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Siebentes Kapitel

1.

Es war nahe an sechzehn Uhr dieses Tages, des letzten im Jahr, als Mabel der kleinen Kirche zuschritt, welche in derselben Straße, etwas unterhalb ihres Hauses, stand.

Sie hatte am Nachmittage ein wenig in ihrem Stuhle geschlummert und war mit jenem eigentümlichen Gefühle von Geistesfrische und Gemütsreinheit erwacht, die manchmal einem solchen Schlafe folgen. Sie wunderte sich später, wie sie zu solcher Zeit geschlafen haben konnte, und ganz besonders darüber, wie es kam, daß sie nichts von jenem Druck und Furcht und Raserei bemerkt hatte, der eben jetzt sich über Stadt und Land ausbreitete. Später noch erinnerte sie sich einer ungewöhnlichen Geschäftigkeit auf der breiten Straße unten, als sie aus ihrem Fenster geblickt hatte, und eines ebenso ungewöhnlichen Lärmes von Hörnern und Pfeifen; doch sie machte sich weiter keine Gedanken darüber und begab sich eine Stunde später nach der Kirche, um dort ein wenig Einkehr zu halten.

Sie hatte den stillen Ort liebgewonnen, und so wie heute kam sie öfters hieher, um ihre Gedanken zu ordnen und sie auf die Bedeutung dessen, was hinter der Oberfläche des Lebens lag, zu konzentrieren, auf die gewaltigen Prinzipien, welche die Grundlage alles Lebens bilden, auf die so unverkennbaren wahren Realitäten des Lebens. Solche Andachtsübungen hatten sich in der Tat bereits in gewissen Klassen des Volkes festgesetzt. Dabei wurden dann und wann Ansprachen gehalten; es gab bereits kleine Bücher als Führer für das innere Leben, die eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den alten katholischen Büchern über die innere Gebetsweise hatten.

Sie schritt heute nach ihrem gewohnten Platze, setzte sich nieder, faltete die Hände und blickte ein paar Minuten in den alten, steinernen Altarraum, auf das weiße Bild und die dunkelnden Fenster. Dann schloß sie die Augen und begann, der gewohnten Methode folgend, zu denken. Zuerst richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst unter Loslösung alles dessen, was rein äußerlich und vergänglich war, und zog sich ganz in ihr Inneres zurück, bis sie jenen geheimen Funken fand, der, den Einflüssen des Wandels und der Gebrechlichkeit entzogen, sie zu einem wesentlichen Gliede der göttlichen Rasse der Menschheit machte. Dies war der erste Schritt.

Der zweite bestand in einem Akte des Intellekts, gefolgt von einem solchen der Einbildung. Alle Menschen besaßen diesen Funken, dachte sie … Dann ließ sie ihre Einbildungskraft wandern, ihr inneres Auge flog über das Weltgetriebe hin und hielt Umschau unter dem Licht und Dunkel der beiden Hemisphären, den zahllosen Millionen menschlicher Wesen, – Kinder traten in die Welt, alte Leute verließen sie, die in der Vollkraft standen, erfreuten sich derselben und ihrer eigenen Stärke. Zurück durch die Jahrhunderte blickte sie, durch jene Zeiten des Verbrechens und der Blindheit, da die Menschheit durch Wildheit und Aberglaube zur Kenntnis ihrer selbst emporwuchs, hin auch durch die Zeiten, die noch bevorstanden, wo Generation auf Generation folgend zu einer solchen Höhe der Vollendung sich erhob, die, wie sie sich selbst gestand, sie nicht voll zu erfassen imstande sein würde, weil sie ihr nicht angehörte. Und doch, mußte sie sich wieder sagen, war diese Höhe bereits erreicht; die Geburtswehen waren vorüber, denn war nicht er gekommen, der Erbe der Zeiten? …

