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Mit den Phi Tong Luang unterwegs

Eine Schwierigkeit hatten wir damals noch nicht kennengelernt: den geheimnisvollen Wandertrieb der Phi Tong Luang, der sich unabhängig von den vorhandenen Lebensmitteln auswirkte. Obwohl wir unsere Urwaldfamilien mit Reis und Fleisch versorgten, sie also keine Nahrungssorgen bedrängten, waren sie nicht dazu zu bewegen, längere Zeit an einem Ort zu verweilen. Da gab es immer wieder Ausreden wie »Die Yumbri müssen ihre Verwandten suchen«, oder »Bruder wird den Bruder vermissen«, oder »Die Yumbri wollen Wurzeln suchen gehen« und dergleichen. Es gab keine andere Möglichkeit für uns, wir mußten mit ihnen ziehen.

Wir hatten aber keine Träger und brauchten außerdem Tsin Tsai als Verbindungsmann. Wie sollten wir nun den Häuptling und wie die anderen Meau, die wir als Träger benötigten, dazu bewegen, mit dem für sie völlig uninteressanten Völkchen im Urwald umherzuwandern? Sie alle hatten im Dorf und auf den Feldern dringende Arbeit zu verrichten, die für das Wohl ihrer Familien weitaus wichtiger war als etwa das Geld, das sie von uns bekommen hätten.

Da gab es unzweifelhaft nur einen Ausweg: Die Jagd. Bei den Meau fand dieser Vorschlag begeisterten Widerhall. Auch ihre Herzen sollte ich, wie die so mancher anderer Jägervölker, durch meine Büchse gewinnen!

Schon in den ersten Tagen unseres Beisammenseins hatte Tsin Tsai mit glänzenden Augen von seinen Jagderlebnissen erzählt. Er war nicht nur Häuptling, sondern auch der beste Schütze und Büchsenmacher des Dorfes. Keiner verstand es wie er, die schönen Steinschloßgewehre herzustellen, selbst die Läufe zu ziehen und Kugeln zu gießen und das Schießpulver aus Holzkohle und Salpeter, den man aus dem Kot von Fledermäusen löst, zu gewinnen. Aber auch mit der Armbrust, der wichtigsten und beliebtesten Waffe der Meau, und den vergifteten Pfeilen vermochte er jedes Wild zur Strecke zu bringen. Mein Hochrasanzgewehr erregte allgemeine Bewunderung. Tsin Tsai konnte sich nicht satt sehen daran und streichelte es liebevoll wie einen Schatz. Ja, ein solches Gewehr zu besitzen, das blieb von nun an der Wunschtraum seines Lebens!

Mit allen genauen Angaben schilderte Tsin Tsai den Standplatz eines Elefantenbullen. Am meisten aber lag ihm ein kapitaler Gaur (Bos gaurus) am Herzen, den einige Meau vor kurzem angeschweißt hatten. Er bat mich, mit ihm auf die, nicht mit Unrecht gefürchtete, Nachsuche zu gehen. Ich hatte die Bitte abgelehnt, da ich begreiflicherweise erst die Phi Tong Luang gesehen haben wollte. Aber nun griff ich zu.

Als die hellen Sterne schon über unserem Bergdorf funkelten, eilten wir hinunter in sein Haus, um mit ihm den Jagdzug zu besprechen. Nur der schwache Schein des glühenden Feuers beleuchtete den großen dunklen Raum, auf dessen Boden es so viele Kinder und Hunde gab, daß man achten mußte, sie nicht zu zertreten. Seine Frauen, Söhne und Töchter saßen auf hölzernen Bänken an dem langen schmalen Tisch und verzehrten eben das Abendbrot. Wir hockten uns mit Tsin Tsai und seinem Ältesten um das neuentfachte Feuer, und gründlich und mit Ruhe wurde die Angelegenheit erörtert, wie es so Sitte ist bei den Meau.

Einen Tag später war alles vorbereitet. Infolge des schwer gangbaren Geländes konnten nur kleine Traglasten befördert werden, und auch diese durften nicht zu zahlreich sein, da wir außer unseren beiden Lao nur 3 Meau als Träger zur Verfügung hatten. Das Zelt mußte zurückgelassen werden, unser Proviant beschränkte sich auf etwas Reis, Mais und geräuchertes Schweinefleisch, Tee und Zucker. Die Frauen brachten Kürbisse, Eier, Gurken und Zuckerrohr herbei, schließlich wurden noch Tabak und Opiumpfeifen fürsorglich in den Tragtaschen verwahrt. Photoapparate und Munition mußten sorgfältig ausgewählt und mit dem übrigen Arbeitsmaterial in einer Kiste verstaut werden.

