Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

1.

Die Flugschiffstation war an diesem Nachmittag verhältnismäßig leer, als die kleine Gesellschaft von sechs Personen aus dem Lift heraustrat. Die beiden Kardinäle Deutschlands und Englands waren in einfache Pelzmäntel gehüllt und ohne Abzeichen irgend welcher Art; ihre Kapläne standen in ihrer Nähe, während die beiden Diener mit dem Gepäck vorauseilten, um ein eigenes Coupé zu belegen.

Die vier verhielten sich vollkommen schweigend, beobachteten das geschäftige Treiben der Beamten an Bord und starrten unbewußt das glänzend glatte, in Stahl gekleidete Monstrum an, das ihnen zu Füßen lag und die großen, zusammengefalteten Flossen, die sogleich mit einer Geschwindigkeit von hundertfünfzig Meilen in der Stunde die dünne Luft schneiden sollten.

Percy wandte sich mit einer plötzlichen Bewegung von den anderen weg und hin zum offenen Fenster, das gegen Rom hin ging, und, die Ellenbogen auf die Brüstung gestützt, blickte er hinaus.

Ein seltsamer Anblick bot sich ihm dar.

Mit der sinkenden Sonne zog die Dämmerung herauf, und der über ihm blaßgrüne Himmel färbte sich gegen den Horizont hinab zu einem klaren, lohenden Orange mit einigen blutroten Streifen darunter, und davor breiteten sich die dunkelvioletten Abendschatten der Stadt aus, da und dort unterbrochen vom Schwarz der Zypressen oder den dünnen, blätterlosen und die Mauern überragenden Gipfeln eines Pappelhaines. Aber mitten durch das Gemälde ragte der mächtige Dom in nicht zu beschreibenden Farbentönen empor; er war grau, er war violett – er war, was das Auge daraus zu machen beliebte –, und durch die Kuppel hindurch, ihrer Kompaktheit das Aussehen einer Seifenblase verleihend, schien der südliche Himmel ein mattes Orange. Was es an Erhabenem und Eindrucksvollem in dem Bilde gab, war sie allein; die zackige Linie von Kuppeln, Spitzen und Giebeln, die zahllosen Dächer darunter im Tale Inferno, die zarten Farben der fernen Berge, alles das war nur Beiwerk zu diesem herrlichen Tabernakel Gottes. Schon begannen Lichter aufzuflackern, wie sie nun dreißig Jahrhunderte hier aufgeflackert hatten; dünne Rauchfäden stiegen kerzengerade empor zum dunkelnden Himmel. Unten in den engen Straßen konnte Percy ganz kleine Gestalten wahrnehmen, die wie von der Nacht überraschte Ameisen dahineilten; der Knall einer Peitsche, der Schrei einer Frauenstimme, das Weinen eines Kindes drangen wie Einzelheiten aus dem Lärm einer anderen Welt zu dieser schwindelnden Höhe hinauf. Doch auch sie werden bald verstummen, und es wird Friede werden.

Ein tiefer Glockenschlag tönte von weitem her und die schlaftrunkene Stadt schickte sich an, ihren Gutenachtgruß zur Mutter des Herrn emporzusenden. Von tausend Türmen klang die feine Melodie, in tausend Abstufungen den weiten Luftraum durchflutend; Sankt Peter in tiefem Baß, in weichem Tenor der Lateran, im rauhen Schlage irgendeine alte, verfallene Kirche, das durchdringende Geklingel der Klöster und Kapellen – alles durch die feierliche Abendluft gemildert und mit geheimnisvollem Zauber umwoben: es war die Vereinigung zartesten Tones mit klarstem Lichte. Oben das flüssige Orange des Himmels, unten der Glocken süße, leichte Zaubertöne.

» Alma Redemptoris Mater«, flüsterte Percy, und Tränen benetzten seine Augen. »Gütige Mutter des Erlösers – du Pforte des Himmels, du Meeresstern – erbarme dich der Sünder. Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geiste …

Eine andere Glocke ertönte schrill in nächster Nähe und rief ihn zur Erde zurück, zu Leid und Arbeit und Kummer; er wandte sich zur Seite, wo, von innen heraus glänzend erleuchtet, einem riesigen Glühkörper gleich, bewegungslos das Luftschiff lag und die beiden Priester, dem deutschen Kardinal folgend, den schmalen Gang entlang schritten.

Es war das Schlußcoupé, das die Diener belegt hatten, und, nachdem er sich vergewissert, daß der Greis bequem saß, begab er sich wieder ebenso wortlos hinaus in den Mittelgang, um noch einen letzten Blick auf Rom zu werfen.

