Sophus Bauditz
Wildmoorprinzeß
Sophus Bauditz

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Braunrote, ausgedehnte Bauten mit runden, weißgekalkten Sandsteinrahmen um Fenster und Türen; neuerrichtete, große Wirtschaftsgebäude, ein Dampfschornstein auf der Meierei, alles solide, alles gut gehalten, ansehnlich, von Reichtum zeugend, das ist der erste Eindruck, den man von Skovsgaard erhält. Das Schloß ist kaum zweihundert Jahre alt, es ist genau so alt wie die Familie. Die Grafschaft ist groß, drei, vier Nebengüter gehören dazu. Der Boden ist im ganzen gut, zum Teil ausgezeichnet, und die Waldungen sind so ausgedehnt, daß man ein paar Wochen hintereinander Jagden abhalten kann, ohne daß es dem Wildstand schadete.

Skovsgaard liegt auf einem ebenen Hügelstrich, der nach dem Tviser Bache zu abfällt. Hier breiten sich meilenlange, grüne Wiesen aus, jenseits des Baches aber beginnt die Heide, die hügelige Heide, eine großartige Landschaft mit kräftigen Konturen und kräftigen Formen, über die man von der Terrasse im Skovsgaarder Garten hinwegblickt.

Der Besitzer, Graf Porse, war in den Sechzigern; er war Witwer und wohnte das ganze Jahr hindurch mit seinen beiden Töchtern auf Skovsgaard – der Sohn, Graf Christian, hatte eines der Nebengüter in Pacht. In seiner ersten Jugend war der Graf Offizier gewesen – er hatte 1848 den Feldzug mitgemacht – und war dann später Diplomat geworden. Eine ganze Reihe von Jahren war er an einem der großen Höfe attachiert gewesen, hatte den Stern des Großkreuzes erhalten und endete als Doyen, als er aber die Grafschaft erbte, nahm er seinen Abschied und war nun eifriger Gutsbesitzer und Landmann. Skovsgaard sollte eine Musterwirtschaft sein und wurde es auch; von den landwirtschaftlichen Versammlungen wallfahrtete man dorthin, und Gärtner reisten meilenweit, um die Treibereien zu sehen.

Seine Pächter verehrten ihn, und es wurde mit Recht höher veranschlagt als ein königliches Amt, wenn man eins der Nebengüter des Grafen in Pacht erhielt. Häufig hatte der Graf aus eigenem Antriebe die Pachtabgaben heruntergesetzt, und es war auch vorgekommen, daß er einen Pächter pensioniert hatte, der seines Alters wegen abtreten mußte. Die Zinsbauern vergötterten ihn ohne Rücksicht auf politische Färbung, und dazu hatten sie auch allen Grund, denn er war wie ein Vater gegen sie; er setzte alljährlich Prämien für besonders gute Bestellung der Häusleräcker aus und verteilte junge Fruchtbäume und Stecklinge zu Tausenden, er hatte Abendschulen, Krankenkassen und Altersversorgung eingerichtet, und hatte jemand Futtermangel, oder litt er sonst Not, so wandte er sich ganz einfach an den »Mann« auf Skovsgaard.

Obwohl der Graf an und für sich kein Freund von großen Gesellschaften war, fühlte er sich doch verpflichtet, auch auf dem Gebiete der Geselligkeit mit gutem Beispiel voranzugehen; im Juli fand regelmäßig ein großes Sommerdiner auf Skovsgaard statt, dann kam Ende September ein Mittagessen für die Pächter, im Oktober wurden die großen Jagden mit den dazu gehörigen Festen abgehalten, am Tage nach Weihnachten fand ein Ball für die ganze Gegend statt, und den Beschluß machten noch zwei Winterdiners.

Für seine eigne Person hatte Graf Porfe wenig Bedürfnisse, oder vielmehr nur eins: er mußte am Abend seinen Whist haben. War kein Besuch auf Skovsgaard, so setzte er sich wohl nach Tisch in das südliche Eckfenster und spähte die lange Allee hinab, ob nicht ein Partner gefahren käme; schlug dies indes fehl, so mußten die beiden Komtessen und Kandidat Mathiesen herhalten.

