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Nachtgeschichten.

Die Turnachkinder hatten ausser der Seemauer noch einen Lieblingsplatz. Er befand sich auf dem Dache des kleinen Waschhauses. Fritz Völklein und Hans hatten da auf dem First ein Brett befestigt, das eine niedrige und sehr angenehme Bank bildete. Von der einen Seite hing der breite Holunderstrauch über das Dach hin, so dass man traulich im Schatten sass. Der Holunderstrauch war wie ein guter Freund, den man durch und durch kannte. Im Frühjahr, wenn die Turnachs in die Seeweid kamen, schoss eben das erste helle Grün aus den glatten grauen Ästen. Das wuchs und wuchs und hatte auf einmal kleine Dolden, die sich ausdehnten und eines Sommertages in Blüte standen. Zahllose feine, weisse, starkduftende Blümchen drängten sich zusammen in einer Dolde. Dann verschwanden sie, und man beachtete die grünen Büschel weiter nicht, bis die Beerchen daran grösser wurden und sich bräunlich rot färbten. Die Dolden senkten sich; wenn man sie mit der Hand hob, waren sie ganz schwer. Schliesslich wurden die Beeren glänzend schwarz und weich. Dann pflückte man sie, und Balbine kochte sie mit Zucker zu einem guten Brei, den die Kinder abends mit Butterbrot assen.

Man konnte auf zwei Arten auf das Dach kommen. Erstens, indem man in dem starken Strauch emporkletterte; selbst Marianne und Lotti brachten das zu stande; die Stämmchen boten überall Halt zum Klettern. Dann konnte man auch im Holzbehälter die kleine Leiter holen und an das Dach anlegen. Eins, zwei, drei – da war man wie der Blitz oben. –

An dem Abend der ersten Septemberwoche, da die Kinder wieder einmal sich auf das Dach setzten, waren die Beeren des Holunderstrauches schon schwarz und reif.

»Heut' ist's an mir, beim Kamin zu sitzen!« rief Lotti. Die Ecke, wo man sich an den Kamin anlehnen konnte, war der beste Platz. An der andern Seite des Kamins lag auf den alten, moosbewachsenen Ziegeln die Hauswurz. Das war eine seltsame Pflanze; sie sah aus wie das Stück eines dicken Teppichs, darin sich eine grüne Rose an die andere fügte, grosse und kleine mit fleischigen, glatten Blättern. Dieser Teppich oder Pelz von Blätterrosen wurzelte nicht fest; man konnte ihn herumtragen und bald auf diese, bald auf jene Seite des Daches legen.

Einmal hatten die Kinder die Hauswurz herunternehmen wollen; aber da war Frau Völkleins Grite gerade dazugekommen.

»Dass ihr auf der Stelle die Hauswurz wieder hinlegt –!« hatte sie gesagt und ein ziemlich böses Gesicht gemacht. »Sie bringt dem Hause Glück; wenn man sie fortträgt, geschieht etwas Schlimmes!«

Hans stieg mit der Hauswurz schnell wieder auf das Waschhaus und legte sie hin. Dann aber rief er vom Dach herunter.

»Du, Grite, warum tut man denn die Hauswurz nicht aufs grosse Dach? Der alten Waschküche braucht sie doch kein Glück zu bringen; da wohnen höchstens Spinnen drin und etwa eine Maus.«

»Das macht nichts«, sagte Grite. »Wenn sie nur auf einem Dach liegt, das zum Gut gehört. Sei du nicht so vorwitzig und lass die Hauswurz in Ruhe! Sie ist viel älter als du!« –

Also Lotti sass diesmal nächst dem Kamin, Marianne neben ihr und Hans zu äusserst. Es war ein schöner, stiller Abend. Man sah über den Garten weg zum See, auf dem ein paar Steinschiffe mit grossen weissen Segeln dahinzogen.

»Jetzt singen wir«, schlug Lotti vor.

»Ja«, sagte Marianne, »wir wollen singen:

Es ist ein Schnitter, der heisst Tod,
Der hat Gewalt vom ew'gen Gott ...«

»Das ist aber so ernst!« meinten Lotti und Hans.