Ein dritter, intensiver Akt brachte sie zur Erkenntnis der Einheit des Alls, des nie verlöschenden Mittelpunktes, von dem jeder Funke nur eine Ausstrahlung bildete – jenes unermeßlichen, leidenschaftslosen, göttlichen Wesens, das herauf durch die Jahrhunderte in steter Realisierung sich befand, des einen, trotz der Vielheit dessen, das die Menschen Gott genannt, das aber nicht länger unbekannt, sondern das die transzendente Summe ihrer selbst war, – dessen, der mit der Ankunft des neuen Erlösers auferstanden und erwacht war und sich selbst als eins zu erkennen gegeben hatte. Und hier verweilte sie in Betrachtung dessen, was sie im Geiste gesehen, bald diese Tugend, bald jene vornehmend, bemüht, sie dem Geschauten anzupassen und sich ihre Fehler vorhaltend. All dieses erschien ihr als die endliche Erfüllung alles bisherigen Sehnens, die Summe dessen, worauf die Menschheit gehofft, – jener Geist des Friedens, der so lange zurückgehalten und doch durch die Leidenschaften der Welt sich in steter Erzeugung befand, der, anfangs nur in seinen Umrissen hervortretend, sich durch die Energie individueller Existenzen erhielt und in jedem Pulsschlage sich äußerte und nun endlich herrschte, Freude verbreitend, allen offenbar und triumphierend.

Gestört durch ein Geräusch, wie sie später vermutete, öffnete sie die Augen. Vor ihr lag der einfache Fußboden im matten Schimmer der Abenddämmerung, die Altarstufen, dort rechts die Kanzel, und darüber das zum Frieden stimmende, nun in tiefes Dunkel gehüllte Gewölbe, welches das weiße Steinbild der Mutterschaft überspannte, mit seinem von Maßwerk verzierten Fenster.

Wieder vernahm sie das Geräusch, das ihren Frieden in Verwirrung brachte, obwohl sie sich die Ursache nicht erklären konnte.

Nun war es noch näher gekommen, und etwas erstaunt wandte sie sich um und blickte das Schiff der Kirche hinab.

Der Lärm, ein seltsames Gesumme, das bald anwuchs, bald sich wieder legte, kam von draußen. Sie lauschte.

Dann schlug ihr Herz ein wenig rascher, und sie erhob sich. Ein einziges Mal vorher hatte sie ähnliches gehört, ein einziges Mal, – auf einem Platze, wo eine Menschenmasse einen Punkt unter einer Tribüne umtobte …

Leise verließ sie ihren Sitz, schritt den Seitengang hinab, schob den Vorhang zur Seite, drückte die Klinke und trat hinaus.

Die Straße, auf die sie durch das den Eingang versperrende Gitter hinausblickte, schien ungewöhnlich leer und dunkel. Nach links und rechts hin zogen sich Häuserreihen, und der darüber sich spannende Abendhimmel erglühte noch im rötlichen Licht. Doch schien es ihr, als habe man die Straße zu beleuchten vergessen. Nicht ein lebendes Wesen war zu erblicken.

Sie hatte eben die Hand auf die Klinke der Gittertüre gelegt, als ein plötzliches Geräusch von Schritten sie innehalten ließ, und im nächsten Augenblick erschien keuchend, nach Atem ringend und Entsetzen im Auge, ein Kind mit weit ausgestreckten Armen.

»Sie kommen, sie kommen«, schluchzte die Kleine, als sie das auf sie niederblickende Gesicht gewahrte. Dann klammerte sie sich an die Eisenstangen und starrte über die Schulter zurück.

Mabel öffnete rasch das Gitter; das Kind sprang herein, rannte nach der Türe und schlug dagegen; dann, sich umwendend, klammerte es sich an ihr Kleid und drückte sich eng in die Falten. Mabel schloß das Tor.

»Aber, aber«, fragte sie, »wer ist es denn? Wer kommt denn?«

Doch das Kind verbarg sein Gesicht und schmiegte sich in die schützenden Falten; im nächsten Augenblick kam das Geschrei und eilige Fußtritte heran.

