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Der Seesturm

An einem heissen Mittwochnachmittag waren die Kinder unten am See. Marianne und Lotti gingen im feuchten Kies auf und ab, um nach Muscheln zu suchen, die der See etwa herschwemmte. Oft lagen viele zwischen den Steinen. Sie waren sehr hübsch, wie kleine ovale Schüsseln, aussen bräunlich, innen mattglänzend, ähnlich dem Perlmutter. Wenn bis Kinder eine unbeschädigte Muschel fanden, steckten sie sie ein. Man konnte beim Malen die Farben darin anreiben und mischen. Oft errichteten die Mädchen mit den Muscheln auch eine Geschirrhandlung. Sie stellten bis gleichgrossen zu Stössen in einander, immer ein halbes Dutzend. Dann setzte sich Marianne dazu, und Lotti kam, um einzukaufen. Oder sie gingen beide in die Küche hausieren zu Balbine, welche Teller und Schüsseln brauchte, aber ein scharfes Auge hatte und den feinsten Schaden an dem Geschirr entdeckte. Auch handelte sie lange, bis sie die Ware um den billigsten Preis bekam.

Heute fanden Marianne und Lotti fast keine schönen Muscheln.

»Kommt doch lieber zu mir!« rief Hans. »Seht, wie das fein geht!«

Hans liess Steine tanzen. Das war eine Lieblingsbeschäftigung von ihm. Und heute brauchte er nicht einmal lange im Uferkies nach flachen Steinen zu suchen; er hatte eine alte Schiefertafel zerschlagen und warf nun die kleinen Scherben in kräftigem Schwunge auf den See hinaus, so dass sie, nachdem sie aufgeschlagen, wieder in die Höhe Schnellten und in schönem Bogen über das Wasser schossen, um wieder aufzuprallen und vielleicht noch einen und noch einen Sprung zu tun.

Marianne und Lotti fingen nun auch an zu werfen. Leicht war es nicht.

»Mir wollen sie gar nicht tanzen, Hans!« sagte Lotti.

»Du gibst dir aber auch keine rechte Mühe. Du wirfst bloss drauf los. Sieh, so –«

Hans stellte sich übers Wasser gebeugt, das Schieferstück zwischen den Fingern haltend, und warf. Im Eifer tat er allerdings einen festen Schritt ins Wasser hinein, so dass es ihm über die Schuhe lief. Aber fein war's.

»Ein – zwei – drei – viermal!« schrie er und holte eine neue Scherbe.

»Meine ist jetzt auch dreimal gesprungen!« rief Marianne triumphierend.

Lotti versuchte von neuem ihre Kunst und brachte es wenigstens auf einen Sprung.

»Aber grässlich heiss ist es!« sagte Hans, nachdem er wieder einen Meisterwurf getan hatte. Und auf einmal fanden Marianne und Lotti auch, man könne es vor Hitze nicht mehr aushalten.

Sie stiegen auf die Seemauer und setzten sich unter den Apfelbaum.

»Puh – puh!« machte Lotti und fächelte sich Luft zu mit einem grossem Ampferblatt.

»Auf dem See wäre es, glaub' ich, kühler«, meinte Hans. »Kommt, wir fahren ein wenig hinaus.«

Die Kinder liefen zum Schiff und fuhren weg. Viel frischer war es auch nicht da draussen. Aber die Sonne schien nicht mehr so stark; der Himmel umzog sich etwas.

»Ich weiss, wohin wir fahren«, sagte Hans, während er gegen das Färberschiff ruderte. »Wenn man ums Klaregg herum ist, kommt man etwas weiter oben zu einem Platz, wo eine ganze Menge hohe, dicke Binsen stehen. Die holen wir; dann macht uns Mama vielleicht heut' abend noch Schwummeln!«

»Aber, Hans, wir dürfen ja gar nicht so weit wegfahren!« warf Marianne ein. »Du weisst, was Papa und Mama gesagt haben.«

»Ach, das war vor etwa sieben Wochen! Jetzt kann ich doch schon wieder viel besser rudern. Mama hat es selbst gefunden, als sie vorgestern mit uns fuhr. Und es ging noch dazu ein wenig Wind. Ich komme jetzt sehr rasch vorwärts, und das Drehen geht auch ganz leicht. Seht einmal –«

Hans stemmte mit dem einen Ruder, während er mit dem andern ein paar tüchtige Züge tat; das Schiff drehte sich schnell und sicher herum.