Die Ausgangstüre war inzwischen geschlossen worden, und als Percy am gegenüberliegenden Fenster stand und nach der hohen Mauer hinblickte, die jeden Augenblick unter ihm versinken mußte, begann sich durch das ganze zierliche Gefüge das Vibrieren der elektrischen Maschine fühlbar zu machen. Irgendwo in der Nähe vernahm man noch Stimmen, schwere Schritte machten den Boden erzittern, und zum zweiten Male erscholl ein Glockenzeichen, nunmehr in doppeltem Anschlag, worauf in angenehmer Harmonie ein Akkord ertönte. Ein drittes Läuten, das Zittern hörte auf, und gleich einem herabfallenden Zollbaum sank plötzlich der Rand der hohen, gegen den lohenden Himmel sich erhebenden Mauer, auf die er sein Auge geheftet, und er schwankte ein wenig auf seinem Platze. Einen Moment später erschien die Kuppel wieder, versank gleichzeitig, wie die ganze Stadt mit ihren Türmen und den langen Reihen dunkler Dächer, zwischen denen hie und da ein Licht aufleuchtete, und begann, sich wie ein Wasserwirbel zu drehen; selbst die schimmernden Sterne schienen sich nach allen Richtungen hin zu bewegen. Noch ein langgezogenes Signal, die wunderbare Maschine nahm ihre Richtung, schwang die Flügel und trat ihre lange Reise nordwärts an, während das Pfeifen der durchschnittenen Luft, schrill ansteigend, allmählich auf surrendes Schweigen herabsank.

Mehr und mehr versank die Stadt im Hintergrunde; noch glich sie nur mehr einem grauen Flecken auf schwarzem Grunde. Der Himmel schien noch unermeßlicher und allumfassender, je mehr die Erde sich in Dunkelheit verlor; er erglühte wie eine ungeheure Kuppel aus wunderbarem Glase, deren Glanz und Licht von Minute zu Minute abnahm; und wie nun Percy nochmals sein Auge über die äußerste Grenze hingleiten ließ, war die Stadt nur noch ein Streifen mit einer blasenförmigen Erhebung – ein Streifen mit einer kaum wahrnehmbaren Unterbrechung – ein Streifen, der sich in Nichts verlor.

Er atmete tief auf und kehrte zu seinen Freunden zurück.

2.

»Sagen Sie mir noch einmal«, sagte der alte Kardinal, als die beiden einander gegenüber saßen und die Kapläne in einem anderen Coupé Platz genommen hatten, »wer ist dieser Mann?«

»Dieser Mann? Er war Sekretär des Oliver Brand, eines unserer Politiker. Er brachte mich an das Sterbebett der alten Mrs. Brand und verlor infolgedessen seine Stelle. Er arbeitet jetzt als Journalist. Er ist durchaus ein Ehrenmann. Nein, er ist kein Katholik, obwohl er ein solcher werden möchte. Dies ist der Grund, weshalb sie ihn ins Vertrauen gezogen haben.«

»Und diese?«

»Ich weiß nichts von ihnen, ausgenommen, daß sie eine ganz verzweifelte Gesellschaft sind. Sie haben genügend Glauben, um zu handeln, aber um geduldig zu sein, dazu reicht er nicht hin … Ich vermute, sie dachten, daß der Mann mit ihnen sympathisiere. Aber unglücklicherweise besitzt er ein Gewissen, und er sieht auch ein, daß irgendein Versuch dieser Art die bisher gegen uns geübte Duldung erschöpfen müßte. Eminenz, haben Sie bemerkt, welchen Punkt der Haß gegen uns erreicht hat?«

Der alte Herr nickte bedauernd.

»Und ob ich es bemerkt habe!« murmelte er. »Und auch meine Deutschen sind daran beteiligt? Sind Sie sicher?«

»Eminenz, es ist ein weit verzweigtes Komplott, das seit Monaten zusammengebraut wurde. Woche um Woche waren Versammlungen. Man hat das Geheimnis ganz wunderbar zu wahren verstanden. Ihre Deutschen verschoben es nur, damit der Schlag ein um so vollständigerer wäre. Und nun, morgen –« Percy lehnte sich mit einer Gebärde der Verzweiflung zurück.