Nach höchstens zwei Sekunden erschienen die Vorläufer dieser schrecklichen Prozession. Erst kam fliehenden Schrittes eine Schar Kinder, lachend, entsetzt, außer sich, schreiend und während des Laufens sich fortwährend umblickend, dazwischen ein paar kläffende Hunde, und zu beiden Seiten auf den Gehsteigen einige Weiber. Als Mabels Auge, in Schrecken befangen, die Straße überflog, sah sie an einem der Fenster gegenüber, bleich und angsterfüllt, das Gesicht eines Mannes – eines Invaliden, der sich dorthin schleppte, um zu sehen, was es gebe. Eine Gruppe – ein gut gekleideter Mann in Grau, ein paar Frauen mit ihren Kindern auf den Armen, ein feierlich ernst dreinblickender Knabe – stand unmittelbar vor ihr, außerhalb des Gitters; jeder sprach, keiner hörte auf den anderen, und alle wandten sich nach links hinüber, der Straße zu, aus der sich der Tumult und die Schritte rasch näherten. Und doch brachte es Mabel zu keiner Frage. Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Ton wollte aus der Kehle. Spannung und Erwartung hatten sie ganz eingenommen. Bilder ohne jede besondere Bedeutung zogen in diesem Moment, in dem alle ihre Sinne erstarrt schienen, an ihr vorüber, – Oliver, während des Frühstücks heute morgens, ihr Schlafzimmer mit seinen matten Tapeten, der dunkle Altarraum und das weiße Steinbild, auf das sie eben noch geblickt.

Nun strömte es dichter heran; ein Trupp junger Leute, alle Arm in Arm, kam in Sicht, alle schwätzend oder laut schreiend, keiner auf den andern hörend, die ganze Straßenbreite einnehmend, und dahinter drängte sich die Menge wie eine Woge in einem ausgemauerten Kanal; kaum konnte man in dieser Masse von Gesichtern und unter dem mit jeder Sekunde an Dunkelheit zunehmenden Abendhimmel die Männer von den Weibern unterscheiden. Mabels Auge war so gebannt, daß sie von dem Geschrei, so laut und ununterbrochen es erscholl, kaum etwas vernahm. Durch die Geschwindigkeit und überwältigende Macht, mit der sich alles abspielte, mochte man meinen, eine Schar von Phantomen sei durch irgendeinen Ausgang der Geisterwelt entkommen und nun auf einen Moment durch einen offenen Spalt sichtbar geworden, um dann wieder in Finsternis zu verschwinden.

Gewisse Gegenstände begannen nun über den Köpfen der Menge zu erscheinen – Dinge, die sie bei dem Mangel an Licht nicht unterscheiden konnte, – Stangen und phantastische Formen, Stoffetzen, die etwa Bannern glichen und sich bewegten, als ob Leben in ihnen wäre, von einer Seite zur andern schwankten und von unten gestützt und getragen wurden.

Von Leidenschaft verzerrte Gesichter wandten sich ab und zu nach ihr und schrien ihr Worte zu, während der Zug sich vorbeiwälzte; doch sie bemerkte sie kaum. Sie beobachtete jene eigentümlichen Embleme, ihre Augen suchten das Dunkel zu durchdringen, und halb vermutend, halb vor ihren Vermutungen zurückschreckend, bemühte sie sich, diese schlotternden, zerfetzten Formen zu unterscheiden.

Da auf einmal leuchtete aus den unter den vorspringenden Dächern verborgenen Lampen das Licht auf, – jenes starke, doch sanfte und angenehme, in den großen Untergrundmaschinen erzeugte Licht, auf das man in der Leidenschaft dieses verhängnisreichen Tages gänzlich vergessen hatte. Und im Augenblick verwandelte sich die Schar der Phantome und Gestalten in die erbarmungslose Wirklichkeit von Leben und Tod.

Vor ihr bewegte sich ein hohes Kreuz mit einer Figur daran, deren einer Arm an der angenagelten Hand herabhing und bei jedem Schritt hin- und herbaumelte, während hinterher ein gestickter Fetzen flatterte.

Gleich darauf kam, auf einen Pfahl gespießt, der nackte Körper eines Kindes, weiß und rosig, das Köpfchen auf die Brust herabgesunken und ebenfalls mit den Armen schlenkernd.