»Eben, wenn ich so da oben sitze an dem schönen Platz«, sagte Marianne, »dann mag ich gern ein ernstes Lied.«

Also sangen die drei Kinder vom Schnitter Tod und sahen in den hellen Abend hinaus. Die Schwalben flogen schwirrend über das Dach hin und her.

»Viel hunderttausend ungezählt,
Da unter seiner Sichel fällt«,

begannen die Kinder die dritte Strophe.

»Rot Rosen, weiss Ilgen,
Beid' wird er austilgen;
Ihr stolzen Kaiserkronen,
Man wird euch nicht schonen.
Hüte sich, schön's Blümelein!«

Aber dann sahen sie einander an und wussten nicht mehr weiter.

»Trotz Tod! Komm her; ich fürcht' dich nit!
Trotz, komm daher und tu dein Schnitt ...«

klang es von unten, und die Turnachkinder setzten ein und sangen die letzte Strophe zu Ende.

Als das Lied verklungen war, sah Fritz Völkleins Kopf durch den Holunderbusch.

»Hallo! Da seid ihr alle beisammen! Hab' ich auch Platz? Das ist ein schönes Lied, eins meiner liebsten.«

Die Turnachkinder rückten etwas, und Fritz setzte sich neben Hans.

»Ja«, sagte Marianne, »wo es heisst: Trotz Tod, komm her; ich fürcht dich nit! wird einem ganz tapfer zu Mut. Man denkt, wenn der Tod käme, würde man sich wirklich nicht fürchten –«

»Der Tod sieht aber schrecklich aus; gelt, Fritz?« warf Lotti ein. »Er hat grosse schwarze Löcher statt Augen und lange Zähne, und nur Knochen im Gesicht und am Leibe. Uh –!«

»Zu Haus haben wir ein Bild, wo der Tod gar nicht schrecklich, sondern fast freundlich aussieht«, sagte Fritz. »Es stellt ein Turmzimmer dar; der alte Turmwächter ist soeben gestorben. Durch das offene Fenster, unter dem ein kleiner Vogel sitzt, sieht man weit ins Land hinaus und zu den Bergen hinüber, wo die Sonne untergeht. Der Tod in langem Pilgerkleid zieht am Seile, um die Abendglocke zu läuten, ganz sanft, damit der alte Mann im Lehnstuhle nicht gestört werde. Es ist ein schönes Bild.«

»Gelt, halb schön und halb schaurig?« fragte Lotti. »Möchtest du ihn einmal sehen, den Tod?«

»Lotti, du musst dir das nicht so denken«, sagte Hans. »Es gibt doch keinen wirklichen Tod, der als Gerippe herumgeht, so wenig wie Gespenster.«

»Mama sagt auch, es gebe keine Gespenster«, fuhr Lotti fort, die gern von so etwas sprach. »Aber Grite hat mir eine Geschichte erzählt von ihrer Mutter; der ihr Vetter habe manchmal ein Gespenst gesehen mit feurigen Augen; das sei durch den Stall gegangen und habe die Kühe gestreichelt.«

Die beiden Knaben lachten.

»Dann war es wenigstens ein freundliches Gespenst. Lotti, Lotti, du wirst doch nicht an so etwas glauben!«

Doch Lotti liess sich nicht so schnell abbringen:

»Wenn es aber Gespenster gäbe, würdest du dich fürchten, Hans, wenn nachts eines zu dir ins Zimmer käme?«

»Ich fürchte mich überhaupt nicht!« sagte Hans stolz. »Es ist eine Feigheit, sich zu fürchten; nicht wahr, Fritz?«

»Nur nicht zu rasch, Hans. Mit dem Fürchten ist es so eine Sache. Wenn man am hellen Tag beisammen sitzt, sagt man leicht: Ich fürchte mich nie! Aber in der Nacht kann einem doch begegnen, dass man –«

»Du willst doch nicht sagen, dass du dich einmal gefürchtet habest –?« fragte Hans und sah Fritz erstaunt an.

»Doch, eben das will ich sagen«, gab Fritz zurück und schwieg dann, als ob er über etwas nachsinne.

