Sophus Bauditz
Wildmoorprinzeß
Sophus Bauditz

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19

Fritz war schon sehr früh aufgewesen. Es war ein Brief für ihn mit einem reitenden Boten gekommen, Anders hatte ihn ihm gebracht, und Anders erzählte Stine dann, der junge Herr wäre noch bleicher geworden als sonst, als er ihn gelesen hätte.

Darauf war Fritz langsam vom Hofe gegangen, die Landstraße hinab, zu Christine Knock, seinem alten Kindermädchen!

Sie war hoch erfreut, ihn zu sehen, Fritz aber setzte sich müde und unglücklich auf einen Stuhl und beantwortete die vielen Fragen des alten Mädchens nur mit Ja und Nein. Endlich raffte er sich auf und sagte:

Du, Christine – ich will verreisen!

Wollen der junge Herr jetzt schon wieder reisen! rief Christine. Herr du meines Lebens, der junge Herr sind ja eben erst angekommen!

Ja, was soll man dazu sagen – ich muß weit, weit wegreisen, und deshalb wollte ich dir doch vorher Lebewohl sagen. Du bist doch eigentlich die einzige, die sich was aus mir macht.

Herrgott, wie können der junge Herr nur so reden!

Es ist aber wahr! Es waren viel bessere Zeiten, Christine, als wir beide noch mit Sand in der Mergelgrube spielten – ich hab' mich wirklich nie wieder so gut amüsiert – nicht einmal in Paris! Und du bautest mir Schlösser aus Steinen, Christine, und ich ritzte ein Haus in den Sand, darin solltest du wohnen und es so fein haben, wenn du alt wärest, und ich groß.

Ach Gott – wissen der junge Herr das noch?

Siehst du, ich kann dir kein feines Haus schaffen, liebe Christine, fuhr Fritz fort, aber hier hast du zwanzig Kronen. Dafür sollst du dir ein feines, schwarzes Kleid kaufen – ja, schwarz soll es sein, ganz schwarz, das steht dir am besten. Und dann darfst du zu niemand davon reden, daß ich auf die lange Reise muß, hörst du! – Es kann wohl sein, daß du mich nicht wiederstehst, Christine – nein, weine nicht! – man kommt ja nicht von allen Reisen wieder zurück –, aber ich möchte sehr gern, daß du hin und wieder einmal – jedenfalls immer zu Pfingsten – einen Kranz bändest, das verstehst du so schön, und wenn dann Tante Rosa das Denkmal für die gefallnen Krieger schmückt, dann bekomme ich auch ein paar Blumen, nicht wahr? – Wenn ich sie auch nicht verdient habe. – Nein, du mußt nicht weinen, Christine, das hat keinen Zweck! – Ich bin ja auch noch nicht tot.

Das ist ja auch wahr! sagte Christine und trocknete ihre Augen mit der Schürze. Der liebe Gott hat ja auch Tod und Leben in seiner Hand!

Ja, so ist es wohl – in der Regel, gab Fritz zu, aber er blickte dabei nieder.

Also, leb' wohl, Christine! Und über die Reise sprichst du nicht, bis ich fort bin, das mußt du mir versprechen – denn niemand darf es wissen! – Ja, du kannst mir gern einen Kuß geben – noch einen! – Leb' wohl, Christine! Und sorg' dafür, daß es recht feines Zeug ist – hörst du? Adieu!

Und damit schlug Fritz die Richtung nach Hjortholm zu ein.

* * *

Im Waldhäuschen beim Hauptmann wurde gekneipt. Zuerst war man umhergegangen und hatte sich über die »Bibliothek« lustig gemacht – Fernando Villerup suchte vergebens nach einem seiner Gedichte – bald aber hatte man sich um den Tisch niedergelassen und hatte angefangen zu trinken. Man trank schnell, und das Getränk tat seine Wirkung. Man redete laut und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und während unter gewöhnlichen Verhältnissen die Faublasfreunde einmütiglich füreinander einstanden, so konnte die Natur doch zuweilen, so wie heute abend, den Sieg über die Kultur davontragen, so daß die Freunde heftig aufeinander stichelten. Die Stimmen wurden verschleiert, der eine oder der andere sprach sogar ein wenig unsicher, der Hauptmann gähnte – das Trinkgelage war offenbar nicht das geworden, was man erwartet hatte.

Prost, Sie alter Vaterlandsverteidiger! sagte Kandidat Petersen zum Hauptmann. Sie sind im Grunde ein wohlhabender Mann.

Nein; eigentlich wohlhabend –

Freilich sind Sie das! Sie haben ja ein ganzes Vaterland zu verteidigen, und wenn es auch nicht groß ist, so ist es doch immerhin etwas.