»Und der Heilige Vater?«

»Ich ging zu ihm, sobald die Messe vorüber war. Er schnitt mir jedes weitere Wort ab und schickte nach Ihnen. Es ist unsere einzige Möglichkeit, Eminenz.«

»Und glauben Sie, daß unser Plan es verhindern wird?«

»Ich weiß es wirklich nicht, aber ich kenne keinen anderen Ausweg. Ich werde direkt zum Erzbischof gehen und ihm von allem Mitteilung machen. Wir kommen, glaube ich, um drei Uhr an, Sie, wenn ich mich nicht täusche, in Berlin gegen sieben nach deutscher Zeit. Der Beginn der Funktion ist für elf Uhr festgesetzt. Bis dahin werden wir alles getan haben, was möglich ist. Die Regierung und auch die Allgemeinheit werden wissen, daß wir in Rom unschuldig sind. Ich vermute, man wird bekanntmachen lassen, daß der Kardinalprotektor und der Erzbischof mit ihren Koadjutoren in den Sakristeiräumen anwesend sein werden. Man wird jede Wache verdoppeln, man wird Flugschiffe über der Abtei kreuzen lassen – und dann – nun, alles weitere liegt in Gottes Hand.«

»Glauben Sie, daß die Verschwörer dennoch einen Versuch machen werden?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Percy kurz.

»Sie werden wohl mehrere Pläne vorbereitet haben!«

»Ganz gewiß. Sobald alles bereit ist, beabsichtigen sie, Explosivstoffe von oben fallen zu lassen; für den Fall, daß dies aus irgendeinem Grunde unmöglich wäre, haben mindestens drei Mann sich erboten, sich selbst durch Beisichtragen des Explosivstoffes zu opfern … Und Sie Eminenz?«

Der alte Mann sah ihn ruhig an.

»Mein Programm ist das Ihrige«, sagte er. »Eminenz, haben Sie die Folgen eines jeden Falles überlegt? Wenn nichts geschieht –«

»Wenn nichts geschieht, werden wir des Betruges angeklagt, des Versuches, uns selbst zu bezichtigen. Wenn aber etwas geschieht – nun, dann werden wir alle vereint vor Gott erscheinen. Beten Sie um das zweite«, fügte er eindringlich hinzu.

»Es wird wenigstens leichter zu ertragen sein«, bemerkte der Deutsche.

»Verzeihung, Eminenz, ich wollte das nicht gesagt haben.«

Schweigen trat ein zwischen den beiden Männern, und nichts als das leise, ununterbrochene Vibrieren der Schraube und ein kurzes Husten eines Mannes im Nebenabteil war vernehmbar. Percy stützte den Kopf müde auf die Hand und starrte durch das Fenster. Die Erde unter ihnen war nun in Dunkel gehüllt – eine einzige, ungeheuere, grenzenlose Leere; das Riesengewölbe des Abendhimmels erfüllte noch ein schwaches Dämmerlicht, und durch den kalten Dezembernebel, durch den sie dahinschwebten, leuchtete ab und zu, wenn das Fahrzeug sich neigte und gegen Luftströmungen manövrierte, Sternengefunkel.

»Es wird kalt werden in den Alpen«, murmelte Percy, und, den Gedankengang abbrechend, fuhr er laut fort: »Und ich habe nicht den Schimmer eines Beweises, nichts als das Wort eines Mannes.«

»Und sind Sie sicher?«

»Ich bin sicher.«

»Eminenz«, warf der Deutsche plötzlich ein, Percys Züge anstarrend, »die Ähnlichkeit ist eine ganz außerordentliche …«

Percy lächelte gleichgültig. Er war es nachgerade müde, davon zu hören.

»Was halten Sie davon?« blieb der andere dabei.

»Ich wurde darüber schon des öfteren gefragt«, erwiderte Percy. »Ich denke mir nichts dabei.«

»Es scheint mir, daß sich dahinter eine Absicht Gottes verbirgt«, sagte der Deutsche nachdenklich und mit halb unterdrückter Stimme, ohne den Blick wegzuwenden.

»Nun, Eminenz?«

»Eine Art Antithesis – die Kehrseite der Medaille, ich weiß nicht.«

Wieder stockte das Gespräch. Einer der beiden Kapläne blickte zur Glastüre herein, ein gemütlicher, blauäugiger Deutscher; er entfernte sich jedoch wieder.

»Eminenz«, sagte der ältere der beiden Kardinäle kurz, »es läßt sich gewiß mehr darüber sagen, der eine oder andere Plan fassen.«

Percy schüttelte den Kopf.