Und dann erschien die Gestalt eines Mannes, an einem um den Hals laufenden Strick hängend, und wie es schien, in ein schwarzes, weites Gewand mit Kragen gekleidet, das mit einem schwarzen Barett bedeckte Haupt mit dem sich windenden Strick im Kreise drehend.

2.

An diesem Abend kam Oliver ungefähr eine Stunde vor Mitternacht nach Hause.

Was ihn betraf, so stand das, was er am Tage gehört und gesehen hatte, noch zu lebhaft und frisch vor ihm, als daß er sich ein richtiges Urteil darüber hätte bilden können. Von seinen Fenstern in Whitehall hatte er den Parlament-Square mit einer Volksmenge angefüllt gesehen, wie man sie in England seit den Tagen der Christenheit nicht mehr kannte, eine Menge, von solcher Wut erfüllt, daß man den Ursprung derselben nur in ganz vernunftwidrigen Ursachen suchen mußte. Dreimal in den Stunden unmittelbar nach der Bekanntgabe der Katholikenverschwörung und dem Ausbruche der Lynchjustiz hatte er bei dem Ministerpräsidenten angefragt, ob nichts getan werden könne, um den Aufruhr zu unterdrücken, und jedesmal hatte er die zweifelhafte Antwort erhalten, man werde tun, was man tun könne; daß ein bewaffnetes Einschreiten vorläufig nicht in Frage kommen könne, daß aber die Polizei ihr möglichstes tue.

In bezug auf die Expedition der Flugschiffe nach Rom hatte er, wie seine übrigen Kollegen, stillschweigend seine Zustimmung gegeben. Es war dies, wie Snowford gesagt hatte, ein gerichtlicher Strafakt, bedauerlich zwar, aber notwendig. Der Friede konnte in diesem Falle nur durch kriegerische Maßregeln gesichert werden, oder besser gesagt – da der Krieg sich überlebt hatte – nur durch die Strenge des Gesetzes. Diese Katholiken hatten sich als ausgesprochene Feinde der Gesellschaft erwiesen; nun gut, die Gesellschaft müsse sich also wenigstens dies eine Mal zur Wehr setzen. Der Mensch wäre eben immer menschlich. Und Oliver hatte zugehört und geschwiegen.

Als er in einem der Regierungsflugschiffe auf seinem Heimwege über London schwebte, hatte er mehr als einmal Gelegenheit gehabt, zu sehen, was unter ihm vorging. Die Straßen waren taghell und schattenlos in dem weißen Lichte, und jede Straße glich einer kriechenden Schlange. Ein ununterbrochenes Stimmengemurmel, leise und sanft, zuweilen mit einem Schrei untermischt, drang von unten herauf.

Der Gedanke an das, was ihn daheim erwartete, war ihm nicht besonders angenehm. Einmal vor etwa fünf Stunden hatte er die Stimme seiner Gattin durch das Telephon gehört, und was er da vernommen, hatte ihn fast bewogen, alles stehen und liegen zu lassen und zu ihr zu eilen. Und doch war er auf das, was er vorfand, kaum gefaßt.

Bei seinem Eintritt in das Wohnzimmer war außer dem entfernten Summen der Straße kein Laut vernehmbar. Das Zimmer kam ihm sonderbar kalt und düster vor; der einzige Lichtschimmer kam durch eines der Fenster, dessen Vorhänge zurückgezogen waren, und gegen den klaren Himmel draußen zeichnete sich scharf die dunkle, hohe Gestalt einer in Starren und Horchen versunkenen Frau ab …

Er entzündete die elektrische Lampe, und Mabel wandte sich langsam ihm zu Sie trug ihr Alltagskleid, hatte einen Mantel um ihre Schultern geworfen, und ihr Gesicht war nahezu das einer Fremden. Alle Farbe war daraus gewichen, ihre Lippen zusammengepreßt, und aus ihren Augen sprach eine innere Bewegung, die er nicht zu deuten imstande war. Es mochte Zorn, Schrecken oder Elend sein.