»Da, Lotti, ich will sehen, wann du das einmal kannst!« sagte er zufrieden und ruderte in gerader Richtung weiter.

»Ich glaube auch«, sagte Lotti, »dass wir schon weiter hinausfahren dürfen, um die Binsen zu holen; das ist doch etwas Nützliches. Mama findet es gewiss gut, wenn wir eine rechte Ladung heimbringen. Marianne, dann haben wir morgen schon Schwummeln!«

Marianne lockte es gewaltig, und sie machte sich's in ihrem Sinn ebenfalls zurecht, dass Mama nichts dagegen habe, wenn man jetzt die Binsen hole.

Es war ein ziemlicher Weg bis zum Klaregg, und als Hans endlich um die Spitze der Halbinsel herumgelenkt hatte, ging es noch ein gutes Stück seeaufwärts. Endlich entdeckten die Kinder die mit Binsen bewachsene Stelle. Ein ganzer kleiner Wald von langen schönen Stengeln stand da.

»Nun müsst ihr mir genau folgen«, erklärte Hans, indem er die Ruder einzog. »Auf den Schiffen muss strenger Gehorsam sein, sagt Fritz Völklein immer, weil es sonst leicht etwas Dummes gibt.«

»Ja, gelt, und jetzt bist du froh, dass du befehlen kannst!« sagte Marianne. Aber sie tat, was Hans anordnete; denn er war doch der Älteste. Sie setzte sich ganz auf eine Seite des Schiffes, und damit dieses still stehe, hielt sie einen Büschel Binsen gefasst. Hans bückte sich an der andern Seite hinaus und zog behutsam einen Stengel nach dem andern aus dem Seegrund. Wenn er sie nicht schön gerade heraufzog, so brachen sie ab und waren zu kurz. Lotti musste ihm die Binsen abnehmen und auf den Boden des Schiffes legen.

»Mehr hinüber, Marianne!« rief Hans von Zeit zu Zeit.

»Mach' dich etwas schwerer!«

Wenn er dann mit einem Ruck wieder eine Binse losbrachte, schwankte das Schiff und Lotti schrie ein wenig. Doch wussten Hans und Marianne rasch auszugleichen und das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Nach einer Weile lag auf dem Schiffboden ein ganzer Haufen langer dicker Binsen; unten, wo sie im Wasser gesteckt hatten, waren sie gelblich, oben dunkelgrün und trugen kurze bräunliche Blütenbüschel.

»Noch etwa ein Dutzend, dann gibt es wohl drei Schwummeln«, meinte Hans.

»Wie gut«, sagte Lotti. »Jetzt ist es gar nicht mehr so heiss. Es geht ein schöner Wind.«

Sie sah zu, wie das Wasser in gekräuselten Wellen durch die Binsen strich.

Marianne schaute auf.

»Hans, dort hinter dem Kreuzberg kommt es ganz dunkel herauf! Wir wollen heimfahren!«

»Noch die zwei – und die drei dicken dort –« Es reute Hans, die schönsten zurückzulassen.

Endlich richtete er sich auf. Marianne und Lotti wussten kaum mehr, wohin sie die Füsse stellen sollten; alles lag voll Binsen.

»Das Schiff ist schwerer jetzt«, sagte Hans und begann angestrengt zu rudern. »Es ist dumm, dass man gerade gestern die Sitzruder zum Anstreichen getragen hat, sonst hättest du helfen können, Marianne.«

»Ja, und der Wind bläst uns entgegen! Die Wellen werden immer stärker. Hans, warum fährst du denn so weit hinaus –?« Marianne machte ein besorgtes Gesicht.