Kandidat Mathiesens wesentlichste Beschäftigung während der letzten Jahre war das Whistspiel mit dem Grafen; dafür erhielt er Gehalt – ein sehr hohes Gehalt – und freie Station. Vor etwa zwanzig Jahren war er als Hauslehrer nach Skovsgaard gekommen, und zwar auf eine ganz originelle Art und Weise. In der Berlingsken Zeitung stand eines Tages folgende Annonce:

Ein Kandidat der Theologie mit besten Zeugnissen sucht Platz als Hauslehrer auf einem größern Gute. Es wird mehr auf Gehalt als auf gute Behandlung gesehen, da sich der Betreffende diese schon selber verschaffen wird.

Diese Annonce gefiel dem Grafen wegen ihrer ungewöhnlichen Ehrlichkeit, und darauf wurde Kandidat Mathiesen als Lehrer für Graf Christian und die beiden Komtessen Nancy und Henriette engagiert. Er war ein tüchtiger, aber nicht beliebter Lehrer. Als seine Schüler über das Lernalter hinaus waren, blieb er auf Skovsgaard unter dem Titel eines Privatsekretärs, in Wirklichkeit aber als Partner an der täglichen Whistpartie.

Schön war er nicht. Langes, glattgestrichnes Haar bedeckte nur spärlich den großen Kopf, das Gesicht war flach, bleichfett, bartlos, der Mund unendlich groß und mit dicken Lippen. Das Kinn sprang in mehreren Absätzen über einen gewaltigen Adamsapfel vor, der Rumpf war klein und rundlich, die Hände weiß und fett, die Füße groß. Eine goldne Brille und eine doppelte Uhrkette, die er um den Hals trug, verliehen seiner Person ein gewisses Gepräge von Vornehmheit, das indessen nicht Stich hielt, sobald man ihn auf den Hacken durchs Zimmer gehen oder die Hände über dem Magen halten sah, wobei er die Daumen umeinander bewegte, erst in der einen Richtung und dann in der andern.

Seine einzige Leidenschaft war Essen, das heißt gutes Essen. Für die Mamsell und die ganze Küche war er ein wahrer Schrecken, denn er hatte sich die Stellung einer Art major domus angeeignet; schrieb die Speisefolge, kritisierte das Essen und fungierte als Kellermeister. Er wußte ganz genau, wieviel von jedem Jahrgang noch da war, und ärgerte sich, wenn der Graf zu dem Pächtermittag zu guten Wein gab. Bei dem dienenden Personal war er in hohem Grade unbeliebt, teils weil er mehr Aufwartung und größere Ehrerbietung verlangte als die ganze gräfliche Familie zusammengenommen, teils weil er infolge seiner unglaublichen Neugier in alle Ecken und Winkel guckte, horchte, ausforschte, alles entdeckte und alles rapportierte.

Das Mittagessen war für ihn der Clou des Tages; die letzte halbe Stunde vor diesem wichtigen Ereignis war er doppelt so unangenehm wie sonst und sah jede Minute nach den verschiedenen Uhren, von denen er regelmäßig behauptete, daß sie nachgingen, und ertönte dann endlich – endlich! – das Gong, so setzte er sich an den Tisch wie ein Mann, der fühlt, daß er jetzt für die Anstrengungen des Tages belohnt wird, befestigte die Serviette im Nacken und hieb ein. Alles verschwand in seinen Schlund, lautlos und ohne mit den vereinzelten schwarzen Zahnstummeln in Berührung zu kommen, die an die eines alten Krokodils erinnerten. Er hat keinen Mund, er hat eine Freßspalte, pflegte Tante Rosa zu sagen, und die Mengen, die er zu sich nehmen konnte, waren auch geradezu erstaunlich. Deswegen ging auch die Sage, die allgemeinen Glauben fand, daß er an dem Rücken seiner Dinerweste Gummibänder habe anbringen lassen.

