönte eine Stimme aus dem Garten.

»Ich habe ganz viele Bohnen von Frau Völklein gekommen, und ich weiss ein lustiges Spiel damit, ›Grad oder ungrad‹ –«

Lotti sah Hans und Marianne auf der Seemauer sitzen.

»Was tut ihr dort –?«

»Wir tun nichts. Wir sitzen nur so da und sind traurig –«

Lotti hielt einen Augenblick an. Jetzt waren die auch traurig –!

»Warum seid ihr traurig?« fragte sie, während sie auf die Mauer kletterte.

»Du könntest wohl wissen warum, Lotti!« sagte Hans. »Nächsten Mittwoch schon ziehen wir in die Stadt, fort von der Seeweid! Ist das vielleicht nicht schrecklich –? Wenn ich denke, dass wir dann den See nicht mehr haben und den Schilf und das Klaregg und das Schiff – nur schon das! unser Schiff –! nicht mehr hinausrudern können –«

Hans verstummte; er fand für seinen Schmerz keine Worte.

»Vielleicht schneit es bald, wenn wir in der Stadt sind; dann kannst du Schlitten fahren«, meinte Lotti.

»Ach, Lotti! Wie magst du Rudern mit Schlittenfahren vergleichen! Das ist wie Tag und Nacht –«

»Ja«, begann nun auch Marianne, »die Seeweid ist der Tag und die Stadt ist die Nacht. Mich dünkt, es sei jetzt dann alles Lustige und Schöne vorbei, alles was wir gern gehabt haben! Denk, Lotti – unser Garten und der Hühnerhof und der Stall mit den Kaninchen, die so herzig sind! Und unsere Lieblingsplätze, Lotti, auf dem Waschhaus und da auf der Seemauer –! Das weiss ich, dass ich Heimweh nach der Seemauer bekomme!«

Marianne sah auf den See hinaus. Er lag dunkel da; auch der Himmel war dunkel; nur drüben, wo die Sonne untergegangen war, sah man noch einen schwachroten Streifen. Im Schilf rauschte es leise, und das Wasser plätscherte an die Seemauer.

»Alles ist so traurig; ich könnte fast weinen«, sagte Marianne.

»Am Montag fangen die Ferien an«, ermunterte Lotti die betrübte Schwester.

»Was nützen sie uns«, sagte Hans, »wenn wir doch gleich in die Stadt ziehen! Wir haben vorhin gebettelt, dass man noch eine Woche länger bleibe. Aber Mama hat gesagt, es gehe nicht; aus zwei oder drei Gründen müsse der Umzug am Mittwoch sein.«

»In der Stadt ist es eigentlich auch nett«, fing Lotti wieder an. »Da ist dann der Schnauzel und der Ulrich; dem können wir wieder zusehen, wenn er die Ballen einnäht und schnürt, und dann spielt er uns auf seiner Harmonika. Und unsere Puppen, Marianne –! Ich weiss gar nicht mehr, wie die Klara aussieht – und mein Märchenbuch – Du, Marianne, mich wundert, was wir für Winterhüte bekommen –«

»Grässlich!« sagte Hans. »Jetzt denkt sie an die Winterhüte –! Nein, Lotti, mit dir kann man von nichts Ernsthaftem reden. Lass uns lieber allein! Geh zu Werner! Der ist auch so. Nein – eigentlich hat er damals geweint auf dem Heimweg, als er hörte, dass man bald aus der Seeweid fortgehe!«

Lotti liess sich aber nicht wegschicken.

»Ich kann auch ernsthaft sein, und ich habe die Seeweid so lieb wie ihr«, sagte sie etwas gekränkt und setzte sich neben Marianne.

Die beiden erwiderten nichts, und Lotti schwieg auch. Nach einer Weile tat Marianne einen Seufzer. Lotti seufzte ebenfalls tief. Sie legte die Hände ineinander, wie sie es vorhin bei Frau Völklein gesehen hatte, und sah vor sich nieder.

Aber da, wie sie es fast zu Stande gebracht hätte, traurig zu sein, hörte sie ein Rauschen. Sie hob den Kopf: Ein Dampfschiff kam daher mit vielen Lichtern; unten aus den Kajütenfenstern schimmerten sie in einer Reihe; auf dem Verdeck leuchteten sie gelb, rot und weisslich.

»O, o – seht, wie hübsch!« Lotti klatschte in die Hände. »Wisst ihr, wie das aussieht –? Das sieht aus wie die Lichter am Christbaum! Jetzt wird es Winter; jetzt kommt bald Weihnacht – Weihnacht, Marianne –! Ich gehe hinein und frage Mama, wieviel Wochen noch bis Weihnacht sind –«

Lotti sprang von der Mauer und lief zum Haus.

Marianne sah dem Schiffe nach, bis die Lichter verschwanden.

»Hans«, sagte sie dann, »jetzt kann ich fast auch nicht mehr traurig sein. Weisst du, wenn man nur das Wort Weihnacht hört, fällt einem so viel Schönes ein! Du – wenn es dann klingelt und wir hinunterrennen dürfen zum Christbaum und zu unsern Tischen –! Ich wünsche mir ein Zeichnungsbuch und eine neue Malschachtel und Schlittschuhe –« Marianne stand auf. »Das ist komisch: in meinem Kopfe geht's ganz durcheinander; halb bin ich traurig wegen der Seeweid und halb schrecklich vergnügt wegen Weihnacht!« Damit verliess auch Marianne die Seemauer.

Und Hans –? Allein in Trübsal da draussen bleiben wollte er doch nicht. Er ging langsam nach und merkte, dass er gleichfalls von Lotti angesteckt war. Eben hatte er noch gemeint, nur Leid um die vergangenen Sommertage zu fühlen, und jetzt tauchten in ihm lauter lustige Gedanken an die kommenden Winterfreuden auf.


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