Richard Arnold Bermann
Die Derwischtrommel
Richard Arnold Bermann

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Der Baum

In Rahad, zwei Tagereisen von El Obeïd, schlägt der Mahdi ein großes Lager auf, um sein Heer für den Marsch auf Khartum zu sammeln und vorzubereiten. Ein gewaltiger Baum, eine Adansonia (Affenbrotbaum) von phantastischer Ausdehnung, steht auf einem freien Platz in der Mitte des Lagers.

Unter diesem Baum erscheint der Mahdi, um die fünf Gebete des Tages vor allem Volke zu sprechen; hier predigt er, hält er Gericht, empfängt die Scheichs und Gesandten, die zu ihm kommen, um ihm Treue zu schwören, und auch die hohen Beamten und Statthalter des Khediven, die im Derwischhemd vor ihn treten, um ihn um Gnade zu bitten.

*

Von allen Teilen der fast endlosen Lagerstadt, über all den spitzen Tukulhütten aus Durrhastroh, kann man den Baum des Mahdi erblicken. Dorthin richten sich alle Augen; man denkt in diesem Lager stets an den Mahdi, man spricht vom Mahdi. Die nackten Sklavenweiber, die das Hirsekorn zwischen den Steinen zermahlen, trällern dabei gewiß das Mahdi-Lied: »O Mahdi, du Licht unserer Augen!«– – oder: »Bei Kawa hat es der Mahdi dem Turk gegeben!« – und wer in Handel und Wandel versichern möchte: »Ja, so ist es – – «, der schwört nicht anders als so: »Beim Gott des Mahdi!« – oder er schwört: »Bei unserem Herrn, dem Imâm«, – oder: »Bei dem Erwarteten Mahdi, dem Siegreichen!« – Längst haben die vielen Bettler im Lager gelernt, nicht im Namen Mohammeds des Propheten, sondern im Namen Mohammeds des Mahdi um Almosen zu bitten. Und am Abend, wenn die Männer im Kreise hocken, um die lyrischen Oden singen zu hören, die das Volk der Araber liebt, da ersetzen die klugen Sänger von selbst den Namen des Propheten durch den des Mahdi: er heißt jetzt der Geliebte, der Freund; seine Schönheit wird mit dem Mond, der Gazelle verglichen. Schließlich wird die liebende Leidenschaft vollends zu Raserei: die beiden Sänger, die, jeder an der Spitze eines Halbchors, bisher mit Stäben auf dem Boden den Takt geschlagen haben, springen auf, schwingen die Stöcke, als ob sie Schwerter wären, schreien den Feldruf; »Fi schan Allah! Für die Sache Gottes!« – die Sache Gottes, des Propheten, des Mahdi, das ist die gleiche.

*

Und der Kadi, der religiöse Richter der Lagerstadt, läßt einen Mann in Ketten werfen, weil er, in einem Streit mit einem Gefährten, den Propheten über den Mahdi gestellt hat, ja nur, weil er gesagt hat, Gott stehe höher als der Mahdi. – Dies, entscheidet der Richter, sei natürlich die Wahrheit, aber der Ton, in dem es gesagt sei, bedeute eine Kränkung des Mahdi und sei zu bestrafen.

*

Nicht weit von dem großen Baum ist der Markt der Lagerstadt; hier wird, im großen vielfarbigen Menschengewimmel, das neue Gesetz des Mahdi erbarmungslos aufrechterhalten. Den ganzen Tag sitzt der Marktrichter auf seinem Schaffell und wartet auf die Verbrecher, die man öffentlich zu ihm heranschleift. Haben die Spione einen heimlichen Trinker entdeckt, dann wird der Merissatopf sogleich an seinem Kopfe zerschlagen und eine johlende Menge schleppt den Sünder, der von Bier und Blut trieft und von den Kindern mit Staub und Dreck bombardiert wird, zum Richter. Der läßt sogleich die festgesetzte Strafe vollziehen: achtzig Peitschenhiebe. Wer aber beim Tabakrauchen betroffen wurde, bekommt nicht achtzig Hiebe, sondern hundert. Junge Frauen, die mit unverhülltem Antlitz gesehen werden (der Leib darf nackt sein, das Antlitz nicht) oder die goldene oder silberne Schmucksachen tragen, werden gleichfalls mit Strenge gezüchtigt. Bisher war unter den sudanesischen Weibern ein Kopfputz beliebt: ein Gefüge aus Ziegenhaaren, das man mit Gummi an die eigenen Flechten des Weibes klebt. Auch das ist verboten, und Weibern, die das Verbot nicht beachten, reißt man mit dem Kopfputz ihre eigenen Haare vom Schädel.