Gegen die Gäste war er nicht sonderlich liebenswürdig, wohl hauptsächlich, weil es ihn ärgerte, daß sich so viele an den guten Speisen delektieren sollten. Er war nicht anziehend, wenn er unliebenswürdig war, geradezu unleidlich wurde er aber, wenn er sich angenehm machen wollte; dann zog er die Mundwinkel bis an die Ohren, so daß er Uneingeweihte zu dem Glauben verleiten konnte, daß er lächle – genau so wie glückliche Eltern ein Lächeln auf dem Gesicht ihres Sprößlings zu sehen vermeinen, wenn dieser Bauchkneifen hat –, und dekolletierte Damen liebten es nicht, seinen stechenden Blick auf ihren Reizen zu fühlen.

Über Skovsgaard hinaus kam er nicht oft; er machte sehr gewissenhaft einen Spaziergang vor Tisch – auf den Hacken und in Galoschen –, aber das war nur, um sich Appetit zu machen; zu den Familien in der Umgegend kam er nur dann, wenn er wußte, daß gut gegessen werde, und ließ er sich zu solchem Besuch herab, so aß er mit dem Messer, wenn die Soße gut war.

* * *

Das Sommerdiner auf Skovsgaard war das Ereignis der Saison, der Stolz der Eingeladnen, die Enttäuschung der Übergangnen. Die Speisefolge vom vorhergehenden Jahre wußte man noch auswendig, und nun stellte man Betrachtungen an, ob es nicht auch wohl in diesem Jahre Gänseleberpastete en croûte und zwei Arten Champagner geben würde. Neue Toiletten sind in der Stadt bestellt – die Frau des Doktors hat sich sogar eine Toilette aus Kopenhagen verschrieben, die »Rote Post« brachte sie neulich mit –, Landauer, Kutschen, Breaks und Jagdwagen sind in den letzten Tagen gewaschen, gebürstet, geschmiert, das Geschirr ist abgerieben und geputzt, die Pferde sind gestriegelt; alle strengen sich aufs äußerste an, und ringsumher auf den Gütern und Pachthöfen, in den Pfarrhöfen, beim Förster, Amtsrichter und Arzt ist alles in erwartungsvoller, feierlicher Stimmung.

Endlich hält der Wagen vor der Tür – dann kommt der Hauptmann, der mit den Hjortholmern fahren soll. Man steigt ein, und nun geht es nach Skovsgaard.

Die anderthalb Meilen sind schnell zurückgelegt, bald ist der Turm sichtbar, sie rollen über den Wirtschaftshof. Niels knallt mit der Peitsche, und dann halten sie vor der großen steinernen Freitreppe.

Sie sind die ersten – nein, Graf Christian ist schon da. Er ist rechtzeitig von Hause geritten, hat sich umgekleidet, seinen Papa und seine Schwestern begrüßt und einen Bericht über die Ernteaussichten auf Luiseholm abgelegt. Jetzt steht er an einem der Fenster im Gartensaal und schaut mit pochendem Herzen nach den Gästen aus. Kräftig und schön gewachsen ist er, die Gesundheit strahlt ihm aus den Augen, und man kann ihn sehr wohl schön nennen, wenn er auch gerade keine aristokratische Schönheit ist: gute, blaue Augen, sonnengebräunte Haut, heller Vollbart – er sieht aus, als sei er sein eigner Inspektor. Und das ist er gewissermaßen auch. Das Studieren ist nie sein Fall gewesen, er hat sein Abiturientenexamen nicht gemacht, folglich war ihm die diplomatische Karriere verschlossen; beim Militär brachte er es nur bis zum Korporal bei den Dragonern – er hatte als Kind ein altes Militärpferd geritten, das zehn Jahre auf der Rekrutenschule gewesen war –, aber Landmann und Reiter, Reiter und Landmann, das ist er. Er steht mit der Sonne auf und arbeitet wie ein Knecht; er ist mit dabei, wenn der Brunnen gereinigt wird, und wenn die Dreschmaschine angeheizt wird, er verträgt seine eignen abgelegten Kleider und trinkt in der Regel nur Milch und Dünnbier zu den Mahlzeiten. Er beurteilt ein Pferd besser als jeder andre, und mit seinen Leuten und den Bauern kann er reden, vor Geselligkeit aber fürchtet er sich, und oft, wenn er auf dem Wege ist, einen Besuch in der Nachbarschaft zu machen, kehrt er um, aus Furcht Fremde zu treffen. Der Größe des Vaters gegenüber kommt ihm die eigne Nichtigkeit noch mehr zum Bewußtsein, er ist linkisch und verlegen, von allen Menschen fühlt er sich am wenigsten heimisch in Skovsgaard. Aber ein ehrlicherer Gesell als Graf Christian hat nie im Sattel gesessen, und mit seinem ganzen, warmen Herzen liebt er Fanny, liebt sie mit der stillschweigenden Einwilligung des Vaters. Jetzt sieht er sie in den Vorsaal eintreten und ist schon im Begriff, ihr entgegenzugehen, errötet aber bis an die Haarwurzeln, bleibt auf halbem Wege stehen und begnügt sich damit, sie verlegen im Saale zu begrüßen.

