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Die Toteninsel

Wenn der Ethnologe beabsichtigt, Herkunft und Zugehörigkeit eines Volkes zu bestimmen, wird er wohl zuerst daran gehen, die Kulturelemente dieses Volkes zu sammeln, sie mit den bereits bekannten anderer Völker vergleichen, um daraus Schlüsse zu ziehen. Denselben Weg wird er auf dem Gebiet der Sprache gehen. Doch sowohl Sprache wie Kultur können im Laufe der Zeit infolge Vermischung mit anderen Völkern fremde Elemente in sich aufgenommen, ja sich vollständig geändert haben und sind daher allein nicht mehr imstande, die Stellung eines Volkes aufzuklären. Neben anderen Hilfswissenschaften wie Geographie, Archäologie und Geschichtsforschung muß dann vor allem die Anthropologie zu Hilfe genommen werden, um die Rassenzugehörigkeit festzustellen. Wohl ist im allgemeinen auch das Rassenbild infolge von Vermischung kein ursprüngliches mehr, doch ist es meist möglich, durch die vereinten ethnographischen, linguistischen und anthropologischen Untersuchungen zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen.

Eine wichtige Grundlage für die Anthropologischen Untersuchungen bilden Skelette. Ich hatte auf der Cholerainsel nun ganz im geheimen wenigstens die Schädel der drei Toten geborgen und hoffte, nach diesem guten Anfang unsere Sammlung auf Lampi Island zu vergrößern. Dabei stießen wir auf manche Schwierigkeiten.

Die Moken glauben, daß der Tod durch böse Geister verursacht wird, die durch Wunden in den Körper eindringen. Während nun die Seele des Toten nach dem Osten zieht, halten sich die bösen Geister immer am Grabe des Verstorbenen auf, und sie sind es, nicht der Tote selbst, die die Moken über alles fürchten. Sie setzen daher ihre Toten auf kleinen unbewohnten Inseln aus, die sie auf ihren Wanderfahrten meiden und nur für kurze Zeit aufsuchen, um einen Angehörigen zu bestatten. Sie errichten dann eine kleine, auf vier schwachen Pfosten ruhende Plattform und legen den in Bambusstäbe gehüllten Leichnam darauf. Die Habseligkeiten des Verstorbenen, wie Fischspeere, Töpfe, Schmuck, Äxte und auch Lebensmittel werden danebengestellt und kennzeichnen das Geschlecht des Toten. Der Eigentümer eines Bootes wird aber in seinem Boot bestattet. Man schneidet es quer in der Mitte durch, bricht die Wellenbrecher ab, legt die in Matten gerollte Leiche in die eine Bootshälfte, die andere wird als Sargdeckel darübergestürzt und mit Seilen festgebunden. Der Körper liegt mit dem Kopf nach Westen, »weil dort die Sonne täglich stirbt«.

Jede Mokengruppe sucht seit alters her eine bestimmte Toteninsel auf. Diejenigen aber, die bereits mit Malaien oder Chinesen in Verbindung stehen, haben diese Art der Bestattung aufgegeben, weil, wie sie sagen, die Grabbeigaben oft von diesen geraubt wurden, und begraben nun ihre Toten an kleinen gerodeten Plätzen im Dschungel. Auch auf Lampi Island befand sich ein solcher Friedhof. Die Moken aber wollten uns unter keinen Umständen gestatten, einen Toten auszugraben und schließlich wollten wir die Gräber auch nicht nächtlich berauben.