»O, Fritz, erzähl' uns, was das war!« baten die Turnachkinder, und Lotti, der Freude und Erwartung immer gleich in alle Glieder fuhren, trommelte mit den Füssen auf die Dachziegel.

»Meinetwegen. Es ist eigentlich nicht viel«, fing Fritz an. »Also, ich machte vor zwei Jahren eine kleine Fussreise zum Grossonkel Andreas, dem Bruder von Tante Völklein. Er hat ein kleines Gut bei Flinbach mitten in den Reben. Als ich zum Urstein kam, war es etwa halb acht. Die Magd, die mir die Haustüre aufmachte, lachte und rief:

›O, Herrjeh! Da kommt noch einer!‹

›Was?‹ fragte ich. ›Wie viele sind denn schon da?‹

›Drei‹, sagte sie. ›Aber kommen Sie nur herein, Fritz!‹

Sie führte mich auf die grosse Altane. Da war der Bruder von Tante Marie mit seinen zwei Töchtern. Und alles wollte bei Onkels übernachten. Sie sassen gerade beim Nachtessen.

›Jetzt nimmt's mich wirklich wunder, wie man dich noch unterbringt –!‹ rief der Onkel mir zu und lachte mit seiner lauten Stimme. Er hiess mich hinsitzen und schob mir die Platten mit Schinken und mit Eierkuchen zu, während die Tante mir eine grosse Tasse voll Kaffee und Milch einschenkte. Sie haben dort immer Kaffee zum Abendessen.

Dann gab es eine eifrige Beratung, wo ich schlafen könnte, bis Fräulein Anna, die ältere der zwei Töchter, rief:

›Tante, ihr hattet ja früher im Rebhäuschen ein Gastzimmer eingerichtet. Kann Fritz nicht dort übernachten? Mich dünkt, da müsste ein prächtiges Schlafen sein. Ich will gern hinaufziehen, wenn Fritz sich etwa fürchten sollte.‹

Fräulein Anna sah mich dabei lustig an. Sie ist eine Lehrerin und sehr klug und neckt einen gern.

›Nein, Fräulein Anna, ich fürchte mich nicht‹, sagte ich, und die Tante stimmte ein:

›Ja, Fritz, wenn's dir nicht zu einsam ist. Das Bett steht noch droben; Lisette hat dir's schnell gerichtet. So wäre die Schwierigkeit gehoben.‹

Wir sassen noch lange vergnügt beisammen. Endlich sagte ich ›Gute Nacht‹ und ging hinter Lisette durch den Garten und den Stufenweg hinauf. Sie sahen mir nach, und Fräulein Anna rief noch:

›Also, Fritzchen, wenn die Angst kommt, so ruf' nur! Wir haben das Fenster offen!‹

›Danke, Fräulein Anna‹, sagte ich und lachte. ›Ich brauche gewiss keine Hilfe.‹

Ich fand es herrlich, in dem Rebhaus zu übernachten, das seit uralten Zeiten am Flinbacher Berg steht. Es ist kein gewöhnliches Rebhaus, sondern ein kleiner Turm mit grauen Mauern und spitzigem Dach. Ich kam mir vor wie ein Schlossherr, als Lisette mit dem schweren Schlüssel die Türe aufmachte und wir die steile Treppe hinaufstiegen. Während Lisette mein Bett und einen Waschtisch herrichtete, machte ich das Fenster auf und sah hinaus. Der Mond war noch nicht ganz voll, schien aber hell über das Tal hin. Die Rebenhügel und Baumwiesen waren in einem feinen Glanz.

›Nehmen Sie das Laternchen mit, Lisette‹, sagte ich. ›Der Mond leuchtet mir.‹

Lisette ging. Ich legte mich zu Bett, ziemlich müde; denn es war eine gehörige Fusstour gewesen. So kam der Schlaf bald. Das letzte, was ich noch hörte, war ein fernes Posthorn.

