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Es wird Herbst.

Man merkte deutlich, dass der Sommer zu Ende ging. Auf den Äckern waren die weissen Rüben schon ganz gross. Die Birnen und Äpfel an den Bäumen leuchteten gelb und rot, und die blauen Zwetschgen hingen schwer herunter. Wo man ging und stand, gab es reifes Obst aufzulesen. Die Turnachkinder hatten immer die Taschen voll und konnten die Schulkameraden beschenken.

Es wurden allerlei Früchte eingekocht, und eines Tages, nachdem die Kinder immer gebettelt hatten, man möchte doch den Besuch im »Finkenbaum« machen, sagte Mama:

»Gut! Ziehen wir heut' nachmittag aus! Jedes nimmt ein Körbchen mit; zuerst geht's in die Brombeeren und dann in den ›Finkenbaum‹. Am Montag bringt mir zwar eine Frau einen grossen Korb Beeren. Wenn ich aber an meine Schleckmäuler denke, so scheint mir das nicht genug. Auch finde ich es nett für euch, die Beeren selbst zu pflücken. Im Winter, wenn es schneit, wenn im Ofen das Feuer brennt und ihr zum Abendbrot das Eingemachte esst, denkt ihr dann an den Waldhang, wo die dunkelgrünen Brombeerranken in schönen Bogen übereinander wucherten, wo es so herrlich nach Harz duftete und die lustigen Meisen in den Tannen auf und ab flatterten.«

Die Kinder klatschten freudig in die Hände. Am Nachmittag brach man beizeiten auf. Balbine übernahm das Schwesterlein, so dass Sophie auch mitkonnte. Den kleinen Werner wollte man erst zu Hause lassen, weil der Weg weit war. Aber er bat und bat:

»Mama, mich auch mitnehmen –! Ich möchte auch Brombeeren pflücken; bitte, bitte, Mama –!«

Er kam sich sehr wichtig vor, als er neben Marianne ging und sie ihm alle Orte zeigte, wo sie ihn gesucht hatte. Die lahme Christine war heute nicht zu sehen, wohl aber die gesprächige Frau; diese begrüsste mit vielen Worten Marianne und die ganze Gesellschaft und ging den Weg hinauf mit, bis sie Mariannes Geschichte vollständig vernommen hatte. Als man beim Wirtshaus am Walde ankam, war Werner sehr enttäuscht, den Mann mit dem Äffchen nicht zu sehen.

»Dann gehen wir jetzt zum bösen Hund, Marianne«, erklärte er und zog die Schwester erwartungsvoll vorwärts.

»Ach, du Dummerlein«, sagte Sophie. »Der Hund ist längst nicht mehr da, und es wird auch besser sein. Du würdest schön schreien, wenn er käme!«

Marianne hielt sich, als jetzt der Fussweg am Waldsaum begann, zu Mama. Es war so gut, im hellen Sonnenschein neben ihr denselben Weg zu gehen, den sie an jenem trüben Abend allein in Angst und Schrecken gegangen war. Da hingen wieder die roten und schwarzen Beeren büschelweise an den Sträuchern, und in der Wiese standen fein und schön die blassvioletten Herbstzeitlosen. Sogar der kleine Weiher war heute hell und spiegelte den blauen Himmel wieder.

Bei der Waldwiese, wo damals die zwei Männer gewesen waren, bog man rechts zum Brombeerschlag ab. Sophie kannte sich aus; denn sie hatte früher am Berge gewohnt.

»Wenn es an der Schleifhalde noch aussieht wie vor ein paar Jahren und man nicht etwa neu angepflanzt hat«, sagte sie, »so werdet ihr bald euere Körbe voll haben.«

Und richtig, die sonnige Schleifhalde war weithin überwachsen mit Brombeerstauden, die prächtige reife Beeren trugen. Ringsum aber stand der Wald, wie Mama ihn geschildert hatte.

Die Kinder fingen an zu pflücken, vergnügt und so eifrig, dass keines ans Naschen dachte. Nur Werner kam, als Mama ihn herrief, ein bisschen verlegen. In seinem Körbchen war kaum eine Handvoll Beeren. Sein Gesicht hingegen war schwarz gefärbt. »Ich habe gar nicht so viele gefunden –« versuchte der kleine Schelm sich herauszureden.