Die Phi Tong Luang sahen still und mit sichtlichem Unbehagen unseren Vorbereitungen zu. Es war und blieb ihnen wohl ein Rätsel, warum diese Fremden so viel mit sich führten, wenn man doch nur mit einem Holzmesser und einer geflochtenen Tragtasche ausgerüstet ebensogut in den Dschungeln wandern kann! Uns wiederum schien es, als ob wir unsere Bedürfnisse bis auf das äußerste beschränkt hätten.

Zu den Phi Tong Luang hatte sich noch ein Bruder unseres Alten mit Frau und Tochter hinzugesellt, so daß wir nun insgesamt 20 Mann hoch in die Bergwildnis eindrangen. Meine Frau und ich = zwei Europäer. Bun Ma, Nam Som und unsere zwei Burschen = 4 Lao, Tsin Tsai, dessen Sohn und 3 Träger = 5 Meau und 9 Phi Tong Luang. Es waren somit vier Nationen vertreten, und unser kleiner Trupp spiegelte so recht Hinterindiens Völkergemisch wieder.

Der Aufbruch am Morgen zog sich bedenklich in die Länge, da jeder, den Sitten seines Volkes gemäß, zu einer anderen Zeit seine erste Mahlzeit einnahm, und wenn die einen ihr Mahl beendet hatten, die anderen damit begannen. Ich war daher als oberster Befehlshaber der Gruppe genötigt, sofort einheitliche Tageszeiten für die Mahlzeiten festzusetzen.

Es war im übrigen interessant zu beobachten, wie im Verlauf des gemeinsamen wochenlangen Wanderns und weiterer Anordnungen diese keineswegs von allen meinen Begleitern in gleicher Weise beobachtet wurden. Die Primitivsten, die Phi Tong Luang, zeigten überhaupt nicht das Bestreben, sich unterzuordnen oder einem Befehl Folge zu leisten. Sie leisteten auch keinen aktiven Widerstand, sondern handelten schließlich so wie die anderen, wenn es unbedingt nötig war. Die Lao wieder, als Vertreter eines Kulturvolkes, von dem man vielleicht am ehesten ein Verständnis für das, was wir Disziplin nennen, erwarten könnte, nickten zwar gehorsam und einsichtsvoll mit einem rasch erlernten »Yes, Sir«, taten aber dann keineswegs immer was man sie geheißen hatte. Auf die Meau hingegen konnte man sich unter allen Umständen verlassen.

Das Gelände war außerordentlich schwierig zu begehen. Ich schritt mit meiner Frau und Tsin Tsai, der alle Mühe hatte mit seinem Haumesser den Durchgang durch den widerspenstigen Urwald zu erzwingen, pirschend weit voran. Der Weg besserte sich, sobald wir der Kammlinie eines Berges folgen konnten. Da hatten wilde Elefanten, Büffel und anderes Wild breite, straßenartige Wechsel getreten. Aber auch hier hatten wir alle Mühe, unserem Führer zu folgen, denn die Wanderart der Meau erinnert mich sehr an die der Renntierlappen: Sehr rasches Gehen, daß einem der Schweiß aus allen Poren bricht und das Blut in den Schläfen pocht, wechselt mit häufigem Rasten ab und spricht jeder europäischen Bergsteigertechnik Hohn.

Da hörten wir plötzlich ein nahes Brechen im Bambus. Flüchtig gingen zwei Elefanten ab. Wir verfolgten die Spuren und fanden auch kleine runde Fährten, die neben den großen liefen – das Junge hatten wir gar nicht gesehen. Wir kamen vom Weg ab. Da erhob sich plötzlich über uns ein lautes Rauschen und Rascheln, die Kronen der Bäume schwankten und bogen sich, Blätter, Äste und Früchte fielen auf uns herab – eine Affenherde schwang sich mit lautem Getöse über unsere Köpfe hinweg! Ein prachtvoller Anblick, wie die 50 bis 60 großen Tiere in mächtigen Sätzen hinwegstieben, wie die Jungen sich an die Mütter klammerten und die Älteren ängstlich nachsprangen. Plötzlich hielten sie still – ein rascher Blick fiel auf uns, dann begann die wilde Jagd von neuem, bis wir nur mehr von ferne das aufgeregte Schreien und Rufen vernahmen.