Aber das haben Sie doch auch! wandte der Hauptmann treuherzig ein.

Nein, das hab' ich nicht! Ich bin so glücklich, ausgeschlossen zu sein.

Schwächling! knurrte Nielsen-Munkegaard; Kandidat Petersen aber fuhr fort: Und deswegen lautet mein Wahlspruch:

Und wenn die Deutschen kommen,
Beklag' ich jeden sehr –

nämlich jeden, der gezwungen ist zu bleiben – denn ich nehme Reißaus.

Aber Mensch! rief der Hauptmann und sprang halb auf, dann aber fiel ihm ein, daß er ja im Grunde Wirt sei, und so setzte er sich wieder und sagte nur:

Aber weil Sie der Opposition angehören, radikal links, oder wie Sie es nennen wollen, sind, so sind Sie deswegen doch gleich national – das ist doch gottlob! etwas, worüber alle Parteien einig sind.

Es ist wirklich gut, schluckste Nikolai Jensen, der jetzt alle Hoffnung aufgegeben hatte, sein Stück vorzulesen.

Ja, es ist brillant, sagte Peter Hals, der umherging und die Gläser vollschenkte, übrigens aber halb schlief.

Links! sagte Kandidat Petersen höhnisch zum Hauptmann. Ich verachte die Linke, wie ich die Rechte verachte – ich verachte überhaupt jeden, der ein Programm hat und etwas will, jeden, der nach einem Plan arbeitet und auf etwas Positivem fußt. Das ist das Große bei dem Faublas, daß er keinerlei Programm hat, nichts will. Er umschließt alle Gegensätze von Villerups symbolischem Blödsinn – ja, ich sage Blödsinn, alter Historiker – bis zu meinen eignen pikanten Feuilletons, und im nächsten Monat bringen wir den Anfang eines großen, spannenden Romans: »Der Beichtstuhl oder Religion und Erotik«. Der wird Aufsehen machen.

Schweig du mit deinem Gewäsch! sagte Fritz. Jetzt will ich reden!

Bravo! rief Peter Hals.

Und Fritz erhob sich. Er war noch ebenso blaß wie sonst, obwohl er den ganzen Abend getrunken hatte, um zu trinken, aber das Weiße in seinen Augen war rot, und seine Stimme war noch heiserer als sonst. Ich will einen Abschiedsbecher trinken, sagte er. Zum Teufel mit dem ganzen Krempel und vor allen Dingen mit euch!

Nanu!

Ja, ihr braucht wirklich nicht zu glauben, daß ich irgendwelchen Wert auf euch lege! Du Petersen, Salontölpel – nein! Und du Farbenkleckser Nielsen, der du dir selber den Namen Munkegaard beigelegt hast – großer Gott, wie gleichgültig du mir bist!

Ich glaube, weiß Gott, er wird grob!

Nein, es ist keine Grobheit! fuhr Fritz fort. Es sind Liebenswürdigkeiten! – Ich habe Jensens »Gespenst« in drei Fassungen verdaut, mehr kann man, weiß Gott, von keinem Menschen verlangen! – Und was dich betrifft, du elender Symbolist, von dir will ich lieber ganz schweigen.

Es sind, bei Gott, doch Grobheiten! bemerkte Peter Hals. Was will er eigentlich?

Ja, was ich will, das muß die Zeit lehren, aber wenn ihr mich morgen früh beim Katerfrühstück nicht treffen solltet, so –

So schläfst du natürlich!

Ja – dann schlafe ich! Aber ihr sollt euch keine Unbequemlichkeiten machen und mir folgen, denn ihr müßt wirklich nicht glauben, daß ich, der ich ein Edelmann bin, mir für einen Heller daraus mache, ob –

Na, du bist wahrhaftig ein netter Edelmann!

Ja, das bin ich! Ich habe blaues Blut.

Laß einmal sehen!

Ihr werdet es schon zu sehen bekommen! Geduldet euch nur! Prost, ihr Sklavenseelen!

Der Hauptmann hatte sich erhoben und war in das andre Zimmer gegangen. Jetzt kam er wieder zurück.

Höibro ist hochnäsig! rief Nielsen-Munkegaard.

Ja, weiß Gott, das ist er! bezeugte Peter Hals. Unsinn! entgegnete Kandidat Petersen. Er ist nur ein wenig mehr betrunken als wir andern – das ist die nackte Wahrheit.

Ja, das Nackte soll leben! Hurra!

Nein, wandte Kandidat Petersen ein, nicht das Nackte – das ist banal –, sondern das Halbverschleierte, das, was in uns die Ahnung von mehr erweckt.