»So, so«, sagte Mama. »Ich glaube eher, die Beeren, die du gepflückt hast, haben nicht den rechten Weg gefunden. Statt ins Körbchen sind sie ins Mäulchen gegangen.« Mama lachte; sie mochte Werner wohl gönnen, dass er nach Herzenslust ass.

Als dann die Grossen herbeikamen, neckten sie Werner allerdings ein wenig.

»Schade, dass du nicht Jakobs Graskorb entlehnt hast; deine Brombeeren hätten dann besser Platz gehabt«, meinte Hans. »Wieviel Töpfe Eingemachtes gibt das wohl, Sophie, was Werner gesammelt hat?«

Mama aber trieb, dass man weiter wandere, wenn man noch in den »Finkenbaum« wolle. Die Kinder waren fast nicht wegzubringen. Immer entdeckte eines wieder einen Zweig mit besonders grossen schwarzen Beeren.

Endlich kam man zum »Finkenbaum«. Die alte Frau, die vor dem Hause Äpfel auflas, stand auf.

»Nein, was wär' jetzt doch das« rief sie. »Unser Stadtjüngferlein! So, so! Zeig, wie siehst du aus am hellen Tag –? An jenem Abend hat man fast nichts gesehen vor lauter Tränen. Und das ist allem Anschein nach das verlorene Brüderlein –?« Die alte Frau strich über Werners blonden Kopf.

Mama hatte zwei schöne buntseidene Taschentücher mitgebracht für den alten Mann, und für die Frau ein mürbes Kaffeebrot, das Balbine gebacken hatte.

»Ja, was denkt ihr auch!« rief die Frau. »Warum nicht gar! Das wäre nicht nötig gewesen! He nun, so will ich es nehmen und vielmal danken! Der Vater ist über Land gegangen. Er wird sagen, die Tücher seien viel zu schön für ihn. Aber wenn er am Sonntag eines nimmt, wird er allemal an das Kind denken, wie es da unten im Fuchstobel gesessen ist ...«

Die Frau hiess die ganze Gesellschaft in die Stube treten und begann dann, Frau Turnach zu erzählen von ihren Kindern, die längst erwachsen und in der Welt draussen waren.

Die Turnachkinder sahen sich in der Stube um, die so niedrig war, dass Mama leicht mit der Hand hätte an die Decke reichen können. Die Wände waren von braunem Holz; ihnen entlang liefen schmale Bänke. In der Ecke stand ein grüner Kachelofen mit einem Aufsatz. Hans dachte, es wäre nett, da herumzuklettern. An den kleinen Fenstern brühten rote Geranien.

»Stand der Teller mit den gerösteten Kartoffeln und der Kaffee dort auf dem grossen Tisch?« fragte Lotti, die alles genau wissen musste.

Marianne nickte. Halb kam ihr die Stube bekannt vor und doch wieder so anders als an jenem Abend.

»Bitte, dürfen wir jetzt noch den Bless sehen und den Wagen und die Vrene?« fragte Lotti, indem sie vor die alte Frau trat.

Diese nickte lachend, und die Kinder liefen mit Sophie zum Stall, wo der Bless neben zwei Kühen stand und vergnügt das Brot nahm, das die Kinder für ihn mitgebracht hatten.

Vrene stand dabei und fragte, ob die Kinder den Hühnerstall oder vielleicht die jungen Schweinchen sehen wollten.

»Ja, ja! bitte, die jungen Schweinchen! Schweinchen haben wir nicht zu Hause!«

Die Schweinchen lagen zu acht dicht bei ihrer Mutter; acht allerliebste Schweinchen, rosig und fett, mit kleinen Augen und niedlichen geringelten Schwänzchen. Werner geriet in lautes Entzücken.

»Nu, regt euch ein wenig, wenn ihr Besuch bekommt!« sagte Vrene und schlug mit einem Rütlein leicht auf die runden Tierchen.

Da fuhren sie schreiend und quieksend nach allen Seiten ihres engen Stalles und stiessen mit den komischen Nasen im Stroh herum. Es war zu lustig.

Werner wollte durchaus eines der Schweinchen auf den Arm nehmen, um es in die Stube zu Mama zu tragen.