Also, ich schlief fest ein und hatte wahrscheinlich ein paar Stunden geschlafen, als ich plötzlich aufwachte. Mir war, als habe jemand leicht über meine Stirne gestrichen. Ich fuhr auf und sah um mich. Aber der Mond war untergegangen, es war dunkel in meiner Stube und still, totenstill. Ich horchte; dann dachte ich, ich hätte mich wohl getäuscht und legte mich wieder hin. Da – noch einmal fuhr's mir über das Gesicht, leise und unheimlich. Ich steckte den Kopf unter die Decke und blieb eine Weile so, bis ich nicht mehr atmen konnte. Als ich wieder hervorgeschlüpft war, versuchte ich, mir die Furcht auszureden. Doch bevor mir das gelang, kam's zum drittenmal. Beinahe hätte ich geschrien; aber ich dachte an Fräulein Anna und schämte mich. Ich horchte wieder, hörte aber nichts als mein Herz, das stark klopfte.

Ein Vogel, Käfer oder Nachtfalter konnte es nicht sein. Da würde man ein Flattern oder Schwirren gehört haben. Dass es so ganz lautlos kam und ging, war eben das Unheimliche. Es war doch nicht etwa ein Mensch im Zimmer? Ich hatte ja den Schlüssel innen umgedreht. Oder doch?

Ich setzte mich auf, nahm meinen Mut zusammen und rief:

›Ist jemand da –?‹

Aber wenn man angefangen hat, sich zu fürchten, so macht einem die eigene Stimme bang. Noch einmal rief ich:

›Bitte, ist jemand da –?‹

Dann schwieg ich, und als ich etwa fünf Minuten mich ruhig verhalten hatte, kam es wieder wie eine Geisterhand.

In so einem Augenblick nützt es gar nichts, zu wissen, dass es keine Gespenster gibt. Es graut einem doch vor irgend etwas Unbegreiflichem, Unmöglichem. Zum erstenmale im Leben fühlte ich, wie sich mir die Haare sträubten vor Entsetzen. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich sprang aus dem Bett und stiess an das Laternchen, das Lisette doch auf dem Tisch hatte stehen lassen. Ich tastete und fand auch Streichhölzchen. Die Hand zitterte mir stark beim Anzünden.

Im Zimmer war nichts zu entdecken. Ich leuchtete hinter den grossen Schrank und unter das Bett; auch da fand ich nichts. Ich legte mich endlich wieder hin; das Licht aber löschte ich nicht aus; es war wie ein guter Freund, der mich beschützte: Die gespenstische Hand kam nicht wieder. Mit Bangen sah ich, wie das Kerzenstümpfchen tiefer und tiefer brannte. Doch als es erlöschte, da graute draussen schon der Morgen, und von Flinbach herauf hörte ich einen Hahnenschrei. Da kam eine grosse angenehme Müdigkeit über mich, und ich schlief ein.«

Fritz schwieg einen Augenblick.

Lotti, die in höchster Spannung zugehört hatte, ergriff sofort das Wort:

»Das war grässlich, Fritz! Aber zum Zuhören ist es prachtvoll! Jetzt geh' ich dann gleich zu Grite und sag' ihr, ich wisse auch eine Gespenstergeschichte!«

»Lotti«, wehrte Hans, »jetzt störst du den Fritz wieder, bevor man noch das Ende von der ganzen Sache weiss –!«

»Ja«, sagte Fritz, »und das Ende einer Gespenstergeschichte ist meistens die Hauptsache! Also, ich schlief, bis ich durch die Stimme des Onkels geweckt wurde. Er hatte einen Gang durch seine Reben gemacht, und ich hörte ihn zum Haus hinunter rufen:

›Es ist schon über acht Uhr! Aber wir lassen ihn schlafen. Er ist gestern weit marschiert.‹

Da stand ich auf und war bald unten auf der Altane. Die andern hatten längst gefrühstückt. Lisette brachte mir den gewärmten Kaffee. Auch Fräulein Anna kam mit einem Strauss Herbstenzianen; sie war schon am Berg oben gewesen.

›Gut geschlafen im Turm, Herr Fritz?‹ fragte sie.

›Fräulein Anna‹, sagte ich, ›wenn Sie die nächste Nacht da oben wohnen wollen – ich trete Ihnen mein Logis gerne ab. Es war ein wenig ungemütlich!‹

Und dann erzählte ich ihr und dem Onkel, der mit Fräulein Hermine herzugetreten war, die ganze Geschichte.