Alle milderen Traditionen des muslimischen Scheriatsrechts sind abgeschafft. Eine wilde Justiz straft Mörder und Ehebrecher, Gottes- und Mahdi-Leugner erbarmungslos mit dem Tode durchs Beil. Ehebrecherinnen werden gesteinigt. Für einen kleinen Diebstahl verliert der Verbrecher einen Fuß und eine Hand.

So hart die Gesetze sind, so bestechlich sind alle Richter auch unter dem Mahdi. Das Volk ist nicht freier, ist nicht minder bedrückt als unter der Türkenherrschaft. Der Mahdi hat Gleichheit verkündet: »Der Geringste unter den Ansar ist den Emiren in allem gleich, es sei denn im Gehorchen und im Befehlen.« – Dennoch geht es wie immer, die Großen bereichern sich. Das Gesetz, daß die Ansar irdischen Gütern entsagen müssen, und daß ein gemeinsames Schatzhaus, die »Beit el-Mal«, den Besitz der frommen Gemeinschaft für alle verwalten solle, – das Gesetz gilt kaum für Scheichs, Emire, Khalifen.

*

Noch aber scheint in alle Augen der große Glanz, der vom Mahdi ausgeht. So wie der große Baum über die Hütten des Lagers, ragt ein hoher Gedanke über alle tägliche Not. Dies hier ist noch nicht Gottes Stadt, die erbaut wird, das ist nur ein flüchtig errichtetes Lager. Man ist auf dem siegreichen Vormarsch. Alles wird herrlich und anders und neu sein, wenn erst Khartum erobert ist, und dann Kairo. – – –

*

Die halbnackten arabischen Hirten, die bisher der türkische Baschi-Bosuk so furchtbar gepeinigt hat, die schwarzen Soldaten, denen der Rücken noch von der Peitsche des Paschas wund ist, sehen jetzt im Lager von Rahad, im Schatten des Mahdi-Baumes Schauspiele wie dieses:

Eines Morgens dröhnen auf einmal im Lager die Pauken; zum Zeichen, daß der Khalifa Abdullahi aufbricht, wird die Ombâjja geblasen, sein großes Heerhorn aus Elfenbein. Die Reiterei sprengt vors Lager hinaus: die Panzerreiter aus Dar-Fur in ihren Kettenpanzern und die anderen, die mit Wattepanzern bedeckt sind. Dies alles, das Wehen der großen Banner, das Blitzen der Lanzenspitzen, die wilden Salven, die laut geschrienen Lobgesänge, – all das, weil ein kleiner Mann herbeikommt, der in einer mit Flicken benähten Derwisch-Dschubba aussieht wie ein tragischer Harlekin.

Der junge Europäer, der da dem Mahdi die Hand küssen kommt, ist Rudolf Slatin, gestern noch Slatin Bey, Generalgouverneur von Dar-Fur. Mit unglaublicher Zähigkeit und großem Geschick hat er sich, von Khartum und Ägypten abgeschnitten, in seiner Provinz bisher verteidigt. Aber jetzt muß er sich ergeben. Ein Generalgouverneur des Khediven, ein Europäer! Man behauptet, er sei ein Neffe Gordons.

Man nennt ihn jetzt: Abd el-Kadr Saladin. Slatin, den religiöse Bedenken nicht plagen, hat es nämlich während seines verzweifelten Kampfes im empörten Dar-Fur für gut befunden, eines Tages vor der Front seiner Truppen das Glaubensbekenntnis des Islams abzulegen; so dachte er, sich besser in dem fanatisch denkenden Lande behaupten zu können.