Hans antwortete nicht. Er hatte alle Mühe, die Richtung zu behalten. Immer wieder drehte sich das Schiff, so dass die Wellen von der Seite anschlugen.

»Wenn wir nur schon beim Klaregg wären!« sagte Lotti. »Man meint, wir kommen gar nicht vorwärts, Hans.«

»So komm du an die Ruder! Vielleicht geht es dann besser!« erwiderte Hans zornig.

»Ach, fang' nicht an zu streiten jetzt!« wehrte Marianne. »Ich glaube, es war nicht recht, dass wir da hinausfuhren!«

»Ich glaube es auch!« sagte Lotti. Hans biss sich auf die Lippe; es sah aus, als ob er dasselbe dächte.

Der Wind wurde heftiger; die Wellen wurde immer höher und stürzten mit lautem Brausen daher. Der See hatte eine unheimlich dunkle Farbe. Auf jeder Welle flog eine weisse Schaumkrone daher und spritzte ihren Gischt in das schwankende Schiff. Marianne und Lotti wurden ganz nass; sie sassen still und ängstlich auf der mittlern Bank.

»Marianne, glaubst du auch, der liebe Gott schicke den Sturm, weil wir ungehorsam gewesen sind –?« fragte Lotti leise.

Da kam wieder eine mächtige Welle: ein ganzer Wasserstrahl ging über die Spitze des Schiffes und riss einen Teil der Binsen, die dort lagen, weg. Lotti wollte sie halten.

»Nein, nein – Lotti, lass! Vielleicht sollen wir keine Binsen haben!« rief Marianne. »Ich kann sie auch gar nicht mehr sehen – ich wollte, wir hätten keine ausgerissen, keine einzige –«

Marianne nahm, so viel sie von den Binsen am Boden fassen konnte, und warf sie hinaus.

Lotti sah nach Hans. Er wehrte mit keinem Wort.

»Ja, ja«, sagte sie. »Wir wollen sie hergeben. Vielleicht lässt der liebe Gott dann den Sturm aufhören!«

Sie griff auch nach den Binsen und warf sie hinaus. Die langen grünen Stengel wurden von den Wellen fortgerissen.

Aber der Sturm legte sich nicht; in heulenden Stössen fuhr er über den See weg. Der Himmel war mit schweren, dunkeln Wolken bedeckt.

Auf einmal riss ein Windstoss dem Hans den Hug vom Kopfe. Hans liess beide Ruder los und griff nach dem Hut.

Hui –! wie die Wellen das Schiff herumdrehten, als ob sie zeigen wollten, dass sie es doch noch rascher konnten als Hans.

Hans wäre beinahe ins Wasser gestürzt; den Hut erwischte er nicht. Als er sich aufrichtete, riss der Wind das Schiff noch einmal herum, und Hansens Hand wurde zwischen das Ruder und den Rand des Schiffes gequetscht.

»Ah –!« stöhnte Hans; doch fasste er das Ruder. Aber Lotti sah, dass das Blut über des Bruders Hand floss, und fing laut an zu weinen.

Nach ein paar Zügen hörte Hans wieder auf.

»Ich – ich kann nicht mehr! Es gibt solche Stiche –«

Er sank ganz vernichtet hin und überliess das Schiff den Wellen.

Marianne wollte aufstehen; aber das Schiff schwankte so stark, dass sie sich erschrocken wieder setzte. Auch wusste sie ja mit dem Stehruder gar nicht recht umzugehen.

»Marianne – Hans –« schluchzte Lotti. »Wir wollen beten, dass der liebe Gott uns hilft. Hans, sag' ein Gebet – eins, wo etwas vom Sturm drin vorkommt!«

Aber vor Schmerz und Angst fiel dem Hans gar kein Gebet ein.

