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Lotti und die Rosenkäfer.

Lotti stand am Tisch in der Gartenlaube. Die Laube, deren Wände von lauter glatt geschnittenem Buchengebüsch gebildet waren, sah aus wie ein schönes, luftiges Zimmer. Eine Decke hatte das grüne Gemach nicht; oben schaute der blaue Himmel herein.

Es war ganz still in der Laube; nur von dem Wege, der zwischen den Johannisbeerbüschen zum hinteren Teil des Gartens führte, hörte man sprechen. Da ging Mama mit ihrer Freundin, Fräulein Striebert. Die Kinder hatten Fräulein Striebert sehr gern. Sie brachte jedesmal ein Päckchen Biskuit mit, die sie selbst gebacken hatte. Weil es Abend war und die Bäume schon breite Schatten warfen, hatte Fräulein Striebert ihren Hut auf den Tisch gelegt.

Lotti war zuerst damit beschäftigt gewesen, aus Buchenblättern, die sie mit Tannennadeln zusammensteckte, einen Kranz zu machen. Aber die Blätter rissen immer wieder aus. Sie schob den halbfertigen Kranz zurück und betrachtete Fräulein Strieberts Hut, der mit fünf blassroten Rosen geschmückt war. Lotti fuhr behutsam mit dem Finger über die feinen Blätter; dann drückte sie ihre Nase in eine der Blumen. Sie rochen gar nicht – und so schön wie die wirklichen Rosen waren sie auch nicht. Ringsum im Garten blühten die jetzt an Bäumchen und Büschen, weiss, gelblich, hell- und dunkelrot. Und in vielen sassen zwischen den Blumenblättern zwei, drei oder mehr goldgrün schimmernde Rosenkäferchen. Das sah sehr hübsch aus.

Plötzlich fiel Lotti etwas ein. Die Rosen von Fräulein Striebert sollten auch solche hübschen Käferchen haben. Lotti lief zum nächsten Rosenstrauch, der über und über voll von weissen duftenden Rosen stand, und sammelte von den niedlichen goldgrünen Tierchen, so viel sie erwischen konnte. Dann versuchte sie, die Rosen des Hutes damit zu besetzen. Aber den Käfern gefiel es nicht in den künstlichen Blumen; immer wieder krabbelten sie heraus; drei oder vier flogen sogar fort. Da wurde Lotti ärgerlich und hitzig, und es kam ihr wieder ein Gedanke – diesmal ein ganz schlimmer. Sie sprang ins Haus. In der Schublade der Kommode war ein Leimfläschchen; das nahm sie heraus, strich an jeden der kleinen Käfer etwas von der klebrigen Flüssigkeit und drückte ihn zwischen die Rosenkäfer. So, nun hielten sie fest.

Lotti war kein böses Kind. Ihr kleines Herz war sonst schnell gerührt, wenn sie jemand traurig sah, oder wenn man sie um etwas bat. Und die Tiere mochte sie ja so gern. Jetzt aber dachte sie gar nicht daran, dass diese kleinen, stummen Käfer, die nicht viel anders aussahen als sehr grosse Stecknadelköpfe, auch Geschöpfe seien, und dass man ihnen eine grosse Qual bereite, wenn man sie da festklebe.

So –! unter dieses Blatt auch noch eins! Nun waren alle angebracht.

»Lotti, Lotti!« schrie es von weitem. »Lotti, wo bist du denn!« Hansens Stimme tönte näher: »Lotti, ein ganz grosser Fisch ist hergeschwemmt worden! Wir werfen mit Harpunen nach ihm; wir machen eine Walfischjagd ...«

Lotti rannte Hans entgegen und mit ihm zum See hinunter. Das war prachtvoll. Der Fisch war so lang wie ein Arm; er lag auf dem Rücken und bewegte sich mit dem Wasser her und wieder zurück. Hans und Marianne hatten von einer früheren Jagd her grosse eiserne Haken, die ihnen Jakob wie Angeln gebogen hatte.

»Lotti, da – deine Harpune!« rief Hans. »Sieh dass du gut zielst! Wenn er hinter den Schilf treibt, bekommen wir ihn nicht mehr, ausser wir nehmen das Schiff!«

»Das Schiff ist gar nicht da!« gab Marianne zurück. »Jakob ist über den See gefahren damit.«

»Jetzt –!« schrie sie und meinte schon, den Fisch angehakt zu haben. Aber es war nichts; die Wellen, die heute abend ziemlich stark waren, nahmen den Fisch wieder hinaus.

Hans rannte zur Scheune, um dort eine Stange zu holen. Marianne und Lotti zogen währenddessen Schuhe und Strümpfe aus, um ins Wasser zu waten; denn um jeden Preis musste man den Fisch bekommen.

Aber plötzlich machte Sophie der Jagd ein Ende, indem sie zum Abendessen rief.

»Sophie«, gab Hans zurück, »es ist jetzt gar nicht möglich, dass wir kommen! Man kann nicht so mitten drin aufhören!«

Doch Sophie hatte keinen Respekt vor diesem schwierigen Walfischfang.