Nun war Tsin Tsai in seinem Element! Wie glänzten seine Augen, wie behend war sein Gang, wenn er so, den Vorderlader in der Rechten, das Pulverhorn über der Schulter, vorsichtig durch die Dschungel schlich! Er kannte die Salzlecken und Suhlen seiner einsamen Berge, die Standplätze und Wechsel aller Tiere. Jedes Geräusch gab ihm sichere Kunde, jedes abgebogene Blatt verriet ihm ein Geheimnis. Er kannte alle Vogelstimmen, pfiff die Lockrufe der wilden Hühner und Tauben, ahmte die zitternden Laute der langarmigen Gibbons täuschend ähnlich nach und schüttelte dazu die Bäume, um die geselligen Tiere zu täuschen und anzulocken. Ich kam mir in seiner Gesellschaft wie ein unerfahrener Junge vor. Obwohl Tsin Tsai doppelt so viel trug als ich und auch viel älter war, hatte ich alle Mühe ihm nachzukommen, so rasch war sein Schritt, so behend sprang und kletterte er über Berge und Felsblöcke. Nein, das Opiumpfeifchen, das er sich jeden Abend schmecken ließ, hatte seiner Leistungsfähigkeit keinen Abbruch getan.

Steil ging es einen Hang hinunter bis zu einem kleinen Bach, den die Eingeborenen Nam Po nannten. Hier wollten wir die anderen erwarten. Endlich, nach drei Stunden kamen sie daher. Bun Ma konnte nicht genug erzählen, welche Mühe es gekostet hatte, die Phi Tong Luang vorwärtszutreiben. Sie wären geradezu durch den Wald geschlichen und hätten über die Lasten geklagt, die man ihnen auf den Rücken gebunden hatte.

Es war schon zu spät, um weiterzugehen und wir schlugen rasch ein flüchtiges Lager auf. Am wärmenden Feuer, auf dem unser Teetopf brodelte, bei Reis und Räucherfleisch erwachten unsere Kräfte wieder. Je größer die Strapazen, desto köstlicher dünkt einem das harte Lager, ja jeder Schlupfwinkel unter einer Zeltplache.

Am nächsten Morgen trennte ich mich mit Tsin Tsai und Bun Ma von der Gruppe der anderen, die mit meiner Frau auf dem kürzesten Weg einen bestimmten Platz erreichen und dort ein Standlager für einige Tage errichten sollten. Wir aber begannen mit der Nachsuche des Gaurbullen und gelangten bald an die Stelle des Anschusses. Die tiefen Fluchtfährten waren zwar leicht zu verfolgen, die Schweißspuren aber verschwanden, und so vorsichtig mein Führer auch, auf dem Bauche kriechend, jedes Blatt musterte, so ließ sich bald erkennen, daß der Gaur augenscheinlich nur angekratzt worden war. Außerdem führte die Fährte in einen dichten, von dornigen Rankpflanzen durchzogenen Bambuswald hinein. Von einem Ausschuß war dort keine Rede, auf 10 Meter Entfernung hätte man einen Elefanten nicht ansprechen können. Unter diesen Umständen einem alten, schon an und für sich griesgrämigen Einzelgänger zu folgen, der durch eine Verwundung aufs äußerste gereizt, uns zweifellos auf ganz kurze Entfernung annehmen würde, wäre geradezu Selbstmord gewesen.

Ich sagte Tsin Tsai meine Meinung, doch er widersprach lebhaft. Er erklärte, daß sein Jagdgeist im Wege eines Ordals ihm Ratschläge erteilt hätte. Ist es doch bei den Meau üblich, vor jedem Unternehmen irgendwelcher Art das Ordal zu Rate zu ziehen. »Ein ganzes Schwein habe ich geopfert, um ganz sicher zu sein«, fügte er mit Nachdruck hinzu. Seinen Geistern durfte ich nicht widersprechen, andererseits hatte ich aber keine Lust, mich vom Gaur zu Brei stampfen zu lassen, wie es mir »meine Schutzgeister« zuflüsterten. So sagte ich: »Ich glaube deinen Geistern und bin sicher, daß dir kein Unheil droht, doch habe ich meinen Jagdgeist befragt, und er hat mir gesagt, daß er sich in die Wolken begeben müsse und mir nicht helfen könne. Er rate mir daher, lieber von einer Verfolgung Abstand zu nehmen.« Dies erschien Tsin Tsai verständlich, und so kehrten wir um und trachteten, den neuen Lagerplatz noch vor Anbruch der Dunkelheit zu erreichen.