Da fing Marianne mit zitternder Stimme an:

»Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege –«

»Da ist ja nichts vom Sturm!« unterbrach Lotti.

»Sei doch still, Lotti!« rief Hans. »Es kommt schon –«

»Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuss gehen kann ...«

Der Sturm heulte, und die Wellen brausten mit Getöse daher.

»Lauter, Marianne, lauter!« rief Lotti.

Und Marianne fing noch einmal an, so laut sie konnte:

»Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn ...«

Das Schiff aber trieb in dem wilden Wasser immer weiter in den See hinaus.

»Sophie!« Balbine steckte ihren Kopf in die Stube, wo Sophie nähte. Frau Turnach war ausgegangen. Im Korbwagen lag das Schwesterlein und schlief. Werner sass am Boden und ordnete die Knöpfe, die Sophie ihm aus ihrer Schachtel auf den Teppich geschüttet hatte; die schwarzen tat er zusammen, dann die weissen und die bunten.

»Sophie, wo sind denn die Kinder? Es stürmt draussen, dass es einem fast den Atem nimmt!«

»Sie sind im Stall bei den Kaninchen, glaub' ich«, sagte Sophie und nähte ruhig weiter.

»Nein, im Stall sind sie nicht. Ich hab' gerade den Jakob gefragt. Er ist mit einem zerbrochenen Rad zum Wagner gegangen. Und Frau Völklein weiss auch nichts von ihnen. Ich meine, du solltest doch einmal hinausgehen.«

Sophie stand auf, und Balbine setzte sich an ihren Platz zu den Kleinen.

»Wo können sie wohl sein?« dachte Sophie. »Im Badhaus vielleicht. Hans hat einmal behauptet, es sei dort am allerschönsten, wenn die Wellen heranbrausen und an der Holzwand heraufschlagen.«

Sophie lief über den Hof und am Landungsplatz vorbei.

Was war das –? Das Schiff war ja nicht da –! Den Jakob hatte Balbine eben weggehen sehen – Fritz Völklein war oben bei seiner Grosstante. Wer hatte das Schiff –! Die Kinder –? Um Gotteswillen, die Kinder werden doch nicht bei dem Sturm –

Sophie lief hinaus an die Mauerecke, wo man einen Ausblick über den See hatte. Kein Schiff war zu sehen.

Sie rannte ins Haus zurück und die Treppe hinauf zu Frau Völklein.

»Holla, Sophie! Sie fahren ja daher wie der Sturmwind draussen!« lachte Fritz Völklein, der auf dem Vorplatz an einem Schemel für die Tante herumzimmerte.

»Fritz, die Kinder – sie sind nicht da, und das Schiff ist auch fort! Sie sind – Gott, o Gott, wenn sie in dem Sturm –«

Fritz sprang auf.

»Tante«, rief er ins Zimmer hinein, »die Turnachkinder sind auf dem See draussen! Man muss nach ihnen sehen! Ich laufe zum alten Lienhard, dass er mir sein Schiff gebe –«

In ein paar Sätzen war Fritz unten.

Frau Völklein sah ihm nach.

»Er ist ein braver, braver Bursch«, sagte sie. »Aber bei einem solchen Sturm ist es schlimm hinausfahren! Hilf Gott, dass das gut geht ...«

Fritz Völklein rannte durch den Sturm den Weg hinauf und dann rechts den Hecken entlang. Dass Sophie hinter ihm drein lief, merkte er gar nicht.

Der alte Lienhard sah zum Fenster hinaus nach dem Unwetter.

»Herr Lienhard!« rief Fritz Völklein atemlos, »Herr Lienhard, kann ich Ihr Schiff haben? Die Turnachkinder sind draussen!«

»Die Turnachkinder –? Ja, sind denn die noch nicht zurück? Es hat gerade halb vier Uhr geschlagen, da sah ich sie gegen das Klaregg hinausfahren.«

Nun wusste Fritz Völklein doch, welche Richtung er zu nehmen hatte.