»Ach, ihr habt jeden Abend etwas anderes. Da kann man nicht drauf achten! Kommt jetzt!«

Hans brummte ein wenig; aber dann packte er doch die Harpunen zusammen. Mama wollte, dass man Sophie folge.

»Du, es gibt Apfelreis!« sagte Lotti vergnügt zu Marianne, und die drei setzten sich an den Tisch unterm Birnbaum, wo Werner schon mit dem Löffel in der Hand wartete. Alle Kinder machten sich mit grossem Appetit über den Reis her.

»Hu, hu –!« jammerte Werner auf einmal und drückte seinen Kopf an Mariannes Schulter. »Ein Tier, ein Tier –! ich mag die bösen Fliegtiere nicht! Sie tun stechen –«

Es war ein kleiner brauner Nachtfalter, der um Werners Kopf schwirrte.

»O, Werner ist doch noch schrecklich dumm! Er fürchtet sich vor Schmetterlingen!«

Hans haschte nach dem Tier und hielt es Werner hin.

»Totmachen!« rief Werner und schlug mit dem Löffel nach dem Falter.

»Nein, nicht totmachen!« wehrte Marianne. »Warum denn? Wir lassen ihn wieder fliegen. Sieh, wie er sich freut, dass er frei ist. Flieg', flieg', ade, ade!«

»Ade, ade!« wiederholte Werner und klatschte in die Hände.

»Lotti, warum issest du denn deinen Reis nicht auf?« fragte Sophie, die herauskam.

Lotti hatte auf einmal, als Marianne von dem Schmetterling sprach, zu essen aufgehört. Sie sass unbeweglich vor ihrem Teller. Plötzlich schob sie ihn zurück.

»Ich kann nicht mehr, Sophie. Ich muss in den Garten hinüber und nach etwas sehen.«

»Wahrscheinlich hat sie ihre Puppe dort liegen lassen«, sagte Sophie, während sie abräumte.

Lotti rannte zur Buchenlaube und kam in einem Augenblick dieser zurück.

»Sophie, Sophie! ist Fräulein Striebert nicht mehr da?« fragte sie hastig.

»Ja, Kind, was willst du denn noch mit Fräulein Striebert? Längst ist sie fort. Sie war sogar etwas eilig. Ich hab' ihr noch die Tasche und die Jacke in die Droschke hinausgebracht.«

»Und ihren Hut? Hat sie ihn nicht angesehen, Sophie?«

»Angesehen? was wird sie ihn angesehen haben? Ich denke, sie kennt ihren Hut. Schnell aufgesetzt hat sie ihn und ist dann mit Mama zum Bahnhof gefahren.«

»Kommt Mama bald wieder?«

»Nein; ihr werdet längst im Bett sein und schlafen, wenn Mama wieder kommt.«

Das Schwesterlein auf Sophies Arm fing an zu weinen, und Sophie nahm Werner an der Hand, um die beiden Kleinen zu Bett zu bringen.

»Kommt«, schlug Hans den Schwestern vor, »wir gehen noch ein wenig auf der Seemauer hin und her.«

Marianne folgte ihm; Lotti blieb allein unter dem Birnbaum vor dem Hause stehen.

Es war dunkle Nacht. Marianne schlief fest; man konnte gut ihre regelmässigen Atemzüge hören. Lotti wachte noch. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich und suchte eine kühle Stelle auf dem Kissen. Ihr Kopf war heiss; sie meinte eine ganze Ewigkeit da zu liegen. Öfter schon hatte sie nicht einschlafen können, z. B. in der ersten Nacht hier in der Seeweid und dann am Abend vor Weihnachten. Das war vor lauter Freude gewesen. Aber jetzt –! Immer musste Lotti an die Rosenkäfer denken. Ob das wohl sehr weh tat, so festgeklebt zu sein? Ob sie wohl gar nicht loskamen und dort auf Fräulein Strieberts Hut sterben mussten?

»Warum hab' ich es doch getan!« dachte Lotti und drückte, wie wenn sie selber Schmerz empfände, ihre kleine Faust an den Mund.

»Ich will die Augen fest zumachen; vielleicht kann ich dann doch einschlafen«, sagte sie sich und lag still, ohne sich zu drehen. Aber es war sonderbar. Die Augenlider machten gar nicht recht dunkel. Lotti sah lauter gelbe, grüne und rote Punkte; die kamen aus der Zimmerecke heraus, viele, viele und immer mehr, wie ein ganzer Wirbel von Punkten; sie drehten sich im Kreis, erst in der einen Richtung, dann in der andern; jetzt rückte der Kreis näher – Lotti fuhr sich über die Augen; da verschwanden die Punkte.

