Richard Arnold Bermann
Die Derwischtrommel
Richard Arnold Bermann

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Der Storch

Ein Raddampfer fährt nilaufwärts; auf dem vorderen Deck sitzt Colonel Gordon vor einem Tisch mit Schreibzeug, Zigarren und Büchern. Es ist heiß, aber es sitzt sich nicht unbehaglich. Gordon schreibt einen Brief an seine Schwester Augusta.

Der »Chinesische Gordon«, wie sie ihn nennen, ist ja schon fast überall gewesen, aber in Afrika war er bisher niemals. Er geht jetzt nach Gondokoro, als Generalgouverneur der neuen Äquatorprovinz.

Schöne Provinz! Nichts als Fieber und Mücken und Sklavenjäger. Aber das weiß Charles G. Gordon alles noch nicht. Obwohl er Ahnungen hat.

*

Er raucht wie ein Schlot; ein kleiner zierlicher Mann von vierzig, mit Bartkoteletten um ein gesundes rotes Gesicht. Er trägt die Alltagsuniform eines Obersten der Royal Engineers im britischen Heer; dazu den ägyptischen Fes. Er schreibt und schreibt, das tut er sehr gern und meistens; dann springt er dazwischen auf; dann fällt ihm was ein, was er in der Bibel suchen wollte; sie liegt neben ihm, mit einem Lesezeichen darin, das Augusta gestickt hat: grüne Seide mit gelben Streifen schottisch kariert; in den grünen Quadraten sind kleinere blaue verschlossen; es sind die Farben des uralten Hochland-Clans Gordon.

Fortwährend fahndet er nach Bibelzitaten, Charles Gordon. Dann sieht er die Nillandschaft an, mit hellblauen Augen, in denen ein Wille ist; dann wirft er die Zigarre weg, nimmt eine neue. Er ist etwas zapplig, Gordon. Seine Aufmerksamkeit ist glühend und heftig, solange sie dauert; dann erkaltet sie plötzlich; was eben auf Erden das Wichtigste war, ist belanglos geworden. – –

Charles G. Gordon seufzt ein wenig; es ist seltsam, er ist nicht gelaunt, wie er sollte; dann gähnt er, dann schreibt er, sehr kraus, aber leserlich, mit seiner schönen und mannhaften Hand. Solche Sachen schreibt er an seine Schwester Augusta in England:

»Dein Bruder hat jetzt den Titel: Seine Exzellenz General Oberst Gordon (ja, es ist eine seltsame Mischung!) – der Generalgouverneur des Äquators – also, den Äquator nämlich darf jetzt niemand mehr kreuzen, wenn es Seine Exzellenz nicht erlaubt ...

»– – Aber gestern hatte Dein Bruder die Hosen ausgezogen und stand im Nilwasser und schob mit am Boot; trotz den Krokodilen. Die rühren einen nicht an, wenn man sich bewegt.

»– Wir haben Khartum unter einem Salut der Artillerie verlassen, jetzt dampfen wir nilaufwärts. Wir sehen eine große Menge Krokodile. Die Krokodile liegen jeden Abend im Sande und sehen in der Sonne ganz glitzerig aus. Das sind schreckliche Kreaturen, wie sie da liegen, mit offenen Schnauzen, sich sonnend. Rings um sie sind immer auch kleine Vögelchen – –

»– – Der Dampfer fährt recht langsam; nur vier Meilen die Stunde gegen die Strömung. Störche (meine alten Störche von der Donau), schwarze und weiße, sind zu Tausenden an den Ufern, mit Pelikanen und allen Sorten von Wasservögeln, vom kleinsten Reiher bis zu dem Riesenvogel mit dem ungeheuren Schnabel, der vollkommen ruhig sitzt. Ja, ich habe doch heute Nilpferde gesehen, aber nur ihre Schnauzen –, sie waren inmitten des Flusses. Trupps von Affen kommen zum Trinken ans Wasser; mit ganz langen Schwänzen, die wie lange Degen von ihren Rücken abstehen. Sie sehen sehr komisch aus. Die Ufer sind dick bewaldet, und das Land ist ganz flach.

»Die Bäume sind Gummibäume oder Tamarisken. Wir kamen an Leuten vorüber, die als Kopfbedeckung Kürbisse tragen, und auch an Schilluknegern, die gar nichts tragen, wirklich schon gar nichts.– –«

Charles G. Gordon hält inne, liest stirnrunzelnd, was er geschrieben hat. Da ist das von den Störchen – – Seltsame Vögel, Störche. Ein wenig geheimnisvoll! Immer schon haben ihn Störche interessiert. Während seiner Dienstreisen an der unteren Donau hat er immer so viele gesehen. Hier ist das Land, wohin die Donaustörche im Winter fliegen.