›Das ist ja greulich!‹ sagte Fräulein Anna. ›Onkel, ich tue keinen Schritt mehr in diesen Geisterturm, wenn man nicht herausbringt, was das war!‹

Der Onkel schüttelte zuerst den Kopf. Auf einmal lachte er und sagte:

›Du, Fritz, ich glaube fast, ich sei dem Gespenst auf der Spur –‹

Wir gingen zusammen in den Turm. Der Onkel stieg vom Stuhl am Fenster auf das Gesimse und griff behutsam hinauf in den Raum zwischen Laden und Fenster. Wir sahen erwartungsvoll zu.

›So‹, sagte der Onkel, ›da haben wir die Geisterhand –!‹

Und was hielt er uns entgegen, als er herunterstieg –? Eine Fledermaus!

Eine kleine, ungefährliche Fledermaus, die in ihre Flügel eingewickelt war wie in einen grauen, weichen Mantel und die winzigen Augen gar nicht aufmachen konnte in der hellen Sonne.

Alle lachten, als sie das Tierchen der Reihe nach in die Hand nahmen, und ich dachte, ich müsste mich recht schämen. Aber der Onkel sagte, eine Fledermaus, die so ganz geräuschlos nachts im Zimmer herumfahre, sei wirklich etwas Unheimliches. Er habe einmal eine, die nicht mehr den Ausweg aus seiner Stube gefunden, bei Licht fliegen sehen mit dem seltsamen Kopf und den weit ausgespannten Flügeln, und er habe gedacht, wenn es Gespenster gäbe, müssten sie aussehen wie eine Fledermaus.« –

»Fritz«, fragte Lotti, »was hättest du getan, wenn das Laternchen nicht auf dem Tisch gestanden wäre –? Hättest du um Hilfe geschrien –?«

»Das würdet ihr beide jedenfalls getan haben, Lotti, schon gleich am Anfang!« sagte Hans.

»Wer weiss –!« verteidigte sich Lotti. »Wir sind ziemlich mutig, gelt du, Marianne!«

»Oho, Lotti, oho!« lachten Fritz und Hans.

Lotti wurde eifriger:

»Jetzt wollte ich gerade, es gäbe bald einmal etwas nachts in unserm Zimmer, damit wir zeigen könnten, wie wir sind –!«

»So, wolltest du –!« fragte Fritz.

»Ja«, meinte Marianne, »nun wird aber nicht gleich etwas begegnen.«

»Das kann man nie wissen«, sagte Fritz und lächelte so ein wenig vor sich hin.

Bald darauf rief Sophie die Kinder, und Fritz musste heim.

Es war zwei Wochen später; die Kinder dachten nicht mehr an die Gespenstergeschichte. Marianne und Lotti lagen in ihren Betten. Da erwachte Marianne mitten in der Nacht und horchte auf: Was hatte denn Lotti zu rascheln und zu knistern –?

»Lotti, was tust du? Schlaf doch!« rief Marianne halblaut hinüber.

Lotti gab keine Antwort, und da Marianne lauschte, hörte sie langsame, regelmässige Atemzüge. Lotti schlief. Aber was war denn jetzt wieder das seltsame Rasseln und Tappen –?

»Lotti!« rief Marianne lauter. »Wie kannst du denn schlafen, wenn etwas immer so sonderbar tut! Hör doch –!«

Lotti liess ein undeutliches Gebrumm vernehmen. Sie war sehr unzufrieden, aufgeweckt zu werden. Aber Marianne gab nicht nach:

»Horch, Lotti – jetzt –!«

Lotti setzte sich auf; sie hörte nichts.

»Marianne«, sagte sie, »du hast gewiss nur geträumt. Manchmal träumt man so stark, dass man meint, es sei wahr. Vorletzte Nacht hab' ich auch geträumt, Sophie stehe am Bügelofen, und aus dem Ofen kommen grosse gelbe Flammen, und Sophies Kleid fange an zu brennen, und ich wollte –«

Lotti hätte ihre ganze, lange Traumgeschichte zum besten gegeben, wenn Marianne sie nicht unterbrochen hätte:

»Still, Lotti – jetzt kommt's wieder –!«

Diesmal hörte auch Lotti ein leises, seltsames Rasseln und Reiben.