Das Lager lag im dichten Bambuswald oberhalb eines kleinen Baches. Aus den mächtigen Blättern der Fächerpalmen hatten sich die Phi Tong Luang ihre »Nester« errichtet (Abb. 50), dort die Meau und hier die Lao ihre Windschirme erbaut, und in der Mitte stand unser »Haus« (Abb. 53): Eine Zeltbahn, über eine Bambusstange gespannt, schützte gegen den nächtlichen Waldregen, die offenen Stirnseiten waren mit Blättern verkleidet. Als Sitze dienten uns Bambusbündel, als Betten ein Lager aus Blättern mit Moskitonetz. Unser Tisch war die Erde, und Sträucher und Bäume unser Mobiliar. So lagerten wir, alle nach Volksstämmen getrennt und doch zu einer festen Gemeinschaft geeint, um der Wildnis und ihren Gefahren zu trotzen. Dazwischen brannten große Lagerfeuer. Haufen von trockenem Bambus lagen neben jedem Feuer bereit, um des Nachts beim Herannahen von wilden Tieren die Glut rasch zu meterhohen Flammen entfachen zu können. Denn den Eingeborenen bereitete die Tatsache Sorge, daß das Lager sich mitten auf einem Elefantenwechsel befand. Da sei man nicht sicher, ob einen nicht eine Herde, zumal Kühe mit Kälbern, annehme.

Lustig war es zu sehen, wie die Vertreter der verschiedenen Völker aßen: Wir mit Messer und Gabel, die Phi Tong Luang mit den Händen wie Affen (Abb. 57), die Lao mit Holzlöffeln und die Meau mit Eßstäbchen nach chinesischer Art.

Mit der Zeit aber verwischte sich der Unterschied immer mehr und wir lebten selbst wie die Eingeborenen. Wir aßen kalten Klebreis, zu Knötchen geknetet, mit den Händen, verschlangen hungrig große Brocken von halbgeräuchertem Wildschweinfleisch, tranken aus gefalteten Blättern, kochten in Bambusgefäßen, rauchten Blätterzigarren und – fühlten uns recht wohl dabei.

Nur die Plage mit den Blutegeln ging uns stark auf die Nerven. Auch in der trockenen Jahreszeit halten sich diese Blutsauger an den feuchten Stellen des Urwaldes auf. Sie lauern auf Blättern, kriechen, ihren Körper steil in die Höhe krümmend, über die feuchte Erde und saugen sich in ganzen Klumpen an den nackten Füßen der Eingeborenen fest. Selbst durch unsere Wickelgamaschen fanden sie den Weg und kletterten über unsere Kleider hinweg, bis sie Hals oder Brust erreichten. Wir rückten ihnen mit Salz, Tabak oder Asche zu Leibe, und Tausende von ihnen fanden den Tod, als wir den Boden um unser Lager herum abbrannten.

Etwa 500 Meter von unserem Lager entfernt entsprang mitten im geschlossenen Urwald eine Salzquelle, an der wir nun unser Jagdglück versuchen wollten.

Nachmittags brachen Tsin Tsai, meine Frau und ich auf, um noch vor Eintritt der Dunkelheit einen Unterstand zum Übernachten an der Suhle zu errichten. Man konnte sich keinen idealeren Platz denken! Im Umkreis von etwa 100 Metern waren die Bambusstauden niedergebrochen, der Waldboden hartgestampft und unzählige Fährten von wilden Elefanten, Gaur, Hirschen, Muntjak, Affen und kleinem Raubzeug bedeckten den morastigen Boden am Rande der Suhle. Selbst der König der Dschungel war mindestens in zwei Exemplaren vertreten. An einer Stelle aber sah der Boden wie ein frischgeackertes Reisfeld aus, da war keine Fährte von der anderen zu unterscheiden. Im Schutz eines dichten Bambusgehölzes bauten wir uns am Boden einen dürftigen Beobachtungsstand, von dem aus wir die Suhle bei gutem Wind leicht überblicken konnten. Bald saßen wir unbeweglich in Decken gehüllt und warteten.

In lautloser Stille senkt sich die Dämmerung herab. Eine Eidechse läuft über meine Knie. Dann beginnt ein Frosch sein quakendes Lied, ein zweiter und immer mehr, und mit einem Male beginnt jenes ohrenbetäubende Konzert der Millionen Frösche und Zikaden, das der nie vergißt, der es einmal vernommen hat. Vogelstimmen erheben sich in den Kronen der Bäume, ein Specht hämmert an seinem Stamm, Haselhühner senden ihr trillerndes Lachen in den dunklen Abend hinaus und ein Nashornvogel krächzt dem andern zu.

Ein wundervoller Vollmond zieht langsam seine stille Bahn auf wolkenlosem Firmament. Da steht auf einmal ein Rudel Hirsche an der Suhle, langsam senken sie die Äser zum Wasser herab – das Leittier aber äugt unruhig zur Seite. Unvermittelt gehen die Hirsche flüchtig ab. Bald darauf trollt ein mächtiger Keiler daher. Tsin Tsai, der nicht versteht, warum ich nicht schieße – ich habe es nur auf einen Gaur abgesehen – zittert vor Aufregung. Als ich ihm bedeute, sich ruhig zu verhalten, setzt er sich resigniert auf seine gekreuzten Beine, lehnt sich an den Stamm und ist im Nu eingeschlafen.