»Es gibt keine Pläne zu fassen«, sagte er. »Wir wissen nichts, als die Tatsache – keine Namen –, nichts. Wir – wir sind wie Kinder in einem Tigerkäfig. Und einer von uns beiden ist eben im Begriffe, nach dem Tiger zu schlagen.«

»Ich denke, wir werden miteinander in Verbindung bleiben.«

»Wenn wir noch am Leben sein werden.«

Es war wunderbar, wie Percy sich in seine neue Lage gefunden hatte. Erst vor drei Monaten war er mit dem Purpur bekleidet worden, sein Gefährte dagegen schon vor zwölf Jahren, und doch war es der Jüngere, welcher Pläne entwarf und deren Ausführung leitete. Er selbst sah jedoch darin nichts Außergewöhnliches. Seit jenem Morgen, der die erschütternde Nachricht gebracht hatte, seitdem eine neue Mine unter der wankenden Kirche aufgeflogen war und er die feierlichen Zeremonien, die glanzerfüllte Pracht, die majestätischen, gelassenen Bewegungen des Papstes und seines Gefolges ruhig ansehen mußte, während ein Geheimnis ihm Herz und Hirn versengen zu wollen schien – besonders aber seit jener flüchtigen Audienz, in welcher alte Pläne beiseite geworfen und ein schreckenerregender Entschluß gefaßt, als ein Segen gegeben und empfangen wurde, als die Augen noch ein Lebewohl aussprachen, während die Lippen die Sprache versagten – all dies in einer halben Stunde –, seitdem hatte sich seine ganze Natur gleich einer angespannten Feder in ein einziges, kühnes, unbeugsames Kraftgefühl konzentriert. Er fühlte den Strom dieser Kraft bis in die Fingerspitzen – Kraft, und gleichzeitig dumpfe, grenzenlose Verzweiflung. Jede Stütze war nun abgebrochen, jede Verbindung durchschnitten; er selbst, die Stadt Rom, die katholische Kirche, ja sogar das Übernatürliche schien ihm wie an einem einzigen Faden zu hängen – dem Finger Gottes. Und wenn dieser Faden versagte – nun, so wäre man eben ein für allemal aller Sorgen enthoben …

Er ging einem doppelten Ziele entgegen – Schande oder Tod. Ein drittes gab es nicht, es sei denn, die Verschwörer würden rechtzeitig mitsamt ihren Werkzeugen ergriffen. Doch das war ausgeschlossen. Entweder würden sie es sich anders überlegen, durch den Gedanken bewogen, daß die Priester Gottes mit vernichtet würden, und in diesem Falle war die Schande eines aufgedeckten Betruges, eines jämmerlichen Versuches, sich Ansehen zu verschaffen, sicher. Oder sie würden sich nicht abhalten lassen, sie würden den Tod eines Kardinals und einiger Bischöfe als einen billigen Preis für ihre Rache betrachten, und in diesem Falle – nun, dann stand Tod und Gericht bevor. Aber Percy hatte aufgehört, sich zu fürchten. Er war entschlossen, um Gottes willen alles zu wagen.

Sein Gegenüber zog mit einer entschuldigenden Bewegung das Brevier hervor und begann zu beten.

Percy empfand ein Gefühl des tiefsten Neides gegen jenen. Ach, wäre er doch so alt wie dieser Greis! Der konnte noch ein Jahr, vielleicht zwei, in diesem Elend auszuhalten haben, aber keine fünfzig, dachte er. Es war ein beinahe endloser Ausblick, der sich vor ihm öffnete, selbst wenn alles gut ginge, ein Ausblick auf ununterbrochene Kämpfe, auf Selbstüberwindung, Arbeit, Verkennung bei seinen Feinden. Die Kirche sank und sank mit jedem neuen Tage. Was dann, wenn dieses neue Aufleben der Begeisterung nichts anderes war, als ein letztes Aufflackern des Glaubens vor seinem Erlöschen? Wie könnte er dies ertragen? Ihm stände bevor, die Flut des Atheismus steigen und steigen und mit jedem Tage neue Triumphe desselben mit ansehen zu müssen. Felsenburgh hatte dazu einen Impuls gegeben, dessen Ende und Folgen über jede Prophezeiung hinausgingen. Nie zuvor hatte ein einziger Mann die gesamte Macht der Demokratie in seiner Hand vereinigt. Dann wieder dachte er an morgen. Oh, wenn es doch in Tod ausginge! … Glücklich jene, die im Herrn sterben! …

Es war zwecklos; es war feige, so denken. Gehe es wie es wolle, Gott war Gott – ihm war die Welt nur die Welt, und nichts mehr.