Nun blieb es eine Weile ruhig und dunkel. Plötzlich tauchte wieder ein Funke auf und wurde immer grösser, und Lotti erkannte mit Entsetzen, dass es ein Rosenkäfer war, ein riesengrosser Rosenkäfer mit langen Fühlhörnern und bösen Augen. Und hinter ihm kam noch einer hervor und wieder einer und jetzt ganz viele. Sie begannen alle mit den Flügeln zu surren und zu schwirren; es gab ein starkes Getöse. Mitten hinein aber hörte man eine Stimme. Es war der ganz grosse mit den langen Fühlhörnern, der mit einer schrecklichen, schnurrenden Stimme rief:

»Lotti Turnach, wir kommen, um die andern zu holen! Wo hast du sie? Es waren doch neun, die du weggetragen hast! Wo sind sie, Lotti Turnach –?«

Lotti war in einer Todesangst. Sie wollte rufen: »Ich will's nicht mehr tun! ich will's nicht mehr tun!« doch sie konnte sich nicht rühren und kein Wort sprechen. Der Hals war ihr wie zugeschnürt.

Der grösste Käfer mit den bösen Augen kam immer näher ... Lotti tat einen lauten Schrei und erwachte. Die Käfer waren verschwunden; Mama beugte sich über Lotti. Mama war, wie sie es oft tat, vor dem Schlafengehen noch einmal in das Zimmer der Kinder gekommen.

»Hat dir schwer geträumt, Kind?« fragte sie und strich über Lottis Stirn. »Du hast ja schrecklich gestöhnt.«

Lotti tat einen tiefen Atemzug. Wie gut das war, Mama neben sich zu haben!

»O, Mama! die Käfer –!«

»Von Käfern hat dir geträumt? War das so arg? Nun sind sie ja aber weg, und du schläfst schnell wieder ein.«

»Nein, Mama, wenn ich schlafen will, dann kommen sie wieder!« Lotti setzte sich in ihrem Bett auf. »Ich muss dir etwas sagen, Mama.«

»Ja, Kind, wollen wir wirklich mitten in der Nacht da zusammen plaudern? Es ist nur gut, dass Marianne einen sehr festen Schlaf hat.«

»Mama, ich hab' heut' abend in der Laube – weisst du, auf dem Hut von Fräulein Striebert sind Rosen, und da hab' ich gedacht, es wäre hübsch, wenn da auch so Rosenkäfer drauf sässen, und da hab' ich – Mama, glaubst du, dass es für die Käfer arg ist, wenn man sie irgendwo festklebt?«

»Ja, Lotti, das glaub' ich sicher. Du hast das doch nicht getan!«

Lotti nickte kläglich mit dem Kopfe, und unter Schluchzen erzählte sie Mama die ganze Geschichte von den Rosenkäfern und das sie erst wieder an die Tierchen gedacht habe, als der braune Schmetterling um Werner herumgeschwirrt sei.

»Da bin ich in die Laube gegangen, Mama, um sie loszumachen; aber ihr wart schon fort –«

»Die armen, armen Käfer!« sagte Mama bekümmert. »Wie konntest du die Tierchen so plagen, Lotti! Ist dir denn nicht in den Sinn gekommen, wie grausam das ist? Nun quälen sie sich ab und können sich doch nicht losmachen! Woher hast du überhaupt ein Recht, so mit Gottes Geschöpfen umzugehen? Die Käfer wollen leben und sich freuen, und nun kommst du und bringst sie in solche Not!«

Lotti sah Mama flehentlich an.

»Ich will es nie, nie mehr tun!« sagte sie.

»Das hoff' ich, Kind!« antwortete Mama. »Es ist schlimm, dass du es einmal getan hast.«

»Wenn ich nur jetzt nicht mehr daran denken müsste und nicht wieder so schrecklich träume, Mama!«

»Ja, siehst du, weil du vorher nicht an die Käfer und ihre Qual, sondern nur an deinen Spass gedacht hast, musst du jetzt an sie denken. Und das ist gut; du wirft dann nicht so leicht wieder etwas Ähnliches tun.«

Als Mama hinausgegangen war, legte sich Lotti hin. Sie fühlte jetzt nicht mehr solche Angst und Unruhe, weil sie mit Mama hatte sprechen können. Aber noch lange hielten Reue und Betrübnis sie wach.

Am andern Abend erhielt Mama einen kleinen Brief von Fräulein Striebert.

»Ich bin gut zu Hause angekommen«, hiess es darin, »besser als die kleinen Reisegefährten auf meinem Hut! Das war wohl ein Einfall von einem der Kinder? Der kleine Missetäter hat meine Rosen schmücken wollen, und die armen Käfer mussten dabei herhalten! Eine Dame im Eisenbahnwagen hat mich aufmerksam gemacht, dass etwas auf meinem Hute herumkrieche. Eines der Tierchen hatte sich losgerissen, und da es unversehrt war, liessen wir es zum Waggonfenster hinausfliegen. Aber die andern hat der zähe Leim übel zugerichtet, und es war wohl das Beste, sie rasch zu töten. – Eigentlich nehme ich sicher an, es sei das Werk des kleinen Werner gewesen. Die andern Kinder wären ja doch zu vernünftig ...«

Lotti wurde dunkelrot im Gesicht, als Mama die Stelle aus dem Briefe vorlas.


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