»Da –«, der alte Lienhard warf den kleinen Schlüssel zur Schiffkette hinunter.

Als Fritz Völklein zum Schiff kam, stand Sophie da.

»Ich fahre mit, Fritz! Ich halt' es nicht aus vor Angst! Und dann – zwei kommen doch weiter als eins –«

Sophie sprang ins Schiff und hängte die Sitzruder ein. Sie war jung und kräftig und ruderte gut.

»Also denn –«, sagte Fritz, warf die Kette ins Schiff und stiess los.

Wild schleuderten die Wellen das Schiff an die Mauern; mit Mühe kam Fritz hinaus. Dann ruderten die beiden mit Anstrengung ihrer ganzen Kraft drauf los. Auf und nieder ging es über die mächtigen Wellen, und der Sturm heulte und pfiff ohne Unterlass ...

»Noch vor zehn Jahren wäre ich selber hinausgefahren«, sagte der alte, fast achtzigjährige Lienhard vor sich hin, während er dem Schiffe nachsah. »Aber wenn man die Gicht in allen Knochen hat –! Ein Gewitter gibt's nicht. Es wäre besser. Dann würde der Sturm sich legen. Aber so wird er noch eine Weile fortblasen und, scheint mir, eher noch stärker werden.«

Er legte die Hand über die Augen.

»Wenn sie nur gut ums Klaregg kommen! Dort haut es einen immer am stärksten herum.«

In der Seeweid standen Frau Völklein und Balbine auch am Fenster und sahen in Angst und Spannung hinaus.

»Frau Turnach wird jeden Augenblick heimkommen«, sagte Balbine. »Sie ist bei ihrer Mutter, die krank liegt. Frau Völklein, was sag' ich nun, wenn Frau Turnach frägt, wo die Kinder sind –!«

Frau Völklein seufzte, während sie den kleinen Werner streichelte, der ihr zeigte, wie schön er die Knöpfe geordnet habe.

Grossmama in der Stadt fühlte sich besser; sie wollte Frau Turnach nicht fortlassen bei dem Sturm, der sich erhoben hatte; doch diese hatte keine Ruhe mehr.

»Gerade bei solchem Wetter ist es gut, wenn ich zu Hause bin«, sagte sie. »Wenn alle fünf in der Stube sein müssen, so wird Sophie kaum mit ihnen fertig.«

Draussen war es sehr hässlich. Hoch wirbelte der Staub auf, und aus jeder Gasse fuhr ein tückischer Windstoss den Vorübereilenden entgegen.

»Wenn nur Sophie die Fenster gut zugemacht hat und oben in Hansens Stübchen nach den Läden sieht«, dachte Frau Turnach, während sie so eilig ging, als sie konnte. »Ob Hans wohl daran denkt, seine Bücher frisch einzubinden in das braune Papier, das ich ihm gegeben habe? Es ist immer gut, wenn er etwas Bestimmtes zu tun hat. Marianne wird mit Werner spielen. Sie versteht so nett mit ihm umzugehen ...«

Von Zeit zu Zeit musste Frau Turnach stillstehen, so stark blies der Wind. Als sie von der Strasse in den Seeweg bog, war dieser bestreut mit losgerissenen Blättern und Zweigen. Der Wind rauschte und tobte in den alten Bäumen, als ob sie aus der Erde heraus müssten.

»Wie gut, jetzt daheim zu sein!« dachte Frau Turnach, indem sie die Haustüre aufmachte.

»Guten Abend, Kinder!« rief sie gegen die Wohnstube hin.

Sie wunderte sich, dass es so still war. Da hörte sie oben bei Frau Völklein Werners Stimme.

»Mama, Mama!«

Mit raschen Füssen trabte Werner die Treppe herunter.