Der Gartensaal in Skovsgaard ist groß, schön und gemütlich, überall, wohin das Auge blickt, begegnet ihm Weiß und Gold. Vergoldet sind die hochlehnigen Stühle, vergoldete Gitter umgeben die beiden großen Öfen. Von der Decke hängen schwere Kristallkronleuchter herab, und in den Ecken stehen Etageren mit kostbarem Porzellan. An allen Wänden Gemälde, ausschließlich Familienporträte. Es sind nicht wie in Hjortholm Männer in Panzer und Harnisch und stattliche Matronen mit gestickten Perlhauben und weißem Busenleinen; es ist ein jüngeres, weniger blutreiches, verfeinertes Geschlecht. Die Frauen haben große, weit offene Augen, ihr Teint ist rosenrot und weiß, das Haar gepudert, die Taille geschnürt und das verbrämte Atlaskleid tief ausgeschnitten. Die Männer sind von demselben Typus: die meisten in Hoftracht, mit Jabot, langer seidner Weste und Kniehosen, das Band des Großkreuzes über der Achsel und den Paradedegen an der Seite.

Die Türen nach der Terrasse zu sind geöffnet, und durch die Bäume des Gartens sieht man auf das Bachtal und die Hügellandschaft auf der andern Seite, es ist gleichsam der landschaftliche Hintergrund für ein Juelsches Familienbild. Und der Graf selber paßt in das Bild hinein, ein grand seigneur mit der Aufmerksamkeit und wirklicher Vornehmheit entschwundner Zeiten, ein vollendeter Wirt, der seine Pflichten nicht erfüllt zu haben glaubt, wenn er für Essen und Trinken Sorge getragen hat. Als vertrauter Freund begrüßt er Tante Rosa, und chevaleresk beugt er sich vor Fannys Jugend und Schönheit, Onkel Heinrich wird durch eine leicht hingeworfene Frage nach der Regelmäßigkeit der »Roten Post« ermuntert, und der Hauptmann wird als alter Kamerad, Kriegskamerad, empfangen; er verkehrt natürlich auf Skovsgaard und genießt hier wie überall unumschränktes Jagdrecht, aber hier kommt er freilich nicht mit ein paar Enten oder einem Hasen für die Küche angeritten, nur zur Osterzeit bringt er einen kleinen Korb Kiebitzeier als stehendes Deputat.