Es hat auch das nicht genützt. Jetzt kommt Slatin, von seinem Heere im Stich gelassen, allein und ohne sein Schwert nach Rahad zum Mahdi (daß man ihm seinen k.k. Leutnantssäbel aus dem bosnischen Feldzug genommen hat, ist vielleicht sein größter Schmerz in dieser Stunde!). – Aber man hat ihm ein Derwischhemd gegeben, ein Reitpferd und eine Lanze, so wie sie die Leibwächter des Khalifen tragen, – und wie er sich jetzt vor dem Lager der Stelle nähert, wo Abdullahi sein Kommen erwartet, sprengen wilde Reiter auf Slatin zu, schütteln hart vor seinem wetterbraunen Gesicht die Lanzen und schreien ihn stürmisch an: »Für die Sache Allahs und des Mahdi!« Das rufen sie und sprengen wieder zurück, zu dem Mann, der neben den Bannern wartet. Da sie das Manöver wiederholen, versteht Slatin, was er tun soll, er schwingt gleichfalls seine Lanze, ruft gleichfalls: »Für die Sache Allahs und des Mahdi!« – und sprengt mit den anderen Reitern auf den Mann im Schatten der Banner zu. Die Ombâjja ertönt; Rudolf Slatin springt vom Pferde und küßt zum erstenmal die dunkle Hand des Mannes, dessen Sklave, Vertrauter und Todfeind er von nun an sein wird, des Khalifen Abdullahi, des Taaischi.

Am Mittag, nach dem Gebet am offenen Platz unter dem großen Baum, legt dann vor dem ganzen Heer und Volk der Europäer, der bisherige Gouverneur des Khedive, in die Hände des lächelnden Mahdi selber den großen Treueid ab, der ihn so verpflichtet, wie ein Derwisch-Novize dem Derwisch-Scheich sich zugelobt: »Ich gelobe dir Treue, und der Welt zu entsagen, sie zu verlassen und an dem, was bei Allah ist, Wohlgefallen zu haben, aus Verlangen nach den Gütern Allahs und der jenseitigen Welt; – ferner, daß ich dem heiligen Krieg nicht aus dem Weg gehen werde.« – –

Slatin hat seinen Daumen auf den Daumen des Mahdi gelegt, der spricht lächelnd und langsam die Formel vor. Rudolf Slatin, nein, Abd el-Kadr spricht sie deutlich nach, tausende hören es und wissen, daß der Mahdi in Wahrheit siegreich ist.

*

In einer Hütte des Lagers – ein paar Bündel des langen Durrhastrohs zu einem Kegel geschichtet, ein Loch als Türe darin – sitzt ein anderer weißer Mann, mit einem Christusbart und langen Haaren, in einem langen, zerfetzten Derwischhemd über dem mageren Leib: Josef Ohrwalder. Der Tiroler Pater, der Missionar von Delen, hat nicht wenig gelitten, seitdem er diesen Mahdisten in die Hände gefallen ist. Zwei Jahre ist es her, seitdem er in den Nuba-Bergen so vergnügt das Brennen der Ziegel beaufsichtigt hat, als das Missionsgebäude erweitert wurde. Das Missionsgebäude! Der Pater hat noch mit seinen eigenen Augen gesehen, wie es von den Negern des Missionsdorfes geplündert wurde, bevor noch die Mahdisten kamen, die Beduinen aus dem Tiefland. – Seitdem ist der arme Pater Ohrwalder aus den Bergen, die er so lieb hat, fortgeschleppt worden, als ein Gefangener, ein barfüßiger Sklave, von Ort zu Ort: – –

Jetzt, wenn er vor die Hütte tritt, kann er ganz fern am Horizont das Schattenprofil der Berge von Nuba sehen, diesen Dschebel Delen, der ihn immer so an sein Südtirol erinnert hat. Manchmal sieht er dort einen großen Rauch aufsteigen und bei Nacht die Flammen; da begeht der junge Priester die schwere Sünde des Zorns, denn er weiß, daß jetzt wieder ein friedliches Dorf dieser armen Neger brennt, die er liebgewonnen hatte. Die Nubas haben sich den Derwischen nicht dauernd unterworfen, sondern liegen in einem blutigen Krieg mit ihnen. Hier im Rahader Lager gibt es eine eigene Hürde für gefangene Nubas, einen Dornzaun mit Tod und Elend dahinter; manchmal gelingt es dem Pater hinzugehen, dann sieht er oft, wie man hagere Leichen ins Freie wirft; ins Innere der Umzäunung hat man ihn nicht gelassen.