Dort stand sie in dem ruhigen Lichte, bewegungslos ihn anstarrend. Einen Augenblick wagte er es nicht, zu sprechen. Er schritt hinüber zum Fenster, schloß es und zog die Vorhänge zusammen; dann faßte er die steife Figur sanft beim Arm …

»Mabel«, sagte er, »Mabel!«

Sie ließ sich zum Sofa hinüberziehen, doch blieb sie trotz seiner Berührung vollkommen kalt. Er setzte sich nieder und blickte sie mit einem Gemisch von Verzweiflung und Furcht an.

»Liebste, ich bin todmüde«, sagte er.

Noch immer starrte sie ihn an. In ihrer Haltung lag jene Leblosigkeit, wie sie sonst nur Schauspieler wiedergeben, und doch wußte er, daß es sich bei ihr um Wahrheit handelte. Dieses Schweigen hatte er bei ihr schon mehrmals als Zeichen des Schreckens gesehen – einmal sicher, und zwar beim Anblick eines Bluttropfens auf ihrem Schuhe.

»Komm, mein Liebling, setze dich wenigstens«, sagte er.

Mechanisch gehorchte sie ihm, setzte sich und starrte ihn immer noch an. Nochmals drang schwaches Geräusch von der unsichtbaren Welt des Tumultes draußen durch das Schweigen, und erstarb wieder. Hier drinnen war alles still. Er wußte nur zu wohl, daß zwei Dinge in ihr rangen: die Treue zu ihrem Glauben und der Abscheu vor jenen im Namen der Gerechtigkeit begangenen Verbrechen. Wie er sie so anblickte, sah er, daß diese beiden einen Kampf auf Leben und Tod führten, daß der Abscheu überwog und daß sie selbst nichts weiter als das passive Schlachtfeld war. Dann, als draußen in der Entfernung von etwa einer Meile mit dem Geheul eines Wolfes die Stimme des Pöbels sich erhob und wieder versank, da brach die Spannung … Sie warf sich ihm entgegen, er fing sie an den Handgelenken auf, und, in seine Arme geschlossen, lag sie mit Gesicht und Oberkörper auf seinen Knien, während ihr Körper in innerer Bewegung sich wand …

Eine volle Minute verging, und keines sprach. Oliver begriff alles, und doch, in diesem Augenblicke fand er keine Worte. Er zog sie nur noch näher an sich, küßte wiederholt ihr Haar und setzte sich zurecht, um sie zu stützen. Währenddem überlegte er, was er ihr nun sagen würde.

Dann erhob sich ihr glühendes Gesicht einen Moment, blickte ihn leidenschaftlich an, ließ ihr Haupt wieder sinken und stieß schluchzend abgebrochene Worte aus.

Er konnte nur hier und da ein Wort verstehen, doch wußte er, was sie zu besagen hatten.

Es sei der Untergang all ihres Hoffens, seufzte sie, das Ende ihrer Religion. Man möge sie sterben lassen, sterben, und damit wäre alles zu Ende; alles sei vorbei, vorbei – vernichtet durch die mordende Leidenschaft ihrer Glaubensgenossen … Sie waren schließlich auch nicht besser als die Christen, so zügellos wie jene, an denen sie ihre Rache ausübten, so verblendet, als wäre Julian, der Erlöser, nie erschienen; es war alles verloren … Krieg und Leidenschaft und Mord waren wieder dorthin zurückgekehrt, wo sie geglaubt hatte, man hätte ihnen auf ewig Lebewohl gesagt … Die brennenden Kirchen, die gehetzten Katholiken, das Wüten auf den Straßen, das sie heute mitangesehen hatte, die auf Spießen getragenen Körper des Kindes und des Priesters, die zerstörten Kirchen und Klöster … Sie stieß es hervor, unzusammenhängend, von Schluchzen unterbrochen, Einzelheilen von Schrecknissen, Ausrufe des Jammers, Vorwürfe, denen sie, immer auf seine Knie gelehnt, durch verzweifelte Gebärden des Kopfes und der Hände Nachdruck verlieh. Sie war vollständig gebrochen. Noch einmal zog er sie, sie unter den Armen fassend, empor. Er war vom Arbeiten erschöpft, doch wußte er, er mußte sie beruhigen. Diese Krisis war viel ernster als alle vorhergegangenen. Und doch war er sicher, daß sie dieselben überwinden würde.