Die Komtessen Nancy und Henriette ähneln zwei kleinen, völlig gleichen Hirtinnen aus sächsischem Porzellan, sie sind für Fremde nicht zu unterscheiden. Ein wenig hilft es ja freilich, daß Komtesse Nancy ein Muttermal am Halse hat, so daß man sie erkennen kann, wenn sie ausgeschnitten sind – sie sind ausgeschnitten wie alles andre stets im Pluralis –, und ausgeschnitten sind sie in der Regel, denn sie haben hübsche Hälse, und das weiß Kandidat Mathiesen zu schätzen. Die beiden Komtessen legen sogleich Beschlag auf Fanny; es sind ein paar herzensgute Mädchen, nicht schön, nicht begabt, aber äußerst wohlerzogen und ganz vertraut mit der Kunst, sich mit jedem Menschen zu unterhalten, ohne eigentlich etwas zu sagen. Für sie ist Fanny der Inbegriff aller weiblichen Schönheiten, sie lauschen ihren Worten mit einer Mischung von Bewunderung und Entsetzen, und sie bringt ihnen regelmäßig einen Hauch aus einer andern Welt mit – aus einer Welt, die ein gutes Stück außerhalb der Grenzen der Grafschaft liegt.

Der Saal füllt sich; da kommen Gutsbesitzer, Pfarrer und Pächter; dann kommt Kongsted. Sicher und elegant tritt er in den fremden Kreis, der Graf stellt ihn vor, aber als er zu Tante Rosa kommt, erklärt diese kurz, daß die Vorstellung überflüssig sei, sie habe bereits »das Vergnügen« gehabt: Onkel Heinrich dahingegen stürzt aus seiner Ecke heraus und drückt die Hand des Ingenieurs zwischen seinen beiden – Kongsted ist offenbar sein ganz spezieller Freund.

Dann kommt der Amtsrichter, würdig im Bewußtsein seiner ungeheuren Macht; seine goldbetreßte Mütze hat er ja leider draußen lassen müssen, aber es wird ihm sicher schwer, denn er zeigt sich sonst niemals ohne dieses Zeichen seiner Gewalt, und man sagt von ihm, daß er die Goldbetreßte auch des Nachts auf hat.

Zur Tür herein segelt mit der Haltung eines Schlittenpferdes eine Dame in mittlern Jahren. Sie trägt große Puffärmel, ist stark geschnürt und breit in den Hüften, sie gleicht einer altmodischen Gluckflasche. Das ist die Doktorfrau in dem Kopenhagner Kleide. Ihr folgt der Gatte, Doktor Prip, frisiert und mit blaßlila Handschuhen, als sei er aus einem Modejournal zweiten Ranges gesprungen, und an seiner Seite einher schreitet das einzige Kind des Paares, ein unförmiges Riesenweib von achtzehn Jahren. Sie ist nach den rationellsten Prinzipien der Hygiene mit Beefsteak, Eiern und Porter großgezogen, und die Hygiene hat die Probe bestanden. Der Doktor lächelt und lächelt im Kreise herum – er kennt offenbar alle. Als ganz junger Arzt ließ er sich hier in der Gegend nieder und verheiratete sich nach Ablauf eines Jahres mit einem »lokalen« Mädchen, der Tochter einer reichen Pächterwitwe.

Jetzt sind alle da, und man geht zu Tische. Der alte Graf führt Tante Rosa – sie ist mindestens zwei Zoll größer –, und Graf Christian Fanny. Kongsted, der ja zum erstenmal geladen ist, führt Komtesse Nancy – Kandidat Mathiesen hat ihm, um einem Fehlgriff vorzubeugen, Anweisung auf das Muttermal gegeben –, und Onkel Heinrich muß mit der Tochter des Doktors abziehen.

Drinnen im Speisesaal ist eine strahlende Tafel gedeckt: die Sommersonne bescheint das Silberzeug und die Blumen, sie blitzt in den Facetten des Kristalls und verleiht selbst dem bleichsten Teint eine warme, kräftige Färbung; oder tut es der Wein? Vielleicht! Denn es sind ausgewählte Weine, und die Diener tun ihre Pflicht, sie scheinen ein Auge an jedem Finger zu haben.