»Du könntest es gar nicht halten, so würde es strampeln«, sagte Vrene. »Und dann sind das überhaupt keine Stubengäste.«

Mama kam jedoch selbst in den Stall, um die Schweinchen zu bewundern und die Kinder zum Aufbruch zu mahnen.

Die alte Frau brachte Marianne ein Büschelchen fein duftender trockener Lavendelblüten.

»Leg's in deine Kommode. Es riecht noch nach Jahren gut, und du kannst dabei manchmal an die alten Leute im ›Finkenbaum‹ denken. So kommet denn gut heim und kehret wieder einmal ein bei uns!«

Der Heimweg war weit. Sophie und Hans trugen abwechselnd den kleinen Werner, der das lange Gehen nicht gewöhnt war, auf dem Rücken.

»Wie früh es dunkelt!« sagte Mama, als man bei einer Biegung der Strasse auf die Stadt hinuntersah, wo die Lichter angezündet wurden. »Mich hat es fast traurig gemacht, wie ich droben am Walde eine Buche gesehen habe, die schon anfing sich bräunlich zu färben.«

Mama begann, mit Sophie über den Umzug zu sprechen, und die Kinder wurden ganz ernsthaft, als sie hörten, dass man in etwa drei Wochen schon die Seeweid verlasse. Ja, der kleine Werner, den die Müdigkeit etwas verdriesslich machte, fing plötzlich an zu weinen:

»Ich will nicht in die Stadt – huhuh –! Ich will in der Seeweid bleiben bei Frau Völklein – huhuh –«

»Ja, die würde eine Freude haben!« sagte Hans, der ihn gerade auf dem Rücken hatte. »Besonders, wenn du heulst wie jetzt. Überhaupt, wer so schreien kann, der kann auch wieder ein wenig gehen. Da –«, Hans stellte den Kleinen hin und nahm ihn an der Hand. Marianne fasste die andere.

»Links, rechts – links, rechts –!« kommandierte Hans. »Brust heraus, Leib hinein –! links, rechts – links, rechts –!«

Und halb lachend, halb weinend, schritt das Wernermännchen zwischen den beiden her, so weit er nur ausschreiten konnte mit seinen kleinen Beinen.

Am andern Morgen wurden die Kinder in aller Frühe geweckt. Vom See tönten laute, tiefe Hornstösse, dazwischen schrille Pfiffe, dann wieder Glockenschläge und ein lang gezogenes Heulen. Das setzte an, hörte auf und begann aufs neue.

»Marianne! Nebel! Nebel –!« rief Lotti und lief zum Fenster. Wie seltsam das war: Vom Berge, von den Dörfern drüben, vom See und dem Himmel sah man nichts. Ein weisser, dichter Dunst verhüllte alles. Gerade dass man den nahen Birnbaum und die junge Tanne im Garten noch erkennen konnte.

Die beiden Mädchen zogen sich schnell an. Hans war schon auf der Gartenmauer.

»Tüh, tütüh –« tönte ein Horn draussen. Es klang ganz unheimlich. »Bing, bing, bing –« antwortete eine helle Glocke.

Das Horn kam von einem Steinschiff, der Glockenklang von einem kleinen Schraubendampfer. Langsam, mit der grössten Vorsicht mussten die Schiffe durch den dichten Nebel fahren, der heute über See und Land lag. Alle Augenblicke konnte ein Zusammenstoss geschehen.

Die Kinder horchten hinaus; es war so geheimnisvoll, alle die Töne zu hören und nichts zu sehen. Einen Augenblick tauchte ziemlich nahe vor der Mauer riesenhaft mit schlaffem Segel am hohen Maste ein Steinschiff auf und verschwand im nächsten Augenblick wie ein Gespensterfahrzeug.

»Wenn wir nur hinausrudern dürften!« sagte Hans. »Ich würde meine kleine Pfeife mitnehmen; mit der müsstest du dann Zeichen geben, Marianne. Eigentlich sollte man das auch üben, wenn man am See wohnt!«

Da er aber wohl wusste, dass Mama für diese Art von Probefahrten nicht zu gewinnen wäre, begnügte er sich, mit den Schwestern den Nebel auf dem festen Lande zu durchstreifen. Es war ein Glück, dass Hans gerade heute erst um acht Uhr in der Schule sein musste. So konnte man zu dritt auf dem Wege ein lustiges Versteckspiel machen. Man lief auf dem freien Felde davon, bis in dem dichten Nebel keins das andere mehr sah. Man wirbelte sich ein dutzendmal im Kreise herum, stand dann still und wusste nun nicht mehr, ging es rechts oder links, vor- oder rückwärts zur Strasse hinauf.