»Ich rufe Mama!« sagte Lotti. »Es ist etwas Schreckliches hinten an der Türe!«

»Lotti« wisperte Marianne, »jetzt ist es, glaube ich, unter meinem Bett –! Aber wir wollen noch nicht rufen, sonst lachen uns nachher Fritz und Hans aus. Weisst du, wir sagten ja, wir könnten schon mutig sein!«

»Ja, aber das unter deinem Bett ist jedenfalls ärger als eine Fledermaus! Ich – ich mag gar nicht, wenn im Dunkeln auf einmal etwas so tönt! O, o – jetzt fängt es wieder an!«

»Nein, Lotti, sei doch still! Das bin ja ich!«

Marianne hatte auf dem Tisch hinter sich gesucht und war an die Schachtel mit Streichhölzchen gestossen. Die Kerze aber fand sie nicht.

»Lotti, nun gib acht, wenn ich anzünde, ob du von dir aus nichts sehen kannst!«

Marianne strich; das erste Streichholz brach ab; das zweite fiel hinunter; das dritte löschte gleich.

»Du hast Angst«, sagte Lotti, die hinüber sah.

Endlich das fünfte Hölzchen brannte. Aber weit konnte Lotti bei dem schwachen Lichte nicht sehen.

»Lotti, wenn du aufstündest, könntest du bis an die Wand sehen«, schlug Marianne vor, während sie ein sechstes Hölzchen anstrich.

»Du kannst ganz gut selber aufstehen«, erwiderte Lotti »dann komm ich auch.«

Da der unheimliche Ton nicht mehr zu hören war, sprang Marianne tapfer mit einem weiten Satze aus dem Bett, und Lotti kroch auch heraus. Die Mädchen kauerten nun beide am Boden und sahen beim Schein eines neuen Streichholzes unter das Bett.

Plötzlich fing Lotti leise an zu lachen.

»Marianne, wir sind grässlich dumm –! Das ist ja Werners grosser Ball; der ist vielleicht ein wenig hin und her gerollt an der Wand, und das war der sonderbare Ton –!«

Die beiden Kinder guckten kichernd nach dem Ball, und Marianne, nun ganz übermütig, zündete drei Streichhölzer mit einander an, um recht zu sehen. Da auf einmal – fing der Ball an sich zu bewegen! Erst langsam, dann schneller kam er auf die Kinder zu mit einem unheimlichen Knistern und Rasseln.

Das war zu schrecklich. Marianne und Lotti fuhren entsetzt zurück.

»Ein Gespenst, Marianne – ein Gespenst –! Es kann sehr gut runde Gespenster geben!« schrie Lotti.

Die drei Streichhölzer erlöschten; Marianne lief im Finstern nach der Türe und stiess an den kleinen Tisch, so dass Bücher und Hefte auf den Boden fielen. Lotti schoss nach der andern Seite, gerade auf den Stuhl los, der mit Gepolter hinstürzte und auch den Puppenwagen mitnahm, in welchem Ella und Julchen ruhten. Lotti fuhr zurück, tat aber im selben Augenblick einen lauten Schrei, weil sie mit dem Fuss an etwas ganz Sonderbares, Stachliges gestossen war; das pickte wie mit zwanzig Nadeln! Sie machte einen Sprung und prallte an die Schwester – nun lag alles übereinander am Boden, Bücher, Stuhl, Puppenwagen, Ella und Julchen, Marianne und Lotti! »Mama, Mama –« schrien die beiden aus Leibeskräften und wagten vor Schrecken gar nicht aufzustehen.

Mama aber machte schon die Türe auf mit einem Lichte in der Hand.

»Ja, Kinder! Was ist denn das für ein Lärm –?« sagte sie und half den Mädchen und dann dem Stuhl auf die Beine.