Die Unterhaltung wird lebhafter und lauter. Der Amtsrichter unterhält seine Dame von der ungeheuern Verantwortung und der unbegrenzten Macht, die mit seinem Amt verbunden ist, und es gelingt ihm schließlich wirklich, ihr begreiflich zu machen, daß ein Landrat im Verhältnis zu einem Amtsrichter nur eine ganz untergeordnete Persönlichkeit ist. Der Doktor macht dieselben Witze wie im vorigen und im vorvorigen Jahr, und sobald er nur den Mund öffnet, stößt seine bessere Hälfte ein grelles Gelächter aus, das an eine falsche Trompetenfanfare erinnert. Graf Christian konversiert mit Fanny über Pferde, er möchte die ganze Zeit hindurch gern auf ein andres Thema übergehen, aber er kann sich nicht dazu entschließen. Kandidat Mathiesens »Freßspalte« ist in ununterbrochner Wirksamkeit, und Kongsted, der ihn ja noch nie gesehen hat, glaubt wirklich dreimal, daß er lächelt. Plötzlich ertönt Tante Rosas kräftige Stimme durch den Saal: Jetzt dankt der Herr Kammerjunker! Sie hat gesehen, daß einer der Diener im Begriff ist, Onkel Heinrich zum zweitenmal Madeira einzuschenken, und, belehrt durch frühere Miseren, hält sie ihn beizeiten zurück.

Das Diner ist beendet, man trinkt Kaffee und raucht Zigarren. Der Hauptmann ruht gemütlich auf der Terrasse, nippt an seinem Gläschen Chartreuse und bläst blaue Ringe aus seiner Havanna in die Luft; er sieht herzlich befriedigt aus, aber Joppe und Pfeife kleiden ihn doch besser als Frack und Zigarre. Kandidat Mathiesen setzt sich still hin und transpiriert; er hat die goldene Brille abgenommen und trocknet sie sorgfältig in dem roten seidnen Taschentuch, das über seinem runden Knie liegt, hin und wieder kann er wohl eine kleine giftige Bemerkung über einen der Gäste machen, viel sagt er aber nicht – er verdaut.

Der Graf geht mit Kongsted umher und zeigt ihm die Gemälde und die Aussichtspunkte: sie sind offenbar sehr entzückt voneinander.

Unten in einem der entlegnem Gänge des Gartens sitzt Fanny mit den beiden Komtessen, eine zu jeder Seite; zwischen den Baumgruppen schlängeln sich Kanäle, und darin segeln krummhalsige Schwäne unter geschwungnen Brücken hindurch – der Skovsgaarder Garten ist nämlich so ein richtiger Schloßpark, wie man sie in recht gläubigen Märchen antrifft. Und wie einem Märchen lauschen die beiden kleinen Komtessen Fannys Rede, wie einer Zukunftsmusik, deren Harmonien sie freilich nicht fassen, für die sie aber doch Ohr haben. Fanny spricht von neuen, »modernen« Büchern, aber die haben die Komtessen nicht gelesen, denn Kandidat Mathiesen übt strenge Zensur über die Lektüre seiner ehemaligen Schülerinnen, und das meiste von der neuern Literatur kommt auf die schwarze Tafel.

Und darin findet ihr euch! sagt Fanny und wird ganz rot vor Empörung. Nach einigen Minuten hat sie indessen ihren Zorn über die Zensur vergessen, zeigt plötzlich vor sich hin und ruft: Nein, welch eine großartige Aussicht man doch oben von dem Zweige des Kastanienbaums haben muß! Nicht wahr? Die Komtessen wissen das wirklich nicht, denn sie sind natürlich noch niemals da oben gewesen.

Wollen wir einmal hinauf? schlägt Fanny vor, aber die Komtessen sehen sich ganz entsetzt an. Sie hat es sich gleich ausgemalt, wie sie dort oben auf dem Zweige stehen und die Aussicht genießen würde, aber die beiden artigen Schwestern haben nur an das Hinaufklettern gedacht, an zerrissene Kleider und heikle Stellungen.

Mein Gott, wenn jemand käme! sagt Komtesse Nancy, und Komtesse Henriette wiederholt: Ach Gott ja, wenn jemand käme!

Ja, was dann! erwidert Fanny. Ich hab' seidne Strümpfe an, noch dazu mit Zwickeln – seht nur! Und übermütig hebt sie ihr Kleid ein wenig in die Höhe, läßt es aber im nächsten Augenblick wieder fallen, denn der Graf, Kongsted und Kandidat Mathiesen kommen dahergegangen.