Er selbst ist jetzt der Sklave eines Scheichs Idris Wad el-Haschmi; er ist als sein Kameltreiber mit ihm nach Rahad gekommen, neben dem beladenen Tiere laufend. Idris ist noch nicht der schlechteste Herr, dem zu begegnen Josef Ohrwalders Schicksal war; aber seine Nahrung holt der junge Priester sich ja doch im Stalle des Scheichs, wo er von der für die Tiere bestimmten Hirse ißt. Wenn er seine Hütte verläßt, wird er in den Lagergassen beschimpft, geschlagen, angespien; weil er ein ungläubiger Hund ist. Scheich Idris indessen mißhandelt ihn niemals, er weiß, daß der Koran gebietet, gefangene christliche Priester und Mönche zu schonen.

*

Der arme junge Pater wäre fast zu entschuldigen, wenn er manchmal ein wenig vor sich hinfluchte, auf tirolerisch. Es ist so furchtbar, hier leben zu müssen, in dem Feldlager dieses Heeres, das er haßt und dessen Sieg ihm Verzweiflung bedeutet. Den ganzen Tag gehen diese verabscheuten Trommeln: tomtomtom! Die Ombâjja tutet, das Elefantenhorn des Khalifa, und man weiß, daß Abdullahi jetzt wieder jemand hinrichten läßt, der ewig Mißtrauische, der neben dem immer lächelnden Mahdi das Heer mit so blutiger Strenge regiert. – Wer kommt nun daran? Wer wird gepeitscht, gefoltert, geköpft? Ohrwalder zittert bis in sein Mark, wenn er die Ombâjja nur hört, die stets bei Exekutionen geblasen wird. Er hat viele Freunde im Lager, obwohl er kaum jemals ein befreundetes Antlitz erblicken darf. Sein Freund und Superior, Pater Bonomi, ist gleichfalls in Rahad; Ohrwalder sieht ihn durch Monate nicht. Dann die Klosterschwestern; was die armen Frauen zu leiden haben, ist grauenhaft. Man hat sie in die Harems der Emire verteilt, man hat sie hungern lassen, geschlagen, gefoltert. – – Endlich ist eine von den Schwestern in ihrer Verzweiflung eines Tages in die Hütte des Mahdi eingedrungen und hat ihm ihre von der Peitsche blutigen Füße gezeigt. Mohammed Achmed hat betroffen gesagt, das hätte er nicht gewollt und das werde er nicht weiter dulden, und er hat am nächsten Tag die Ordensschwestern in das umwallte Lagerviertel übersiedeln lassen, in dem er selbst mit seinen Frauen und Kindern wohnt. Von dieser Stunde an ist das Los der Nonnen erträglich geworden.

Sooft Pater Josef Ohrwalder daran denkt, an dieses Mitleid, das der Mahdi den Schwestern gezeigt hat, wird er ganz verstört und unwillig; die Sache paßt ihm nicht in sein Weltbild. Er haßt diesen Menschen, den Mahdi, hält ihn für einen Betrüger, einen Heuchler, einen heimlichen Lüstling und ist von seiner Schlechtigkeit und teuflischen Grausamkeit fest überzeugt.

Nur eine einzige Hoffnung erhält Ohrwalder noch aufrecht: dem österreichischen Konsul in Khartum ist es gelungen, auf heimlichen Wegen den Missionaren im Lager zu Rahad eine Botschaft zu senden: sie möchten getrost sein, nicht alles sei verloren, England werde eine Expedition in den Sudan entsenden, schon sei General Gordon wieder in Khartum; ein solcher Mann könne, werde sie alle retten. – –

Eines Tages, kurz vor der Stunde des mohammedanischen Mittagsgebetes, stürmen einige Araber Ohrwalders Hütte und treiben ihn unter rohen Mißhandlungen vor sich her: der ungläubige Hund möge rennen, unser Herr, der Imâm, hat selber nach ihm verlangt, der Mahdi will zu ihm sprechen!