»Setze dich, Liebling«, sagte er. »So, … gib mir deine Hände, und nun höre.«

Seine Verteidigungsrede war bewundernswert; sie war das, was er sich selbst den ganzen Tag wiederholt hatte.

Der Mensch sei eben noch nicht vollkommen, sagte er, in seinen Adern flöße das Blut derer, die zwanzig Jahrhunderte hindurch Christen gewesen waren … Man müsse nicht verzweifeln, der Glaube an die Menschheit sei ja gerade das Wesen der Religion, der Glaube an das bessere Selbst des Menschen, an das, was aus ihm werden würde, nicht an das, was er gegenwärtig war. Man stehe erst in den Anfängen der neuen Religion, noch besitze sie nicht ihre Vollkraft; es müssen auch sauere unter den ersten Früchten sein … »Bedenke auch welche Herausforderung! Vergiß nicht, was für ein ungeheueres Verbrechen diese Katholiken geplant hatten; sie hatten es unternommen, dem neuen Glauben mitten ins Herz einen Stoß zu versetzen …«

»Liebling«, sagte er, »die Menschen lassen sich nicht in einem Augenblick ändern. Was dann, wenn es diesen Christen gelungen wäre! … Ich verurteile alles ebenso streng wie du. Diesen Nachmittag las ich einige Zeitungen, die allem, was die Christen getan haben, an Bosheit gleichkommen. Sie jubeln ob all dieser Verbrechen. Es wird die neue Bewegung um zehn Jahre zurückdrängen … Glaubst du denn nicht, daß es Tausende gibt, die genau wie du diese Gewalttätigkeit hassen und verabscheuen? Aber worin besteht denn schließlich der Glaube, als darin, daß die Barmherzigkeit den Sieg davontragen wird? Glaube, Geduld und Hoffnung – dies sind unsere Waffen.«

Er sprach mit leidenschaftlicher Überzeugung, seine Augen auf sie geheftet, und bemühte sich, ihr sein Vertrauen einzuflößen, zu befestigen, was bei ihr noch im Zweifel schwankte.

Allmählich verschwand jener Ausdruck wilden Entsetzens aus ihren Augen, und tiefstes Elend prägte sich in ihnen aus, während er sprach und seine Persönlichkeit wieder Einfluß auf sie auszuüben begann. Doch noch war alles nicht vorüber.

»Aber die Luftschiffe«, schrie sie, »die Luftschiffe! Das geschah mit Vorbedacht, das ist nicht das Werk des Pöbels!«

»Mein Liebling, es geschah mit ebensowenig Vorbedacht wie das andere. Wir sind alle menschlich, wir sind alle unreif. Gewiß, der Ministerrat gab seine Zustimmung … seine Zustimmung, bedenke dies. Auch die deutsche Regierung konnte nicht anders als nachgeben. Wir müssen eben die Natur nach und nach bezähmen, anstatt ungestüm zu Werke zu gehen.«

Wieder redete er ihr einige Minuten zu, indem er seine Argumente wiederholte, sie beruhigte, tröstete, ermutigte, und bald konnte er sehen, daß sein Einfluß sich bemerkbar zu machen begann. Doch kam sie wieder auf eines seiner Worte zurück.

»Zustimmung! Und ihr gabt eure Zustimmung!«

»Liebste, ich sagte gar nichts, weder dafür noch dagegen. Glaube mir, wären wir dagegen gewesen, so wären noch mehr Morde geschehen, und das Volk wäre auch noch über die hergefallen, die es regieren. Wir verhielten uns passiv, da wir nichts tun konnten.«

»Ach, es wäre aber noch besser gewesen, unterzugehen! O Oliver, laß mich wenigstens sterben! Ich kann es nicht ertragen.«

Er zog sie an den Händen, die er noch in den seinen hielt, näher zu sich heran.