Auch der Keiler bleibt nicht lang. Plötzlich aber sehen wir drüben am Wasser dunkle Massen vor uns stehen. Elefanten! Haben sie unsre Lagerspuren gekreuzt? Gespannt spähen wir hinüber. Geisterhaft still stehen die schwarzen Kolosse. Wie sind sie nur herangewechselt, ohne daß wir auch nur das Brechen eines Zweiges vernommen haben? Sie sind völlig sorglos, denn Menschen leben hier keine, und welches Raubtier würde es wagen, mit einer Elefantenherde anzubinden? So lassen sie sich Zeit. Da wirft der Mond sein volles Licht auf das unvergeßliche Idyll. Es sind Kühe mit ihren Kälbern, auch ein halbwüchsiger Bulle ist an seinen spannlangen Stoßzähnen zu erkennen. Die kleinen Kälber quietschen und prusten, die großen Tiere sind immer noch nicht zu hören. Ich blicke auf Tsin Tsai, doch er schläft, unbeweglich wie eine Pagode.

Da raschelt es über uns. Gegen den nächtlichen Himmel heben sich die Umrisse einer Tigerkatze ab, die zu uns herabäugt. Sie als einzige traut dem Frieden nicht recht und verschwindet im Augenblick, da meine Frau eine Bewegung macht.

Immer höher steigt der Mond, und lautlos, wie sie gekommen, verschwinden die Elefanten im Bambusdschungel. Wieder liegt die Nacht in tiefem Frieden über uns.

In der Ferne ertönt auf einmal das heisere Gebrüll eines hungrigen Tigers. »Uah, uah« – wie anders klingt der Kampfruf doch im Urwald hinter Palmenblättern als hinter Eisengittern! Haben die Tiere der Wildnis den Ruf vernommen? Eine Stunde vergeht, ohne daß wir ein Wild erblicken, in silbernem Licht, spiegelglatt, liegt die Suhle da. Da steht ganz unvermittelt ein dunkler Koloß am Ufer. Das Nachtglas am Auge, erlebe ich eine freudige Überraschung: Es ist ein Gaur, ein mächtiger alter Einsiedler mit weitausladender Trophäe. Ganz langsam greife ich nach dem Gewehr, meine Frau preßt die Stirne gegen ein Loch der Blätterwand. Ich finde die Ausschußöffnung. Der Bulle steht spitz auf mich zu, und ich kann nicht ausnehmen, wie er das Haupt hält. Unter solchen Umständen zu schießen ist aussichtslos, denn ohne Hund ist im Urwald kein angeschweißtes Stück aufzufinden. Unendlich lange scheine ich schon im Anschlag zu liegen. Da wendet sich der Stier zur Seite, und fast im gleichen Augenblick lasse ich, auf den Träger abkommend, fliegen. Der Donner des Schusses zerreißt die Nacht, wir halten den Atem an vor Spannung. Man hört den Fall eines ins Wasser stürzenden Körpers, ein Plätschern und Stampfen, dann braust es hoch, und mit starkem Brechen schließt sich der Urwald hinter dem flüchtenden Riesen. Ich stoße Tsin Tsai an, um ihn nach seiner Beobachtung zu fragen, da fällt sein Körper zur Seite, und es stellt sich heraus, daß er den Schuß – verschlafen hatte! Mit solchen Nerven können wir Europäer nicht konkurrieren.

Still bleiben wir noch in unserem Versteck, der Mond versinkt, es wird dunkel. Nebel senkt sich herab. Waldregen rieselt von den Bäumen. Wir nicken ein. In der Morgendämmerung spaziert ein einsames Dschungelhuhn über den Schlamm. Wir machen ein kleines Feuer, um uns zu erwärmen und endlich die beißenden Mücken und Sandfliegen loszuwerden. Erst um 8 Uhr bricht die Sonne durch den Nebel.

Wir eilen zum Anschuß. Hier ist der Gaur gestanden, dort sind seine Fluchtfährten. Tief in das Erdreich haben sich seine messerscharfen Schalen eingegraben und nun – der erste Schweiß. Leicht ist es, der Fährte zu folgen, und vorsichtig zwänge ich mich durch Bambus und Stechpalmen vorwärts. Schon nach kaum 20 Schritten starrt mir eine schwarze Masse entgegen. Sie bewegt sich nicht, es ist das so heiß begehrte, seltene Wild, ein kapitaler Gaurbulle, der im Sturze Lianen und Bambus zerschlug.