Vor den Leibwächtern des Mahdi einherlaufend, keucht der arme Gefangene elendiglich durch die engen, ungeraden Hüttenstraßen, die von Menschen und Tieren wimmeln. Das Lager ist voller denn je; der Khalifa Abdullahi läßt alles Volk von El Obeïd hierher senden; ganze Araberstämme mit ihren Herden kommen täglich an, Homr, Bederieh, Ghodiat, die Miserieh, die Dar-Nauli. – Jetzt, zur Stunde des Gebetes, sitzen die Männer zu Tausenden und Tausenden, in ordentlich gerichteten Reihen auf dem Sand um den großen Baum und warten auf den Mahdi, der aus der Hütte kommen soll, um als Imâm das Gebet der Gläubigen zu leiten.

Pater Ohrwalder wird von den Wächtern mit Lanzenstößen zu dem Baumstamm getrieben und dann dort in Ruhe gelassen. Atemlos röchelnd lehnt er an den gewaltigen Wurzeln.

*

Der Adansonia-Baum, oder Baobab, oder Affenbrotbaum, ein Ungeheuer, ein Elefant unter den Bäumen, hat zu gewissen Jahreszeiten eine dunkelgrüne Kuppel von Laub und riesige weiße Blüten: jetzt, wie meistens, ist er kahl, mit einem gigantisch zerzausten Astwerk, an dem manchmal ein einzelnes gefingertes Blatt hängt oder eine der fußlangen, mit einem Filz bewachsenen Früchte. Der Stamm ist hohl und gespalten, die Rinde beschädigt, da die Haremseunuchen des Mahdi sie als ein unfehlbares Mittel gegen alle Beschwerden verkaufen: daß der Mahdi unter diesem Baume betet, gibt ihm eine unsägliche Heiligkeit.

Unter dem Baum, an einer Stelle, an der ein dicker Ast Schatten gibt, ist jetzt ein Schaffell ausgebreitet, als ein Gebetteppich für den Mahdi. Auf einmal geht in der Menge ein dumpfes Jubeln los, schon von fernher. Der Mahdi erscheint, umringt von den drei Khalifen und von den Emiren des Glaubensheeres. Einen Blick voll heiterer Ruhe läßt er über die dichten Reihen seiner Gemeinde fliegen. Dann gibt er denen, die mit ihm gekommen sind, ein Zeichen, an ihre Plätze zu treten. Mit seiner sanften Stimme, die kaum erhoben ist und dennoch überall auf dem weiten Felde gehört wird, spricht er nun das Gebet der Mittagsstunde. Ein Murmeln und Schluchzen geht durch die Menge. Alle sprechen die heiligen Worte nach, alle die Turbane sinken gleichzeitig nieder, da der Imâm auf seinem Schaffell zu Boden fällt, mit dem Haupt vor Allah im Staube.

Nach dem Gottesdienst lösen sich die geordneten Reihen, ein Teil der Menge verläuft sich, doch viele drängen herbei, um ganz in die Nähe des Mahdi zu kommen, der auf dem Schaffell sitzengeblieben ist, unter dem Baum. Die Leibwächter des Mahdi, stattlich in ihren gegürteten Derwischmänteln, die regelmäßig mit farbigen Flicken besetzt sind, drängen mit ihren großen Lanzen die Leute zurück, doch nicht so, daß nicht der eine oder der andere zum Baum gelangen und einige Worte zum Mahdi sprechen oder ein Bittgesuch ihm übergeben könnte. Ein Soldat mit einem handbreiten Eisenblatt an seiner Lanze steht hinter dem Pater, der immer noch an der Baumwurzel lehnt, dem Mahdi nah gegenüber. Die Lanze ist über dem Kopf des Paters gezückt, dem armen struppigen Kopf, auf dem die Tonsur längst verwachsen ist. Da steht er, den Tod über seinem Haupt, wie Johannes der Täufer, dem er jetzt ähnlich sehen mag, in seiner zerlumpten Wüstentracht und mit dem ungeschorenen Bart. Der Mahdi, der sich jetzt lächelnd zu ihm neigt, scheint wie von einem Glanze umflossen: so gepflegt und reinlich ist alles an ihm. Noch ist der Anzug vom gröbsten Friesstoff und mit großen Flicken besetzt, der Gürtel aus Palmstroh geflochten. Aber der Turban ist aus feinem schneeweißen Stoff; ein Zipfel davon fließt über Wange und Schulter, vorbei an dem Bart, dessen seidige Schwärze dadurch betont wird. Das dunkle Gesicht ist sorgsam gewaschen, ein Hauch von Frische und süßen Düften strahlt davon aus; die Augenbrauen sind untermalt, die Nägel der schönen Hände mit Henna geschminkt; die perlenden Zähne zeigt das beständige Lächeln.