Percy griff nach seinem Brevier, schlug Prim und das Fest des heiligen Silvester auf, bezeichnete sich mit dem Kreuze und begann ebenfalls zu beten. Nach einer Minute traten auch die beiden Kapläne wieder ein und setzten sich; alle schwiegen und man vernahm nichts als das Kreischen der Schraube und das eigentümliche, flüsternde Rauschen der durchschnittenen Luft.

3.

Es war ungefähr neunzehn Uhr, als der englische Kondukteur zur Türspalte hereinblickte und Percy aus seinen Träumereien aufschreckte.

»Das Diner wird in einer halben Stunde serviert, meine Herren«, sagte er in Esperanto, wie es in allen internationalen Wagen Vorschrift war. »In Turin ist heute nacht kein Aufenthalt.«

Er schloß die Türe und ging weiter, und das Schließen der Türen war den Korridor entlang vernehmbar, während er in jedem Abteil dieselbe Mitteilung machte.

Es fuhren also keine Passagiere für Turin mit, schloß Percy, und zweifelsohne hatte man auf drahtlosem Wege erfahren, daß auch dort niemand hinzukäme. Das war eine angenehme Nachricht, es würde ihm somit mehr Zeit in London bleiben. Es konnte sogar Kardinal Steinmann ermöglichen, ein früheres Flugschiff der Linie Paris – Berlin zu erreichen, doch kannte er die Fahrzeit nicht genau. Es war schade, daß es dem Deutschen nicht möglich gewesen war, um dreizehn Uhr mit dem direkten Flugboote Rom – Berlin zu reisen. So überlegte er in einer Art oberflächlicher Gefühllosigkeit.

Dann erhob er sich schnell, streckte sich und schritt hinaus, den Korridor entlang und dem Waschraume zu, um sich die Hände zu reinigen.

Gefesselt von dem Anblick, blieb er an der Türe der Terrasse, die das Fahrzeug abschloß, stehen, denn eben zog es über Turin hinweg. Es war ein Flecken Lichtes, voll Leben und Schönheit, der da unter ihm aus dem Meere des Dunkels heraufstrahlte und gegen Süden wieder sich in Dunkel verlor, als das Luftschiff nordwärts den Alpen zustrebte. Wie klein, dachte er, erschien diese große Stadt von hier oben gesehen, und doch, wie mächtig war sie! Von diesem Flecken Lichtes aus, der jetzt schon fünf Meilen hinter ihnen lag, wurde Italien regiert; in einem dieser Puppenhäuschen, kaum groß genug, um dem Blick eine Stütze zu bieten, saßen die Menschen zu Rate über Leib und Seele, setzten Gott ab und lächelten über seine Kirche. Und Gott ließ es zu und äußerte sich nicht durch das geringste Zeichen. Und dort war er gewesen, Felsenburgh, vor einem oder zwei Monaten, Felsenburgh, sein Doppelgänger! Und wiederum durchdrang und zerriß das Schwert sein Herz.

Wenige Minuten später saßen die vier Geistlichen an ihrem runden Tisch in einer kleinen Abteilung des Speisesaales im Bug des Luftschiffes. Man sprach nicht viel, denn für die beiden Kardinäle hätte es nur einen Gegenstand gegeben, und die Kapläne waren noch nicht vollständig in das Geheimnis eingeweiht.

Es wurde jetzt kälter und kälter, und selbst die Fußwärmer boten nicht genügend Wärme gegen den eisigen Todeshauch, der von den Alpen, welchen das Schiff in leichter Steigung sich näherte, herabzuwehen begann. Man mußte sich mindestens 3000 Meter über die gewöhnliche Höhe erheben, um die Grenze des Mont Cenis auf einem sicheren Wege zu passieren. »Es wird heute nacht bewölkt sein«, hörte man klar und deutlich eine Stimme vom Gange her sagen, als die Türe bei einer Bewegung des Fahrzeuges sich ein wenig öffnete.

Percy stand auf und schloß sie.

Der deutsche Kardinal begann gegen Ende des Diners ein wenig unruhig zu werden.

»Ich werde zurückkehren«, meinte er endlich, »es wird mir in meiner Pelzdecke wohler sein.«

Sein Kaplan folgte ihm pflichtschuldigst, ohne seine eigene Mahlzeit zu vollenden, und Percy blieb allein mit Father Corkran, seinem kürzlich aus Schottland gekommenen Kaplane. Er trank seinen Wein aus, aß einige Feigen und starrte dann durch das frontseitige Fenster aus geschliffenem Glas.