Colonel Gordon zögert. Soll er Augusta von diesen Störchen von gestern erzählen? Gestern nacht. Die Geschichte beunruhigt ihn so – –

*

Dieser Hochlandschotte, dieser Pionieroffizier von den Royal Engineers, Charles George Gordon, lebt ein farbenreiches Leben. Den Krimkrieg hat er mitgemacht. Dann war er in China, hat zugesehen, wie Lord Elgin den Sommerpalast in Peking zerstörte. Dann ist ein chinesischer Messias aufgestanden, Hong, hat erklärt, er sei Gottes Sohn und werde das Gottesreich Taiping begründen. Da aber die Taiping-Rebellen zunächst die europäischen Settlements von Schanghai bedrohten, hat man den Captain Gordon zum General einer phantastischen improvisierten Schutztruppe gemacht, des »Ewig siegreichen Heeres«, wie der chinesische Titel war. Gordons Freund, der große Chinese Li-Hung-Tschang, behauptet seither, der Schotte hätte damals China gerettet. Deshalb nennt man ihn in England den Chinesischen Gordon. – Nachher ist er wieder zu Hause gewesen, als Chefingenieur beim Fortbau in Gravesend. Dann war er Englands Vertreter bei der Donaukommission in Galatz. Von Galatz aus hat er Stambul besucht; dort ist er Nubar Pascha begegnet, dem ägyptischen Premierminister. So, und jetzt fährt er den Nil hinauf, nach Gondokoro. Nubar hat einen Europäer als Gouverneur am Äquator haben wollen, damit es nicht immer heiße, Ägypten tue nichts zur Unterdrückung des Sklavenhandels. Jetzt also fährt Gordon, Seine Exzellenz Gordon, Colonel Gordon im britischen Heer, General im ägyptischen, fährt ganz allein in das wilde Sumpfland, in diese vage Provinz, die dort angeblich existiert – –

Er ist, das sieht ihm so ähnlich, losgefahren, ohne auf seinen Stab zu warten, die Truppen, die Vorräte, die man versprochen hatte. Und die ewig nicht kommen. Nichts kommt, und nichts klappt, und nichts ist in Ordnung. Diese Ägypter, scheint es – –

*

Charles G. Gordon runzelt die Stirne. Seltsam genug, er ist nicht recht froh. Diese Störche von gestern – – Er hat solche Ahnungen!

Sein Gottvertrauen ist freilich groß. Er ist ein Gläubiger, Charles G. Gordon. Jetzt ist es ihm klar genug, daß nicht ein Zufall oder Nubar Pascha, sondern daß Gott ihn erwählt hat, um Afrika zu erlösen. Die Schmach des Sklavenhandels von der Erde zu tilgen. Die Fügung ist sichtbar; gewisse Stellen der Bibel (die Gordon rastlos erforscht) prophezeien das Größte. Seltsam, daß dennoch kein Hochgefühl aufkommt. –

Vielleicht, weil er Kairo gesehen hat, das Ägypten des Vizekönigs Ismail Pascha. Welch ein tolles Regime und welche Verrottung! Der Khedive, in Schulden erstickend und in die Äußerlichkeiten der europäischen Zivilisation kindisch verliebt, erliegt seinen Aussaugern und saugt selber sein Land aus; Kairo riecht nach Verwesungsgeruch und Pariser Parfüms.

Und Khartum! Charles G. Gordon denkt mit einem nervösen Ekelgefühl an die Tage, die er soeben dort verbracht hat, als der offizielle Ehrengast des Generalgouverneurs Ismail Jakub. Der Pascha ist freilich die orientalische Höflichkeit selber gewesen, er hat Gordon mit Empfängen, Paraden, Ehrensalven nicht wenig geplagt und mit dem Schrecklichsten, was er überhaupt auf Erden kennt, großen förmlichen Galabanketten! Aber im Grunde, das weiß Gordon doch sehr gut, haßt dieser fette Pascha, mit dessen Hilfe er die Sklaverei bekämpfen soll, hassen alle die Effendis in Khartum von Herzen den Europäer, dem es am Ende gar mit diesem Kampf gegen den Sklavenhandel ernst ist. Wovon sind sie denn alle so fett? Vom Sklavenhandel, an dem sie beteiligt sind. Was dieser Pascha, was diese Beys ihm unter der Hand nur antun können, das, denkt sich Gordon, werden sie bestimmt nicht unterlassen!