So suchten wir unter Führung eines Malaien eine der alten, verlassenen Toteninseln auf, die einer während der letzten Choleraepidemie ausgestorbenen Mokengruppe gehört hatte. Während der Fahrt trachtete ich, die Leute an Bord dazu zu bewegen, die Schädel auszugraben. Ich machte ihnen den Zweck unseres Vorhabens verständlich, wies auf ihre Aufgeklärtheit hin und versprach ihnen auch eine beträchtliche Summe Geldes. Bei den Malaien konnte ich nicht viel ausrichten, die bösen Geister, die die Moken so fürchten, waren auch für sie ein Grund zur Weigerung. Die Buddhisten unter den Bootsleuten aber gaben vor, daß sie, falls sie es wagten, ein Grab zu öffnen, die Zugehörigkeit zur ihrer Kaste verlieren würden. Die Totengräber gehörten der niedrigsten Kaste an, und jede zu ihrem Wirkungskreis gehörige Handlung hätte unweigerlich den Einschluß in diese verachtete Kaste zur Folge. Die Araber wollten sich erst aus Rücksicht zu ihren Genossen auch nicht einverstanden erklären, willigten schließlich aber ein und versprachen Hand anzulegen.

Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt in Regen und Gewitter ankerten wir vor einer kleinen, steil aufragenden, dichtbewaldeten Insel, vor der sich eine lange Sandbank ins Meer erstreckte. Es regnete in Strömen, und von allen Seiten peitschte der Sturm das Wasser aufs Deck. Als das ärgste Unwetter vorüber war und wir Anstalten trafen, mit den Leuten zur Insel hinüber zu rudern, weigerten sich diese plötzlich, uns zu folgen. Sie ersannen tausend Ausreden, zum Schluß stellte sich aber heraus, daß es ihnen um eine Erpressung zu tun war und sie um einen größeren Betrag wohl bereit gewesen wären, ihre Bedenken über Bord zu werfen. Ich verzichtete hierauf sofort auf ihre Dienste und erwähnte nur beiläufig, daß ich nun mit Hassan, unserem braven Koch, die Arbeit allein ausführen werde, dies allerdings unseren Aufenthalt um mehrere Tage verlängern würde. Die Aussicht, an dieser von allen Seiten den Stürmen preisgegebenen Stelle längere Zeit vor Anker liegen zu müssen, bekehrte die Taugenichtse augenblicklich, zumal ihnen ja der Proviant bereits ausgegangen war. Nicht nur die Mohammedaner, selbst die Buddhisten beschlossen plötzlich mitzutun, um so bald als möglich fortzukommen. Nur Sanyo, der Maschinist und Enty der Dolmetsch, hielten die Gebote ihrer Kaste und erklärten, sich nur als Zuschauer beteiligen zu wollen.

Bald stapften wir alle, einer hinter dem anderen, durch knietiefen, mit scharfen Muschelschalen vermengten Schlamm auf die Toteninsel zu. Meine Frau und ich trugen nur Schwimmkleider und Regenmäntel, da wir keine trockenen Kleider mehr besaßen. Die Männer hatten eiserne Grabstangen, Schaufeln und Haumesser geschultert. Es war ein abenteuerlich aussehender Zug. Wir erreichten den Sandstrand und den Rand der Insel und krochen in das Dickicht hinein. Vor einem alten Baum, dessen Stamm armdicke Lianen gleich Riesenschlangen umklammerten, lagen menschliche Skelette auf primitiven Plattformen. Zwei von ihnen waren zusammengebrochen (Abb. 16), und die Gebeine lagen, aus der Bambusumhüllung gefallen, am Boden verstreut umher. Daneben standen alte Töpfe und Schüsseln, die man den Toten als Grabbeigaben mitgegeben hatte. Einige Meter von der letzten Plattform entfernt befand sich ein kleiner gerodeter Platz, auf dem Steine aufgehäuft waren. Hier sollten die Toten begraben sein.