»Liebste«, sagte er ernst, »kannst du mir nicht ein wenig vertrauen? Wenn ich dir alles erzählen könnte, was sich heute zugetragen, so würdest du begreifen. Aber glaube mir, ich bin nicht herzlos. Und hast du denn Julian Felsenburgh vergessen?«

In ihre Augen trat für einen Moment der Ausdruck des Zögerns; in ihrem Innern kämpfte ihre Anhänglichkeit an ihn mit ihrem Abscheu gegen all das, was sich zugetragen. Und noch einmal trug die Treue den Sieg davon, der Name Felsenburgh war ausschlaggebend, und mit einer Flut von Tränen kehrte das Vertrauen zurück.

»O Oliver«, sagte sie, »ich weiß, ich vertraue dir, doch ich bin so schwach, und es ist alles so furchtbar. Und er ist so stark und barmherzig. Und morgen wird er bei uns sein?«

* * *

Von dem eine Meile weit entfernten Glockenturme tönte Mitternacht, während sie noch so beisammensaßen und sprachen. Noch zitterte sie von dem inneren Kampfe, aber mit einem Lächeln um die Lippen blickte sie, immer noch seine Hände festhaltend, zu ihm auf. Er sah, daß die Reaktion sich bei ihr nun mit aller Kraft eingestellt hatte.

»Das neue Jahr, mein Gatte«, sagte sie, sich erhebend und ihn emporziehend. »Ich wünsche dir ein glückliches neues Jahr«, fuhr sie fort, »Oliver, o hilf mir!«

Sie küßte ihn, und immer noch seine Hände in den ihrigen, blickte sie ihn mit hellen, wenn auch noch tränenerfüllten Augen an.

»Oliver«, rief sie wieder, »dies eine muß ich dir sagen. Weißt du, was ich dachte, ehe du kamst?«

Er schüttelte den Kopf und sah sie erwartungsvoll an. Wie süß sie war! Er fühlte ihre Hände sich fest um die seinigen schließen.

»Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen«, flüsterte sie, daß ich allem ein Ende machen müßte! Du weißt, was ich meine.«

Sein Herz erbebte, als er dies hörte, und er zog sie näher an sich.

»Es ist nun alles vorüber! Es ist alles vorüber! …« rief sie. »O, sieh mich nicht so an. Ich könnte es dir nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre.«

Während ihre Lippen sich trafen, ertönte aus dem Nebenzimmer eine elektrische Glocke, und Oliver, wohl wissend, was diese zu bedeuten hatte, fühlte in diesem Moment sein Herz erzittern. Er machte ihre Hände los und sah sie lächelnd an.

»Die Glocke!« sagte sie mit einem Gefühl der Furcht.

»Also ist alles wieder im klaren zwischen uns?«

In ihren Zügen prägten sich Aufrichtigkeit und Vertrauen aus.

»Es ist alles wieder gut«, erwiderte sie; und ungeduldig ertönte die Glocke zum zweiten Male. »Geh, Oliver! Ich werde hier warten.«

Eine Minute später war er wieder zurück, bleich und verstört, und mit zusammengepreßten Lippen. Er ging gerade auf sie zu, ergriff nochmals ihre Hände und blickte ernst in ihre ruhigen Augen.

In beider Herzen hielten Entschlossenheit und Glauben die Regungen des Gefühls nieder, das noch nicht erstorben war. Er holte tief Atem.

»Ja«, sagte er mit tonloser Stimme, »es ist vorüber.«

Ihre Lippen zitterten; aus ihren Wangen war alle Farbe gewichen, während er mit festem Griff ihre Hand umschloß.

»Höre«, sagte er, »du mußt dich in das Unvermeidliche fügen. Es ist vorüber. Rom ist nicht mehr. Jetzt ist es an uns, etwas Besseres zu errichten.«

Schluchzend warf sie sich in seine Arme …


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