»Ah!« sagte er, »gestatten Sie, Father, daß ich Sie aufmerksam mache: wir sind in den Alpen.«

Die Front des Schiffes bestand aus drei Abteilungen, in deren mittlerer der Steuermann stand, das Auge geradeaus gerichtet, und die Hände an den Kurbeln. Zu beiden Seiten, durch eine Aluminiumwand getrennt, befand sich ein niederes, schmales Abteil, mit einem langen, ovalen Fenster in Augenhöhe, durch welches man einen großartigen Ausblick genoß. In eines dieser Abteile trat Percy, den Korridor entlangschreitend; er bemerkte durch die halb geöffneten Türen einige andere kleine Gesellschaften noch beim Weine. Er drückte gegen die nach beiden Seiten bewegliche Türe zur Linken und trat ein.

Dreimal in seinem Leben hatte er die Alpen überquert, und er erinnerte sich des außerordentlichen Eindruckes, den sie auf ihn gemacht, besonders einmal, als er sie an einem klaren Tage und aus bedeutender Höhe gesehen – ein ewiges, unermeßliches Meer weißen Eises, von Felshügeln und Runzeln unterbrochen, welche von unten aus bekannte und gefürchtete, schwindelerregende Gipfel waren. Und darüber lag die halbkreisförmige Linie des Erdrandes in einem Dunststreifen, sich mit der Luft und dem endlosen Raume vereinigend. Diesmal aber schienen sie eindrucksvoller denn je, und mit dem Interesse eines kranken Kindes schaute er nach ihnen hin.

Das Flugschiff war nun in raschem Aufstieg gegen den Paß hin begriffen, hin über die gewaltigen Abhänge, Schlünde und Klippen, die sich gleich Vorwerken der enormen Mauer aufbauten. Aus dieser großen Höhe betrachtet, nahmen sie sich verhältnismäßig unscheinbar aus, aber immerhin ließen sie auf die Ausdehnung der Bollwerke schließen, von denen sie nichts weiter waren als Schanzen. Eine leichte Bewegung zeigte Percy den mondlosen Himmel, von dem kalten Geflimmer der Sterne erhellt, und die Schwäche der Beleuchtung machte die Szene nur noch eindrucksvoller; doch als er sich wandte, bot sich ihm ein anderes Bild dar. Der weite Luftraum um ihn her erschien wie durch bereiftes Glas gesehen. Die sammetschwarzen Nadelwälder waren nunmehr zu einem dunklen Grau verblaßt, der schwache Glanz von Wasser und Eis verschwand, um stets von neuem aufzublitzen, die wilde Kahlheit der Felsenspitzen und Schlünde, die in scheinbar kriechender Bewegung sich ihm näherten und wieder zurückwichen –, all dies hatte die Schärfe der Formen verloren und war in geheimnisvolles Weiß gehüllt. Als er zur Rechten und Linken noch weiter emporblickte, wurde der Anblick direkt schreckenerregend; denn die riesenhaften Felswände, die auf ihn zustürzten, und die ungeheuren grotesken Formen, die sich von allen Seiten auftürmten, stiegen hoher und höher hinan, verloren sich endlich unter einem Wolkenvorhang und wurden nur dem Auge sichtbar, wenn der tanzende Lichtschein des glanzvoll erleuchteten Fahrzeuges auf sie fiel. Einmal dröhnte das Brausen eines noch offenen Bergstromes, ein heiseres, tiefes Gebrüll wie das eines wilden Tieres aus einer Entfernung von etwa zwanzig Metern herauf, und war im nächsten Augenblick schon wieder verstummt. Jetzt begannen auch die Hörner ihre schreiende Stimme zu erheben, langgezogene, klagende Signale, die von dem Echo dieser Einsamkeit mit traurigem Tone, gleich dem Wehklagen wandernder Seelen, zurückgegeben wurden, und als nun Percy mit einer kein anderes Gefühl aufkommen lassenden Scheu den Hauch vom angelaufenen Fenster entfernte und wieder hinausstarrte, war es ihm, als schwebe er, mit Ausnahme des schwachen Rüttelns unter seinen Füßen, bewegungslos durch eine Welt von Weiß, fern vom Himmel und Erde in hoffnungslos unendlichem Raum, blind, einsam, in Kälte erstarrend, verloren in einer weißen Hölle von Trostlosigkeit.