Das war ein solcher Spass, dass man ihn etwas zu lange trieb. Von dem unsichtbaren Kirchturm schlug es schon viertel vor acht. Hans fing an zu rennen und rannte bis in die Stadt, so dass er gerade noch recht in die Klasse kam. Marianne und Lotti liefen auch, was sie konnten; aber als sie in ihr Schulhaus kamen, war's in den Korridoren schon ganz still. Glücklicherweise war Mariannes Lehrerin aufgehalten worden und trat eben erst aus dem Lehrerzimmer; so konnte Marianne noch hineinschlüpfen. Lotti öffnete etwas zaghaft die Türe ihres Zimmers. Fräulein Matthias stand schon vor der Klasse. Aber sie schaute Lotti freundlich an.

»Sieh, sieh! Hat Lotti Turnach doch auch den Weg durch den Nebel gefunden –! Du bist wohl froh, wenn ihr nun bald in die Stadt zieht?«

»Nein«, sagte Lotti. »Wir mögen den Nebel furchtbar gern. Er riecht auch so gut!«

Da lachte Fräulein Matthias und fing an, mit den Kindern vom Nebel zu sprechen. Über den Gassen der Stadt lag er ja auch. Alle, die etwas vom Nebel zu sagen wussten, hielten die Hand auf; aber so viel wie Lotti Turnach konnte keines erzählen.

Es folgten nun eine Reihe solcher Herbstmorgen, aus denen die schönsten, hellsten Tage wurden. Wenn die Kinder aus der Schule heimkamen, stand die Sonne am blauen Himmel; vom Nebel war keine Spur mehr zu sehen. Wohin war er geschwunden? Am Sonntag konnten die Kinder zusehen, wie das ging. So etwa um neun, zehn Uhr kam eine Bewegung in die weisse stille Luft. Sie wallte auf und nieder. Es wurde lichter und wieder trüb. Plötzlich sah man ein Stück vom Ufer drüben, eine Linie des Berges oder etwas Himmel. Alles wurde wieder verhüllt und erschien von neuem, wurde grösser – und dann auf einmal brach der helle Sonnenschein durch. Der blaue See wurde weit und das andere Ufer klar. Ein streifen feinen Dunstes zog noch da übers Wasser, dort an der Waldhöhe entlang; dann zerfloss und verging auch er.

»Fräulein Matthias hat gesagt, die starke Sonne mit ihren warmen Strahlen schlucke den Nebel auf«, erklärte Lotti, als die Kinder gegen Mittag auf den See hinausfuhren. »Jetzt scheint sie auf uns. Wenn sie uns nur nicht auch verschluckt!«

Hans und Lotti lachten.

»O, seid einmal beide ganz still, und Hans, hör' auf zu rudern!« bat Marianne und sah ringsum.

Hinter ihr lag die Seeweid mit der grauen Mauer, über die das purpurrote Laub des wilden Weines herunter hing. Drüben am Ufer blinkten die weissen Häuser aus ihren Gärten. Und fern ragte hinter den bläulichen Vorbergen das schimmernde Schneegebirge auf, so klar wie man es im Sommer selten sah. Es war, als ob jetzt zum Abschied noch alles sich doppelt prächtig zeigen wollte.

Am schönsten aber war es beim Sonnenuntergang, wenn die Schneegipfel in roter Glut sich vom reinen Himmel abhoben.

»Das ist unser liebes, schönes Heimatland, Kinder«, sagte Papa, als er am Abend mit ihnen draussen sass. »Ihr wisst noch nicht recht, was ihr besitzt. Erst wer einmal lange fort gewesen ist, fühlt ganz, wie er sein Vaterland liebt –«

Papa sah über den See zu den verglühenden Bergen hin, und die Kinder merkten, dass er an jene Zeit dachte, wo er viele Jahre in der Fremde gewesen war und bitteres Heimweh nach seiner lieben, schönen Heimat gehabt hatte.


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