»Ach, Mama, es – es ist etwas Grässliches in unserm Zimmer –« Lotti schluchzte und Marianne konnte auch kaum sprechen. »Zuerst war es bloss ein Ball und dann fing es an zu laufen und stach mich in den Fuss und warf den Stuhl um –« die Kinder wussten gar nicht, wie alles geschehen war.

»– und frass uns auf! – Grauenvoll, höchst grauenvoll!« sagte Papa, der nun auch im Schlafrock erschien. »Ihr seid angenehme Zimmernachbarn!«

»Papa, wenn du wüsstest –! Wir waren zuerst tapfer und haben nicht gerufen; aber es war zu furchtbar!«

»Ja, ja, ihr habt euch als Heldenjungfrauen betragen! Nun, wo befindet sich denn der geheimnisvolle Ball –?«

»Dort – dort ist er wieder –!« beutete Marianne in die Ecke.

Papa trat hin und fing an zu lachen.

»Nein, nein, Papa!« flüsterte Lotti. »Du musst nicht lachen. Wir haben auch gelacht. Da wird er böse und kommt auf dich los!«

Papa hörte nicht auf die Warnung seiner Tochter. Er nahm ein Handtuch doppelt und rollte die Kugel, die sich zurückziehen wollte, behutsam hinein.

»So, Kinder –! Dass er dich ein bisschen gestochen hat, glaub' ich, Lotti. Das liegt so in seiner Gewohnheit. Im übrigen ist er sehr harmloser Art.«

»Ein Igel!« rief Mama. Die Kinder streckten die Köpfe, und ihre Angst ging plötzlich in Vergnügen über. Sie knieten vor das wunderliche Tier hin, das Papa auf den Boden legte. Es war über und über mit gelbbräunlichen Stacheln bedeckt. Sein Kopf endete in eine spitze dunkle Schnauze mit feuchtem Näslein. Die kleinen schwarzen Äuglein, die im Lichte zwinkerten, sahen drollig und treuherzig drein. Manchmal fuhr der komische Kleine zusammen und pustete wie ein Hund. Papa schüttelte das Tuch, so dass der Igel auf den Rücken kam und man seine kurzen Beinchen mit den festen Krallen sah.

Lotti schloss das »runde Gespenst« sofort in ihr Herz. Immer wieder vergass sie, dass sein Fell kein Katzenpelz war und wollte streichelnd darüber fahren.

»Au!« schrie sie. »Aber er ist reizend! Marianne, sieh, wie er niedlich schnuppert!«

Papa gab dem Igel einen kleinen Stoss; das Tier zog Kopf und Beine gegen die Unterseite ein, so dass man rundum nichts mehr sah als die Stacheln.

»Jetzt macht er wieder den Ball, Papa!« riefen die Kinder.

»Ja«, sagte Papa, »und es ist ein Glück für ihn, dass er das kann. Wenn Hunde oder andere Tiere ihn angreifen, dann setzt er sich in Verteidigung, indem er nach allen Seiten seine kleinen Spiesse ausstreckt.«

»Was frisst er, Papa?«

»O, alles mögliche: Schnecken, Würmer, Frösche, Mäuse, und dann auch Obst –«

»Ja, meine lieben Leute, soll das eine Naturgeschichtsstunde geben mitten in der Nacht –?« unterbrach Mama. »Schnell, schnell in euere Betten, Kinder! Schlaft rasch ein und träumt schön von dem Stacheltier!«

Papa nahm den Igel, um ihn in den Garten zu bringen. Aber Marianne und Lotti baten flehentlich, dass man das nette Tier in die grosse leere Holzkiste tue, damit Hans es morgen doch auch sehe.

»Oder wollen wir ihn jetzt gleich herunter rufen?« fragte Lotti eifrig.

»Nein, Lotti, kleiner Hitzkopf! Morgen ist auch ein Tag. Da habt ihr immer noch Zeit, Hans die Igelgeschichte zu erzählen und euch auslachen zu lassen.«

»Papa«, sagte Marianne, »ich besinne mich immer, wie wohl der Igel in unser Zimmer gekommen ist!«

»Ja, darüber liesse sich nachdenken. Mach du jetzt schnell die Augen zu, Marianndel, dann fällt's dir vielleicht im Schlafe ein!« –

Am andern Morgen musste Hans zu allererst den Igel besehen. Als er dann die Gespenstergeschichte hörte, wollte er sich halb tot lachen.