– Ach was! denkt Colonel Gordon sogleich, bei dem trübe Ahnungen stets mit optimistischem Hoffen zu wechseln pflegen, alle Leute werden doch nicht gegen mich sein! Da ist dieser feine Kerl, Abu Saud, den ich am Äquator zu meinem Stellvertreter ernennen werde. In Khartum haben mich alle vor ihm gewarnt, er sei so ein schrecklicher Schurke; ich dürfe nicht einmal in seiner Gegenwart essen. Er könnte mir Gift in mein Essen tun! Armer Abu! Ich bin überzeugt, sie schimpfen auf ihn, weil er anständig ist. Der wird mir helfen, dem vertrau ich gerade, der wird ein großer Mann unter mir! Dann ist da der andere, Raûf Bey, der mich in Gondokoro erwartet, auch ein guter Mann.– – Es wird schon gehen, es muß, ich reinige noch diesen Augiasstall. Diese Menschenjäger, diese Verkäufer von Witwen und Waisen, die Landverwüster, die Herren der blutigen Karawanen, die Sklavenhändler und Negermörder tilge ich von der Erde!

*

Nur, denkt Gordon, plötzlich umspringend wie ein Segler im wechselnden Winde, nur, ist es denn möglich? Kann ich in diesem schrecklichen Land etwas Wirkliches ausrichten?

Der Colonel ist vom Tisch fortgegangen und steht jetzt an der Brüstung des Sonnendecks, blickt auf den Strom. Es ist alles ruhig und friedlich, ganz still, nur unten aus den Mannschaftsquartieren kommt ein halblautes arabisches Lied, in die Länge gezogen. Gordon blickt auf den Strom und die Ufer; sieht ein Boot mit nackten, tiefschwarzen Fischern und zwischen Bäumen ein Dorf aus garbenförmigen Hütten. Eigentlich sucht das wandernde Auge Gordons – nach Störchen. Obwohl er an anderes gedacht hat, seltsam, Störche und Störche beschäftigen Gordon seit gestern abend immer von neuem.

Auf einmal geht er hastig zurück an den Tisch, setzt sich mit rascher Bewegung. Sein gesundes Gesicht zwischen den Bartkoteletten ist jetzt noch röter als sonst, der Blick seiner hellblauen Augen verschwimmt ein bißchen, er ist ganz erregt, wie er wieder die Feder nimmt und sich endlich jenes Erlebnis vom Herzen schreibt. Er ist so, er muß schließlich alles mit Tinte auf Papier setzen. Er schreibt an Augusta:

»Gestern abend fuhren wir langsam durchs Mondlicht, und ich dachte an Euch und meine Expedition, an Nubar Pascha und alles, – als plötzlich aus einem dichten Gebüsch ein lautes Gelächter schallte. Ich war erst ganz aufgebracht über das unerklärliche Lachen, dann aber entdeckte ich, daß es Vögel waren, die aus den Büschen auf eine so unhöfliche Weise über mich lachten. Es ist eine Art von Störchen. Sie schienen prächtig bei Laune und sehr belustigt. Vielleicht, weil da soeben ein Mensch nach Gondokoro reiste – und sich einbildete, dort werde er etwas Nützliches vollbringen können!– –«

Charles G. Gordon hält inne, blättert in dem langen Brief, setzt das Datum ein, das er vergessen hatte: 27. März 1874. Das Datum muß er sich merken.

Der Singsang auf dem Zwischendeck dauert fort. Die Schiffsleute und eingeborenen Diener begleiten die monotone Singerei mit rhythmischem Händeklatschen. Gordon hört nicht zu und hört dennoch. Sein Geist ist umdüstert. Diese abergläubische Ahnung, die ihn gepackt hat, wird stärker, bestimmter. Seine blauen nordischen Augen verlieren sich in die Ferne. Seine Ahnen im schottischen Hochland haben das alle so gut gekannt, das Zweite Gesicht!

*

Mit einem Ruck nimmt Gordon, plötzlich in sich heimgekehrt, das Buch vom Tisch, die kleine Bibel, und öffnet sie an der Stelle, wo das Lesezeichen steckt, das Stück Seide in den Farben des Clans Gordon. Zum wievielten Male seit gestern nacht liest er die Stelle?

Jeremia, Kapitel acht, Vers sieben:

»Der Storch unter dem Himmel weiß die vorausbestimmte Zeit – –«

Welche Zeit? Was ist vorausbestimmt? Was hat dieser Storch gewußt, worüber lacht er so grauenhaft?