Dann, als er so ins Weite schaute, bewegte sich durch den Nebel ein großes, weißes Etwas auf ihn zu, glitt langsam vorwärts und hinab und enthüllte bei einer Wendung des Fahrzeuges einen gigantischen, ölglatten Abhang aus dem, wie die Finger einer menschlichen Hand aus einer hohen Meereswoge, eine Gruppe schwarzer Felszacken herausragte.

Und als das Flugschiff nochmals gleich einem verlornen Schaf sein Rufen erhob, kam aus einer Entfernung – es schienen kaum zehn Meter – die Antwort darauf, erst ein flüchtiger Notschrei, dann ein zweiter, ein dritter, und Glockengeläute, zu einem Chore anschwellend, und das Schlagen unzähliger Flügel erfüllte die Luft.

4.

Es war ein Augenblick des Schreckens, bis ein Glockenzeichen ertönte und der Antwortschrei und eine drehende Bewegung verrieten, daß der Steuermann auf seiner Hut war. Dann sank das Fahrzeug gleich einem Stern, und Percy klammerte sich an dem Gitter fest, um das fürchterliche Gefühl zu bannen, in die Leere zu fallen. Hinter sich konnte er das Klirren und das Aufschlagen schwerer Gegenstände hören, und als das Fahrzeug nochmals seine weiten Schwingen zu plötzlichem Stehen brachte, vernahm man hastige Schritte und vereinzelte Angstrufe. Draußen hoch oben und in weiter Entfernung heulte und heulte es und erfüllte die Luft, und in einem Augenblick war es ihm klar, daß es sich hier nicht um ein oder zehn oder zwanzig Luftschiffe, sondern um mindestens hundert handelte, die den Zuruf beantwortet hatten, und die irgendwo über ihm heulten und flatterten. Die unsichtbaren Abgründe und Klippen ringsum warfen das Geschrei zurück, die langgezogenen Klagelaute, das Keuchen und Stöhnen, das manchmal sich im übertönenden Glockengeläute verlor, entfernte sich von Augenblick zu Augenblick mehr und mehr und jetzt ertönte es von allen Seiten, rückwärts, oben, vorn, zur Rechten und zur Linken. Noch einmal begann das Schiff sich zu bewegen und in einer langgezogenen, sicheren Kurve gegen die Bergwand hinabzusinken; als es anhielt und sich wieder auf seinen Riesenschwingen wiegte, wandte sich Percy gegen die Türe und sah dabei durch die angelaufenen Fensterscheiben einen hellbeleuchteten Felsgipfel und eine glatte Schneehalde in weitem Bogen dem Blicke entschwinden.

Das Innere des Fahrzeuges wies erhebliche, durch das plötzliche Halten verursachte Schäden auf. Im Vorbeigehen sah Percy die Türen des Speiseabteils weit offen; Gläser, Teller, vergossener Wein, verschüttetes Obst, rollten auf dem schwankenden Fußboden hin und her. Ein hilflos auf dem Boden sitzender Mann wandte geistesabwesend die im Schreck erstarrten Augen nach dem Priester. Percy warf einen Blick durch die Türe, durch welche er noch eben getreten war, und sah, wie Father Corkran sich unsicher von seinem Sitze erhob und auf dem unter seinen Füßen wankenden Boden taumelnd auf ihn zukam. Gleichzeitig drängte eine Gruppe Amerikaner, die eben zu speisen begonnen hatten, aus der Türe gegenüber, und als Percy, mit dem Kopfe winkend, sich wieder wandte, um in das Hinterteil des Schiffes sich hinabzubegeben, fand er den engen Gang von dem eben herausstürmenden Haufen abgesperrt. Das Durcheinander von Sprechen und Ausrufen machte jede Frage unmöglich, und Percy, mit seinem Kaplan hinter sich, tastete sich Schritt um Schritt entlang auf der Suche nach seinen Freunden.

Als er die Hälfte des Ganges unter Schieben und Kämpfen hinter sich gebracht hatte, übertönte eine Stimme den Lärm, und in das einen Augenblick eintretende Schweigen drangen wieder die fernen Signale der Flugschiffe.

»Auf die Plätze, Gentlemen, auf die Plätze«, brüllte die Stimme. »Es geht sofort weiter!«

Nun kam Bewegung in die Menge, als der Kondukteur mit gerötetem Gesicht und entschlossener Miene erschien. Percy drängte sich rasch hinter diesen und fand freie Bahn bis an das Ende des Korridors.

Dem Kardinal schien es nicht schlimm ergangen zu sein; er war eingeschlafen, erzählte er, und hatte sich noch rechtzeitig davor bewahrt, von seinem Sitze zu rollen. Aber sein altes Gesicht zuckte doch ein wenig, während er sprach.