»Mama, Fritz Völklein holt den Hans und die Marianne und Lotti. Sie sind draussen auf dem See, und Sophie ist mit Fritz, und ich hab' nicht mitdürfen! Hast du mir etwas mitgebracht?«

Frau Turnach sah entsetzt hinauf; ihre Augen fielen auf die ängstlichen Gesichter von Frau Völklein und Balbine, und sie erschrak noch mehr.

»Balbine! was ist geschehen – wo sind die Kinder –?«

»Noch ist nichts geschehen, Frau Turnach!« Frau Völklein suchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Die Kinder sind hinausgefahren und nicht zurückgekommen. Aber Fritz holt sie – Fritz und Sophie werden sie bringen; der liebe Gott wird ihnen helfen, Frau Turnach.« So tröstete die gute alte Frau, während Frau Turnach blass und wortlos am Treppengeländer stand.

Nach einem Augenblick aber raffte sie sich zusammen und eilte hinaus. Sie musste zum See; sie musste nach ihren Kindern sehen! Balbine und Frau Völklein gingen ihr nach. Grite hatte übernommen, bei den Kindern zu bleiben. Draussen an der Seemauer stürmte es furchtbar; man konnte kaum stehen. Der Wind heulte, und die Wellen bäumten sich laut tosend auf und spritzten ihren weissen Schaum über den Garten hin.

»Um Gottes willen!« jammerte Balbine leise zu Frau Völklein. »Es wird immer ärger –!«

Sie trat mit der alten Frau hinter das Badhaus, um etwas Schutz zu haben. Frau Turnach aber blieb am Rande der Mauer stehen. Sie sah unverwandt hinaus auf den See, als ob sie mit dem angstvollen treuen Blick ihrer Augen die Kinder durch das tosende Wasser herführen könnte ...

Und während sie so hinausspähte, ruderten Fritz Völklein und Sophie schon hinter dem Klaregg heran, das Schiff nachschleppend, in dem die Turnachkinder sassen, glücklich gerettet.

Glücklich gerettet, nachdem sie weinend auf den wilden See hinausgetrieben worden waren und sich von Gott und Menschen verlassen geglaubt hatten. Hans zuerst hatte das Schiff auftauchen sehen. Es war näher und näher gekommen –

»Fritz, Fritz –!« hatten die Kinder gerufen. »Fritz und Sophie kommen uns zu Hülfe –«

Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, dem Schiff der Kinder nahe zu kommen.

»Achtung, Hans –!« hatte Fritz geschrien und das Seil, das er mitgenommen, hinübergeworfen. Der Wurf misslang.

Hans erhob sich, um beim zweiten Wurf das Seil zu erhaschen.

»Sitzen bleiben!« schrie Fritz mit strenger Stimme. »Willst noch hinausgeschleudert werden! Knie an den Boden!«

Noch einmal fiel das Seil ins Wasser. Sophie stemmte mit aller Kraft die Ruder gegen die Wellen, um ihr Schiff dem andern möglichst nahe zu bringen.

»Hans – nimm dich zusammen! Bist doch sonst nicht so ungeschickt!« Fritz war fast böse.

»Er hat die Hand zerquetscht!« schrien Marianne und Lotti hinüber.

Das dritte Mal ging es. Marianne hatte das Seil erwischt und kroch zur Spitze des Schiffes, um es dort durch den Ring zu ziehen und fest zu machen. Sie zitterte so vor Schrecken und Aufregung, dass sie kaum damit zu stande kam.

»Wirf mir euere Kette herüber, Marianne!« rief Fritz, indem er das Schiff der Turnachkinder näher heranzog.

Er fing die Kette auf und hängte sie ein. Mühsam ging es nun vorwärts. Das angebundene Schiff wurde auf und ab, hin und her geschleudert; jeden Augenblick glaubte man, dass es umschlage.

»Lotti, Marianne, Hans!« rief Sophie hinüber, »seid nur getrost! wir kommen schon durch!«

Sie hätte am liebsten, wenn es möglich gewesen wäre, die Kinder zu sich herübergenommen. Sie sahen so verängstigt und verweint aus. Aber es galt, fest am Ruder zu bleiben. Die beiden Schiffe waren schwer durch die Wellen zu bringen.