Bald kamen einige Leute aus unserem Lager herbei. Mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit und Ausdauer zerlegte Tsin Tsai mit seinem Haumesser die riesige Beute. Zwei Meau halfen ihm beim Abziehen der Haut und Reinigen der Gedärme, aber die Hauptarbeit leistete er, der Häuptling.

Unzählige Male gingen die Männer hin und her, um das Fleisch, das kein Ende nehmen wollte, ins Lager zu schaffen. Nach langem Zureden kamen auch die Phi Tong Luang daher, um zu helfen. Kopfschüttelnd sahen sie zu und meinten, daß sie das Fleisch nicht essen würden, weil sie es noch nie gegessen hätten. (Später aber konnten sie nicht genug davon bekommen!) Hilflos standen sie da, untätig, unfähig Hand anzulegen. Ihre Passivität stand in krassem Gegensatz zu der sicheren Geschicklichkeit der Semang, ja aller anderen Naturvölker, denen wir begegnet waren. Lachend schnitten die Meau das Fleisch in Stücke, drehten Stricke aus rasch gespaltenem Bambus, befestigten das Fleisch an langen Stangen, legten diese den Phi Tong Luang auf die Schultern und riefen: »Marsch, nun geht!« Da setzten sie sich langsam in Bewegung.

Dieses Verhalten konnten wir bei den Phi Tong Luang immer wieder beobachten. Schaffte man ihnen etwas an, so sagten sie: »Das können die Yumbris nicht!« Erst wenn es ihnen vorgemacht wurde, versuchten sie es. Ob wir dieses Verhalten nun einer Indolenz, einer Hilflosigkeit oder Ungeschicklichkeit zuschreiben mögen, auf alle Fälle drängt sich die Frage auf, wie es nur möglich ist, daß diese unbeholfenen Menschen imstande sind, sich in der Wildnis fortzubringen? Man kann diese Frage nur dahin beantworten, daß wir, die die Anspruchslosigkeit dieser Primitiven kaum begreifen können, die Härte des Urwaldlebens immer noch überschätzen, andererseits aber, daß diese Primitiven so ausschließlich für den engen, aus ihrem Dasein erwachsenen Wirkungsbereich spezialisiert sind, daß sie sich eben schon an die geringen aber immerhin neuen Erfordernisse, die unser Erscheinen mit sich brachte, nicht anpassen konnten und ihnen völlig verständnislos gegenüberstanden. Die Tatsache aber, daß sie ihr Leben im Urwald bis heute fristen konnten, beweist, daß sie dennoch gerade soviel Intelligenz und Fähigkeiten besitzen, wie es für ihr Nomadenleben im Urwald nötig ist.

Im Lager war schon alles emsig bei der Arbeit. Aus Bambus wurden zwei Räuchergerüste erbaut, das Fleisch daraufgelegt und darunter ein schwälendes Feuer entfacht. Wieder sahen die Phi Tong Luang nur schweigend zu. Erschöpft vor Müdigkeit warfen sich die braven Meau bald auf ihr Lager. Nur zwei Feuerhüter hielten Wacht.

Auch wir sind müde, als wir endlich an einen Baumstamm gelehnt vor unserer Laubhütte sitzen und unsere Blätterzigarren rauchen. Wie Bauern, die, müde von der Tagesarbeit, sich abends mit einem Pfeifchen auf der Bank vor ihrem Häuschen ausruhen. So denken auch wir, wenn es dunkel wird, nur daran, ob der Tag wohl gut genützt war und freuen uns darauf, sobald die Sonne aufgeht, wieder an die Arbeit schreiten zu können. So einfach scheint das Leben hier in den freien Bergen, so leicht, so ruhig!

Ein tierisches Gebrüll weckt uns aus unseren Träumen. Es ist Tulug, der sein abendliches Konzert beginnt. So still er sich auch tagsüber verhält, abends wird er plötzlich lebendig. Da wirft er immer wieder trockenen Bambus in die Flammen, bis sie lichterloh brennen und große Mengen Asche hinterlassen, die als Schutz gegen Insekten und Kriechzeug sorgfältig am Boden des Lagers ausgebreitet wird. Die Flammen dienen aber auch zur Abendtoilette. Drüben im Windschirm der anderen Phi Tong Luang sitzen Mutter und Tochter vor dem Feuer, neigen die Köpfe über die hellen Flammen und reiben die Kopfhaut und die langen Haare. Auf diese Weise fallen Ungeziefer, Staub und Schmutz ins Feuer, und die Kopfwäsche ist beendet.

Tulug aber macht es gründlicher. Er steht dicht neben den Flammen, reibt seinen ganzen Körper ab, streckt die Beine und Oberschenkel fast in das Feuer hinein. Hierbei wird aller Schmutz verbrannt und vor allem auch die Körperhaare, die zu haben als unschicklich gilt. Dann zieht er sein rotes Lendentuch, das er von uns erhalten hat, einige Male durchs Feuer. Somit ist auch dieses »gereinigt«.