»Aber was ist es?« fragte er, »was hat das zu bedeuten?«

Father Bechlin berichtete, wie er soeben eines der Flugboote höchstens fünfzig Meter vom Fenster entfernt gesehen habe; es sei vom Bug bis zum Stern voll besetzt gewesen. Plötzlich sei es gerade aufgestiegen und im Dunkel verschwunden.

Percy schüttelte das Haupt und schwieg; er fand keine Erklärung.

»Man fragt eben an, wie ich höre«, fuhr Father Bechlin fort; »der Kondukteur war soeben noch an seinem Instrument.«

Vom Fenster aus war nun nichts mehr zu sehen. Als Percy, noch verwirrt von dem Stoße, hinausstarrte, schwankte noch der nadelscharfe Felszacken wie durch Wasser gesehen unter ihnen hin und her, und die mächtige Schneehalde bewegte sich langsam auf und nieder. Draußen war es ruhiger geworden. Der Schwarm schien verschwunden zu sein, nur irgendwo aus unendlicher Höhe herab tönten noch stoßweise Klagelaute, wie von einem im Raume verlorenen, einsam ziehenden Vogel.

»Das ist das Signalboot«, murmelte Percy für sich.

Er hatte keine Idee – fand keine Erklärung, und doch schien die Sache bedeutungsvoll. Es war unerhört, daß eine Zusammenziehung von einem Hundert von Flugschiffen stattfinden sollte, und er fragte sich, was sie veranlaßte, gegen Süden zu ziehen. Wieder kam ihm der Name Felsenburgh in den Sinn. Wie, wenn dieser unselige Mann mit dort oben wäre?

»Eminenz«, begann der Greis wieder, aber im gleichen Augenblick begann das Schiff sich zu bewegen. Eine Glocke schlug an, der Boden begann zu zittern, und dann, ruhig wie eine Schneeflocke, fing das gewaltige Schiff zu steigen an, was Percy nur an dem plötzlichen Versinken der Felsennadel erkannte, an der noch sein Blick haftete. Leise begann auch das Schneefeld abwärts zu gleiten, eine schwarze Spalte huschte von oben herab in Sicht und verschwand wieder nach unten, und einen Moment später schien das Schiff wieder in den endlosen, weißen Raum versetzt, als es sich in das Luftmeer erhob, aus dem es sich eben hatte herabfallen lassen. Noch einmal durchschnitt ein Signalakkord die Atmosphäre, und diesmal erfolgte die Antwort so leise und fern, wie ein Schrei aus einer anderen Welt. Die Geschwindigkeit stieg, und der regelmäßige Gang der Schrauben begann die schwankende Bewegung der Schwingen aufzuheben. Die Glocken ertönten, ein letzter Warnungsschrei, das Summen der Schraube stieg um einige Töne höher und ward schließlich ganz unhörbar, als der Riesenvogel die Gipfelhöhe überwunden, endlich freie Bahn hatte und nun mit gleichmäßigem Flügelschlage wieder seinen Weg durch den Raum aufnahm … Was es auch gewesen sein mochte, es lag jetzt hinter ihnen, verborgen im Dunkel der Winternacht.

Im Innern des Passagierraumes vernahm man wirres Sprechen, atemlose Stimmen, Fragen, Ausrufe und kurzes, autoritatives Antworten des Aufsichtsbeamten. Draußen kamen Schritte näher, und Percy sprang auf, um hinauszutreten; doch als er seine Hand auf die Klinke legte, wurde die Türe nach innen gestoßen, und zu seinem Erstaunen trat der englische Wärter herein und schloß hinter sich.

Er blieb dort stehen, die Lippen zusammengepreßt und mit unruhigen Augen einen eigentümlichen Blick auf die vier Priester werfend.

»Nun?« rief Percy.

»Alles in Ordnung, Gentlemen, aber ich glaube, es wäre besser für Sie, in Paris auszusteigen. Ich weiß, wer sie sind, meine Herren, – und wenn ich auch kein Katholik bin –«

Er stockte.

»Um Gottes willen, Mann!« schrie Percy.

»O, die Neuigkeit, Gentlemen! Nun, es waren zweihundert Fahrzeuge, direkt nach Rom. Es ist ein Komplott der Katholiken in London entdeckt worden –«

»Und?«

»– um die Abtei zu vernichten. Nun gehen sie –«

»Ah!«

»Ja, Sir, – um Rom zu vernichten.«

Und damit entfernte er sich wieder.


 << zurück weiter >>