Wie ein Erzbischof, wenn er segnen will! – geht es durch Pater Ohrwalders Kopf. Dann erschrickt der Pater über diese Gedankensünde.

*

Der Pater hat den Mahdi schon mehrmals gesehen, zuletzt als er für den gefangenen Klootz den Dolmetscher spielen mußte. Mit einer Art befriedigten Grimms bemerkt der Pater, daß der Mahdi seither viel dicker geworden ist, geradezu fett. Er war doch immer so mager, – wie ein Mönch, der sich sehr kasteit, wie ein Trappist! – Jetzt, denkt der Gefangene, und freut sich darüber, geht er doch in die Breite, der falsche Aszet, der Heuchler, der heimliche Fresser und Haremsheilige!

Er haßt diesen Menschen aus ganzer Seele, – so vielleicht, wie ein Priester nicht hassen sollte. Wie aber diese wunderbar großen Augen voll auf ihn gerichtet sind, wie diese berauschende Stimme spricht, hat er Mühe, dem Zauber des Mannes nicht zu erliegen. Immer wieder und immer wieder, ob er will oder nicht, scheint es ihm, als spräche, wie einst im Seminar, die Stimme geistlicher Autorität zu ihm, ein verehrungswürdiger Bischof seiner eigenen Kirche. – – Er wehrt sich, bereut die Sünde, daran nur zu denken. Der Eindruck kommt wieder.

*

Der Mahdi des Islams spricht zu dem römisch-katholischen Missionar, als wären sie gleich und gleich, als wäre nicht einer von ihnen ein mißhandelter Sklave, als stünde nicht hinter ihm der Negersoldat mit dem drohend erhobenen Eisen. Der Pater vergißt das nicht, aber er ist gefaßt. Er hat sich auf die Baumwurzel niedergesetzt und sieht dem Mahdi ins Auge.

Der Mahdi sagt, er habe den Christen rufen lassen, damit er bei dem Gebet der Muselmanen zugegen wäre. – Ob eigentlich die Christen auch dergleichen hätten, regelmäßige, von der Gottheit gelehrte Gebete?

Und als der Pater heftig bejaht, scheint der Mahdi zu staunen. Weiß er wirklich so wenig von den christlichen Lehren? – Er verlangt, ein Gebet zu vernehmen. So faltet Pater Josef seine Hände und spricht laut und deutlich auf arabisch das Vaterunser. Die Menschen, die sich hinter dem Mahdi drängen, murmeln halblaut und beifällig; das haben sie vielleicht nicht erwartet, solche einfachen, frommen Worte zu Gott; sie haben gedacht: solch ein Christ betet Lästerungen!

Der Mahdi nickt in Gedanken. Er sagt, das sei ein sehr gutes Gebet. Auf einmal sieht er Ohrwalder an und fragt ihn, ob denn nicht in den Psalmen Davids prophezeit sei:

»Die Gerechten erben das Land und bleiben ewiglich drinnen.«

*

– Jetzt ist die Reihe erstaunt zu sein an dem katholischen Priester. Woher kennt der Mahdi den siebenunddreißigsten Psalm? (Der Pater weiß nicht, daß diese Stelle, und sie allein aus der ganzen Bibel, im Koran zitiert ist.)

»Siehst du«, sagt der Mahdi, »dein Buch sagt selber, daß die Erde ein Erbteil der Gerechten ist; warum widerstrebt ihr Christen meiner von Allah gewollten Macht?«

Er beginnt unvermittelt, sich über Viktoria, Königin von England, zu beklagen, die gänzlich verstockt sei; obwohl ihr Günstling, der General Hicks, unterlegen ist, mit dem großen Heere der Königin, denkt sie doch noch, in ihrer irdischen und gottlosen Weisheit, sie könne der Macht Gottes und des Mahdi Widerstand leisten! Statt den Islam anzunehmen, habe sie jetzt wieder ihren Gordon nach Khartum entsendet.