Nun beginnt er seine »Feuertänze« aufzuführen, wie wir seine etwas schwerfälligen akrobatischen Verrenkungen zu nennen pflegen. Er schreitet um das Feuer herum und springt dann in weitem Bogen darüber hinweg. Immer wieder entfacht er die Flammen von neuem und hüpft durch sie, gerade wie es unsere Burschen an Sonnwendfeuern tun. Es ist erstaunlich, wie weit er sich dabei den Flammen auszusetzen vermag. Eine große Schmerzunempfindlichkeit, die wir auch anläßlich von Verletzungen schon bemerkt haben, dürfte auch hier vorhanden sein. Mit gegrätschten Beinen steht er dann da, wiegt seinen Körper hin und her und stößt mit überlauter Stimme seine barbarischen Gesänge aus. Der Vater sieht bewundernd zu seinem Sohne auf und sagt: »Der Vater kann nicht so schön singen, aber der Sohn, der kann singen.« Davon sind wir nun auch völlig überzeugt und fragen diesen, was das für ein Lied sei. Das weiß unser Caruso aber selbst nicht, und es ist uns auch nicht möglich gewesen herauszubekommen, ob er überhaupt Worte gebrauchte. Ich glaube viel eher, daß es nur Laute waren, die ihm genügten seiner Herzenslust freien Lauf zu lassen.

Dann legt Tulug sich endlich auf seine Pritsche. Noch aber ist er nicht müde. Er nimmt seine Bambusgitarre zur Hand und schlägt mit einem Holzstab auf die Doppelsaite. (Abb. 64.) Es ist die Musik, die diesen Kindern der Wildnis als einziger Kunstausdruck gegeben ist.

Während im Lager schon alles schläft und nur die zarten Töne zu uns herüberschwingen, blicken wir noch still in unser nächtliches Feuer. Dieses Feuer, dessen lodernde Schönheit und geheimnisvolle Stärke wir Menschen der Zivilisation schon längst vergessen haben. In den weiten Dschungeln aber hat es noch seine ursprüngliche Bedeutung. Es wärmt und spendet Nahrung, es reinigt und vertreibt die Insekten, es rettet vor Blutegel und giftigen Skorpionen, es tötet Krankheitskeime und ist das flammende Sinnbild eines Gottes, der es den Menschen gegeben hat. »Wo Feuer ist, da laß dich ruhig nieder«, so heißt des Urwaldwanderers Spruch.

 

Eines Nachts weckt uns das Bellen eines kleinen Phi-Tong-Luang-Hundes. Wir blicken durch die schüttere Blätterwand unserer »Hütte« und sehen, wie sich die Phi Tong Luang in ihrem Windschirm aufrichten. Einer ergreift den bereitliegenden trockenen Bambus und wirft ihn auf die Glut. Sofort leuchtet eine meterhohe Stichflamme auf. (Abb. 52.) Die Phi Tong Luang legen sich wieder nieder, und auch wir schlüpfen wieder unter unsere Moskitonetze, um zu schlafen. Da hören wir Tiere auf unser Zelt zuwechseln, augenscheinlich Wildschweine. Sie machen sich irgend etwas zu schaffen und verschwinden wieder, bevor ich mich entschließe, mein bereitliegendes Gewehr zu ergreifen. Am nächsten Morgen stellen wir fest, daß es keineswegs Wildschweine gewesen waren, die unser Lager umschlichen hatten, sondern daß ein kapitaler Tiger Jagd auf die Phi Tong Luang gemacht hatte! Der kleine Hund warnte sie durch sein Bellen, und die Urwaldmenschen wehrten sich mit der einzigen Waffe, die dem Menschen seit urvordenklicher Zeit zur Verfügung steht: mit dem Feuer. Tatsächlich war es auch in diesem Falle gelungen, den Tiger in die Flucht zu schlagen. Doch wir hatten keine Feuer entzündet, der Tiger pirschte sich daher an unser Zelt an und umkreiste es. In unserer unmittelbaren Nähe fanden wir seine Fährten. Irgend etwas mußte ihm aber nicht gepaßt haben. Vielleicht war ihm die Zeltbahn etwas Fremdes, dem er mißtraute, vielleicht aber – rochen wir anders als die Phi Tong Luang, jedenfalls war er verschwunden, ohne Unheil angerichtet zu haben.