Drückende Schwüle des Dickichts umgab uns, Tausende von Moskitos surrten, alle Männer schwiegen an der Stätte des Todes. Donner rollten in der Ferne und kündeten ein neuerliches Unwetter an. Da machten sich die Leute an die Arbeit. Lange hörte man nur die Stöße der Grabstangen und das Anstoßen der Schaufeln an den steinigen Grund. Alle blickten gespannt in die immer tiefer werdenden Gruben. Der Boden war so hart, die Erde von Wurzeln und Steinen so stark durchzogen, daß es mir zweifelhaft schien, ob wir wirklich Gräber vor uns hatten. Da kam endlich ein menschlicher Unterschenkelknochen zum Vorschein – wir waren am rechten Ort. Dann stieß die Stange auf etwas Hartes, vorsichtig wurde mit den Händen weitergegraben, bis schließlich der erste Schädel unverletzt zum Vorschein kam.

Während die Leute an anderen Stellen weitergruben, sammelten wir die Gebeine, die aus der Bambusumhüllung herausgefallen waren, ein, und verpackten sie sorgfältig in einer Kiste. Nach einigen Stunden, in welchen es nicht wenig Mühe kostete, die rasch ermüdeten Männer bei der Arbeit zu halten, hatten wir eine Menge Schädel zutage gefördert.

In unsere düstere Arbeit vertieft, merkten wir nicht, daß die Flut schon bis an den Waldrand gestiegen war. Sie hatte das Watt und die Sandbank überschwemmt, auf der der unglückselige Petjen unser kleines Beiboot an Land gezogen hatte, um es zur Rückfahrt bereitzustellen. Es war nun von der Strömung fortgetrieben worden und schwamm als dunkler Strich weit draußen auf dem Meere. Von der Yan Chin trennte uns ebenfalls eine weite Wasserfläche. Der einzige auf dem Schoner zurückgebliebene Matrose, der an einem Malariaanfall litt, erkannte unsere verzweifelte Lage. Er konnte den Motor aber nicht bedienen, hievte den Anker und versuchte den Schoner in der Strömung zu steuern, in der Hoffnung, auf diese Weise das schwimmende Kanoe zu erreichen. Doch sein Bemühen war vergeblich, und auch er entfernte sich immer mehr von unserem Standort.

Wir saßen am Ufer der Toteninsel, von Brandungswellen umspült, und hielten Kriegsrat. Keiner wollte es wagen, dem Kanoe nachzuschwimmen, die Strömung schien zu mächtig und gefährlich. Krokodile und Haie sollten hier die Gegend unsicher machen. Schon hatte ich die Hoffnung aufgegeben, da entschloß sich plötzlich der Maschinist zu der rettenden Tat. Petjen, der die Lage verschuldet hatte, mußte ihm folgen. Fast gleichzeitig stürzten sich beide ins Wasser und schwammen mit weitausholenden Stößen dahin. Bangen Herzens sahen wir von Zeit zu Zeit einen Kopf unter einem Brecher verschwinden, doch immer wieder tauchte er auf, und schließlich erreichten beide wohlbehalten den Schoner. Langsam, sichtlich erschöpft, erkletterten sie das Deck, und dann dauerte es nicht mehr lange, bis der Motor in Gang und auch das Kanoe eingebracht wurde. Da dieses aber nur zwei Mann faßte, eine starke Strömung zu überwinden war und statt des verlorengegangenen Paddels mit einer Planke gerudert werden mußte, vergingen einige Stunden, bis wir alle endlich mit unserer anthropologischen Beute an Deck geborgen waren.

Nun bekam Petjen wegen seiner Unachtsamkeit von allen Seiten heftige Vorwürfe zu hören, und, wie immer bei solchen Gelegenheiten, fing er, der erwachsene Mann, zu weinen an. Meine Frau rührte das weiche Gemüt des Moken und sie versuchte ihn zu trösten. Er aber jammerte verzagt: »Nicht einmal von meinen Eltern bin ich so arg gescholten worden!«

Wir übernachteten nicht vor der Toteninsel, da die Bucht von Westen her ganz ungeschützt dalag, sondern suchten Zuflucht in den schützenden Armen einer Mangrovenbucht. Die Kiste mit den Schädeln störte den Frieden der Nacht. Niemand wollte sie anrühren oder auch nur in ihrer Nähe schlafen. Petjen erklärte die Gefahren, denen unser Schiff mit dieser Ladung an Bord ausgesetzt wäre: »Die bösen Geister werden nun die Gebeine vermissen und Umschau halten, wo sie hingeraten sind. Sie werden uns töten, wenn sie ihre Toten bei uns entdecken.« Dieser mit voller Überzeugung vorgebrachten Behauptung konnte man schwer widersprechen.