Der Mahdi wird plötzlich sehr lebhaft; für einen Augenblick verläßt das Gespräch die rein geistliche Richtung. (Warum atmet der Pater innerlich auf?) – Der Mahdi will wissen, was das bedeuten mag, was Gordon Pascha jetzt in Khartum betreibt. Die Späher haben berichtet, daß er rings um die Stadt im flachen Gelände ein Netz von eisernen Drähten ausspannen läßt.

Pater Ohrwalder sagt darauf: »Ich bin kein Kriegsmann und verstehe nichts vom Befestigungswesen. Aber ich denke mir, daß General Gordon wohl rund um die Festung aus Telegraphendrähten Hindernisse erbaut, um die beduinischen Reiter aufzuhalten.«

Das Lächeln des Mahdi vertieft sich. »Seht«, sagt er so laut, daß alle es hören, »seht, wie schlau dieser Ungläubige ist! Aber Gott ist stärker als die Listen und Schliche der Menschen!«

*

Pater Ohrwalder wagt keine Erwiderung; er senkt nur sein Haupt, über dem das Eisen des Henkers so sichtbar erhoben ist. Wenn er sich nur ein wenig wendet, kann er den großen Neger sehen, der hinter ihm steht, in einer ganz neuen Dschubba, mit einer Lanze, die riesenhaft scheint; der Pater fühlt den riechenden Atem des schwarzen Mannes in seinem Nacken. Und dieser Mahdi sieht das, denkt Ohrwalder, und lächelt so milde, als wäre das gar nichts; er redet zu ihm von gleich zu gleich wie ein gütiger Freund, nein, väterlich; von Gott spricht er in so selbstverständlichem Ton, als meinte er den nämlichen wie ein katholischer Priester. – Und doch, sagt sich Ohrwalder krampfhaft vor, meint er ja nicht Gott, er meint den Teufel, einen Götzen, der Gottes Werk auf Erden vernichten soll. Unsere Kirche in Delen hat er zerstören lassen. – –

Der ganze innere Mensch in Ohrwalder sträubt sich gegen eine große Faszination, gegen das Milde und Priesterliche in diesem lächelnden Antlitz ihm gegenüber. – –

Jetzt sagt der Mahdi, Gott werde ihm bald dazu verhelfen, daß er Khartum erobern werde wie El Obeïd! Haß und Angst ringen in dem jungen Pater, er möchte schreien, toben, er wagt es nicht; vielleicht rettet ihm eine Schwäche das Leben, die ihn plötzlich befällt. Mit beiden Händen klammert er sich an die Baumwurzel an. Ein Gedanke hat ihn fast körperlich umgeworfen: Ist es denn möglich, kann es denn möglich sein, wird Gott das dulden, daß dieser Mensch – dieser Antichrist! – mit seinen Horden auch die schöne Mission in Khartum verwüsten wird, den schönen Garten, die Kirche, alles? – –

Seltsam: genau in dem Augenblick, da der Pater, und nicht zum erstenmal (mit einem Schauer in seinem Herzen) bei sich gedacht hat: der Antichrist! – sagt Mohammed Achmed das gleiche Wort. Er fragt, ganz unvermittelt und mit größerer Strenge als bisher, ob denn der Pater nicht an das heilige Buch der Christen glaube. Wird Isa, Sohn der Maryam, wiederkehren oder nicht? Wird er den großen Kampf gegen den Antichrist bestehen oder nicht?

Der Pater ist ganz bleich, er kann kaum reden. Endlich faßt er sich und sagt, er glaube an die Wiederkehr Jesu.

»Wenn du ihn wiederkehren siehst«, sagt der Mahdi ganz schlicht, »wirst du auch an meine Mahdîjja glauben müssen, denn ich bin es, der seine Wiederkehr der Welt verkündigt und das Letzte Gericht, das er halten wird. Sobald er zu Jerusalem auf dem Felsblock Abrahams erscheint, werden auch deine Zweifel schwinden, und dann wirst du den Islam annehmen müssen! – –«

Der Mahdi schweigt ein wenig, blickt zu den kahlen Zweigen des großen Baumes empor, als ob dort oben etwas zu lesen wäre. Dann spricht er langsam weiter, mehr zu der um ihn sich drängenden Menge der Ansar, als zu Pater Ohrwalder.