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Abb. 55. Ein Phi Tong Luang schlägt Feuer mit Eisen und Stein

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Abb. 56. »Tulug« mit seiner kleinen Schwester und der Tochter seines Vaterbruders. Das Fleisch des von uns erlegten Büffels wird im Bambus gekocht …

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Abb. 57 … und mit den Händen gegessen. Auf dem Tisch, aus grünen Blättern des Waldes, liegt der gekochte Reis

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Abb. 58. Aus Bast-, Rotang- oder Bambusstreifen stellt der Phi Tong Luang Bindfaden her, indem er die Fasern mit der flachen Hand auf dem Oberschenkel eindreht

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Abb. 59. Meau haben die Phi Tong Luang gelehrt, Matten und Körbe aus Rotang herzustellen

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Abb. 60. Ein Phi Tong Luang bringt den Geistern das tägliche Opfer dar und bittet sie um ihren Schutz

Wir waren froh, als endlich Leute aus dem Meaudorf kamen, um das viele Büffelfleisch abzuholen. Denn unsere Gefolgschaft konnte nur einen kleinen Bruchteil davon verzehren, meine Frau und ich aber hatten uns bereits die Zähne daran ausgebissen und zogen das zarte Filet eines Muntjaks vor, den ich erlegt hatte. Der viele Rauch und der Gestank des Fleisches verpestete die Luft im Lager in einer unerträglichen Weise.

Nun herrschte plötzlich lustiges Leben in unserem stillen Waldlager. Fünf Burschen und sechs Mädchen waren gekommen, alle frisch und gesund, mit ihren Tragkörben auf dem Rücken. Auch ein paar kleine Knirpse liefen den weiten Weg vom Dorfe zu uns, darunter Lü, der siebenjährige Sohn Tsin Tsais, der mit seinem kleinen Vorderlader schon zwei Hirsche geschossen hatte. Die Mädchen kicherten und lachten, und ihre weiten kurzen Röcke flogen hin und her, wenn sie mit flinken Bewegungen Wasser holten, um Reis zu kochen. Bun Ma war in seinem Element. Mit strahlendem Gesicht saß er, der Herzensbrecher und Strohwitwer auf Reisen, unter den schmausenden Mädchen und erzählte ihnen scheinbar recht nette Dinge, denn eine helle Lachsalve nach der anderen dröhnte in den Wald hinaus. Nun war alles Wild auf lange Zeit verscheucht.

Auch May, die Schönste des Dorfes, war mitgekommen und warf allen Männern kokette Blicke zu. Stolz war ihre aufrechte Haltung, hübsch ihr Gesicht und kräftig ihre wohlgeformten Beine. Doch Bun Ma, der nicht mit Unrecht ein wenig Gunst erhoffte, blitzte auch diesmal ab. Mit einem etwas schadenfrohen Lächeln schlüpfte May unter die große wollene Decke eines jungen Meauburschen, und bald ruhte die Meaujugend eng aneinandergeschmiegt unter dem langen Blätterdach. Bun Ma aber summte ein altes siamesisches Liebeslied vor sich hin.

Es dauerte lange, bis am nächsten Morgen alle Körbe gefüllt und die Lasten verteilt waren. Nicht ein Krümchen des kostbaren Fleisches ging verloren. Man kann sagen, daß so ein Büffel mit »Haut und Haaren« von den Meau verzehrt wird. Denn nicht nur die Gedärme und Magenwände werden gegessen, sondern auch die 4 cm dicke Haut, die erst tagelang im Bache eingeweicht, dann in Stücke geschnitten und geräuchert wird. Die Galle aber und die Hoden werden getrocknet und als Medizin verwendet.

Tsin Tsai sah nach dem Rechten, damit kein Knabe zu schwere und kein Mann zu leichte Last erhielte. Hier stopfte sich ein Bursche noch schnell Reis in den Mund, dort wusch sich ein Mädchen noch rasch die Beine oder band sich ihre lange Schürze fester, die über das kniefreie weite Röckchen fällt. Eine andere rollte geschickt ein Turbantuch zusammen, um es als Unterlage für den harten Rückenkorb zu verwenden. Ein kleiner Knirps wog prüfend seinen fleischgefüllten Korb. Ein Bursche bediente sich des »fließenden Wassers« zum Händewaschen. Er hielt ein langes, mit Wasser gefülltes Bambusrohr zwischen seine Knie geklemmt, hob und senkte es durch Beugen oder Strecken des Körpers, daß gerade soviel Wasser auf die daruntergehaltenen Hände rieselte, als er zum Waschen benötigte.

Dann endlich winkten sie ein letztes Lebewohl, und bald waren die munteren Stimmen im Bambuswald verklungen.

Am nächsten Morgen brachen wir auf, und wieder ging es weiter durch jenes Halbdunkel, das der Lebensraum »unserer Kinder« ist.


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