»Frau Turnach wird längst zu Hause sein – mein Gott! und welche Angst ausstehen!« sagte Sophie zu Fritz Völklein. »Wenn wir ums Klaregg biegen, so können sie uns kommen sehen. Aber dann geht es noch lange, bis sie erkennen, dass wir alle drei Kinder glücklich bringen.«

Fritz Völklein dachte einen Augenblick nach. Dann rief er, ohne die Ruder loszulassen, hinter sich:

»Hans! Hat deine Mama in dem griechischen Sagenbuch die Geschichte vom Theseus gelesen?«

Sophie wunderte sich, wie Fritz jetzt zwischen alles hinein an die Griechen denken konnte.

»Ja!« rief Hans. »Letzten Winter hat sie uns das Buch vorgelesen.«

»Dann weiss sie also, dass ein weisses Segel oder eine weisse Flagge Gutes bedeutet! Im Schiff muss von gestern eine Stange liegen. Seht, dass ihr Mariannes und Lottis Schürzen dran bindet; sie sind ja weiss –!«

»Sie haben braune Punkte!« schrie Lotti hinüber.

»Schadet nichts! Lehnt die Stange an die Ruderbank und haltet sie fest, so gut ihr könnt! Es muss eine weisse Flagge flattern, so wie wir ums Klaregg kommen – wegen euerer Mama! Aber dass ihr mir am Boden bleibt –!« schloss Fritz streng.

Es war nicht leicht zu tun, was Fritz befohlen hatte. Hans konnte seine geschwollene, blutende Hand nicht mehr bewegen und also kaum helfen. Lotti hatte einen Bindfaden in der Tasche; aber jeder Windstoss drohte, Schürzen und Schnur mit sich fortzureissen.

Doch als man in weitem Bogen ums Klaregg fuhr, flatterte die weisse Fahne über dem Schiff. Jedes der Kinder wollte halten. Es war, als sei man nun schon fast bei Mama, da man ihr dies Zeichen geben konnte ...

Frau Turnach stand an derselben Stelle, fort und fort hinausspähend.

Da –! Weit draussen vor dem Klaregg tauchte etwas auf – ein Schiff!

»Balbine! ein Schiff!« Frau Turnach fasste Balbines Arm.

»Und ein zweites dahinter –« rief Frau Völklein. »Frau Turnach, sie sind's!«

Aber Balbine schüttelte ängstlich den Kopf.

»Das Schiff bringen sie – Gott! Gott! ob aber die Kinder drin sind –« sagte sie leise zu Frau Völklein, während Frau Turnach wieder auf die Mauer hinaustrat.

Sie schien sich dieselbe Frage zu stellen; denn mit bangen Augen schaute sie nach den Schiffen.

Auf einmal sah man etwas Helles flattern – eine weisse Flagge, die hin und her geschwenkt wurde.

Und Frau Turnach verstand den braven Fritz Völklein.

»Balbine –! Frau Völklein –! Das ist ein Zeichen, das Fritz uns gibt! Sie bringen die Kinder – der gute Gott hat sie mir beschützt –«

Und jetzt erst, als Frau Turnach aus ihrer furchtbaren Angst erlöst war, fühlte sie ihre Knie zittern und setzte sich auf Frau Völkleins Mahnen auf die Bank neben dem Badhause.

Zwanzig lange Minuten vergingen noch, bis die Schiffe anlangten. Es schien, als ob sie kaum vorwärts kämen durch den Wind und die grimmigen Wellen. Aber treulich flatterte das weisse Fähnlein im zweiten Schiffe, und allmählich rückten sie doch näher. Man konnte erkennen, wie fest Fritz ausgriff und wie Sophie ihre ganze Kraft einsetzte; jetzt unterschied man die Köpfe der Kinder im hinteren Schiff.