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Abb. 12. Nach dem Tode eines Hordenmitgliedes verständigt der Moken durch Hornruf die Insassen der anderen Boote

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Abb.13. Die einzige Waffe der Moken ist der Fischspeer, der in der abgebildeten Weise geschleudert wird

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Abb. 14. Feuersäge der Moken aus Bambus. Unterhalb einer Einkerbung der Unterlage liegt Zunder, der durch das Sägen ins Glimmen gerät

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Abb. 15. Spät abends kehren die Mokenfrauen von der benachbarten Insel heim, auf der sie Wurzeln und wilde Früchte gesammelt haben

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Abb. 16. Die Moken hüllen ihre Toten in ein loses Bambusgeflecht und setzen sie auf einer der Toteninseln aus

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Abb. 17. Opfertempel der Moken mit den zwei geschnitzten und bemalten Pfosten, die als Wohnsitze guter Geister betrachtet werden (1/27 der nat. Größe)

Uns hingegen schien die Beute zu gering und gleich am nächsten Morgen brachen wir wieder zur Toteninsel auf. Wir gruben an zehn verschiedenen Stellen, fanden aber nur mehr zwei Schädel, von denen einer mit der Grabstange unvorsichtigerweise zertrümmert wurde.

Wir gaben die Sache nun auf und hißten unsere Segel. Ein günstiger Wind von achtern brachte uns schnell zu einer Malaiensiedlung, wo wir von unseren Helfern Abschied nahmen und uns zur Reise nach Mergui rüsteten.

Ununterbrochen klapperte der Motor. Die Bootsleute lachten und sangen vor Freude, daß es heimwärts ging. Noch nie waren sie so eifrige Schiffer gewesen, sie gebärdeten sich wie Tiere, die dem Stalle zueilen.

Aus traumhafter Dämmerung sahen wir endlich die hellen Pagodentürme von Mergui auftauchen.

 

Wir mußten außerhalb der Stadt an Land gehen, denn auch die »zivilisierten« Bewohner von Mergui hätten uns verboten, die Kisten mit den Schädeln durch die Stadt zu tragen. Die bösen Geister wären vielleicht doch in den Straßen oder in einem Hause zurückgeblieben. So wurde denn die unheimliche Last ins Rathaus befördert.

Die Post, die wir vorfanden, nahm uns zwei Tage in Anspruch. Sie trug uns fort aus der Gegenwart. – Dann hieß es eine große Enttäuschung überwinden. Ein Telegramm der Nanking-Regierung lag vor uns. Die uns bereits erteilte Bewilligung zum Besuch Yünnans wurde uns infolge Auftretens von Unruhen wieder entzogen. Man könnte die Verantwortung für fremde Reisende nicht übernehmen. Gleichzeitig verweigerten uns die Engländer den Besuch der wilden Wa. – Wieviele derartige Rückschläge haben wir auf unseren Fahrten schon erlebt! Erst regt sich Bitterkeit, Bedauern, dann überlegt man ruhig und sieht, daß alles nicht so schlimm ist, wie es anfangs den Anschein hatte. Dann findet man einen Ausweg – und fängt mit neuem Mut von vorne an. So war es auch diesmal. Wir werden trachten, die Volksstämme, die wir zu untersuchen haben, über Siam zu erreichen.

Vorerst beschlossen wir jedoch, uns nochmals den Moken zuzuwenden. Es gelang uns auch, bei anderen Mokengruppen unsere Aufnahmen zu überprüfen und ihnen Neues hinzuzufügen.


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