Sie bleiben einen Augenblick stehen und wechseln ein paar Worte mit den Damen, dann gehen sie weiter. Wunderbar schön ist Fräulein von Höibro, sagt der Graf. Ja–a, das ist sie, gibt Kandidat Mathiesen zu, aber es geht ihr wie der schönen Prinzessin im Märchen: man weiß nie, ob ihr nicht eine Kröte aus dem Munde fällt. – Sie ist vielleicht nicht Dame im allgemeinen Sinne, sagt Kongsted, aber trotzdem –. Was meinen Sie mit »trotzdem«, Verehrtester? fragt Kandidat Mathiesen.

Ach, eigentlich nichts weiter, ich dachte nur daran, daß sie keine Mutter gehabt hat, und das entschuldigt ja allerlei!

Ja, viel! sagt der Graf, und dann kehren sie in den Gartensaal zurück.

Kongsted geht ins Nebenzimmer und betrachtet die Gemälde. Ein neueres Porträt, das einen stattlichen Herrn in Zivil darstellt, erregt seine Aufmerksamkeit, und er beugt sich, um nach dem Namen des Malers zu sehen, als Fanny vorüberkommt.

Haben Sie da einen neuen Parsberg gefunden? fragt sie spöttisch.

Nein, das glaube ich kaum, mein gnädiges Fräulein, antwortet er. Übrigens wollte ich nur einmal sehen, wer dieses Bild gemalt hat.

Nun, und haben Sie es herausgefunden?

Nein, da steht nur der Ort, wo es gemalt ist – Nizza –, und die Jahreszahl 1872.

Nizza, ruft Fanny aus, da starb ja meine Mutter! Wen stellt denn das Bild vor?

Ja, da kommt der Graf, wir können ihn ja fragen.

Und Kongsted fragt, und der Graf antwortet – scheinbar ein wenig verlegen –, daß es sein älterer, verstorbener Bruder ist, von dem er den Besitz und die Grafschaft geerbt hat, er war unverheiratet und starb im Ausland.

In Nizza? fragt Fanny eifrig. Da ist ja meine Mutter auch gestorben. Hat er sie gekannt und getroffen?

Ja, mein seliger Bruder hat Ihre Frau Mutter gekannt, erwidert der Graf. Wollen wir aber nicht in den blauen Saal gehen. Dort wird, wie ich höre, musiziert.

Die Frau des Doktors spielt. Sie ist zur Verzweiflung vieler »musikalisch«, das heißt, sie spielt stets, aufgefordert und unaufgefordert. Jetzt spielt sie eine Sonate, und als die beendet ist, meint Onkel Heinrich, der lange schweigend dagestanden hat, daß er doch auch etwas sagen muß; deshalb wendet er sich mit der unschuldigen Frage an sie: War das nicht aus dem kleinen hübschen Singspiel, wo der eine auf dem Pferde sitzt und singt?

Großer Gott, Sie meinen doch wohl nicht den »Don Juan«, Herr Kammerjunker? ruft die Frau Doktor entsetzt aus, und Onkel Heinrich antwortet fröhlich Ja und wundert sich über seine eigne musikalische Begabung.

Jetzt bricht man auf, die Wagen halten vor der Tür. Graf Christian hilft Fanny in den Mantel; er dankt ihr, daß sie gekommen ist, und bittet um Erlaubnis, in allernächster Zeit einen Besuch auf Hjortholm abstatten zu dürfen. Der Hauptmann bittet Kongsted, Müller Sörensen zu grüßen und ihm zu sagen, daß er bald einmal vorbeikommen werde; Kandidat Mathiesen beobachtet das Ganze mit einem spöttischen Lächeln, und ein wohlwollender Pächter hüllt die Tochter des Doktors, die Kongsted lange nachsieht, in ihren Mantel. Ein Peitschenknall, und dann rollen die Hjortholmer heimwärts.


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