»All dies wird in vierzig Jahren geschehen«, sagt der Mahdi. »In meinen Gesichten hat es mir der Erbarmer verkündigt. Es wurde geoffenbart, daß ich vorher noch Ägypten und die heiligen Stätten im Hedschas erobern werde. – Kairo wird ohne Widerstand den Heeren des Glaubens erliegen. Aber vor Mekka stehen dem Heere Allahs blutige Kämpfe bevor. – – «

»Noch vierzig Jahre«, sagt der Mahdi; sein Lächeln legt die Zahnlücke bloß. »Noch vierzig Jahre soll ich auf dieser Erde weilen, das hat mir auf Abba unser Herr, der Prophet, verkündigt, auf ihm sei der Segen und das Gebet. Von nun an in vierzig Jahren steht das Heer des Glaubens vor Jerusalem, und dort sieht es Isa herniederschweben auf Abrahams Felsendom. Dann aber werden die Christen alle den Islam bekennen müssen. – –«

*

Der Mahdi sieht den Pater an, als erwartete er eine Antwort. Der Pater aber schweigt hartnäckig. Der Neger hinter ihm hat die Lanze noch immer wie zum Stoße gesenkt, vielleicht erwartet er einen Wink des Mahdi, oh, nur den leisesten. Der Pater selbst mag diesen Wink erwarten. Was kommt nun? denkt er. Wird der Mahdi von mir den Abfall verlangen, ausdrücklich, sofort, das mohammedanische Glaubensbekenntnis?

Dann, das weiß der Pater, heißt es gehorchen – oder der Märtyrertod.

Ein Mensch ist ein Mensch und keiner ein Märtyrer, ehe er tot ist. Aber dem Pater Josef bleibt diesmal die Probe erspart. Unbegreiflich, aber der Mahdi stellt die entscheidende Frage nicht, winkt seinem Henker nicht. Statt dessen beginnt er sogar die Christen zu loben: »Ich weiß, ihr seid gute Leute, das hat man mir immer gesagt. Ihr gebt den Hungrigen Nahrung und erwerbt euch Verdienst durch Almosenspenden. Jedoch, wer nur an milde Taten glaubt und nicht auch an den Mahdi Allahs, wie kann der errettet werden? Ihr seid nur wie Bündel trockenen Holzes, die ins Feuer geworfen werden. – – «

Jetzt blitzt, für einen kurzen Augenblick, Zorn in diesem lächelnden Antlitz auf. Er schweigt, man sieht ihn denken. Er murmelt etwas. Man versteht einen Namen: Gordon.

*

»Auch Gordon ist ein guter Mann«, sagt der Mahdi schließlich ganz laut. Er ist wieder ruhig und milde geworden. »Auch Gordon ist gut, aber er sollte sich zu Allah wenden und den Islam annehmen: denn es gibt keine Zuflucht als bei Gott und als in Gehorsam vor seinem Gebot, vor dem Propheten und vor dem Mahdi!«

Er schließt ein wenig die Augen, dann rezitiert er aus dem Koran:

»Und tötet euch nicht selbst! In Wahrheit, Gott ist gegen euch barmherzig!«

*

Der Priester in Josef Ohrwalder hört mit feinem Ohr den Ton der Salbung, und das reizt ihn so sonderbar, mehr als alles, er möchte diesem Prediger da am liebsten in sein lächelndes Antlitz schlagen.

Wie fett er wird! denkt er krampfhaft, und diese Beobachtung gibt ihm zum Glück die Überlegenheit der Höhnischen. Er frißt; seine vielen Weiber verhätscheln ihn!

Weil er das denken kann, bezähmt sich der Pater, sagt nichts, tut nichts, senkt nur traurig seinen bedrohten Kopf. Der Mahdi winkt ihm mit einer gütigen Geste Entlassung zu. Pater Ohrwalder, ganz benommen, kehrt in den Stall seines Herrn zurück, aber auf dem Wege halten ihn viele erregte Menschen an, aus allen Hütten kommen sie. Manche beschimpfen ihn, aber im Grunde erscheint er dem Volke sehr glücklich und beneidenswert. Hat nicht der Mahdi unter dem großen Baume so lange mit ihm gesprochen?

Pater Ohrwalder nimmt den Pferden des Scheichs ein wenig Hirse aus ihrer Krippe, und so lebt er weiter.


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