Ach ja! lallte Fernando Villerup. Ich war heute morgen draußen auf dem Bleichenplatz. Da hing ein wunderschöner weiblicher Badeanzug zum Trocknen mitten zwischen andrer weißer Damenwäsche. Und dann kam ein Windhauch, der alles aufblies, als seien es üppige Formen, die die weiblichen Bekleidungsgegenstände füllten, und meine Phantasie verwandelte den prosaischen Bleichenplatz in einen ganzen morgenländischen Harem – der Badeanzug war die Sultanin, die zwischen ihren schönen Odalisken thronte.

Das ist ein Schwein! bemerkte der Hauptmann.

Nein, er ist nur eine Memme, entgegnete Nielsen-Munkegaard. Er läßt sich an Kleidern genügen – zum Kuckuck auch! – mir kann der Schwimmanzug gestohlen werden, wenn deine Schwester nicht darin steckt, Höibro! Sie ist verteufelt schön, aber spröde wie der leibhaftige Satan! – Na, sieh nur nicht so hochnäsig aus, kleiner Höibro, mir imponierst du doch nicht! Du hast immer mit uns übereingestimmt, wenn es sich um die Liebe und andrer Leute Mädchen handelte, aber wenn von deiner eignen Schwester die Rede ist – bewahre, die ist natürlich viel zu gut für einen Proletarier wie ich. Aber das ist mir verteufelt gleichgültig, denn ein Frauenzimmer ist ein Frauenzimmer, und jetzt –

Weiter kam er nicht. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit war das Blut in Fritz aufgewallt. Er war nicht wiederzukennen, und mit erstaunlicher Kraft schlug er Nielsen-Munkegaard ins Gesicht, so daß der Hüne schwankte und beinahe hintenübergestürzt wäre.

Gut pariert, Fritz! rief der Hauptmann. Dann brauch' ich vorläufig nicht einzugreifen! – Nein, stopp, Sie da! Keine Schlägerei in meinen Zimmern. Die Ohrfeige, die Sie bekommen haben, hatten Sie redlich verdient, wünschen Sie aber Genugtuung, wie ein Mann sie dem andern zu geben vermag, so ist mein junger Freund Fritz sicher bereit!

Fritz nickte.

Meinetwegen! brummte Nielsen-Munkegaard. Wenn man selber auch kein blaues Blut hat, kann man einem andern doch wohl ein Leck schießen.

Die nötigen Verhandlungen waren bald beendet. Bei Tagesanbruch, in wenigen Stunden sollten sich die Parteien auf der Pferdekoppel einfinden. Der Hauptmann bot Fritz sofort seine Dienste als Sekundant an; das wollte Fritz aber unter keiner Bedingung annehmen. Er und Nielsen-Munkegaard losten, wie die vier andern verteilt werden sollten, und so erhielt Fritz Fernando Villerup und Peter Hals, während Kandidat Petersen und Nikolai Jensen Nielsen-Munkegaards Sekundanten wurden.

Fritz ging gleich darauf mit seinen beiden, Nielsen-Munkegaard und die beiden andern blieben im Waldhäuschen zurück.

Ohne viele Worte zu wechseln, langte Fritz mit seinen Begleitern in Hjortholm an. Er ging in Tante Rosas Zimmer und sagte ruhig: Tante Rosa, du mußt nicht böse werden, aber morgen in aller Frühe muß ich mich mit dem Maler schießen. Er hat Fanny beleidigt, ja, und dann – ja, ich schulde ihm Satisfaktion. Ich wollte dir nur Lebewohl sagen und dir für alles Gute danken, und falls mir etwas Menschliches passieren sollte, so ist das wohl nicht das Schlimmste; sorge dann aber dafür, daß die Burschen in aller Stille und Gastfreundschaft das Haus verlassen – sie können ja nichts dafür.

Gott segne dich, mein Junge! sagte Tante Rosa bewegt, aber gefaßt. Ist das Duell auch von Gott und Menschen verboten, so glaube ich doch, daß es am wenigsten verwerflich ist, wenn ein Bruder für die Ehre der Schwester eintritt. – Ihr wollt euch schießen?

Ja!

Deines seligen Vaters Pistolenkasten steht im Eckschrank im Herrenzimmer. Ich will dir den Schlüssel geben.

Danke, ich habe mir den Kasten geholt.

Wie? – Wann hast du dir den geholt?

Gestern! antwortete Fritz und senkte den Blick.

Es entstand eine Pause. Dann reichte Tante Rosa Fritz die Hand und sagte in ganz verändertem Ton: Fritz, Fritz! Bete dein Vaterunser zweimal, ehe du morgen früh hinausgehst – ich glaube, du kannst es brauchen! – Gute Nacht, mein Junge! Gott sei mit dir – auf die eine oder die andre Weise!