»Das ist famos!« rief er. »Das ist famos! Wenn nur Fritz heute abend kommt, damit man ihm die Sache erzählen kann. Ihr seid Hasen – nein, was seid ihr für Hasen –!«

Auf einmal bekam er einen neuen Lachanfall; er setzte sich und schlug mit beiden Händen auf die Knie. »Jetzt weiss ich – jetzt weiss ich –«

Lotti und Marianne standen vor ihm.

»Tu doch nicht so!« sagte Lotti. »Was weisst du denn –?«

»Meinst du am Ende, Fritz habe den Igel – nein, das wäre doch zu arg!« unterbrach sich Marianne.

»Ja eben, das meine ich!« sagte Hans unter fortwährendem Lachen. »Das ist gar nicht zu arg! Das war ein feiner Einfall von Fritz!«

Als Fritz am Abend den Weg herunter kam, rannten ihm alle drei Kinder entgegen.

»Du hast's getan, Fritz! Du hast ihn in unser Zimmer gebracht!«

»Wen –? Was –?« Fritz versuchte, erstaunt auszusehen; aber es ging nicht lange, so gestand er seine Tat und erzählte, während er mit den Turnachkindern zu dem Igel ging, dass er ihn vom alten Lienhard erhalten hatte und dass er gestern abend schnell durchs Fenster in das Zimmer der Kinder gesprungen sei, um den Igel in eine Ecke zu setzen.

»Es hat seine Rolle gut zu spielen verstanden und listig gewartet mit Herumrascheln, bis ihr beide eingeschlafen seid!«

Der Igel befand sich jetzt in einem Verschlag im Garten; Papa hatte erlaubt, dass man ihn noch bis zum folgenden Tag behalte, wo Onkel Alfred erwartet wurde. Der Igel schien sich ganz behaglich zu fühlen und schnupperte an einem Stückchen Apfel, das Werner ihm gebracht. Der Kleine war den ganzen Tag nicht wegzubringen gewesen von dem Stacheltier, das so seltsam aussah und so komisch am Boden herumfuhr. Höchstens lief er vom Verschlag zu Mama, dass sie ihm noch einmal und noch einmal erzähle, wie das in der Nacht bei den Schwestern zugegangen sei.

»Wenn es einmal so raschelt unter meinem Bett, dann fürcht' ich mich gar nicht!« erklärte der Kleine. »Dann sag' ich bloss: ›Das ist ein Igel‹. Und dann zünden wir ein Licht an und gucken ihm zu.«

»Ja, mein Schatz«, lachte Mama. »Es fehlt gerade, dass man nun auch bei dir noch die Probe macht!«

Am zweiten Morgen aber war zur grossen Bestürzung der Kinder kein Igel mehr zu sehen! Es war ihm offenbar zu eng geworden, und in der Nacht hatte er, statt zu schlafen, unter einem Brette des Verschlages sich hindurchgegraben. Das Loch in der Ecke zeigte die Stelle. Auch im Garten war der Igel nicht mehr zu finden. –

Doch von ihrem nächtlichen Abenteuer mussten Marianne und Lotti noch lange hören.

Mitten drin, wenn die Kinder mit Fritz auf der Seemauer oder auf dem Waschhausdach plauderten, klopfte Hans mit einem Stöckchen und rief wie ein Lehrer in strengem Ton:

»Also jetzt wollen wir die Gespenster repetieren! Fritz Völklein, sage mir, wie viele Arten gibt es?«

Dann räusperte sich Fritz und antwortete mit der hohen Stimme eines Erstklässlers:

»Es gibt sechs Arten von Gespenstern: Lange, kurze, dicke, dünne, viereckige und runde!«

»Gut, Fritz Völklein«, sagte Hans ernsthaft. »Kannst du mir noch sagen, welches die grässlichsten von allen Gespenstern sind?«

Dann sah Fritz nach Lotti und krähte:

»Die grässlichsten Gespenster sind die runden!«


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