»Mama! Mama!« hörte man rufen, und die weisse Flagge winkte stärker.

»Sitzen bleiben!« schrie Fritz noch einmal und zum letzten Male; denn nun lenkte er hinein in die Hafenbucht.

»Achtung, Sophie!« kommandierte er. »Die Mauer –«

Endlich, endlich waren sie am Lande. Fritz sprang mit drei Sätzen an Sophie vorbei und als erster ans Ufer.

»Gott sei Lob und Dank! Fritz, das war brav – brav, Sophie!« rief Frau Völklein.

Frau Turnach drückte Fritz die Hand; sie konnte nicht sprechen. Fritz sprang auch gleich wieder zurück, um das Schiff mit den Kindern heranzuziehen.

»Dürfen wir jetzt aufstehen, Fritz?« rief Lotti.

»Ja, jetzt dürft ihr aufstehen!« Und Fritz half einem nach dem andern herüber. Blass und zerzaust stürmten die Kinder in Mamas Arme.

»Mama, Mama! Es war furchtbar! Wir haben gedacht, wir müssten untergehen! Hans hat sich die Hand zerquetscht, und die Binsen haben wir ins Wasser geworfen, damit der liebe Gott mit dem Sturm aufhöre. Aber es wurde immer ärger, und dann hat Marianne gebetet ...«

Erst als die Kinder sahen, wie die Tränen über Mamas Gesicht liefen, merkten sie, dass auch sie in Angst und Schrecken gewesen war.

»Mama, Mama! bitte, wein' nicht! Wir wollen es nie, nie mehr tun –!« rief Lotti, während Marianne anfing mitzuweinen.

Und Sophie, der Frau Völklein die nassen Haare aus dem Gesicht strich, war auch in Tränen ausgebrochen.

»Ach Gott, ach Gott! wie bin ich froh! wie bin ich froh!« wiederholte sie immer, indem sie laut schluchzte.

Dazu hob Balbine einen grossen Jammer an über Hansens blutende und geschwollene Hand. Und um dem Tumult noch grösser zu machen, erschien auch Grite, Frau Völkleins Magd, mit Werner, der auf Sophie und auf Fritz Völklein lossprang, warum sie ihn nicht mitgenommen.

Fritz fasste den Kleinen und hielt ihn in die Luft.

»Ja, Wernermann, das war wirklich unrecht, dich zu Haus zu lassen. Das nächste Mal, wenn ich draussen bin und mir nicht zu helfen weiss, dann kommst du mit dem Schiff und holst mich!«

Der Kleine jubelte laut auf.

So war ein grosses Durcheinander von Freuen und Weinen am Landungsplatz; erst als Fritz fragte:

»Grite, haben Sie mir nicht noch ein wenig Kaffee aufgehoben?« dachte man daran, von dem wilden See und dem Sturm weg in das sichere Haus zu gehen.

Gestraft wurden die Turnachkinder weiter nicht. Sie hatten genug Angst und Not ausgestanden und dachten an diesen Tag gewiss auf alle Zeiten hinaus. Sie konnten gar nicht aufhören, von dem Schrecken zu erzählen und sich selbst anzuklagen, als Papa spät abends heimkam.

Hans fühlte starke Schmerzen in seiner Hand und wurde unten im Zimmer gebettet, damit man ihm Überschläge machen konnte. Marianne und Lotti schliefen auch nicht gut. Lotti fuhr alle Augenblicke auf:

»Mama –! ich hab' gemeint, ich fahre wieder im Sturm –«

Und Marianne rief einmal laut: »Wirf doch alle hinaus, Lotti, alle, alle –«

Hans trug noch mehrere Tage die Hand in der Schlinge. Wenn sie ihn aber in der Schule ausfragten, gab er nicht gerne Bericht. Ein Abenteuer war es wohl gewesen; doch hatte er keine Heldenrolle darin spielen können, sondern hatte sich geduckt und gedemütigt müssen mit den Mädchen ans Land ziehen lassen.


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