Dann küßte Fritz Tante Rosa die Hand, schloß die Tür und ging hinauf.

Zwei Gruppen, jede aus drei Männern bestehend, schritten bei Tagesanbruch wenig Minuten nacheinander durch den Hjortholmer Park – den Beschluß machte Fritz.

Friedlich und still schimmerte der See am Ende der Lindenallee, die Sonne fing eben an, durch die Baumstämme zu scheinen. Die taufeuchten Rasenplätze lagen voller Fallobst, der Duft schlug einem entgegen. Ein großer blutroter Winterkalvil war in den Kiesweg gerollt; Fritz beugte sich hinab und nahm ihn auf, besann sich aber und ließ ihn wieder fallen. Dann schritt er schnell weiter, bog aber sorgfältig vor einer der großen Weinbergschnecken aus, um sie nicht zu zertreten, blickte in die Krone der alten Eiche hinauf und verschwand dann einen Augenblick später in dem nebligen Hochwald.

Oben an einem der obersten geöffneten Fenster stand Tante Rosa, schaute hinaus und lauschte hinaus – nach Süden zu. Sie faltete die Hände und wollte beten, aber es war kein Gebet, denn um was sollte sie auch wohl beten? Um Leben oder Tod? Sie wußte es nicht.

Da fiel ein Schuß. Sie lauschte mit pochendem Herzen auf den nächsten – aber der kam nicht. Dann sank sie vor dem Fenster auf die Knie und betete, strich mit dem Rücken der Hand ein paar große Tränen von den Wangen und erhob sich dann, um Fanny und Onkel Heinrich auf das vorzubereiten, was geschehen sein mußte. –

Eine halbe Stunde später brachten sie Fritz getragen. Er lag auf einer Tür, die sie im nächsten Waldhüterhause aus den Angeln gehoben hatten, und sah aus, als schliefe er – kaum bleicher als sonst. Die Kugel hatte ihn in die Schläfe getroffen, er war auf der Stelle tot gewesen.

Fanny kniete aufgelöst vor Schmerz an der Leiche. Onkel Heinrich stand da, eine Gamasche an dem einen Bein, und putzte fortwährend seine Nase, und der Hauptmann, der herbeigekommen war, klopfte abwechselnd dem einen oder dem andern auf die Schulter: sie sahen selber aus wie Leichen – bald verbreitete sich das Gerücht von dem Geschehnen in der nächsten Umgebung des Schlosses. Die Leute sprachen mit gedämpfter Stimme, man hörte keine klappernden Holzschuhe, kein Klopfen, kein Rufen.

Am Abend standen die drei Hjortholmer lange, lange schweigend da. Endlich brach Onkel Heinrich die drückende Stille und sagte: Es ist eine große Verantwortung vor Gott und Menschen; jetzt bin ich das Oberhaupt der Familie.

Ja, das bist du nun, armer alter Heinrich! antwortete Tante Rosa, und dann entstand von neuem eine Pause.

Weißt du, was ich glaube, Tante Rosa? sagte Fanny nach einer Weile. Ich glaube, der liebe Bruder ist zu unsrer Mutter gegangen.

Ja, der Herr ist ein gnädiger Gott, erwiderte Tante Rosa. Darauf müssen wir Menschen hoffen.

Später, als Fanny und Onkel Heinrich zur Ruhe gegangen waren, holte Tante Rosa die alte Familienbibel heraus, schlug vorn auf und schrieb unter Fritzens Namen mit großen, eckigen Buchstaben die Jahreszahl und: Gestorben in der Pferdekoppel auf Hjortholm den 8. September, morgens 6 Uhr. Gott sei seiner Seele gnädig!

Acht Tage später wurde Fritz von Höibro in der Krogslever Kirche beigesetzt. Die ganze Gegend folgte.

Die einzigen Bekannten, die fehlten, waren Bro und Kongsted. Bro war nicht ganz wohl, und Kongsted war in Geschäften nach Kopenhagen gereist.

Ein Gesang und ein Gebet, und abermals ein Gesang – dann wurden drei Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen, und das große Gefolge zerstreute sich. Im Waffenhaus aber stand Onkel Heinrich und dankte im Namen der Leidtragenden für die erwiesene Teilnahme. Niemand konnte darüber im Zweifel sein, daß er jetzt der erste – und der letzte – Mann der Familie war.

Am Abend wurde das Familienbegräbnis geöffnet und der Sarg ins Gewölbe hinabgesetzt, und dann war dieses Blatt der Hjortholmer Geschichte beendet.


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