*

Gordon reißt sich los. Er legt das Lesezeichen Augustas wieder sorgfältig zwischen die Seiten des Buches Jeremias, aber er blättert dann weiter zurück, sucht die Stelle im Buche Jesaja, die er noch nachlesen wollte, weil er in ihr eine Schilderung seiner jetzigen Reise vermutet und eine mystische Weissagung, die ihn persönlich betrifft. – Seitdem er Ägypten bereist, liebt es Gordon, die Bibel als Reisehandbuch zu lesen. Wo wäre das Nilland besser beschrieben als in der Bibel? Auch diese Strecke des sudanesischen Nils – –

Colonel Gordon blättert mit seinen sonnenverbrannten mageren Händen: Jesaja XVIII, 1, 2:

»Ho to the Land – –«, liest er in seinem englischen Bibeltext –

»Auf in das Land der schwirrenden Schwingen, das jenseits der Ströme von Äthiopien liegt – –«

Colonel Gordon nickt vor sich hin. Wie alles da steht, alles erwähnt ist, alles gewußt ist! »Das Land der schwirrenden Schwingen«, das ist das Sumpfland am oberen Nil, »jenseits der Ströme Äthiopiens«, des Sudans. »Schwirrende Schwingen« – der Myriaden Moskitos! Er liest weiter im Text:

»Es entsendet Botschafter hin zur See, in Booten aus Schilf, die über das Wasser fahren – –«

Nirgends ist die Stimme des Propheten deutlicher, empfindet Gordon. Die »Boote aus Schilf«, das sind jene kleinen Flöße aus Bündeln von Ambatsch-Rohr, auf denen die Schilluk-Neger den Nil zu befahren pflegen. Alles steht in der Bibel! Aber nun:

»Gehet hin, ihr geschwinden Boten, zu einem Volk, das hochgewachsen und glatt ist, zu einem Volk, entsetzenerregend von Beginn an, einem Volk, das zumißt und niedertritt, dessen Land die Ströme zerteilen – –«

Gordon starrt in seine kleine englische Bibel, er versteht das nicht. »Das Volk, das hochgewachsen und glatt ist«, das können, das müssen diese riesenhaften sudanischen Neger sein, mit ihren haarlosen, mit Öl eingeriebenen Leibern. Was aber »messen sie zu« oder »treten sie nieder«? Soll es nicht anders heißen: Niedergetretene, sie selbst, dieses Volk von Sklaven?

Charles G. Gordon seufzt ein wenig, weil es sehr heiß ist und weil er die Bibelstelle nicht recht versteht. Der Schluß des Kapitels, tröstet er sich, klingt ja schön und verheißungsvoll. Von diesem »glatten und riesigen Volk« zwischen den Strömen, das sind ja eben die Neger, die er befreien wird, von den Negervölkern seiner neuen Provinz zwischen den Quellströmen des Nils, heißt es, sie werden:

»Geschenke bringen dem HERRN Zebaoth«, an den Ort, »da der Name des HERRN der Heerscharen ist, zum Berge Zion – –«

Nur halb verständlich, aber gewiß eine gute Weissagung! Charles G. Gordon klappt das Buch zu (aber das Lesezeichen, das hervorsteht, erinnert an Störche!). Er bemüht sich, in seinem Herzen zu glauben, daß da eine an ihn direkt gerichtete große Verheißung ist, er wird diese Versklavten, zu Boden Getretenen zur Erlösung führen, er weiß nur nicht wie.– –

Er schließt die Augen und sieht sogleich Bilder: Wilde Bewaffnete, die friedliche Dörfer umringen, den Überfall, die brennenden Hütten, die gemordeten Männer, die Frauen davongeschleppt, die Jünglinge durch die Wüste marschierend, mit dem Joch an der Gurgel; Skelette am Wege der schrecklichen Karawane, die Nilpferdpeitsche, den Sklavenmarkt. – – –

Charles George Gordon weiß, daß er nicht leben kann und dieses dulden.– –

Er schlägt mit seiner braungebrannten Soldatenfaust auf den Tisch; der feine Mund unter dem weichen Schnurrbart schließt sich fest.

*

Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er am Bordrand steht, mit dem Fernglas, und die Ufer mustert – ob Störche zu sehen sind.

Manchmal verbirgt er das vor sich selber. Er wollte nur wissen, wo er jetzt ist. Wie heißt dieses Dorf am Ufer? Wie diese Insel? Die Flußkarte, die er hat, die von Manuel, ist viel zu schlecht; Gordon macht sich Notizen und Skizzen für eine neue Karte des Nils, die er zeichnen will. – Von Khartum, notiert er, 160 Meilen bis Kawa. Das war dieser Hafen und Holzplatz. Die Stelle von gestern lag ungefähr schräg gegenüber, die Insel, in deren Gebüschen die Störche – – –

Er sieht auf Manuels Nilkarte nach, wie denn diese Insel geheißen hat. Vielleicht hat sie gar keinen Namen. Nein, da steht er. Ausnahmsweise einmal.

Die Insel, an deren Ufer der Storch gelacht hat (der Storch weiß die vorausbestimmte Zeit), diese völlig unbekannte Insel im Weißen Nil heißt: Abba.


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